Bonuskapitel 3 - Wiley-VCH

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Orientforschung auf dem
Prüfstein
In diesem Kapitel
䉴 Ausgrabungsprobleme vor Ort
䉴 Vom Wettlauf um die besten Fundstücke
䉴 Neue Grabungstechniken und Dokumentationsmethoden
䉴 Die Tücken der Keilschrift
䉴 Wie zuverlässig ist die Bibel?
I
m 19. Jahrhundert war die Erforschung Mesopotamiens als eigene Wissenschaft etabliert
und wurde von höchster Stelle gefördert. Die führenden Nationen Europas, allen voran
Frankreich und Großbritannien, organisierten und finanzierten Ausgrabungskampagnen. Es
wurde zu einem regelrechten Wettkampf, wer die größten und schönsten Stücke aus dem
Orient nach Europa brachte. Wie zu erwarten waren die Grabungen zwar ertragreich, aber
nicht gerade wissenschaftlich. Erst spät beteiligten sich auch deutsche Ausgräber am Wettlauf
um orientalische Kulturgüter. Allerdings führten sie neue Methoden ein, die dem plumpen
Graben in der Erde Mesopotamiens ein Ende setzten.
In diesem Kapitel stehen die ersten organisierten Ausgrabungen, die im Orient stattfanden,
im Mittelpunkt. Es wird um die Entdeckung der großen Hauptstädte wie Ninive, Assur und
Babylon gehen, die verständlicherweise die ersten Ziele solcher Unternehmungen waren.
Besonders spannend sind nicht nur die Hindernisse, denen die Ausgräber im fremden Land
begegneten, sondern auch die neuen Grabungstechniken, die dabei entwickelt wurden. Zu
guter Letzt werden Sie hier auch erfahren, wie die letzten Rätsel um die Keilschrift gelüftet
wurden.
Wer zuerst kommt, gräbt zuerst
Das 19. Jahrhundert ist die Glanzzeit des Kolonialismus. Politisch wie wirtschaftlich beteiligte
sich fast jeder Staat am weltweiten Spiel um Macht und Einfluss. Und das spielt sich
auf allen Ebenen ab. Auch in Wissenschaft und Forschung steht man in einem ständigen
Konkurrenzkampf und der Alte Orient wird dabei immer interessanter. Nun geht es darum,
wer als Erster die alten legendären Städte entdeckt, wie Babylon und Ninive, wer ihre Texte
liest und die reichsten Schätze nach Europa bringt.
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Bonuskapitel zu Babylonier, Hethiter & Co. für Dummies, 978-3-527-70499-6, © Wiley-VCH.
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Babylonier, Hethiter & Co. für Dummies
Hindernisse und Unkenntnis beim Graben
Für die ersten Ausgräber war es wichtig, möglichst große und intakte Objekte zu bekommen. Dieser Wunsch kam von den Museen, die die Unternehmungen finanzierten und
an beeindruckenden Ausstellungsstücken interessiert waren. Auf Kleinfunde wurde also
weniger Wert gelegt. Es kam hinzu, dass die örtlichen osmanischen Paschas den Ausgräbern die Sache nicht besonders leicht machten. Sie zogen zum Beispiel Arbeiter ab oder
verboten Grabungen an bestimmten Orten. Auch wurden die Fundstücke nicht ausreichend
geschützt, sodass Einheimische sich des Nachts über die Schätze hermachten und sei es,
dass sie das Holz raubten, das man zum Abstützen zerbrechlicher Teile brauchte. Große
Verluste hatte man nicht zuletzt auch beim Transport. Zu große Statuen wurden in der
Wüste zurückgelassen oder sie versanken samt Schiff im Tigris.
Heute versucht jeder Archäologe beim Ausgraben möglichst wenige Verluste zu verzeichnen. Dafür muss man allerdings die Rahmenbedingungen kennen. Die ersten Ausgräber im
Orient mussten häufig improvisieren, da sie sich in der fremden Umgebung nicht ausreichend auskannten. Ihnen fehlten Techniken und die entsprechende Erfahrung. Die Disziplin
Vorderasiatische Archäologie, die sich auf die Begebenheiten im Orient spezialisiert hat,
war gerade erst dabei, sich zu etablieren.
Erste Sensationsfunde der Franzosen
In Paris war es der Orientalist Julius Mohl (1800–1876), der die Berichte von Claudius James
Rich (1786–1821; mehr dazu im zweiten Bonuskapitel) ein Jahr nach ihrer Veröffentlichung
im Jahre 1839 ausgiebig studierte. Danach war er davon überzeugt, dass Rich die Überreste von
Ninive beschrieben hatte. Er sorgte dafür, dass die französische Regierung einen Vizekonsul
in der heute irakischen Stadt Mossul ernannte, den Arzt Paul Émil Botta (1802–1870) aus
Turin. 1842 machte er am Hügel von Kujundschik erste Funde. Reichhaltig waren diese
aber nicht, weshalb er mit seinen Ausgrabungen ein Jahr später an den etwa 15 Kilometer
entfernten benachbarten Hügel Khorsabad weiterzog. Ein Dorfbewohner hatte ihn auf die
Ruinen aufmerksam gemacht. Hier lag das alte Dur Scharrukin, die Residenz des assyrischen
Königs Sargon II. (722–705 v. Chr.).
Den Ort Khorsabad oder Khischtabad hatten arabische Geografen aus dem
Mittelalter beschrieben. Dort heißt es, dass bei diesem Dorf die Ruinen der alten
assyrischen Stadt namens »Saraghoun« liegen. Ein arabischer Historiker schrieb
weiter, dass man nach der islamischen Eroberung dort reiche Schätze fand. Der
Name »Sargon« hat sich damit im Volksmund fast zwei Jahrtausende gehalten.
Paul Émil Botta hatte die richtige Entscheidung getroffen. Seinen ersten Suchschnitt setzte er
gleich an der richtigen Stelle an. Er landete im Königspalast mit seinen über hundert Räumen,
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Hallen und Fluren. Die Wände waren mit exquisiten Reliefs verziert, die Könige, Götter und
viele Szenen aus dem assyrischen Leben zeigten. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten bekam
man Bilder von einem Volk zu sehen, das man bisher nur aus der Bibel oder von den Griechen
kannte: die Assyrer. Noch wusste Botta aber nicht, dass er die »Sargonburg«, das antike Dur
Scharrukin, und nicht Ninive gefunden hatte.
Paul Émil Botta grub als Erster die berühmten assyrischen Stierkolosse aus, die
sogenannten Lamassu. Das sind riesige bis zu 4,5 Meter hohe Fabelwesen, die
den Körper eines Stiers und den Kopf eines Menschen hatten. Heute sind sie in
jedem Museum mit einer orientalischen Sammlung zu finden.
Ein Engländer gräbt auf Risiko
Paul Émil Botta und der Engländer Austen Henry Layard (1817–1894) betrachteten sich als
gute Kollegen. Als sie sich 1842 zum ersten Mal in Mossul trafen, besprachen sie gemeinsam
mögliche Fundorte assyrischer Städte. Genau wie Botta hatte auch Layard die Berichte von
Claudius James Rich gelesen und war sich sicher, die Stadt Ninive finden zu können. Mit der
Suche wollte er am Ort Nimrud beginnen. Wie sein Kollege lag auch er damit falsch, da sich
dort die Ruinen von Kalchu, der dritten assyrischen Hauptstadt, befanden.
Im Gegensatz zu seinem Kollegen kannte Layard noch keine einflussreichen Männer, die ihn
bei seinen Unternehmungen gegenüber der osmanischen Regierung unterstützen konnten.
Seine erste Orientreise unternahm er 1839–1841 auf eigene Faust. Auf seinen Reisen wurde
ihm der englische Botschafter Sir Canning in Konstantinopel ein guter Freund. Mit seiner Hilfe
stattete Layard der Stadt Mosul und ihrer Umgebung 1842 einen ersten Besuch ab. Erst drei
Jahre später bekam er die offizielle Erlaubnis, in irakischem – damals osmanischem – Boden
zu graben.
Jeder Spatenstich ein Volltreffer
Seine Ausgrabungen am Hügel Kalchu begann Layard mit sechs Arbeitern. Am Morgen hatte
er den Spaten angesetzt und am Abend hatte er schon mehrere Zimmer mit Steinreliefs
entdeckt, die zu zwei assyrischen Palästen gehörten. Drei ganze Jahre verbrachte er in
Kalchu, vergrößerte seine Mannschaft und brachte immer mehr zutage. Für Probleme mit der
örtlichen Verwaltung stand ihm seit 1845 ein arabischer Christ aus Mossul zur Seite, Hormuzd
Rassam (mehr dazu weiter hinten in diesem Kapitel im Abschnitt »Graben um die Wette in
Ninive«). Layard machte spannende Entdeckungen, obwohl er mit dem wenigen Geld, das er
hatte, nur nach großen und prächtigen Funden Ausschau halten konnte. Mit seinem guten
Freund Henry Creswicke Rawlinson (mehr dazu im zweiten Bonuskapitel), der seit 1843 in
Bagdad als britischer Konsul residierte, besprach er die neu entdeckten Inschriften. Das letzte
Transportfloß aus Nimrud zog 1847 den Tigris hinunter. Im selben Jahr reiste Layard nach
England zurück.
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Risikofaktor Transport
Zur Zeit der ersten Ausgrabungen im Orient waren Großtransporte eine Herausforderung.
In Nimrud hatte der Engländer Austen Henry Layard 13 Paare gigantischer Stier- und
Löwenkolosse ausgegraben. Im Gegensatz zu den Franzosen unter Paul Émil Botta wollten
die Engländer die Skulpturen nicht zerschneiden. Was nicht mitkam, sollte nach Anweisung
des British Museum wieder vergraben werden. Diese Kolosse, die bis zu 20 Tonnen schwer
waren, mussten zunächst aus ihren Wänden gelöst werden, dann durch die Steppe bis
zum Tigris getragen, auf Schiffe verladen und bis nach Basra im heutigen Südirak
verschifft werden. Dort konnten sie ihre Reise nach Europa antreten. Mit Hebe- und
Seilzugvorrichtungen versuchte man, sie auf hölzerne Wagen zu kippen, um sie dann
an das Flussufer zu ziehen. Wo sich Ochsen weigerten, mussten einheimische Araber
aushelfen. Beim Tigris angekommen wurden die Kolosse auf riesige Flöße verladen, die
sogenannten keleks, die aus bis zu 600 aufgeblasenen Schafshäuten bestanden. Ähnliche
Techniken hatten schon die Assyrer im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. eingesetzt. Bei
diesen Aktionen gab es viele Verluste. So musste der Franzose Botta zum Beispiel einen
seiner Stierkolosse in der Wüste zurücklassen, weil ihm der Transport zum Ufer des Tigris
nicht gelingen wollte. Selbst zu Zeiten der deutschen Ausgräber versanken zahlreiche
Fundobjekte in den Flüssen des Irak.
Graben um die Wette in Ninive
Seine zweite Expedition unternahm Austen Henry Layard nach Kujundschik, dem Ruinenhügel, unter dem sich die letzte assyrische Hauptstadt Ninive verbarg. Das British Museum hatte
sich dort Grabungsrechte an der südwestlichen Ecke gesichert. Layard war von 1849–1851
dort und machte wieder zahlreiche Entdeckungen. 1852 überließ Layard dann die Grabung in
Ninive seinem Assistenten Hormuzd Rassam (1826–1910) und zog sich von der Arbeit vor Ort
endgültig zurück.
Während seines Aufenthalts im Orient besuchte Layard auch andere Ruinenhügel,
die Arabisch »Tell« heißen, und setzte dort probeweise den Spaten an. Abgesehen
von kleineren Ortschaften in der direkten Umgebung von Kujundschik besuchte
er auch Assur, Babylon und Nippur. Da es dort aber keine kolossalen Monumente
und Steinreliefs gab, hielt er sich dort nicht allzu lange auf.
Franzosen gesellen sich hinzu
Unter dem Architekten Victor Place (1818–1875), dem Nachfolger Emil Bottas, nahmen die
Franzosen 1851 ihre eigenen Grabungen wieder in Angriff, und zwar im nördlichen Areal
von Ninive. Das hatte ihnen der britische Konsul Henry Creswicke Rawlinson zugewiesen.
Als Hormuzd Rassam 1852 in Ninive anfing, waren die Franzosen bereits ein Jahr mit
Ausgrabungen beschäftigt. So kam es, dass Engländer und Franzosen an ein und demselben
Ruinenhügel um die Wette gruben.
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Orientforschung auf dem Prüfstein
Unfaires Grabungsverhalten
Hormuzd Rassam war mit seinen eigenen Funden nicht zufrieden und beobachtete nervös die
Franzosen auf der anderen Seite des Ruinenhügels. Als der Grabungsleiter Victor Place dann
für einige Tage nach Khorsabad reiste, wo die Franzosen noch immer mit Graben beschäftigt
waren, startete er ein gewagtes Unternehmen. Er wies seine Arbeiter an, nachts auf der Seite
der Franzosen zu graben. Diese unrechte Grabung brachte ihm dann auch noch beachtliche
Ergebnisse ein: Rassam fand den Palast des letzten großen assyrischen Königs Assurbanipal
(668 bis etwa 627 v. Chr.).
Lange konnte er diesen Sensationsfund nicht geheim halten. Victor Place kam auf die Nachricht
hin eiligst aus Khorsabad angeritten. Obwohl ihn sein Kollege hintergangen hatte, verhielt er
sich wie ein Gentleman und gratulierte ihm zu den Funden. Am unfairen Grabungsverhalten
seines Kollegen rächte er sich, indem er seine Funde in den eigenen Publikationen einfach
verschwieg.
Eine königliche Bibliothek
Zwar war die Grabung des Hormuzd Rassam in Ninive nicht ganz rechtens, trotzdem
ist ihm der außerordentliche Fund der Bibliothek des Assurbanipal (668 bis etwa 627
v. Chr.) zu verdanken. Hier fanden sich Unmengen an Tontafeln in ganzen Teilen oder
kleinen Fragmenten, die heute die Magazine des British Museum in London füllen. Es sind
religiöse und mythische Texte, die von Göttern, Weisen und Helden erzählen. Unter ihnen
befinden sich auch Abschriften von älteren Geschichten, die aus der Zeit der Sumerer
im 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. stammen. Aus anderen Bereichen des Königspalasts
stammen historische Inschriften auf Tonzylindern und -prismen, Gebete und Hymnen, die
zu Tempelarchiven gehörten, und sogar die private Korrespondenz des Königs. Obwohl
einige der Tafeln gleich vor Ort zu Staub zerfielen, konnten Tausende gerettet werden.
Leider kennt man ihre genaue Fundlage nicht, da die Ausgräber hierzu keine präzisen
Daten hinterließen. Viele der Tafeln sind auch nur in winzigen Bruchstücken nach
London gekommen. Noch heute sitzen Assyriologen daran, die einzelnen Fragmente zu
identifizieren und zu größeren Tafelstücken zusammenzufügen.
Der deutsche Auftritt
Unter Kaiser Wilhelm II. (1888–1918) stieg Deutschland in die Weltpolitik ein und bemühte
sich nun auch darum, die Handelsbeziehungen mit dem Osmanischen Reich zu erweitern.
Gleichzeitig sollten auch die Bereiche Wissenschaft und Kultur gefördert werden, um mit
den konkurrierenden Großmächten in der Region, den Engländern und den Franzosen,
mitzuhalten. Den ersten Anlauf machte der preußische Konsul in Bagdad: Deutschland müsse
in Mesopotamien graben. Im Jahr 1898 folgte die Gründung der Deutschen Orient-Gesellschaft
(DOG). Nun musste nur noch entschieden werden, welcher Ruinenhügel noch unbesetzt war
und gleichzeitig sensationelle Funde versprach.
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Babylonier, Hethiter & Co. für Dummies
Die Deutsche Orient-Gesellschaft (DOG) ist ein privater Förderverein, der 1898
in Berlin gegründet wurde. Sein Vorgänger war das Orient-Comité. Ziel der
Gesellschaft war es, die Erforschung der altorientalischen Kulturen zu fördern und
den Staatlichen Museen von Berlin dabei zu helfen, ihre Sammlung orientalischer
Altertümer aufzubessern. Die Zusammenarbeit zwischen DOG und den Berliner
Museen war daher sehr eng. Kaiser Wilhelm II. übernahm die Schirmherrschaft
und beteiligte sich an der Finanzierung der ersten Ausgrabungen.
Die Auswahl fällt leicht
Auf der Liste der Ruinenstätten befanden sich Ninive, Assur, Babylon und das alte Uruk. Robert
Koldewey (1855–1925), ein Architekt aus Braunschweig, überzeugte die Entscheidungskommission am Ende von Babylon. Er legte ihnen mehrere glasierte Tonziegel auf den Tisch und
malte ihnen aus, was für prächtige Bauten man daraus wieder errichten könne. Ein Jahr später
begann er mit seinen Ausgrabungen in Babylon.
Obwohl die deutschen Ausgrabungen erst ein halbes Jahrhundert später als die
englischen und französischen begannen und obwohl Engländer und Franzosen
zwischen 1830 und 1880 bereits in Babylon gegraben hatten, hatte das Unternehmen des Architekten Koldewey wegen seiner guten Organisation, der neuen
Techniken und der Erfahrungen des Grabungsleiters große Aussicht auf Erfolg.
Ausreichend Zeit und Geld
Die deutschen Ausgräber waren nicht unbedingt an Kolossalstatuen und Steinreliefs interessiert. Als Architekt war es Robert Koldewey wichtig, die Gesamtstruktur der antiken Bauten
zu erforschen. Für ihn waren außerdem alle Funde von Bedeutung, so klein sie auch sein
mochten. Alles sollte genauestens dokumentiert werden, um es anschließend besser auswerten
zu können. Da es den deutschen Ausgrabungen nicht an Geld mangelte, konnten sie sich
mit der Arbeit Zeit lassen. In Babylon wurde insgesamt 18 Jahre lang gegraben, obwohl
ursprünglich nur fünf geplant waren. Erst mit Beginn des Ersten Weltkrieges und mit dem
Einmarsch britischer Truppen in das Gebiet des heutigen Irak wurden 1917 die Zelte in
Babylon abgebrochen.
Babylon und Assur in guten Händen
Bei den Ausgrabungen in Babylon assistierte von Anfang an Walther Andrae (1875–1956),
ebenfalls Architekt und Bauforscher. Wegen seines Talents und seines Engagements bekam er
bald seine eigene Grabung. Nach den ersten Erfolgen in Babylon war es an der Zeit, nach neuen
Grabungsorten Ausschau zu halten. Die Wahl der DOG fiel auf den Hügel Qal‘at Scherghat,
unter dem sich die Ruinen der ersten assyrischen Hauptstadt Assur verbargen. 1903 eröffnete
Koldewey die Ausgrabungen in Assur und übertrug sie danach seinem Assistenten Walter
Andrae, der dort bis 1914 blieb.
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Orientforschung auf dem Prüfstein
Archäologie neu erfunden
Mit den deutschen Ausgräbern im Orient war das Ziel solcher Ausgrabungen neu definiert
worden. Sammlungsstücke waren nicht mehr gefragt. Man wollte die gesamte Kultur verstehen. Hierzu benötigte man wissenschaftliche Erkenntnisse über die Bauweise von Tempeln
oder Palästen und die Struktur von Siedlungen. Daneben waren auch die Kleinobjekte wichtig,
die über das Alltagsleben der Babylonier und Assyrer Auskunft gaben.
Mit Robert Koldewey wurden neue Grabungsmethoden eingeführt, die den besonderen Bedingungen im Orient und der Gestalt seiner Ruinenhügel angepasst waren. Das verlangten allein
die Lehmziegelkonstruktionen in Babylon und Assur, die man mit großer Sorgfalt und entsprechend feinem Werkzeug freilegen musste. Sein Assistent Walter Andrae übernahm diese
Techniken und verfeinerte sie. Noch heute führen Archäologen im Orient ihre Grabungen
nach vielen seiner Methoden aus.
Schichtgrabung anstelle von Tiefgrabung
Die englischen und französischen Ausgräber hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts an den
Ruinenhügeln einfach in die Tiefe gegraben, bis sie auf Mauern oder Palastwände stießen.
Diese legten sie dann bis zum Boden frei und gruben immer weiter an ihnen entlang, bis sie
mehrere Räume freigelegt hatten. Abgesehen von Tontafeln wurde allen anderen Kleinobjekten
in diesen Räumen keine Beachtung geschenkt.
Unter den deutschen Ausgräbern Robert Koldewey und Walter Andrae wurde die Grabungstechnik strukturiert. Als Erstes legten sie Suchschnitte in regelmäßigen Abständen an. War
man bei einem solchen Schnitt auf interessante Fundobjekte gestoßen, wurde mit der Flächengrabung begonnen. Schicht um Schicht wurde die Erde abgetragen, wobei alle Funde
und Baustrukturen genau dokumentiert wurden.
Mit dieser verfeinerten Grabungsmethode gelang es Walter Andrae in Assur für
das Ischtar-Heiligtum insgesamt acht Bauschichten zu unterscheiden. Sie umfassen insgesamt 2.000 Jahre. Die ältesten Schichten sind dabei die untersten. Diese
Wissenschaft von den Grabungsschichten nennt man Stratigrafie. Abgesehen von
der feinen Dokumentation hilft sie auch bei der Altersbestimmung von Gebäuden, Siedlungen und sogar Einzelfunden, die man in den jeweiligen Schichten
gefunden hat.
Ausführlich dokumentiert
Unter den deutschen Ausgräbern wurde auch die Dokumentation der Funde strukturiert und
vereinheitlicht. Es gab Fundjournale, Tagebücher, Pläne und Zeichnungen von Grabungsflächen und einzelnen Objekten, nach Walter Andrae »der beste Ausweis für die Glaubwürdigkeit
des Ausgräbers«. Andrae sammelte sogar Proben von allen möglichen Substanzen, von Hölzern, Steinen, Pflanzen- oder Essensresten. Die wurden in Berliner Laboratorien genauestens
analysiert. So fand man heraus, wo die Materialien herkamen oder wie sie produziert wurden.
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Babylonier, Hethiter & Co. für Dummies
Walter Andrae setzte als erster Ausgräber im Orient die Fotografie ein und
hinterließ mehr als 7.000 Fotos von Groß- und Kleinstfunden, die heute im
Vorderasiatischen Museum in Berlin aufbewahrt werden. Brandneu war die
Farbfotografie. Ihren Einsatz hatte Andrae von der Firma Agfa erbeten. Sie stellte
ihm die Technik zur Verfügung, noch bevor sie in Deutschland auf den Markt kam.
Wiederentdeckung der Hethiter
Die Hethiter haben ihre eigene Entdeckungsgeschichte, die allerdings erst im 19. Jahrhundert
beginnt. Das liegt daran, dass ihr Reich nicht in Mesopotamien lag, dem Land zwischen Euphrat
und Tigris, wohin die ersten Forscher durch die Bibel und ihre Geschichten gelockt wurden.
Zwar hat die Bibel auch die Erinnerung an die Hethiter bewahrt (beispielsweise im 1. Buch
Moses, Kapitel 23, oder die Geschichte von König David und Urija, dem Hethiter, im 2. Buch
Samuel, Kapitel 11), doch schienen sie den damaligen Forschern längst nicht so attraktiv wie
die Babylonier und Assyrer. Erst 1812 entdeckte der Schweizer J. L. Burckhardt (1784–1817)
im Ort Hama in Syrien auf mehreren Steinblöcken rätselhafte Hieroglypheninschriften, die
sogenannten Hamath-Steine. Wieder etwa sechzig Jahre später erkannte man, dass diese
Zeichen mit den ägyptischen Hieroglyphen der Pharaonen am Nil nichts zu tun hatten. Es
musste sich um die Schrift einer anderen Hochkultur handeln. Da man in der Bibel schon
vom Volk der Hethiter gelesen hatte, das in dieser Region gelebt haben soll, nannte man die
Erschaffer dieser Schrift Hethiter und ihre Schrift hethitische Hieroglyphenschrift. Damit
waren die Hethiter in die Forschungswelt aufgenommen.
Heute gibt es eine wissenschaftliche Fachrichtung, die sich mit den Hethitern und
den Völkern im Gebiet der Türkei und Nordsyriens beschäftigt: die Hethitologie.
Sie etablierte sich zunächst in Deutschland seit 1915, nachdem die Hauptstadt
der Hethiter und ihre verschiedenen Schriften erkannt und teilweise entziffert
worden waren.
Hauptstadt mit reichen Funden
Schon 1834 hatte man die Ruinen der hethitischen Hauptstadt Hattusa beim Dorf Bogazköy
entdeckt. Allerdings waren sie damals noch nicht mit den Hethitern in Verbindung gebracht
worden. Erst als der Franzose Ernest Chantre 1883 dort Tontafeln in der noch unbekannten
Sprache der Hethiter fand, wurde der wissenschaftlichen Welt klar, dass hier die einstige
Hauptstadt der Hethiter gelegen haben musste.
Auch die Hethiter schrieben ihre Texte vor allem in Keilschrift, allerdings in
ihrer eigenen Sprache, dem Hethitischen. Solche Texte in hethitischer Sprache
hatte man um 1888 schon im ägyptischen Tell el-Amarna entdeckt, es sind die
sogenannten Arzawa-Briefe. Man konnte sie aber noch nicht verstehen. Zwar
waren die Keilschriftzeichen lesbar, die hethitische Sprache aber wurde noch
nicht verstanden.
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Orientforschung auf dem Prüfstein
Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Engländer von der türkischen Regierung die Grabungserlaubnis für das Gelände beim Dorf Bogazköy erhalten. Als sich dann der deutsche
Kaiser Wilhelm II. einmischte, wurde ihnen die Erlaubnis wieder entzogen und der Deutschen
Orient-Gesellschaft übergeben. Die Engländer wurden dafür mit einer Grabungserlaubnis
am Ort Karkemisch entschädigt. Die Ausgrabungen in der Hauptstadt der Hethiter leitete
zwischen 1906 und 1912 der deutsche Archäologe Hugo Winckler (1863–1913). Obwohl er
in den letzten Jahren schon schwer krank war, verzeichnete er sensationelle Entdeckungen.
Besonders bedeutend war der Fund des königlichen Tontafelarchivs mit über 20.000 Tontafeln.
Nun kannte man die hethitischen Könige und ihre Geschichte auch dem Namen nach. Vor
allem war es jetzt möglich, der hethitischen Sprache genauer auf den Grund zu gehen.
Geradezu den Atem verschlagen hat es dem Ausgräber Hugo Winckler, als er unter
den Tontafeln aus Hattusa eine Kopie des hethitisch-ägyptischen Friedensvertrags
zwischen König Hattusili III. (etwa 1265–1235 v. Chr.) und Pharao Ramses II.
(1279–1213 v. Chr.) fand (mehr dazu in Kapitel 11 im Buch). Denn diesen
kannte man schon aus ägyptischen Monumenten. Nun hatte er die wortwörtliche
Übersetzung desselben Textes in der hethitischen Hauptstadt entdeckt.
Wer die Nachfolge antritt
Auf die ersten englischen, französischen und deutschen Ausgräber folgten viele Generationen
an inzwischen gut ausgebildeten vorderasiatischen Archäologen. Unter ihnen waren jetzt auch
Amerikaner aus Philadelphia und Chicago, Holländer aus Leiden, Italiener aus Rom oder
Belgier aus Leuven. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts engagieren sich außerdem irakische
und syrische Forscher für die Erschließung ihrer eigenen Geschichte. Sie führten selbst zu
Kriegs- und Krisenzeiten Ausgrabungen durch, als Europäer und Amerikaner nicht in ihre
Länder einreisen konnten.
Auch die Sensationsfunde aus dem Orient lassen nicht nach, hier einige Beispiele aus dem
letzten Jahrhundert:
4 1927 entdeckt der Engländer Leonard Woolley (1880–1960) die Königsgräber von Ur aus
dem 3. Jahrtausend v. Chr. mit ihrem reichen Schatz aus Gold- und Silberschmuck.
4 1933 wird von französischen Ausgräbern die Stadt Mari in Syrien am Euphrat entdeckt.
Bis heute arbeiten Wissenschaftler daran, die über 25.000 Tontafeln der Palastbibliothek
zu übersetzen, die ein lebendiges Bild vom alltäglichen Leben am Hof im 2. Jahrtausend
v. Chr. bieten.
4 Seit 1964 wird von Italienern die Stadt Ebla in Syrien ergraben, die im 3. Jahrtausend
v. Chr. ihre Blütezeit hatte. Aus ihr stammen 20.000 Tontafeln, auf denen man eine neue
Sprache entdeckte: das Eblaitische. Sie ist stark verwandt mit dem Akkadischen und war
Wissenschaftlern zuvor völlig unbekannt.
4 1988 entdeckten irakische Ausgräber in Nimrud die Gruft mit den Gräbern assyrischer
Königinnen. Sie sind reich mit Goldschmuck und Edelsteinen ausgestattet.
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4 2002 fand man in der Stadt Qatna in Westsyrien eine Königsgruft mit Schmuck und
vielen Tontafeln, die in das 2. Jahrtausend v. Chr. datieren. Zum ersten Mal wird bekannt,
wie kleinere Königreiche, die an der Mittelmeerküste lagen, an der großen Politik in
Mesopotamien beteiligt waren.
Inzwischen werden wieder internationale Grabungen in Zentralmesopotamien geplant, dem
modernen Irak. Trotz der vielen bereits erbrachten Erkenntnisse, ist die Region allein wegen
ihrer langen Geschichte und der vielen Völker, die dort siedelten, reich an Fundobjekten. Ein
Ende der Forschung samt ihren Sensationsfunden ist daher noch lange nicht in Sicht.
Babylonische Verwirrung
Die Mühen der ersten Ausgräber im Orient hatten sich ausgezahlt. Der Alte Orient mit
seinen vielen Kulturen und Völkern war wiederentdeckt. Nun konnten auch normale Bürger
die beeindruckenden Monumente, die Architektur, edlen Schmuck und Rollsiegel in den
europäischen Museen bestaunen. Abgesehen von den Fundobjekten gab es aber noch eine
andere Baustelle, die es zu bewältigen galt. Parallel zu den ersten Ausgrabungen waren in
Europa Wissenschaftler damit beschäftigt, die Keilschrift zu entziffern.
Das Rätsel um die vielen Keilschriften
Mit der Entzifferung der altpersischen Keilschrift durch Georg Friedrich Grotefend war erst
der Anfang gemacht. Denn es gab noch weitere Keilschriften und Sprachen im Orient, die es
zu entziffern galt. Die Textproben, an denen die Gelehrten verteilt über ganz Europa saßen,
stammten von den Achämeniden (685–331 v. Chr.). Sie waren meist dreisprachig verfasst,
in Altpersisch, Babylonisch und Elamisch. Für die Entzifferung war das von Vorteil, da mit
der Erschließung einer Sprache der Weg für die nächste freigelegt war. Ganz so einfach
gestaltete es sich dann allerdings doch nicht. Denn im Gegensatz zur altpersischen Keilschrift,
die nur 33 Zeichen hat, bereiteten die anderen Keilschriften mit ihren vielen Zeichen den
Sprachgelehrten große Probleme.
Zeichen- und Sprachenvielfalt
Die sogenannte mesopotamische Keilschrift war der Schlüssel zu den meisten Texten aus dem
Alten Orient. Sie hatte ein Inventar von etwa 600 Zeichen. Diese Schrift wurde am Ende des 4.
Jahrtausends v. Chr. in Südmesopotamien erfunden und blieb bis zum 1. Jahrtausend v. Chr.
die wichtigste Schrift im gesamten Orient. Das lag daran, dass man mit ihr viele verschiedene
Sprachen schreiben konnte.
Dasselbe Prinzip gilt für das lateinische Alphabet. Zwar wurde es für das Lateinische entwickelt, heute schreibt man damit die meisten Sprachen der Welt,
Englisch, Deutsch, Spanisch, Polnisch und sogar Türkisch. Alle diese Sprachen
verwenden dieselben Buchstaben.
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Orientforschung auf dem Prüfstein
Die mesopotamische Keilschrift ist kein Alphabet, sondern eine Silben- und Wortschrift,
weshalb sie auch so viele Zeichen benötigt. Mit ihr schrieb man auf Sumerisch, Babylonisch,
Assyrisch, Hethitisch, Hurritisch und Elamisch. Über die Jahrhunderte wurden die einzelnen
Zeichen vereinfacht. Auch brauchte nicht jede Sprache das ganze Inventar an Zeichen. So
kam das Elamische mit überschaubaren 150 Zeichen aus, während man für das Babylonische
400 Zeichen verwendete. Das bedeutet aber auch, dass man einen Text nicht verstehen kann,
nur weil man die Zeichen erkannt hat. Auch eine ungarische Speisekarte würde ein Deutscher
zwar lesen, aber nicht verstehen können. Zusätzlich zur Schrift musste man also auch die
Sprache kennen.
Viele Keile, viele Tücken
Die mesopotamische Keilschrift hatte viele Tücken, denen viele fleißige Entzifferer gemeinsam
auf die Spur kamen. Die Mehrsprachigkeit der persischen Texte aus Persepolis und Behistun
waren dabei eine große Hilfe. Hierdurch konnte man zum Beispiel die Schreibung von
Eigennamen vergleichen und so einzelne Lautwerte für einzelne Zeichen herausbekommen.
Erste wichtige Erkenntnisse hatte der Schwede Isodor Löwenstern im Jahr 1846 gemacht.
Er hatte bemerkt, dass einzelne Zeichen auch einzelne Wörter darstellten, damit wäre
die Keilschrift eine Wortschrift. Er meinte außerdem, dass verschiedene Zeichen dieselben
Lautwerte hätten; das nennt man Homophonie. Erst 1850 kam der englische Reverend Edward
Hincks (1792–1866) mit dem wichtigsten aller Schlüssel: Die Keilschrift war erstens eine
Wort- und Silbenschrift, und zweitens mehrwertig. Das bedeutet, dass ein und dasselbe
Zeichen auf unterschiedliche Arten gelesen werden kann.
Wort-, Silben- und Determinativzeichen
Ein einzelnes Keilschriftzeichen kann auf drei Arten »gelesen« werden: 1. als Wort, 2. als
Silbe(n), 3. als Determinativ.
Das einzelne Zeichen für »Holz« kann zunächst einmal als das Wort selbst gelesen werden,
nämlich »Holz«, Akkadisch isu, Sumerisch GISCH.
Dann kann es die Silbe is darstellen und zusammen mit anderen Silbenzeichen ein anderes
Wort bilden, wie zum Beispiel is-hup-pu, der »Schuft«. Die Silbe is ist »einfach«, genau wie
ra, ru oder ur. Es gab aber auch »komplexe«, also lange Silben wie kak, dub oder kur.
Schließlich konnte das einzelne Zeichen auch als Determinativ vor einem anderen Wort
stehen. Eine solche Mehrwertigkeit gibt es heute noch in der chinesischen Schrift Kanji.
Determinative zeigen an, zu welcher Kategorie ein Wort gehört oder aus welchem
Material es besteht. Das Zeichen GISCH stand zum Beispiel vor Baumnamen,
Sträuchern oder auch einfach vor dem Wort »Garten«. Determinative werden
in der Regel nicht ausgesprochen. Nicht jedes Wort bekommt ein Determinativ.
Auch ist nicht unbedingt jede Kategorie vertreten, hier ein paar Beispiele: DINGIR
für »Gott«, LU2 für »Mensch«, ID2 für »Fluss«, URUDU für »Bronze« und so weiter.
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Babylonier, Hethiter & Co. für Dummies
Die letzte Hürde
Das letzte Rätsel auf dem Weg zur Entzifferung löste der britische Konsul Henry Creswicke
Rawlinson (1810–1895) im Jahr 1851. Er fand heraus, dass die Keilschrift auch noch polyphon
war. Das bedeutet, dass ein Zeichen nicht nur ein Wort und eine Silbe, sondern gleich mehrere
verschiedene Silben anzeigen konnte. Damit war die Verwirrung komplett.
Keilschrift-Schummelliste
Die wichtigsten Tücken der Keilschrift zusammengefasst auf einen Blick:
4 Silbenschrift: Ein Keilschriftzeichen steht für eine Silbe wie ba, il oder kak, und nicht
wie bei uns nur für einen einzigen Buchstaben a, l oder u. Dadurch werden mehr
Zeichen benötigt.
4 Wortschrift: Ein einziges Zeichen kann ein ganzes Wort abbilden. Das kommt daher,
dass sich die Keile aus einer Bilderschrift entwickelt haben: Bild für Hund = »Hund«.
4 Determinative: Das sind »stumme Zeichen«, die vor oder hinter einem Wort stehen und
anzeigen, zu welcher Kategorie es gehört.
4 Mehrwertigkeit: Ein Zeichen kann für ein Wort, für eine Silbe oder für ein Determinativ
stehen. Welchen Wert das Zeichen gerade hat, muss man aus dem Zusammenhang
erschließen.
4 Homophonie (Gleichklang): Unterschiedliche Zeichen können denselben Laut anzeigen.
Gleich klingende Zeichen werden als ba, ba2 , ba3 und so weiter gezählt. Für manche
Lautwerte gibt es mehr als 20 Zeichen.
4 Polyphonie (Vielklang): Ein Zeichen kann mehrere Laute anzeigen, zum Beispiel konnte
man das Zeichen mat, schat, lat oder als KUR für »Berg« lesen.
Hilfsmittel in Ton
Den modernen Entzifferern standen Hilfsmittel aus der Vergangenheit zur Verfügung. Unter den vielen Tontafeln, die man inzwischen ausgegraben hatte, fanden sich auch Wörterund Vokabellisten. Die alten Babylonier, Hethiter und Co. legten bereits im 3. Jahrtausend
v. Chr. Listen an, in denen sie alle möglichen Wortbedeutungen und Lautwerte der einzelnen
Keilschriftzeichen festhielten. Dort fand man zum Beispiel Gleichungen wie: LUGAL (Wortzeichen für »König«) = schar-ru-um (akkadische Aussprache mit mehreren Silbenzeichen).
Solche Listen waren größtenteils auch mehrsprachig. Die ältesten enthielten Sumerisch und
Akkadisch, später kamen sogar fünfsprachige Listen mit Sparten für die Sprachen Sumerisch,
Akkadisch, Hethitisch, Ugaritisch und Hurritisch dazu. Damit bekamen moderne Entzifferer
gleich ganze Wörterbücher in die Hand.
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Orientforschung auf dem Prüfstein
Entzifferung auf dem Prüfstein
Den meisten Rätseln der Keilschrift war man inzwischen auf die Spur gekommen. Trotzdem
waren die Wissenschaftler noch skeptisch, ob sie trotz dieser vielen Hürden tatsächlich den
Inhalt eines Textes richtig lesen und verstehen könnten. Allein beim Lesen einzelner Zeichen
gab es schon viele verschiedene Möglichkeiten. Die zündende Idee hatte der Engländer William
Henry Fox Talbot (1800–1877), eigentlich ein Mathematiker und Erfinder, der sich nebenbei
mit Keilschrift beschäftigte. Mit einem Wettstreit sollte die Entzifferung der Keilschrift auf
den Prüfstein gestellt werden. Hierzu wurden die besten Assyriologen ihrer Zeit herangezogen:
4 der britische Konsul Henry Creswicke Rawlinson (1810–1895)
4 der Reverend Edward Hincks (1792–1866)
4 der deutsche Orientalist Julius Oppert (1825–1905)
Der gebürtige Hamburger Julius (später Jules) Oppert war schon in jungen Jahren
mit glänzenden Ideen aufgefallen und wurde später Professor für Assyriologie
in Paris.
4 der Hobbyassyriologe William Henry Fox Talbot (1800–1877)
1857 kamen die vier nach London, um das Sprachexperiment in Angriff zu nehmen. Jeder
bekam in einem verschlossenen Umschlag einen unbekannten Keilschrifttext, der kurz zuvor
in Ninive entdeckt worden war. Es war eine Inschrift des assyrischen Königs Tiglatpilesar I.
(1114–1076 v. Chr.), die auf mehreren Tonzylindern stand. Jeder sollte daheim allein für
sich den Text übersetzen und seine Ergebnisse versiegelt zurück nach London schicken. Dort
wurden sie von einer ausgewählten Jury geprüft. Was dabei herauskam, war eindeutig und
über jeden Zweifel erhaben: Alle vier waren unabhängig voneinander auf dieselbe Übersetzung
gekommen. Damit galt die Keilschrift offiziell als entziffert. Die Assyriologie konnte nun als
ernst zu nehmende Wissenschaft ihre Arbeit aufnehmen.
Die Bibel kommt ins Spiel
Noch gab es von den Assyriologen nicht allzu viele Vertreter und die Tontafelberge aus
den aktiven Grabungen im Orient türmten sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den
europäischen Museen und ihren Magazinen. Was sie übersetzten, stellte die Welt auf den Kopf.
Nun kamen Texte zum Vorschein, die auch die Bibel etwas angingen. Heftige Diskussionen in
der wissenschaftlichen Welt entfachten die Entdeckungen von George Smith (1840–1876).
Der scharfe Blick eines Kupferstechers
George Smith war zum Kupferstecher und Graveur ausgebildet worden. Schon früh hatte
er allerdings eine Leidenschaft für die Keilschrift entwickelt und ging daher während seiner
Mittagspausen aus der Druckerei ins British Museum, um dort Tontafeln zu studieren.
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Dort entdeckte man sein Talent und stellte ihn als Restaurator und Assistenten ein. Smith
hatte ein gutes Auge für Texte und ihre Bruchkanten. Letzteres ist enorm wichtig für das
Suchen und Puzzlen von Tafelfragmenten. Schon vor seiner Einstellung hatte er einen Text
entdeckt, der den judäischen König Jehu am Hof des assyrischen Königs Salmanassar III.
(858–824 v. Chr.) nennt. Als gläubiger Christ war er der Meinung, damit zu beweisen, dass die
Bibel recht hatte.
Die »andere Sintflut«
1872 übersetzte George Smith einen Text, der sich als babylonische Version der Sintflutgeschichte entpuppte. Leider brach der Text in der Mitte ab, seine zweite Hälfte lag noch
irgendwo im Staub von Ninive begraben. Die Welt hielt den Atem an, würde man das fehlende
Stück finden können? 1873 brach Smith im Auftrag des Museums zum Ruinenhügel von
Kujundschik auf, wo er tatsächlich die fehlenden Zeilen fand. Jetzt konnte er alle Passagen
vollständig lesen und stellte fest, dass sie zum Teil die Bibel wortwörtlich wiederholten. Mit
dieser Entdeckung begann eine internationale Diskussion um Wahrheit und Unwahrheit der
Bibel, die ihren Höhepunkt im Babel-Bibel-Streit fand.
Am 13. Januar 1902 hielt der Berliner Professor für Assyriologie Friedrich
Delitzsch (1850–1922) einen öffentlichen Vortrag in Berlin, bei dem auch Kaiser
Wilhelm II. anwesend war. Delitzsch verkündete vor aller Öffentlichkeit Ansichten,
die gläubige Juden und Christen entsetzten. Seiner Meinung nach hatten das
Judentum und das Alte Testament ihre Wurzeln in der babylonischen Religion:
Babel hatte das Material für die Bibel geliefert. Der Streit, den der Gelehrte mit
seinem Vortrag entfachte, war gleichzeitig eine willkommene Werbekampagne
für die deutschen Ausgrabungen in Mesopotamien.
Heute ist man sich einig darüber, dass sich in der Bibel viele Traditionen aus dem alten
Mesopotamien wiederfinden. Schließlich haben die frühen Juden lange Jahre in Babylonien
gelebt (mehr dazu in den Kapiteln 14 und 16 im Buch).
Die Entdeckung des George Smith war noch in ganz anderer Hinsicht von
Bedeutung. Er hatte das Gilgamesch-Epos entdeckt. Denn die Geschichte der
Sintflut ist die elfte Tafel aus dem 12-tafeligen Epos, das die Geschichte des
legendären Königs Gilgamesch von Uruk erzählt. Im 2. und 1. Jahrtausend v. Chr.
war es ein Bestseller, der im gesamten Orient verbreitet war und in viele Sprachen
übersetzt wurde.
Sprachen und Schriften der Hethiter
Die Inschriften der Hethiter zu entziffern war eine besondere Herausforderung. Denn diese
schrieben ihre Texte nicht nur in einer Schrift und auch nicht nur in einer Sprache. Schon
Anfang des 19. Jahrhunderts hatte man die sogenannten hethitischen Hieroglyphen entdeckt
(mehr dazu weiter vorn in diesem Kapitel im Abschnitt »Wiederentdeckung der Hethiter«).
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Orientforschung auf dem Prüfstein
Ab 1880 wurden dann die sogenannten Arzawa-Briefe aus Tell el-Amarna und die Tontafeln
aus der hethitischen Hauptstadt Hattusa bekannt. Sie waren zwar in Keilschrift geschrieben,
allerdings in einer Sprache, die mit keiner anderen orientalischen, wie dem Sumerischen oder
dem Akkadischen, etwas zu tun hatte.
Hieroglyphen der Hethiter
Die Entzifferung der sogenannten hethitischen Hieroglyphen dauerte viele Jahrzehnte an
und viele Wissenschaftler mühten sich damit ab. Berühmtheiten wie Archibald Henry Sayce
(1845–1933) von der Universität Oxford war es schon gelungen, einzelne Zeichen richtig
zu lesen. Erst systematische Arbeiten, an denen sich viele Wissenschaftler aus aller Welt
beteiligten, führten dann zum Durchbruch in der Entzifferung. Unter ihnen waren der
Italiener Piero Meriggi (1899–1982), der Schweizer Emil Forrer (1894–1986) und der Deutsche
Helmuth Theodor Bossert (1889–1961). Trotzdem mussten bis in die 70er-Jahre des letzten
Jahrhunderts immer wieder Lesungen einzelner Zeichen korrigiert werden. Erst dann wurde
auch unter anderem vom britischen Hethitologen John David Hawkins (geb. 1940) erkannt,
dass die Sprache der Texte gar nicht Hethitisch, sondern Luwisch war. Seither wird die Schrift
auch luwische Hieroglyphen genannt.
Mehrsprachige Keilschrifttexte
Die Hieroglyphenschrift der Hethiter war für Inschriften in Stein oder Siegel reserviert.
Längere Texte, Urkunden und Briefe schrieb man im Reich der Hethiter genau wie in
Mesopotamien in der gängigen Keilschrift auf Tontafeln. Mit dem Fund des Tontafelarchivs
in der Hauptstadt Hattusa am Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Forscher mehr als
genug solcher Texte bekommen, um daran ihre Entzifferungsversuche zu unternehmen. Viele
der Texte waren in Akkadisch geschrieben, der gängigen Verkehrssprache im 2. Jahrtausend
v. Chr. Ein großes Rätsel bereiteten den Forschern allerdings solche Texte, die in einer bisher
unbekannten Sprache geschrieben waren, dem Hethitischen.
In den Keilschrifttexten der Hethiter aus Hattusa werden insgesamt sieben
Sprachen verwendet. Dabei handelt es sich meist um einzelne Wörter oder
Zeichen, die aus einer anderen als der hethitischen Sprache stammen. Abgesehen
von Sumerisch und Akkadisch benutzten die Hethiter noch Wörter aus dem
Protohattischen, dem Hurritischen, dem Luwischen und dem Palaischen. Die
Mehrsprachigkeit der hethitischen Texte stellte als Erster der Schweizer Emil
Forrer 1919 fest.
Schon nach dem Fund der sogenannten Arzawa-Briefe aus Tell el-Amarna bestand der Verdacht,
dass die Sprache der Hethiter zur Familie der indogermanischen Sprachen gehörte, zu der auch
Griechisch, Latein und Deutsch gehören. Das wollte damals in der wissenschaftlichen Welt
aber keiner so recht glauben, bis der Böhme Friedrich Hrozný (1879–1952) den endgültigen
Beweis erbrachte. Er entdeckte die Verwandtschaft des Hethitischen zu den indogermanischen
Sprachen an nur wenigen einfachen Wörtern. Damit hatte er die älteste indogermanische
Sprache der Welt erkannt.
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Babylonier, Hethiter & Co. für Dummies
Von Brot und Wasser
Friedrich Hrozný war nicht nur sprachbegabt, er hatte auch noch ein sagenhaftes Gedächtnis. Schon in der Schule hatte er Hebräisch und Arabisch gelernt. Anders als andere
Sprachforscher wollte er Texte einer anderen Sprache nicht nur lesen können, sondern
auch über die Menschen, die sie verfasst hatten, samt ihrer Kultur etwas erfahren. Nach dem
Tod von Hugo Winckler, der Hattusa ausgegraben hatte, wurde Hrozný 1914 von der DOG
zur Hauptstadt der Hethiter geschickt, um dort weiter Keilschrifttafeln zu studieren. Bei
seinen Versuchen, die Sprache der Hethiter zu entziffern, stieß er zunehmend auf Hinweise,
die den alten Verdacht bestätigten: Das Hethitische war eine indogermanische Sprache.
Absolute Sicherheit brachte ihm ein einziger einfacher Satz. Dort stand geschrieben:
nu NINDA-an e-iz-za-at-te-ni wa-a-tar-ma e-ku-ut-tu-ni
Das Keilschriftzeichen NINDA ist aus dem Sumerischen ausgeliehen und bedeutete »Brot«.
Besonders auffällig waren allerdings die zwei darauf folgenden Wörter. So klang e-iz-zaat-te-ni ganz verdächtig nach »essen« und wa-a-tar-ma nach »Wasser«. In den meisten
indogermanischen Sprachen klangen diese Wörter gleich: deutsch »essen« war im Lateinischen edere oder im Althochdeutschen ezzan, während »Wasser« dem Englischen »water«
glich. 1915 präsentierte Hrozný in Berlin seine Entdeckungen der wissenschaftlichen Welt:
Das Hethitische war eine indogermanische Sprache, die mit unserem Deutsch genau wie
mit Latein, Englisch oder Griechisch verwandt war. Damit hatte Hrozný den Grundstein
für das Fach der Hethitologie gelegt.
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