34/35 WISSEN Samstag/Sonntag, 22./23. August 2015, Nr. 192 DEFGH HBG Bergsturz Norwegens Fjorde sind von imposanten Felsmassiven umgeben. Ein Film zeigt nun, welche Apokalypse in den brüchigen Gesteinen lauert: Rutschen sie ins Wasser, lösen sie verheerende Flutwellen aus von angelika jung-hüttel s knirscht und ächzt im Berg. Der Fels zittert. Kreischend fliegt ein Schwarm Rabenvögel auf. Einzelne Steinbrocken poltern den Abhang hinunter, schlagen im Wasser ein und verschwinden in der Tiefe des Fjords. Plötzlich donnert die gesamte Bergwand wie in Zeitlupe hinein in den Fjord, versinkt – und schiebt dabei eine gewaltige Flutwelle vor sich her. Ein Schiff wird von der Gischt des Tsunamis eingesaugt, der unaufhaltsam durch den engen Fjord auf ein Dorf zustürzt wie ein wildes Tier. Sirenen heulen, Menschen schreien, sie rennen um ihr Leben. Dann Stille. Finsternis. Video aus. Schon der Trailer des norwegischen Katastrophenfilms jagt kalte Schauer über den Rücken. Von Ende August an wird „Bølgen“ – zu Deutsch „Die Welle“ – in Norwegen und im September auch in Kanada gezeigt. Doch bereits jetzt wird in den Fjordgemeinden und auch unter den Reisenden, die jetzt zur Ferienzeit zu Tausenden in der grandiosen Landschaft Norwegens unterwegs sind, heftig diskutiert. Kann so eine verheerende Naturkatastrophe in den Fjorden tatsächlich passieren? Die Antwort ist: Ja. Und das sogar im berühmtesten und meistbesuchten Fjord Norwegens: im Geirangerfjord. Hier spielt auch der Katastrophenfilm. „Entlang der Westküste und in Nordnorwegen, wo die Topografie am steilsten ist, können große Bergstürze abgehen“, sagt Anders Solheim, Direktor für Naturkatastrophen am Nationalen Geotechnischen Institut NGI in Oslo. Die Ursache dafür liegt mehr als zwei Millionen Jahre zurück, als ein bis zu drei Kilometer dicker Eispanzer auf dem skandinavischen Landsockel und somit auch auf Norwegen lastete. „Die Täler waren komplett mit Eis gefüllt“, sagt Solheim. Das Gestein der Talwände stand enorm unter Druck. „Als sich die Gletscher nach der Eiszeit zurückzogen und der Fels vom Eisdruck befreit war, öffneten sich Spalten und Risse“, so der Geologe weiter. „.Wasser, Schnee und Eis konnten dort eindringen und den Fels mit der Zeit zermürben.“ So entstanden Schwächezonen, Bereiche von hoher Instabilität. E Als die Gletscher verschwanden, entstanden Risse im Gestein. Sie haben den Fels mürbe gemacht In historischer Zeit kam es in Norwegen alle hundert Jahre zu zwei bis drei großen Bergstürzen. Die Steinlawinen, die zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts abgingen, verursachten die bis dahin schlimmsten Naturkatastrophen des Landes. Das enge Lodalen am Talschluss des Nordfjords, mit 106 Kilometern einer der längsten Fjorde Norwegens, wurde gleich zweimal getroffen. 1905 rauschte die erste Steinlawine von der Flanke des Berges Ramnefjellet in den Loendal-See, der durch eine schmale Landbrücke vom Nordfjord abgeschnitten ist. Eine 40 Meter hohe Flutwelle zer- störte zwei Weiler. Von den 121 Menschen, die dort lebten, wurden 61 getötet, neun von ihnen blieben vermisst. Die Häuser wurden wieder aufgebaut. Man rechnete nicht mit einer zweiten Katastrophe am gleichen Ort. Doch 1936 brach aus der Ramnefjellet-Flanke erneut eine Felsmasse heraus, doppelt so groß wie die erste. Eine Million Kubikmeter Gestein stürzten aus 800 Metern Höhe in den See. Die Flutwelle war dieses Mal 70 Meter hoch und tötete 44 Menschen. Das Wasser schwappte am gegenüberliegenden Berghang bis in eine Höhe von 145 Metern über dem Seespiegel hinauf und zerstörte dort ein Denkmal, das an die Opfer des ersten Bergsturzes erinnerte. Nur die Stahlverankerungen des Betonsockels sind übrig geblieben. Eine Ortschaft am Ende des Tafjord, etwa 15 Kilometer Luftlinie nördlich vom Geirangerfjord, wurde 1934 nach einem Bergsturz von einer 16 Meter hohen Flutwelle getroffen. Es gab 40 Todesopfer. In 900 Meter Höhe klafft eine 20 Meter breite Spalte im Felsmassiv Um solche Unglücke in Zukunft zu vermeiden, haben die Behörden seither das Küstengebirge kartieren lassen. Geologen begannen, möglichst alle Bergstürze seit der Eiszeit sowie die besonders instabilen Felswände ausfindig zu machen und in Landkarten einzutragen. Heute werden vier der am meisten gefährdeten Steilhänge ständig beobachtet – darunter auch die derzeit größte brüchige Bergmasse Norwegens in der knapp 1500 Meter hohen Region Åknes, die steil über dem engen Sunnylvs-Fjord emporragt. Nur sieben Kilometer weiter mündet der Geirangerfjord in das Gewässer. Mehrere Gemeinden und zahlreiche Bauernhöfe liegen an den schmalen Fjordufern. Autofähren kreuzen das Wasser. Im Sommer fahren täglich mehrere der größten Kreuzfahrtschiffe, jedes mit Tausenden Touristen an Bord, durch den Fjord, um am Ende vor der Unesco-Welterbe-Gemeinde Geiranger für einige Stunden zu ankern. Lena Kristensen, Geologin am Norwegischen Wasser- und Energie-Direktorat NVE, hat das Åknes-Beobachtungs- und Frühwarnzentrum mit aufgebaut. Sie kennt jedes Detail des instabilen Berghangs. „Die Abrisskante ist 800 Meter lang und die Spalte, die sich dort oben in 900 Metern Höhe quer durch den Abhang zieht, ist bis zu 20 Meter breit – und die Gleitzone liegt oben in etwa 60 Metern Tiefe und weiter unten in 30 Metern Tiefe.“ Insgesamt kriechen 54 Millionen Kubikmeter Fels um zwei bis zehn Zentimeter pro Jahr zu Tal. „In der Kernzone haben wir derzeit eine Geschwindigkeit von fünf bis sieben Zentimeter jährlich“, sagt die Geologin. Die Kernzone umfasst 18 Millionen Kubikmeter Gestein, das ist etwa sieben Mal das Volumen der Cheopspyramide in Ägypten. Der rutschende Steilhang und seine Umgebung sind gespickt mit Messinstrumenten, darunter acht GPS (Global Positioning System)-Stationen mit Funkantennen, Neigungsmessern, Reflektoren für Radarund Lasermessungen. In den Spalten stecken sogenannte Extensiometer, stählerne Teleskopstangen, die zwischen die Spaltenwände geklemmt sind. Sie registrieren jeden Millimeter um den sich die Spalten weiten. „Es war gar nicht so einfach, die Geräte zu installieren“, sagt der Ingenieur Steffen Hâger, der zusammen mit seinen Kollegen für die Technik zuständig ist. Denn keine Straße, kein Weg führt in das steile Gelände. „Wir müssen alles mit dem Helikopter dorthin transportieren, auch die Bohrgeräte oder das Baumaterial für die Bunker dort oben.“ In den Betonbunkern ist ein Teil der Messgeräte untergebracht und vor allem die Stromversorgung, die doppeltund dreifach abgesichert ist, um sie vor Steinschlag und im Winter vor Schnee und Lawinen zu schützen. Vor allem im Winter ist die Wartung schwierig und auch gefährlich. „Wenn wir zum Beispiel die Notstromaggregate mit Treibstoff versorgen, “, sagt Hâger, „müssen wir oft erst zwei bis drei Meter Schnee wegschippen, um an die Tanks heranzukommen.“ Alle Messgeräte funken ihre Daten automatisch ins Hauptgebäude des Beobachtungs-Zentrums. Es liegt im 16 Kilometer von Åknes entfernten Ort Stranda. Hier arbeiten Lena Kristensen und ihre Kollegen . Sie werten alle Messungen aus und können so kleinste Bewegungen der Bergmasse registrieren. Miteinbezogen werden auch alle Wetterdaten und der Grundwasserstand im Berg. Er wird mit Instrumenten erfasst, die in bis zu 145 Meter tiefen Bohrlöchern stecken. Während der Schneeschmelze und bei Starkregen, der in dieser Gegend Norwegens tagelang dauern kann, sind die Geologen besonders aufmerksam. „Extreme Wetterereignisse können eine Rutschung beschleunigen und ihr schlimmstenfalls sogar den letzten Stoß versetzen“, erklärt Kristensen. „Aber soweit wird es nicht kommen, wenn wir unseren Job richtig machen.“ Das extrem komplexe, mehrstufige Frühwarnsystem der Åknes-Rutschmasse haben Geologen auf Grundlage internationaler Erfahrungen und der Daten aus dem Abhang ausgearbeitet. Neben den im Gelände direkt messbaren Anzeichen wie zum Beispiel eine Weitung der Spalten und Risse im Fels oder einem Anstieg des Grundwasserspiegels, spielt vor allem die Gleitgeschwindigkeit der Felsmassen eine Rolle. 0,1 bis 0,6 Millimeter pro Tag sind noch normal. Rutscht der Berg anhaltend zwei bis fünf Millimeter pro Tag, ist mit einer Sturz in den Fjord binnen Wochen oder weniger Monate zu rechnen. Steigt das Tempo auf fünf bis zehn Millimeter pro Tag, könnte die Katastrophe innerhalb von wenigen Tagen passieren. Akut wird die Gefahr ab zehn Millimeter pro Tag. Dann droht die Katastrophe innerhalb von Stunden oder sogar Minuten loszubrechen. „Dann hätten wir kaum noch Zeit zum evakuieren“, sagt die Geologin Kristensen. „Wir könnten nur noch die Sirenen einschalten, so dass sich wenigstens die Leute in Sicherheit bringen. Deshalb ist es unser Ziel, so eine Rutschung wenigstens Wochen, oder besser Monate vorherzusagen.“ Sollten die Messwerte in Åknes auf einen Bergsturz hindeuten, schalten die Wissenschaftler die norwegischen Behörden ein. Letztlich ist die Polizei für die Evakuierung Rutscht der Berg mehr als zehn Millimeter am Tag, droht die Katastrophe binnen Stunden zuständig. Im Ernstfall können zwar die Menschen und ihr bewegliches Hab und Gut gerettet werden, betont auch Anders Solheim vom NGI. „Für die bestehende Infrastruktur in den Fjordgemeinden, für Häuser und Straßen können wir jedoch nichts tun.“ Sie liegen alle in der sogenannten Run-Up-Zone, also in dem Bereich, den die brandende Flutwelle überspült. Würden die gesamte Åknes-Rutschmasse von 54 Millionen Kubikmetern in den Fjord stürzen, wäre die Flutwelle, die im Ort Geiranger ankommt, etwa 30 Meter hoch. Die Run-up-Zone reicht jedoch 50 Meter hoch. Das haben Modellrechnungen ergeben. Fast ganz Geiranger würde dem Erdboden gleich gemacht. Die Filmemacher von „Bølgen –Die Welle“ haben diese Modellrechnungen als Grundlage für ihre Animationen verwendet. Und sie haben auch in Åknes gedreht. Ob aus geologischer Sicht alles richtig dargestellt ist? „Ich bin skeptisch“, sagt Anders Solheim, „und ich habe große Bedenken, denn solche Filme schüren die Angst der Bewohner in den Fjordgemeinden.“ Angst sollten weder Touristen noch die Einwohner nach Ansicht der Experten haben. Es werde schließlich viel dafür getan, ein Unglück zu verhindern. „Aber ich bin auch neugierig auf den Film – und darauf, wie die Filmleute die schwierige Balance zwischen wissenschaftlicher Korrektheit und filmischer Action hinbekommen haben.“ DIZdigital: Alle Alle Rechte Rechte vorbehalten vorbehalten –- Süddeutsche Süddeutsche Zeitung Zeitung GmbH, GmbH, München München DIZdigital: Jegliche Veröffentlichung Veröffentlichungund undnicht-private nicht-privateNutzung Nutzungexklusiv exklusivüber überwww.sz-content.de www.sz-content.de Jegliche Wenn der Fels niederdonnert: Vier Minuten bis zum Untergang Etwa vier Minuten würde der Tsunami nach einem Felssturz an der Aknes-Bergflanke benötigen, bis er die 13 Kilometer entfernte Bucht von Hellesylt erreicht. Hellesylt ist eine Nachbargemeinde von Geiranger. Die heranrollende Flutwelle wäre 30 Meter hoch, wenn sie an das Ufer brandet. Danach werden die Wassermassen zwischen den steilen Fjordwänden hin- und her geworfen, während sie unaufhaltsam landeinwärts rasen. Nach weiteren drei Minuten erreichen sie den drei Kilometer von der Bucht entfernten Talschluss. Die Run-Up-Zone, also der von der Flutwelle erfasste Bereich, reicht bis zu 50 Meter die Talflanken hinauf. Das ist zumindest das Resultat der Modellrechnungen, welche die Ingenieure vom Department für Naturgefahren des Nationalen Geotechnischen Instituts gemacht haben. Sie gelten für den schlimmsten Fall – wenn also die gesamten 54 Millionen Kubikmeter Fels auf einen Schlag in den Fjord stürzen. Rutscht die Aknes-Bergflanke im mehreren, etwas kleineren Schüben nacheinander ab, wären die Auswirkungen nach den Berechnungen der Ingenieure immer noch gravierend, aber nicht mehr katastrophal. Auch im schmalsten Fjord Norwegens sind die Schuttfächer vergangener Bergstürze noch sichtbar. Die Bergmassive des Nærøyfjord gelten als beispiellos in ihrem Artenreichtum. Wie der Geirangerford gehört der Nærøyfjord zum UnescoWeltnaturerbe. FOTO: BERNHARD EDMAIER KliemannE SZ20150822S2822210
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