Der Barmixer

Franz Brandl
DER
BARMIXER
Erinnerungen an ein verrücktes Leben
Franz Brandl
DER
BARMIXER
Erinnerungen an ein verrücktes Leben
Meinen langjährigen Freunden, Bekannten und Kollegen,
die mich auf meinem Lebensweg begleiteten und mir Mut gemacht haben,
dieses Buch zu schreiben
Inhalt
Über den Autor
Vorwort
Der Start
In Bayern verwurzelt
6
7
8
9
Erschwerte Voraussetzungen
10
Schule aus – und nun?
11
Die Lehrzeit
14
Der Lehrbetrieb
14
Alles auf Anfang
16
Ausgelernt
25
Die ersten Schritte
26
1962 – »Syriana«
26
1962 – »Platzl«
29
1962 – »ba-ba-lu«
31
1964 – an der Nordseeküste
34
Der Weg zum Barmixer
36
1965 – Dortmund
36
1966 – Garmisch-Partenkirchen I
38
1967 – Cuxhaven
41
1967 – Garmisch-Partenkirchen II
42
1968 – Bielefeld
43
1968 – Garmisch-Partenkirchen III
43
1969 – zurück in München
44
4
Inhalt
Vom Barchef zum Bar Manager
45
1972 – »Sheraton« Hotel München
45
Bar Manager im »Sheraton«
49
Abschied vom »Sheraton«
63
Die deutsche American Bar
64
1974 – »Harry’s New York Bar«
64
Der Schlussakt für »Harry’s New York Bar«
70
Awards für das Lebenswerk
71
Ein Held meiner Kindheit
71
Bella Italia
73
1976 – ab in den Süden
73
Kamikaze in Kalabrien
74
Der Meisterbrief
77
Die Schulbank meisterlich drücken
77
IHK und Intrigen
78
Im Luxushotel und am Tegernsee
80
1977 – »Grand Hotel Continental« München
80
1977 – Tegernsee
83
Aubergine ist nicht nur eine schöne Farbe
86
Ab 1978 – Witzigmanns »Aubergine« München
86
Das perfekte Restaurant
88
Die »Max-Joseph-Bar«
90
Alles vom Feinsten
93
Ungeliebte Gäste
95
Reservieren und Riskieren
96
Frische Fische
99
Drei Sterne!
100
Nichts ist mehr wie zuvor
101
Mehr oder weniger exklusive Gäste
102
Inhalt
5
Aubergine as Aubergine can
106
Zwei für Erwachsene
107
Außergewöhnliche Episoden
110
Abschied vom »Aubergine«
112
Mein erstes Buch
114
1982 – die Bibel für den Barmixer
114
SPEZIAL – kurze Gastronomiegeschichte
116
Meine eigenen Bars
118
1983 – »Schwabinger Cocktail Lounge«
118
1987 – »Brandls Bar«
123
1992 – Feierabend!
124
Das Leben danach
126
Der Bücherboom
126
Endlich Zeit!
128
1995 – ab in die Provinz
132
Drei Vollpfosten
134
Der Tag geht, Johnnie Walker kommt
138
Kostbares in Cognac
140
Die famose Schnapsprobe
141
Ein feiner Wacholder
143
Volles Programm
144
Champagner ist leichtflüchtig
145
Mein Glück durch das Kreuz mit dem Kreuz
147
Auch der Landweg war okay
148
2002 – auf nach Spanien!
148
Wohnhaft in Malaga, dahoam in München
149
SPEZIAL – Bargeschichte
150
Nachwort Impressum
161
162
Über den Autor
F
ranz Brandl ist der bekannteste Barmeister Deutschlands. Im
unterhaltsamen Stil erzählt er seinen Weg nach oben in der
vielschichtigen Welt der Gastronomie und der Bars. Berühm-
te Persönlichkeiten kreuzten seinen Weg, und er war maßgeblich am Entstehen der neuen Cocktailära beteiligt. In diesem Buch berichtet er über die
Entwicklung der Bars, und amüsante Geschichten erzählen über das Leben
vor und hinter der Bar.
Mit seinen zahlreichen, seit 1982 erschienenen Cocktail- und Getränkebüchern öffnete Franz Brandl vielen den Einstieg in die Welt der Cocktails
und Bars, und seine beruflichen Erfolge sind eng mit dem Aufschwung der
Gastronomie verbunden.
Vorwort
V
or Jahrzehnten habe ich die Memoiren von Gustav Doebeli,
einem berühmten Barkeeper in der Zeit zwischen den Weltkriegen, gelesen, und sein Buch »Memoiren eines Barkee-
pers« war für mich letztlich der Ansporn, meine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Gustav Doebeli war für 25 Jahre Barchef in der berühmten Palace
Bar in St. Moritz. Damals war für mich an einen solchen Aufstieg nicht zu
denken, aber mein späteres Lebensziel war es, Barchef einer berühmten Bar
zu werden. Diese Zeit war jedoch vorbei, und Hotels dieser Art gab es nur noch
wenige. Es hatte sich viel geändert, aber die Basis dieses Berufs ist im Grunde immer gleich geblieben. Natürlich ist Bar nicht gleich Bar, und in diesem
Buch werden Sie auch einiges über die Entwicklung des Berufs erfahren.
Menschen suchen aus den verschiedensten Gründen eine Bar auf, und
davon und über das Leben vor und hinter der Bar möchte ich erzählen.
Franz Brandl
Der Start
A
m 4. Oktober 1944, dem Tag meiner Geburt, lagen mein Vater
und ich in der Scheiße. Ich in den Windeln und er an der Ostfront. Dort war er auf Befehl des Gröfaz (»größter Feldherr
aller Zeiten«). Darüber muss man nicht viel schreiben, denn dieses Kapitel
gereichte dem deutschen Volke nicht zu Ruhm und Ehre. Gleichwohl beeinflusste es nicht nur mein Leben massiv, sondern auch das meiner Familie,
das der Deutschen – und nicht zuletzt natürlich die Entwicklung der Welt.
Ein Blick in die »Münchner Neuesten Nachrichten« vom Mittwoch,
4. Oktober 1944, täuscht eine Normalität vor, die mich bis heute immer
wieder verwundert. Gemeldet wurde als Aufmacher auf der Titelseite »Das
Ende eines blutigen Abenteuers« mit dem Untertitel »Warschau als Opfer
des britisch-sowjetischen Doppelspiels – die Rolle Moskaus«. Weitere
Meldungen gab es über die »Angriffsvorbereitungen im Westen« und
»De Gaulle auf einem Pulverfass«. Auf der zweiten Seite folgte ein OKWBericht (Oberkommando der Wehrmacht), in dem über militärische Brennpunkte berichtet wurde. Es folgten Sportnachrichten, ein Bericht über die
Wertpapiermärkte und die Auslandsbörsen, über den zunehmenden Weltkaffeeverbrauch, über die Käseproduktion in der Schweiz. Noch normaler
wurde es bei den Kleinanzeigen. Dort vermittelten Familiennachrichten und
Todesanzeigen sowie Rubriken wie Verloren – Gefunden, Geschäftsempfehlungen, Tiermarkt, Vermietungen, Stellenangebote und -gesuche ein ganz
normales Alltagsbild. Dass die Welt in Flammen stand, war nicht unbedingt
ersichtlich, und heute liest sich diese Ausgabe relativ unspektakulär. Die
gegen Deutschland kämpfenden Streitkräfte rückten jedoch von allen Seiten
vor, und bald sollte nichts mehr so sein wie vorher.
In Bayern verwurzelt
9
In Bayern verwurzelt
Mein Geburtsort ist Gendorf bei Burgkirchen an der Alz, ein kleines Kaff im
südostbayerischen Landkreis Altötting, etwa 100 Kilometer östlich von München gelegen. In dieser strukturschwachen Region entwickelte sich durch
die Ansiedlung zahlreicher Betriebe das »bayerische Chemiedreieck«. Es
entstanden große Unternehmen und die dazu benötigten Elektrizitätswerke. Nach 1933 wurden die bereits bestehenden Großbetriebe ausgebaut, und
in Gendorf errichtete man einen riesigen elektrochemischen Betrieb. Das
»Werk« war die alles beherrschende Größe der Region und beeinflusste unsere Familie bis zurück zu den Großeltern.
Die Altvorderen
Mein Großvater Lorenz Thanbichler (Jahrgang 1893) stammte aus einem
kleinen Ort in der Nähe vom Freilassing, gegenüber von Salzburg. Seine Vorfahren waren dort seit dem Spätmittelalter ansässig, und sein Stammbaum
ist zurück bis ins Jahr 1430 sicher bezeugt. Er war Zimmerer und ließ sich
nach seiner Verwundung im Ersten Weltkrieg in Gendorf nieder. Dort gab
es Arbeit, er baute ein Haus und heiratete 1921. Ein Jahr später kam meine
Mutter zur Welt.
Auch mein Vater (Jahrgang 1910) kam nach Gendorf, weil es dort Arbeit
gab. Er war zwar nicht weit entfernt davon im südlichen Nachbarlandkreis
geboren, aber mit 15 Geschwistern wurde es auf dem elterlichen Bauernhof zu eng. Noch dazu, wo ja immer der älteste Sohn den Hof erbte. Er war
einfacher Arbeiter und nach Arbeits- und Militärdienst musste er 1941 mit
in Jugoslawien einmarschieren. Als Gebirgsjäger diente er in der 11. Armee.
Und das hieß: Russland. Hauptsächlich durch die Ukraine über die Krim bis
in den Kaukasus und zurück. 1945 ergab sich sein Truppenteil in Böhmen den
Russen, und die wollten die Kriegsgefangenen nach Russland bringen. Bei
Nacht und Nebel gelang meinem Vater die Flucht, und er konnte sich bis in
die amerikanisch besetzte Zone durchschlagen. In der oberfränkischen Stadt
Naila stellte er sich den Amerikanern, die ihn jedoch wieder an die Russen
auslieferten. Diese verfrachteten ihn nach Odessa.
10
Der Start
Im Juli 1945, inzwischen auf 45 Kilogramm abgemagert, musterte ihn
eine russische Ärztin aus, und er wurde mit einem Lazarettzug in die Heimat
geschickt. Von München aus kam er mit einem Zug bis Mühldorf; die restlichen 20 Kilometer legte er irgendwie zurück.
Nach vier Wochen Rückreise und drei Monate nach Kriegsende war mein
Vater wieder zu Hause. Das ist insofern unglaublich, da man ja weiß, wie lange viele deutsche Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft waren. Noch
unglaublicher aber ist, dass auch seine neun Brüder, die allesamt bei der
kämpfenden Truppe in Russland waren, mehr oder weniger unversehrt kurz
nach Kriegsende wieder zu Hause waren. Gegen diese Heimkehrerquote ist
ein Sechser im Lotto gar nichts.
Erschwerte Voraussetzungen
Deutschland lag am Boden, und es gab nichts. Durch unsere weitverzweigte Verwandtschaft war wenigstens das Nötigste zum Leben vorhanden. Wir
wohnten äußerst beengt im Haus der Großeltern, und mein Vater arbeitete
überall da, wo es Arbeit gab. Bald darauf nahm das »Werk« die Produktion
wieder auf, und mein Vater wurde dort eingestellt. Nachdem er für 600 DM
1000 Quadratmeter Baugrund (für etwa zwei Monatslöhne) gekauft hatte,
begann er zu bauen. Damals half jeder jedem, und vieles wurde selbst gefertigt. So waren z. B. die Schlackensteine selbst gemacht. Einer dieser Steine
liegt nun seit über 60 Jahren vor dem Haus, sie sind quasi unzerstörbar.
1952 erfolgte der Einzug. Ich war acht Jahre alt, und jetzt begann auch
mein Leben so richtig. Mein Vater arbeitete im Schichtdienst und meine
Mutter tagsüber ebenfalls im »Werk«. Wir Kinder streunten durchs Gelände, badeten in der Alz (dem Abfluss des Chiemsees) und verbrachten unsere
Zeit mit Fußball, als Räuber und Gendarm, als Cowboy und Indianer.
Die weite Welt klopft an
Von 1950 bis 1958 besuchte ich die Volksschule und lernte außer Lesen und
Schreiben genauso wenig wie alle anderen. Man kann sagen, dass wir nach
Schule aus – und nun?
11
der Schule noch völlig verblödet waren. In einem zeichnete ich mich aber
aus: Ich war ein Ass in Erdkunde. Bekannte unserer Familie besaßen einen kompletten Brockhaus. Nachdem ich darin viel gelesen hatte, blieb
ich beim Atlas hängen. Von nun an las ich die Karten und alles, was damit
zusammenhing.
Ab der sechsten Klasse verschonte mich unser Lehrer mit kindischen
Fragen und mit dem Eintragen von irgendwas in Vordrucke. Mit der Geografie einher ging Geschichte und damit auch Politik. Alles Wissen, das ich
später gut gebrauchen konnte. Unser Lehrer, ein Offizier der Wehrmacht,
war nicht allzu streng, verteilte aber gerne mit dem spanischen Rohr Tatzen
– Schläge auf die Hand mit einem Stock. Immer auf die linke, denn mit der
rechten musste man schreiben. Linkshänder gab es zu dieser Zeit sowieso
nicht (denn »was nicht sein darf, das nicht sein kann« ...). Des Herrn Lehrers Lieblingsfach war Sport. Dann ließ er uns in der Turnhalle militärisch
ausgerichtet Aufstellung nehmen und im Gleichschritt marschieren. Dazu
sangen wir alte Gassenhauer wie »Schwarzbraun ist die Haselnuss«, »Wir
lagen vor Madagaskar« und besangen das kleine Blümelein »Erika«. War
für alle befriedigend. Keine Schinderei – und wir lernten immerhin den aufrechten Gang.
Schule aus – und nun?
Das Schulende nahte, und die Frage »Was jetzt?« wurde immer dringlicher.
Einige Mitschüler hatten den Bauernhof der Eltern, andere begannen in der
elterlichen Schreinerei, Metzgerei oder was es sonst noch gab. Realschule
oder gar Gymnasium besuchte keiner. Es blieben also nur die vom »Werk«
ausgeschriebenen Lehrstellen in Handwerksberufen. War aber alles nichts
für mich, und ich wartete weiter auf die geniale Idee.
Ich war mit der weiten Welt beschäftigt, las alles, was ich finden konnte,
und träumte von Reisen zu all diesen Orten. Dann stellte sich jedoch die Frage: Wie? Ich wollte unbedingt auf ein Schiff und hinaus in die Ferne. Verrückt,
wenn ich heute darüber nachdenke. Da ich mich aber nicht davon abbringen
ließ, schrieb meine Mutter schließlich an das Arbeitsamt Mühldorf.
12
Der Start
Schule aus – und nun?
13
»Herr Ober!«
Auf den Gedanken, Kellner zu lernen, kam ich durch ein Buch, in dem sinngemäß über Piccolos im Hotel und deren Streiche erzählte wurde (Piccolos
nannte man früher Kellner in der Ausbildung). Köche kamen darin zwar auch
vor, aber das war nichts für mich. Das also war die Idee. Ich beschloss, Kellner
zu lernen, um dann als Steward auf Schiffen zu arbeiten. Sollte ich sesshaft
werden wollen, hätte ich auch eine Arbeit, die man an Land ausüben konnte.
Ende Oktober 1958 erhielt ich ein Schreiben vom Arbeitsamt Mühldorf,
in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich für eine Lehrstelle als Messejunge
mindestens 16 Jahre alt sein müsse (Messejungen waren Hilfsbedienstete in
der Küche und im Service auf Schiffen).
Also wieder Arbeitsamt und Anfrage für eine Kellnerlehre. Es bot sich
eine Stelle in Mühldorf, einer etwa 20 Kilometer von meinem Zuhause entfernten Kreisstadt. Das war aber noch nicht weit genug weg und zudem immer noch Provinz. Die große Welt begann für mich erst mit der Vorstufe
München, der Planet musste noch warten. Hätte ich geahnt, dass ich nun für
Jahre in der Scheiße stecken würde – ich hätte es trotzdem getan ...
Die Lehrzeit
D
as Arbeitsamt München vermittelte mir 1958 eine Lehrstelle in einem Restaurant in der Münchner Innenstadt. Dieses
lag unweit vom Stachus, dem damals verkehrsreichsten Platz
Europas und Mittelpunkt der Stadt, nahe dem Hotel Bayerischer Hof. In
diesem Teil der Stadtmitte war fast alles wieder aufgebaut, und die Ruinengrundstücke waren von Bretterzäunen verdeckt. Das heutige Aussehen erhielt München erst ab 1966, nach der Entscheidung, dass die Stadt die Sommerolympiade 1972 ausrichten würde.
Für mich war das alles neu, und mit einer Straßenbahn war ich auch
noch nie gefahren. Ich fuhr also mit meiner Mutter zunächst mit dem Zug
nach München und stellte mich im Restaurant vor. Die Inhaberin gab sich
zuckersüß und sülzte meiner Mutter die Ohren voll. Man wollte sich um alles
kümmern, mich alles lehren, auf mich aufpassen und alles tun, damit es mir
gut ging. Man begutachtete sogar mein Abschlusszeugnis der Volksschule
und tat, als würde man abwägen. Dieses Einstellungsgespräch war filmreif
und an Verlogenheit nicht zu überbieten.
Der Lehrbetrieb
Meine Lehrfamilie stammte aus Karlsbad und hatte dort zwei Hotels betrieben. Nach der Vertreibung fasste sie Fuß in München und pachtete das
Restaurant in der Innenstadt. Meine Lehrherrin war Geiz und Gier in einer
Person und ein unglaublich böses Weib. Ihr Mann war älter als sie, aber immer auf Ausgleich bedacht. Abends trank er seine Schoppen Wein und war
Der Lehrbetrieb
15
zufrieden. Der Sohn war Serviermeister, und ich kann ihn nur als herrisch,
arrogant und schlimm beschreiben. Er hatte Bluthochdruck, immer einen
roten Schädel und wurde auch nicht alt. Gott sei Dank war er zu meiner Zeit
viel unterwegs und nur selten da. Dann gab es noch eine 17-jährige Tochter,
die mittags und abends die Getränkeausgabe machte.
Einer für alles
Ich nannte mich zwar Kellnerlehrling, wurde aber ausgenutzt und war
hauptsächlich Hausmeister, Putzer, Spüler – und Depp vom Dienst. Damals,
zu Zeiten des Wirtschaftswunders, fand jeder eine Lehrstelle. Die Münchner Jungs waren etwas schlauer als ich und besetzten die bekannten Hotels.
Da auch die weniger begehrten Betriebe Lehrlinge brauchten, schickte man
denen die Idioten vom Land. Durch die Berufsschule lernte ich die Lehrlinge
anderer Betriebe kennen und begriff bald, dass ich voll ins Klo gefasst hatte.
Ein Zurück gab es nicht. Ich hätte 50 DM Strafe bezahlen müssen (die ich
nicht hatte) und dann zu Hause zu hören bekommen, dass man es mir vo­
rausgesagt hätte. Außerdem wollte ich ein Lehrzeugnis ohne Stellenwechsel.
Zu Beginn der Lehrzeit war ich 14 Jahre alt und 162 Zentimeter groß.
Während der drei Lehrjahre wuchs ich pro Monat einen halben Zentimeter,
hatte also nach der Lehre mit 17 Jahren eine Höhe von 180 Zentimetern erreicht. Ärzte sagten mir später, dass ich bereits damals durch das Schleppen
des schweren Geschirrs und der Tabletts auf den Schultern das Fundament
für meine späteren Rückenprobleme gelegt hätte.
Eine harte Zeit
Mein Monatsverdienst betrug 15 DM im ersten, 25 DM im zweiten und 35 DM
im dritten Lehrjahr. Dazu muss man wissen, dass damals eine Zehnerschachtel Zigaretten 1 DM, eine Bratwurst 80 Pfennig, eine Banane 50 Pfennig, eine Bild-Zeitung 10 Pfennig, eine Trambahnfahrt 30 Pfennig und eine
Straßenbahn-Monatskarte 10 DM gekostet haben.
Das Essen war im Restaurant für mich frei. Ich musste aber (was damals
eigentlich schon nicht mehr statthaft war) alles, was mir irgendwie zu Bruch
16
Die Lehrzeit
ging, bezahlen. Das bedeutete: Jedes Glas und jeder Teller, also alles, was ich
beim Service oder beim Spülen zerbrach, wurde mir vom Lohn abgezogen.
Somit habe ich faktisch drei Jahre nur fürs Essen gearbeitet. Und das
war mehr als nur Ausnutzung. Am Morgen gab es dünnen Tee, Brot, Margarine und Marmelade mit dicken Zuckerbrocken – ich esse bis heute keine Marmelade mehr. Mittags gab es die Tagessuppe und die Reste des Abonnentengerichts – aber nicht, wenn es Schweineschnitzel oder etwas Besseres gab.
Abends wieder Brot, Margarine und meist einen Bismarckhering. Den habe
ich dann immer auf das gegenüberliegende Kirchendach geschmissen, und
nach einiger Zeit warteten am Abend die Tauben schon darauf.
Alles auf Anfang
Am 1. Dezember 1958 traf ich mit dem Zug in München ein. Normalerweise
trat man seine Lehrzeit am 1. September an, und auch für die Berufsschule
war dies der Stichtag. Wegen der Verzögerung durch meine Seefahrtspläne war ich aber später dran. Ausgestattet mit 20 DM und einem Koffer mit
Unterwäsche, Socken, weißen Hemden, einer schwarzen Krawatte, einer
schwarzen Hose und einer weißen Kellnerjacke. Die Kellnerjacke war eine von
meiner Mutter umgearbeitete BDM-Sommerjacke (Bund Deutscher Mädel in
der NS-Zeit). Diese waren auch weiß, hatten hinten einen Steg und wurden
andersherum als bei Jungen geknöpft. Ich stand zunächst dumm rum und
tat, was man mir sagte. Ich konnte ja weder Teller tragen noch Tische abräumen und wusste überhaupt nicht, was Sache war. Also begann meine Arbeit
mit Gläserwaschen, Besteckpolieren und vielem anderem, was mir aufgetragen wurde. Kurz: Alle unbeliebten Tätigkeiten waren für den »Neuen«.
Die ganze Truppe bestand aus einem Kellner, einem ein Jahr älteren
Lehrling, einer Spülfrau, einem Koch und drei weiblichen Kochlehrlingen.
Mit diesem Personal fertigten wir wochentags zur Mittagszeit etwa 80 Gäste
ab, davon die Mehrzahl mit einem Abonnentengericht, das hieß, für alle das
Gleiche und etwas Einfaches.
Zusätzlich hatten wir im Nebenzimmer oft Hochzeiten oder sonstige
Extraessen. Um Heiratswütige auf uns aufmerksam zu machen, musste ich
Alles auf Anfang
17
wöchentlich zum Standesamt im Rathaus, um die Adressen in den Aufgeboten abzuschreiben. Das natürlich am Nachmittag in meiner Freizeit. Abends
buchten Vereine, Gesellschaften oder Firmen das Restaurant für Veranstaltungen aller Art.
Die ersten Tage schlief ich in einer Rumpelkammer auf einem Feldbett,
und nach einer Woche wurde ein Platz in einem Lehrlingsheim frei. Dort
teilte ich mir mit drei Kochlehrlingen ein Zimmer. Das war der erste Fortschritt. Im Betrieb hatte ich schnell begriffen, wie es läuft, und war, glaube
ich, eine große Hilfe.
Der immer hungrige Hamster
Ich war noch im Wachsen und hatte immer Hunger. Was von den Vorlegeplatten zurückkam, wurde sowieso verputzt. Ich schnappte mir aber auch
schon einiges, bevor es zum Gast gelangen konnte. Da man im Restaurant
nicht kauen darf, entwickelte ich mich bald zum Hamster mit oft vollen
Backentaschen.
Am Berufsschultag, den ich meist hungrig verbrachte, hatte ich am
Abend die Wahl zwischen Arbeit und etwas zu essen zu organisieren oder
hungrig nach Hause zu gehen. Wenn ich ins Restaurant ging, musste ich natürlich arbeiten. Es war sogar so, dass ich, wenn viel Arbeit anstand, in der
Berufsschule entschuldigt wurde.
Trinkgeld gab es wenig. Ich brauchte aber Geld für die Wäscherei, für
etwas zu essen am freien Tag, für Zigaretten und für die Straßenbahn.
Die damalige Straßenbahn ist mit dem heutigen Verkehrssystem nicht
zu vergleichen. Die alten Wagen ruckelten und kämpften sich nur langsam
durch die Stadt. Zu Stoßzeiten waren sie immer überfüllt, und einen Sitzplatz musste man meist zugunsten der Alten abgeben. Bis zum Jahr 1960 war
das Rauchen in der Tram noch erlaubt. Das Beste des Tages war die Fahrt
am Morgen im Sitzen mit einer Zigarette als erstes Frühstück. Leider gab es
dann eine Abstimmung, und obwohl ich sicher 100 Stimmzettel mit Ja ausgefüllt hatte, kam schließlich das Rauchverbot. Das war wohl Schiebung,
denn die Mehrheit rauchte damals noch. Damit war es aber auch mit den
Löchern in den Mänteln vorbei, die eigentlich jeder Trambahnbenutzer im
18
Die Lehrzeit
Rücken hatte: Wenn man auf den großen Trambahnplattformen stand und
rauchte, brannte man beim abrupten Abbremsen der Straßenbahn seinem
Vordermann unweigerlich ein Loch in den Pelz.
Salzburger Nockerl
Während der täglichen Hetze im Mittagsgeschäft passierten natürlich auch
Fehler. Man rutschte aus, stolperte, verlor Teller oder Besteck oder schüttete etwas auf einen Gast. Einmal saßen drei ältere Damen im Restaurant und
bestellten Salzburger Nockerl. Diese Süßspeise ist im fertigen Zustand eine
luftige Masse und besteht hauptsächlich aus zu Schnee geschlagenem Eiweiß und Zucker. Der Koch muss diese mit großem Zeitaufwand zubereiten,
und wegen der Gefahr, dass die Nockerl in sich zusammenfallen, muss auch
flott serviert werden. Und das in der Mittagszeit.
Wir hatten Silberplatten, auf die eine Papierunterlage kam, und darauf
wurde eine ovale Kokotte gestellt. Kokotten sind aus feuerfestem Steinzeug,
und Gerichte wie Salzburger Nockerl werden direkt in den Kokotten im Ofen
zubereitet. Bei uns passte das aber alles nicht zusammen. Wir arbeiteten
mit Stoffservietten, die in der Hand gehalten vor heißen Platten und Tellern
schützten. Ich nahm also die schwere Silberplatte mit der Kokotte darauf,
drei Teller sowie drei Teller mit Kompottschalen und machte mich auf den
Weg. Mitten im Restaurant, zwischen dem Service- und dem Gästetisch,
verrutschte die glühend heiße Kokotte und drückte gegen meinen Daumen.
Es gab keinen Ausweg, ich also weiter Richtung Gästetisch. Die Kokotte
wurde immer heißer und alles immer schwerer. Ich wurde immer schneller
und schaffte es noch bis zum Tisch. Aber nicht drauf, sondern drunter. Ich
schmiss den drei Damen alles auf die Füße und glaube bis heute, dass sich
die Salzburger Nockerl wie Napalm in ihre Strümpfe eingebrannt haben. Ein
unglaubliches Geschepper und Geschrei der Damen, ich am Tisch glückselig
lächelnd mit dem Daumen zur Kühlung im Mund.
Der damalige Kellner war ein kleines Männchen und eine unglaubliche
Pfeife. Er wollte mich schlagen und rannte mir nach. Ich ab in den Weinkeller, das Holzgitter aufgesperrt, von innen wieder zu, und dann war er auch
schon da. Komm raus, ich erschlage dich! Ich wackelte ein Nein mit dem Kopf
Alles auf Anfang
19
und wartete. Er tat so, als würde er die Treppe hinaufgehen, aber darauf fiel
ich nicht herein. Von oben kamen Rufe, er solle kommen, und als ich mir
sicher war, dass er weg war, verließ ich den Keller. Ich bin zurück ins Restaurant und habe weitergearbeitet, immer darauf achtend, dass sich unsere
Wege nicht kreuzten. Dieser Kellner war auch einer der Idioten, von denen
man, wenn man spät in der Nacht mal sagte, dass man müde sei, zu hören
bekam: »Sei froh, dass du ohne Beschuss arbeiten darfst.«
Pfirsich Melba
Eines Tages hatten wir mittags eine Hochzeit. Als Nachtisch gab es Pfirsich
Melba, also Vanilleeis mit Himbeerpüree und einem halben pochierten Pfirsich. Da wir keinen Tiefkühler hatten, sollte ich das Eis von der Eisdiele gegenüber holen. Ich also mit einem Tablett und 20 Sektkelchen los. Das allein
war schon schwierig zu tragen. Also die Eiskugeln rein und zurück. Das war
natürlich noch schwieriger zu tragen. Auf der Straße Autos und Straßenbahnen von links und rechts. Ich vor und zurück, und als es eine Lücke gab, versuchte ich es. Es wäre auch gut gegangen; bei mir löste sich aber eine Sohle
vom Schuh, und wie mit einem aufgeklappten Krokodilmaul blieb ich in einer Trambahnschiene hängen. Nun lag alles auf der Straße. Zurück im Restaurant habe ich mich geweigert, nochmals zu gehen. Der ganze Spaß hatte
mich so schon einen Monatslohn gekostet, weil ich die zerbrochenen Gläser
und das Eis ja bezahlen musste. Ich glaube, jemand aus der Küche hat dann
das Vanilleeis in einer Schüssel geholt.
So verging mein erstes Lehrjahr. Im zweiten änderte sich nicht viel, weil
kein Lehrling nachkam oder sich lange hielt. Die Kellner dagegen wechselten
dauernd, und immer wieder musste ich mich auf einen neuen einstellen.
Der Adolf
Zu Beginn meines zweiten Lehrjahres kam mit dem Adolf ein guter Typ zu
uns, der auch bleiben sollte. Er stammte aus Niederbayern, war 30 Jahre alt
und hatte während des Krieges in München Kellner gelernt. Nach dem Krieg
hatte er alle möglichen Jobs und ging dann zur Mitropa, der Speisewagen­
20
Die Lehrzeit
gesellschaft. Darüber konnte er lustige Geschichten erzählen, und mit ihm
war gut arbeiten.
Eine seine besten Geschichten war die von einem Amerikaner, der ein
Schnitzel bestellt hatte. Die Besatzung eines Speisewagens bestand zu der
Zeit aus drei Mann: einem Koch, einem Helfer und einem Kellner, und diese drei waren in jeder Hinsicht ein Team. Am Ausgangsbahnhof wurden die
Waren gefasst. Diese waren damals noch nicht extra gekennzeichnet, also
neutral. Man wusste, dass viel betrogen wurde und dass das Personal sich
illegal mit Ware versorgte. Um Betrügereien zu verhindern, wurden die Speisewagen von einer speziellen Truppe oft kontrolliert. Die oberste Anweisung
für den Kellner lautete, dass alles, bevor es einem Gast serviert wurde, ins
Bonbuch geschrieben sein musste. Wenn an den beiden Zugseiten die Kontrolleure auftauchten, hieß das Stillstand im Service. Es wurde alles gezählt,
was auf den Tischen stand, dazu der Bestand in Küche und Kühlschrank.
Die Differenz musste im Bonbuch stehen. So weit, so gut. Die Kellner in den
Speisewagen, die kontrolliert worden waren, klemmten eine Tischdecke
in ein Fenster, und wenn aus einem Zug in Gegenrichtung eine Tischdecke
wehte, wusste man: Am nächsten Bahnhof steigt eine Kontrolle zu.
Ein Schnitzel lernt fliegen
Einmal hatte Adolf den Gegenzug mit flatternder Decke übersehen, und die
beiden Kontrolleure standen in der Tür. Es war alles aufgeschrieben und die
überzähligen Flaschen entsorgt, nur ein Amerikaner war gerade beim Verzehr eines illegalen Schnitzels. Das war tödlich für die drei im Speisewagen.
Was also tun? Der Adolf ging zum Tisch des Amerikaners, vergewisserte sich,
dass ihn die Kontrolleure nicht sehen konnten, nahm den Teller mit dem
Schnitzel, öffnete das Fenster und warf ihn hinaus. Dem Amerikaner erzählte er irgendeinen Blödsinn, um ihn ruhig zu halten, und als die Kontrolle
durch war, bekam der ein neues Schnitzel.
Der Amerikaner wird sich jahrelang gefragt haben, was da überhaupt los
gewesen war: Die Deutschen hatten den Krieg verloren, waren alle nicht besonders gut versorgt, und dann schmeißt ein wahrscheinlich Wahnsinniger
ein Schnitzel aus dem Fenster ...
Alles auf Anfang
21
Das Brokatkleid
Zwei Geschichten fallen mir noch aus der Zeit mit dem Adolf ein. Einmal
sollte ich einer Dame ein kleines Fläschchen Rotwein servieren. Da war ich
höchstens einen Meter siebzig groß und musste mich beim Servieren öfter
auf die Zehenspitzen stellen. Die Dame trug ein burgunderfarbenes Brokatkleid, und wie man weiß, ist Brokat ein starrer Stoff. Bei ihr stand der Stoff
vorne und am Rücken v-förmig weg. Ich stand also mit dem Fläschchen auf
dem Tablett hinter ihr und stellte das Glas ein. Dabei sah ich ihre frei schwebenden Möpse, stellte mich, um besser sehen zu können, noch höher auf
die Zehenspitzen – und kippte ihr das Fläschchen mit dem Hals nach unten
in ihren V-Ausschnitt am Rücken. Sie erstarrte. Ich auch. Ich zog die Flasche aus dem Kleid, murmelte Entschuldigung und war weg. Der Adolf war
ihr dann beim Säubern behilflich. Dazu muss man vielleicht sagen, dass es
damals noch kein Playboy-Magazin gab und Möpse auf freier Wildbahn sehr
selten waren ...
Ich als Elektriker
Einmal hatten wir eine Weihnachtsfeier einer schlagenden Verbindung.
50 Mann hoch, das hieß, jede Menge Bier einkühlen, denn solche Gestalten soffen ungeheuerlich. Ich stellte eine U-Tafel, und in eine Ecke sollte
ein Weihnachtsbaum. Den holte ich am Nachmittag vom Viktualienmarkt
und stellte ihn auf. Ich schmückte ihn mit Lametta, Kugeln und 40 elektrischen Kerzen. Das sah schon mal sehr hübsch aus. Aber jetzt wurde es
schwierig, denn ich hatte vier Kabelenden. Da nur eine Steckdose in der Nähe
war, musste ich diese vier nun in dieser einen Steckdose unterbringen. Dazu
kroch ich unter den Baum, machte den Stecker auf und befestigte je zwei Enden an einem Kontakt. Nichts brannte. Ich raus und alle Lämpchen überprüft. Alles okay. Wieder runter und umgewechselt. Wieder nichts. Der Adolf
war am Antreiben: Die Leute kommen schon, mach Schluss etc. Ich eiligst
zwei Enden hierhin, zwei dahin. Wieder nichts. Wieder wechseln, und der
Adolf wieder am Antreiben. Dann die zwei hier, die zwei hier, an die Kontakte festgemacht, rein in den Stecker – und wieder nichts. Die Gäste standen
22
Die Lehrzeit
schon um mich herum, ich mit den Nerven fertig, noch mal gewechselt und
die Kontakte direkt in die Dose. Ein fürchterlicher Schlag, ich springe hoch,
reiße den Baum um, und der fällt auf die gedeckten Tische. Was folgte, war
ganz großes Theater ...
Bei dieser unvergesslichen Weihnachtsfeier wurde ein doppelwandiger
Cognacschwenker vergessen, der mich schon während der Feier fasziniert
hatte. Mit diesem Scherzartikel erschreckte man andere, indem man so tat,
als würde man ihnen den bräunlichen Glasinhalt ins Gesicht schütten. Ich
schnappte mir das Teil und ging in die Küche. Dort saß die Chefin an ihrem
Tisch, und ich rief: Hallo Frau Schmidt, stimmte ein Indianergeheul an,
schwang das Spaßglas auf ihr Gesicht zu und fing an zu lachen. Da bemerkte
ich, dass sie mehr als nur erschrocken war und ihr eine Flüssigkeit übers Gesicht lief. Ich hatte nicht gesehen, dass die innere Glaswand des Schwenkers
zerbrochen und er deswegen stehen geblieben war. Eilig entschuldigte ich
mich, versuchte, beim Säubern zu helfen, und verdrückte mich, um sie nicht
noch mehr aufzuregen. Da ich aber sowieso schon jede unangenehme Arbeit
machen musste, konnte sie mich kaum mit noch Schlimmerem bestrafen.
Ich war dann die nächsten Tage besonders brav.
Die Angorakatze
Die Tochter meiner Lehrchefin hatte eine schwarze Angorakatze, und die
sorgte für ein Erlebnis, über das ich heute noch lachen kann. Wir hatten
Drahtgestellkörbe, in denen man Flaschen transportieren konnte, auch
kopfüber. Eines Tages standen Flaschen zum Abtransport bereit, darunter
eine leere Flasche Eierlikör. Ich sah eine kleine gelbbraune Pfütze und meldete der Chefin, dass die Katze da hingemacht hätte. Sie kam, begutachtete
den zerflossenen Haufen und sagte (wahrscheinlich weil sie die Eierlikörflasche sah): »Das ist Eierlikör.« Ich darauf: »Ich hatte selbst eine Katze und
weiß, wie Katzenscheiße aussieht.« »Das ist Eierlikör!« »Katzenscheiße!!« »Eierlikör!!!« Und um mir zu beweisen, dass es Eierlikör war, tauchte
sie ihren Finger ein und leckte ihn ab. Es war Katzenscheiße.
Sie tat, als wäre sie sich nicht so ganz sicher, und ich suchte mir ein
ruhiges Plätzchen zum Lachen ...
Alles auf Anfang
23
Der Tanz auf dem Tisch
In meinem letzten Lehrjahr kam der Sohn der Familie zurück. Er arbeitete bei einem großen Münchner Gastronomieunternehmer. Dieser bewirtete
auch die Hallen auf der Münchner Messe. Dazu suchte man in allen Betrieben
Personal zusammen und setzte des Öfteren auch mich ein. Das war immer
sehr willkommen, da es mit bis zu 50 DM gut bezahlt wurde. Einmal gab es
eine große Bar-Mizwa-Feier (im Judentum das Fest anlässlich der religiösen
Mündigkeit der Knaben), und wir begannen am Mittag mit den Vorbereitungen. Es mussten Doppeltafeln gestellt werden, was gar nicht so einfach war:
Es standen nur Tische in den verschiedensten Längen, Breiten und Höhen
zur Verfügung. Trotz aller Versuche passten in der Mitte der Tafel einige Tische nicht zusammen, und es blieb ein freies Stück übrig. Wir deckten dieses
mit einem Karton ab und legten eine Tischdecke darüber. Passte!
Womit wir nicht gerechnet hatten: Nachdem der Alkohol reichlich geflossen war und weiter floss, begannen einige Gäste, auf den Tischen zu tan-
Ein Bankett in den Münchner Messehallen im Jahr 1961. Ich bin der Fünfte von links, ganz
rechts der Sohn meiner Lehrfamilie, der Zweite von rechts ist unser Oberkellner Adolf.
24
Die Lehrzeit
zen. Ich sah das Unheil kommen, als sich eine Dame immer mehr unserer
Fallgrube näherte. Sie trat schließlich genau auf den Karton, der gab nach,
und sie sank schreiend ein. Dabei sprengte sie natürlich die Tische auseinander und zog mit den Tischdecken alles, was darauf stand, zu sich hinunter. Es
war einfach herrlich, ganz großes Kino ...
Auf dem Großmarkt
An meinen freien Tagen (es gab nur einen pro Woche) arbeitete ich oft auf
dem Großmarkt. Dort gab es etwa 15 DM für eine Schicht. Hauptsächlich
waren Obst und Gemüse aus Eisenbahnwaggons abzuladen. Der Münchner Großmarkt wurde damals hauptsächlich per Bahn beliefert und war einer der größten Umschlagplätze für Obst und Gemüse in Europa. Ein guter
Job war das Aussortieren von angefaultem Obst, weil man sich da bedienen
konnte. Schlecht war, wenn man Kohle aus den Waggons kratzen musste,
das Schlimmste war aber das Beladen der Kühlwaggons mit großen Eisstangen. Die Waggons waren ja nicht elektrisch gekühlt, und man musste vom
Dach Eisstangen in die dafür vorgesehenen Schächte werfen. Diese wurden
von einem Lastwagen aus nach oben geworfen und dort von zwei Mann aufgefangen. Der dauernde Schlag auf die Brust und die Kälte brachten unsere
Lungen zum Pfeifen, und nach so einer Schicht war man erledigt.
Meine erste Bude und die holde Weiblichkeit
Aus dem Lehrlingsheim hatte man mich schon lange rausgeschmissen, weil
ich (unabsichtlich) bei einer Rangelei einem Kochlehrling den Arm gebrochen hatte. Damals war ich 14 Jahre alt. Ich fand schließlich für 35 DM im Monat eine Bleibe, einen Verschlag unter dem Dach eines kleinen Hauses, und
hatte wenigstens meine Ruhe. Später wurde auch mir bekannt, dass mein
»kleiner Freund« außer Pinkeln noch andere Aufgaben erfüllen konnte.
Nun kam zur täglichen Suche nach allem die Jagd auf das ewig lockende Weib
hinzu. Die Auswahlkriterien waren marginal, am beliebtesten waren »Küchenmäuse« mit Zugang zu Wurstbroten. Der Rest war nicht so relevant. Die
Frage »Zu dir oder zu mir« stellte sich nicht, da ja keiner sturmfrei wohn-
Ausgelernt
25
te. Wozu gab es schließlich den Englischen Garten, und was war im Winter
schon das bisschen Kälte im Vergleich zum Russlandfeldzug ... Wichtig war,
dass man ein ruhiges Plätzchen fand und nicht gestört wurde. Ein anderes,
aber nur kurzfristiges Hemmnis waren die mir bis dahin nicht bekannten
Nylonstrumpfhosen, aber auch der Umgang mit dieser Neuheit wurde pro­
blemlos bewältigt. Zu den sonstigen Sorgen und Ängsten kamen nun weitere, und man schwebte dauernd zwischen Picknick und Panik.
Ausgelernt
So vergingen meine drei Jahre Lehrzeit. Nach deren Ende musste ich noch
zwei Monate weiterarbeiten, um den aufgelaufenen Gläserbruch zu bezahlen. Ich sollte während der Lehre eigentlich monatlich mein geringes Gehalt
ausbezahlt bekommen, bekam aber nie etwas, weil dieses mit den zerbrochenen Gläsern und sonstigen Strafzahlungen verrechnet wurde. Es waren
also an meinem Lehrende noch etwa 200 DM offen, und diese nicht zu bezahlen, kam mir gar nicht in den Sinn.
Man wollte mich im Restaurant behalten, aber da wäre ich dann doch
lieber ohne Schiff zur See gefahren.
Ein Kellner mit Vornamen Fritz, den ich bei einer Extraveranstaltung
kennengelernt hatte, fragte mich, ob ich bei ihm im Restaurant »Syriana«
arbeiten wolle.
Die ersten Schritte
I
ch muss sagen, was Schnelligkeit, Service und Übersicht betraf, war
ich den Jungs, die in den Hotels eine ruhigere Zeit verbracht hatten,
weit überlegen. Dies waren damals noch wichtige Kriterien, denn
die Bezahlung erfolgte durch zehn Prozent Aufschlag auf den Umsatz. Bis in
die 1980er-Jahre ergab sich der Bruttoverdienst des Servierpersonals durch
dieses System. Das hieß: je mehr Umsatz, desto mehr Einkommen. Das Servicepersonal behielt also an jedem Arbeitstag sein Geld ein, und zu Beginn
des nächsten Monats bezahlte man Steuern und Sozialabgaben. Dadurch war
man von vielen Umständen, unter anderem von der Frequentierung des Lokals, von Feiertagen und auch oft vom Wetter, abhängig.
Es brauchte einige finanzielle Disziplin, denn am Monatsersten musste man ja außerdem die Miete usw. bezahlen. Das führte zum Kampf um
»gute« Gäste, also um die, von denen man wusste, dass sie teure Sachen
bestellten oder nicht mit dem Trinkgeld geizten. Es wurde natürlich auch um
die »besseren« Tische gekämpft, also um die von den Gästen bevorzugten.
Das System wurde dann mehr und mehr durch die Bezahlung von Festgehältern ersetzt. Dieses regelmäßige Einkommen brachte zwar Verbesserungen für die Belegschaft, jedoch nicht für die Gäste. Jedenfalls sah man früher
nicht so viel lust- und interesseloses Servicepersonal herumschleichen.
1962 – »Syriana«
In München-Schwabing hatte Mitte 1961 ein arabisches Restaurant eröffnet. Zu dieser Zeit gab es nur wenige ausländische Restaurants und arabische
1962 – »Syriana«
27
schon gar nicht. Das Restaurant war unglaublich schön eingerichtet und vermittelte eine orientalische Atmosphäre. Vom Aschenbecher bis zu den Damasttischdecken war alles aus Syrien herangeschafft worden.
Ich begann dort 1962, verdiente im Monat 250 DM netto und bekam
endlich etwas Luft. Kein Teildienst mehr, sondern von 17 Uhr bis Schluss und
sonntags frei. Wunderbar. Der damals besonders in kleinen Betrieben noch
übliche Teildienst zerriss jeden Tag, da man am Mittag und am Abend zu den
Essenszeiten arbeitete. Am Nachmittag hatte man Freistunden, aber was
fängt man mit dieser Zeit groß an? Nun also rund acht Stunden Arbeitszeit
am Stück und jeden Tag ausschlafen.
Der Inhaber war ein ehemaliger syrischer Diplomat, der gegen die V.A.R.
(Vereinigte Arabische Republik) war. Diese wurde vom ägyptischen Präsidenten Nasser initiiert und bestand von 1958 bis 1961 durch einen Zusammenschluss von Ägypten und Syrien. Dieser sehr gut Deutsch sprechende
Im Restaurant »Syriana«.
28
Die ersten Schritte
Inhaber, Dr. Ibrahim Tabbah, und
sein deutscher Adlatus ließen mit
dem »Syriana« ein Restaurant
einrichten, das seiner Zeit weit
voraus war. Neben dem libanesischen Koch Tufik und einer Helferin gab es nur noch den Kellner
Fritz und mich.
Fritz war als Soldat in Russ­
land gewesen, und wie bei vielen
anderen stellte der Krieg immer
noch sein vorherrschendes The­ma
dar. Er brauchte natürlich einen
Zuhörer, und so blieben wir viele
Nächte im Restaurant sitzen und
Werbung fürs »Syriana«.
tranken einiges. Er war der Chef,
da musste ich durch, denn er nahm
mich immer auf dem Nachhauseweg mit. Das hieß dann, schwer betrunken
am frühen Morgen mit seinem VW-Käfer durch die Stadt. War damals aber
noch kein allzu großes Problem. Es waren viel weniger Autos auf der Straße,
und die fuhren auch nicht so schnell. Wurde man wirklich einmal von der Polizei aufgehalten, dann hieß es nur: »Fahrt vorsichtig!« Es gab keine Alkoholtests oder Sonstiges. Im schlimmsten Fall musste man den Autoschlüssel abgeben und bekam ihn am nächsten Tag wieder, bezahlte höchstens
fünf DM Strafe – und das war es dann.
Syrisch und international
Unsere Küche war syrisch-libanesisch und international. Auf jeden Tisch
wurden Baguette und Butter gestellt, ein Service, den es zu dieser Zeit sonst
nirgends gab. Nach dem Essen servierte ich Schüsselchen mit Pistazien und
kochte auf einem offenen Holzkohlefeuer arabischen Kaffee. Die Gerichte auf der Speisenkarte waren mit Zahlen versehen, da Tufik, der Koch, nur
arabisch sprach. Er kochte aufsehenerregend, und das Geschäft lief gut. Wir
1962 – »Platzl«
29
hatten internationales Publikum, und unser Spitzengast war Prinzessin Soraya, die Exfrau des Schahs von Persien.
Der Inhaber Dr. Tabbah und seine Frau stammten aus reichen Familien,
und er ging sorglos mit seinem Geld um. Wegen der politischen Situation in
Syrien kam aber kein Geld mehr aus der Heimat, und irgendwann war Ende.
Auch dass Dr. Tabbah fast täglich in der Spielbank in Bad Wiessee war, trug
zu dieser Misere bei. Das Restaurant musste schließen, und uns wurde gekündigt. Als Dr. Tabbah wieder Zugriff auf sein Geld hatte, brachte er mir
eines Tages das noch ausstehende Gehalt an meinen neuen Arbeitsplatz.
Woher er wusste, wo ich jetzt arbeitete, ist mir heute noch ein Rätsel.
1962 – »Platzl«
Ich war wie immer pleite und auf der Suche nach Arbeit inzwischen im
»Platzl« gelandet, einem großen bayerischen Wirtshaus gegenüber vom
Hofbräuhaus und als bayerische Volksbühne sehr bekannt. Mittags war
es eine Gaststätte mit vielen Abonnenten, die alle ein günstiges Einheitsgericht bekamen, und abends Theaterbühne. Für mich hieß das wieder Teildienst und eine Schinderei ohne Ende.
Gott sei Dank kündigte unser Oberkellner Michael »Mike« später, und
um uns nicht im Stich zu lassen, besorgte er mir und den anderen jungen
Kollegen neue Jobs in München.
Aber zunächst zurück ins »Platzl«: Mike stammte aus Passau und war
ein unglaublich toller Typ. Er fuhr bereits in den 1950er-Jahren zur See, und
als ich ins »Platzl« kam, war er schon einige Jahre dort. Wir hatten um die
1000 Plätze und entsprechend viel Personal. Mike war wie ein Vater und beschützte uns vor den Hyänen, auch Bedienungen genannt. Außerdem boxte
er, und von ihm ein Schlag auf die Rübe – dann war früher Feierabend. Er
führte ein hartes Kommando, und sein Wort war Gesetz. Das war bei dem
abendlichen Trubel auch wichtig, wenn man weiß, wie sich Betrunkene aufführen können. Mike hatte die besten Tische in der Mitte, und alle Firmenreservierungen wurden bei ihm platziert. Da gab es der Einfachheit halber nur
Haxn und Bier.
30
Die ersten Schritte
Wir hatten kleine Holzbierfässchen mit (angeblich) drei Litern Inhalt.
Diese kamen direkt auf den Tisch auf einen kleinen Bock und dazu leere Krüge. Der Hahn wurde schon bei der Ausgabe eingeschlagen, dazu oben der
Spund für die Luft. In diesen kam ein kleiner Korken. Erst wenn man den
Hahn aufgedreht hatte und dann den Korken oben herausnahm, floss unten das Bier. Wurde gerne bestellt. Unangenehmen Gästen sagten wir, wie
das mit dem Fässchen funktionierte, aber nicht richtig, denn sie hielten sich
sowieso für schlauer. Oft schüttelten wir die Fässchen auch und freuten uns,
wenn sie dann unter einer Bierfontäne saßen.
Eine auf die Zwölf
Für die Fässer waren wir Kellner verantwortlich, und mancher Trottel meinte wohl, das Fass wäre im Preis enthalten. Eines Tages sah ich, wie ein Gast
ein Fass verborgen unter seinem Mantel mitnehmen wollte. Ich sagte es
Mike, und der wollte das Fass zurück. Großes Theater und Geschrei, denn
der Mensch gab das Fass einfach nicht her. Daraufhin gab ihm Mike eine
Furchtbare auf die Zwölf, und im Halblähmungszustand ließ dieser das Fass
natürlich los. Es regten sich immer mehr Leute auf und gingen auf Mike los.
Wir eilten zu Hilfe, und wer unseren Aufforderungen nicht folgte, kassierte
einen körperlichen Verweis. Dann bekamen wir Damenhandtaschen auf die
Köpfe, und der Tumult weitete sich immer mehr aus. Als wir bemerkten, dass
der Typ zu einem ganzen Rudel gehörte hatte und wir uns mit einem kompletten Bus angelegt hatten, rief Mike zum Abmarsch, und wir ließen alles
zurück. Gegenüber im Hofbräuhaus tranken wir Bier und Himbeergeist für
die Nerven, und nachdem uns Meldegänger gesagt hatten, dass wieder Ruhe
herrschte, kehrten wir zurück. Die Busbesatzung war weg; einige von ihnen
traten die Rückreise wohl etwas zerschlagen an.
Auf den Hund gekommen
Der Inhaber vom »Platzl« hatte einen heiß geliebten Boxerhund mit Namen Anka. Dieser Misthund lief immer in den Gängen zwischen Gastraum
und Küche rum, und immer musste man aufpassen, dass man nicht über ihn
1962 – »ba-ba-lu«
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stolperte. Oft gaben wir ihm die Knochen von den Haxn, und wenn er selig vor sich hinfraß, stempelten wir ihm das Hinterteil mit dem »Platzl«Stempel schön blau. Sein Herrchen drehte dann immer durch und suchte die
Attentäter. Einmal verschleppte Anka einen Knochen. Eine voll beladene
Bedienung trat darauf und fuhr wie auf einem Rollschuh ab. Das ganze Geschirr flog hoch durch die Luft und landete laut scheppernd auf dem Boden.
Ein Bild zum Schreien.
1962 – »ba-ba-lu«
Mich vermittelte Mike nach dem »Platzl« als Kellner in den Münchner
Nightclub »ba-ba-lu«. Nightclubs mit Livemusik und der Möglichkeit zum
Tanzen waren das Beste, was die Gastronomie damals an Unterhaltung bot.
Neben Wein und Sekt wurden Cocktails angeboten, und das Ganze hatte einen luxuriösen Nimbus. Ein Besuch in einem Nightclub war damals auch
nicht alltäglich und galt als Top-Ereignis.
Das Publikum war bunt gemischt. Wir wurden frequentiert von Pärchen,
die tanzen wollten, und vielen, die auf der Suche nach Begleitung waren – die
Aufforderung zum Tanz ist ja eine ideale Möglichkeit zur Kontaktaufnahme.
Es gab natürlich auch diejenigen, die bereits viel Geld hatten und es dementsprechend krachen ließen.
Nun begann für mich eine ganz neue und prägende Zeit. Nur Abenddienst, Musik, Hasen, Alkohol und eine vollkommen eigene und mir noch
unbekannte Welt. Das passte. Kein Essen schleppen, nur Getränke und fertig. Es waren auch keine stundenlangen Vorarbeiten nötig. Hauptsache, das
Personalbier war eingekühlt. Wir stellten die Tische richtig, Tischdecken,
Aschenbecher und Kerzenständer darauf und fertig. Die Brauerei lieferte
Eisstangen, und die wurden mit einem Eispickel in kleine Stücke zerlegt.
Würfeleisbereiter oder Spülmaschinen waren damals noch fast unbekannt
und sehr teuer.
Das »ba-ba-lu« war einer der drei Nightclubs mit Livemusik in München-Schwabing und hatte die besten Kapellen. Die Kollegen waren toll und
hielten zusammen. Das war auch nötig, denn damals wurde man noch leich-
32
Die ersten Schritte
ter handgreiflich, und unter den Gästen kam es oft zu Streitereien, die in
größere Tumulte ausarteten. Wir blieben aber immer Sieger.
Pepi und Tony
Ich begann dort am 24.8.1962, und als ich meine Papiere brachte, merkte
man, dass ich noch keine 18 war. Das umging man, und ich war eben »Aushilfe«. Der Club gehörte Juden, und ich muss sagen, dass ich nie besser behandelt worden bin. Später kehrte ich noch zweimal für weitere Jahre zurück.
Meine Kollegen Pepi und Tony waren hilfsbereite und väterliche Freunde,
und mit dem Tony stehe ich heute nach über 50 Jahren noch in Kontakt.
Der Pepi war Soldat gewesen, Tony hatte im Münchner »Grand Hotel
Continental« in den Kriegsjahren Kellner gelernt. Von ihm erfuhr ich vieles
aus der Zeit während und nach dem Krieg und wie man damals arbeitete. Er
erzählte mir auch, dass es da Nutriabraten gab und dieser, weil das Fleisch
sehr fett war, sich großer Beliebtheit erfreute. Nutria ist eine Art Biber oder
Bisamratte und soll sehr schmackhaft sein. Er erzählte mir auch, dass damals das wichtigste Handwerkszeug eines Kellners eine kleine Schere war.
Die brauchte man zum Abschneiden der Lebensmittelmarken.
Ab ins Headquarter
Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Tony auch im Deutschen Theater in
München. Dieses war zwar halb zerstört, aber einige Räume waren nutzbar.
Darin befand sich ein Club für amerikanische Armeeangehörige. Eines Tages hatten mehrere Amerikaner Sehstörungen und wurden zum Teil blind.
Daraufhin wurde das deutsche Personal verhaftet und im Winter, so wie
sie waren, auf Jeeps gesetzt. Man fuhr sie zum Verhör nach Heidelberg ins
amerikanische Hauptquartier, wo sie halb erfroren ankamen. Keiner plauderte, und als nach einigen Tagen aus München die Nachricht kam, dass die
Amis wieder sehen konnten, fuhr man sie zurück. Als Konsequenz wurden
jedoch alle rausgeschmissen. Man vermutete (und lag damit richtig), dass
gepanschter oder schlecht destillierter Alkohol die Ursache war, konnte es
aber nicht beweisen.
1962 – »ba-ba-lu«
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Musikalische Streiche
Während der Pepi immer ausgleichend war und meist verhinderte, dass aufmüpfige Gäste zu viel auf die Nuss bekamen, war Tony (mit damals 35 Jahren)
derjenige, der sich immer durchsetzte und immer für Spaß sorgte. Einmal
hatten wir einen arroganten Bandchef, der in der Mitternachtsshow ein Solo
zum Besten gab. Über der Tanzfläche hing ein Ventilator, und dessen Flügel bestreute Tony mit Pfeffer. Show on, Ventilator an, eine fürchtliche Nieserei, und die Show war vorzeitig zu Ende. Ein andermal hatten wir eine Band
aus Italien, der Bandchef hieß Cosimo. Er sprach kein Deutsch und sagte zur
Pause immer lustig »sitzen und trinken«. Tony brachte ihm einen neuen
Spruch bei, und dann hieß die Pause »schwitzen und stinken«. Ging nicht
lange, war aber gut.
Das Größte war ein Streich, den er unserer Lieblingsband, den »Corrado ei 93«, spielte. Der Sänger gab jeden Abend das italienische Lied »Il
Cane di Stoffa« zum Besten. Der Text handelte sinngemäß von einem Jungen und seinem Stoffhund. Tony sagte ihm, er solle das »Cane di Stoffa«
stärker bayerisch aussprechen, das würde gut ankommen. Er übte mit dem
Sänger, und beim nächsten Mal sang der: »Kann i di stopfa« – heißt übersetzt »Kann ich dich stopfen« (ordinär für bumsen). Da wurde es still im
Club, und wir lachten uns schief.
Non, je ne regrette rien
Meine Reifeprüfung der besonderen Art erlangte ich im Oktober um meinen 18. Geburtstag herum. Wir hatten eine Band, bestehend aus Deutschen,
Österreichern und der Bandchefin. Sie war Französin, um die 45 und hatte
sich gut gehalten. Und alle waren scharf auf sie. Damals war die französische Chansonette Edith Piaf auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und ihr Lied
»Non, je ne regrette rien« weltberühmt. Unsere Französin hatte eine sehr
gute Stimme und sang dieses Lied wirklich perfekt (das stellte ich aber erst
später fest, nachdem ich das Lied im Original gehört hatte). Im Club war jedes Mal absolute Stille, und viele hatten wie ich eine Gänsehaut. Zahlreiche
Gäste und auch ich warteten jeden Abend auf dieses Lied.
34
Die ersten Schritte
Nach einigen Tagen nahm mich die vergötterte Sängerin mit in ihr
Apartment, und ich stand vor der größten bisherigen Herausforderung meines Lebens. Halleluja! Und wie der Titel des Liedes sagt: »Ich bereue nichts.«
Irgendwie musste man ja schließlich erwachsen werden ...
Chubby Checker
Ein Highlight anderer Art war der Besuch von Chubby Checker bei uns. Er war
der König des Twists und kam nach einem Auftritt im Circus Krone zu uns.
Seinen Song »Let’s twist again« kannte jeder, und er war in allen Ohren.
Nach Schluss wollte Chubby noch weiterziehen und irgendwas aufreißen.
Mit einigen Kollegen und der Barfrau Monika wechselten wir in ein Frühlokal (die öffneten um fünf Uhr), und Monika musste schließlich »dran glauben«. So waren alle zufrieden, und ich, der kleine Furz vom Lande, durfte
mit dem weltberühmten Chubby was trinken.
Das alles stärkte mein Selbstvertrauen, und so konnte es weitergehen.
Ging es aber nicht. Mein Ziel war nach wie vor die Seefahrt. Mir ging es zwar
gut, aber mein Job im »ba-ba-lu« hatte keine Zukunft. Barmixer hätte mich
interessiert, aber man hatte zu der Zeit keine Chance.
1964 – an der Nordseeküste
Ein Kollege, den ich von der Berufschule her kannte, war im Vorjahr in der
Sommersaison auf der ostfriesischen Insel Spiekeroog gewesen und fragte
mich, ob ich im folgenden Sommer mitkommen würde. Ich dachte, mache
ich, dann bin ich schon mal an der See. Das Hotel hieß »Zur Linde« und war
für heutige Begriffe ein alter Kasten. Es bestand seit 1856 als Gasthof und
später als Hotel. In den letzten Jahrzehnten wurde es renoviert und modernisiert und macht heute einen hervorragenden Eindruck.
1962 war die schreckliche Sturmflut gewesen, die in Hamburg viele Todesopfer gefordert hatte und von der die ganze Nordseeküste betroffen war.
Auch das Hotel war etwas abgesackt, und alles, was rund war, rollte durch
den ganzen Saal.
1964 – an der Nordseeküste
35
Es war wieder die übliche Schinderei mit vielen Arbeitsstunden und
ohne freie Tage. Die Familie hatte auch eine Boxerhündin namens Anka (wie
im »Platzl« in München). Diese Anka lief auch dauernd vor der Küche herum, und man musste immer aufpassen. Sie ließ sich nicht verscheuchen,
und eines Tages schüttete ich ihr mit Absicht eine Tasse heiße Fleischbrühe
auf das Hinterteil. Dann war Ruhe.
Gastronomisch war das Ganze keine Herausforderung, Frühstück, Mittag- und Abendessen für die Hotelgäste und etwas Geschäft mit Tagesgästen. Dazu einige Ballabende mit Musik von Einheimischen. Das Modernste,
was gespielt wurde, war »Schwarzer Kater Stanislaus« aus den 1930er-Jahren, und das von völlig besoffenen Interpreten. Zum Wahnsinnigwerden für
einen wie mich, der ja schon einiges an guter Livemusik gehört hatte.
Auf der Insel gab es keine Autos, kein Kino, keine Kneipe und auch sonst
nichts außer Meer und Sand. Ich wollte ja nicht voreingenommen sein, aber
die Einheimischen, die »Insulaner«, hatten alle einen Schuss. Es war immer die Rede vom Inselkoller, und den hatten alle. Saufen war die Lieblingsbeschäftigung – was sollte man sonst auch tun. Für mich gab es neben der
Arbeit auch nichts Bewegendes, und so waren wir nachts, bewaffnet mit ausreichend Alkohol, am Strand oder in den Dünen unterwegs. Die Mädchen, die
mit den Eltern Urlaub machten, waren sozusagen unter Verschluss, und so
blieben nur die Insulanerinnen zur Unterhaltung übrig. Ich muss sagen, als
Bayer war ich sehr gefragt. Alle Inselmäuse wollten weg von diesem großen
Sandhaufen und hofften, dass sie einer mitnehmen würde. Ich ging weg –
aber ohne Maus.
Ende der Leseprobe von:
Der Barmixer - Erinnerungen an ein verrücktes Leben
Franz Brandl
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