Cicero, Philippische Reden Lehrerband zur Reihe classica von Matthias Hengelbrock Didaktischer Hinweis zur Leseprobe Grundsätzlich sollte man die Lektüre in Kap. 1 beginnen. Wenn die Philippischen Reden aber Thema des (kurzen) vierten Kurshalbjahres sind, kann man mit Kap. 8 (= Phil. 3, 3) anfangen, weil erst hier Ciceros eigentliche Mobilisierung des Senats zum Kampf gegen Antonius beginnt. Deshalb enthält die vorliegende Leseprobe auch Kap. 8 und 9. Der vollständige Lehrerband erscheint am 15. Februar 2015. Vandenhoeck & Ruprecht classica Kompetenzorientierte lateinische Lektüre Herausgegeben von Peter Kuhlmann Lehrerband 9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-90044-5 Umschlagabbildung: [email protected] © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Made in Germany. Satz und Layout: Dr. Matthias Hengelbrock, Oldenburg Haftungsausschluss Alle in diesem Lehrerband genannten Internetseiten sind zuletzt am 31. Januar 2016 sorgfältig geprüft worden. Verlag und Autor übernehmen aber keinerlei Gewähr für den Inhalt und die Aktualität dieser Seiten oder solcher, die mit ihnen verlinkt sind; dafür sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich. Haftungsansprüche gegen den Verlag oder den Autor, welche sich auf Schäden materieller oder ideeller Art beziehen, die durch die Nutzung oder Nichtnutzung der dargebotenen Informationen bzw. durch die Nutzung fehlerhafter und unvollständiger Informationen verursacht wurden, sind grundsätzlich ausgeschlossen. Inhalt I. Einleitung Textauswahl und -aufbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Didaktische Schwerpunkte und »Lernstoff« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Zur Arbeit mit der classica-Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Zur Arbeit mit dem Lehrerband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Texte 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. Ciceros Verhalten im März 44 (1, 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Antonius’ Verhalten im März 44 (1, 2–4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Ein wohlwollend-kritischer Blick (1, 29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Hoffnungen nach Caesars Tod (1, 31 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Ein letzter Appell an Antonius (1, 33 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Antonius’ Jugend (2, 44–47). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Antonius’ erstes Auftreten als Staatsfeind (2, 51–53) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Exkurs I: Die Philippischen Reden als Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Octavian als Retter in der Not (3, 3–5). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Freiheit oder Tyrannei (3, 28 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Nutzt die Gunst der Stunde! (3, 34 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Freiheit als höchstes Gut (3, 36). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Aufruf zum gemeinsamen Kampf (4, 11–13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Krieg oder Frieden (5, 1–3). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Ein Plädoyer für das SCU (5, 33 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Umdeutung einer Niederlage (6, 3–5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Cicero und der Konsens aller Gutgesinnten (6, 17 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Das Proprium des römischen Volkes (6, 19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Exkurs II: Zentrale Elemente antiker Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Zwei Argumente gegen einen Frieden mit Antonius (7, 9. 19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Ein drittes Argument (7, 21. 25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Das Exemplum des Gaius Popilius (8, 20–23). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Die Stimme der Weisheit (13, 5 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Die Lage ist günstig (13, 15 f. 49) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Ciceros Tod (Liv. CXX frg. 61) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Eine letzte Pointe (Auf. Bass. frg. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Ein antiker Nachruf (Liv. CXX frg. 62) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 III. Anhang Alphabetisches Vokabelverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung zu den Klausurvorschlägen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klausurvorschlag I (4, 14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klausurvorschlag II (5, 42 f. 45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klausurvorschlag III (8, 8). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klausurvorschlag IV (8, 11 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 109 113 114 116 120 122 124 3 1. Ciceros Verhalten im März 44 (1, 1) Gedankengang Vor meinen Ausführungen zur aktuellen politischen Lage möchte ich zunächst kurz rechtfertigen, warum ich am 1. Juli 44 Rom verlassen habe und am 31. August zurückgekehrt bin. Solange ich hoffen konnte, dass nach Caesars Tod die alte Ordnung, in der die Politik vom Rat und Einfluss des Senats bestimmt wurde, wiederhergestellt würde, hielt ich es für geboten, umsichtig auf dem Posten eines Konsulars und anerkannten Senators zu bleiben. Und das habe ich auch getan: In der Senatssitzung, die am 17. März im Tempel der Tellus stattfand, legte ich die Basis für einen politischen Ausgleich, indem ich mich für eine Amnestie der Caesarmörder einsetzte. Mein Vorbild waren dabei die attischen Demokraten, die 403 v. Chr. den Angehörigen des von ihnen beseitigten oligarchischen Regimes Straffreiheit zugestanden hatten. Kommentar In seiner 1. Philippischen Rede bemüht Cicero sich trotz deutlicher Kritik an Antonius und dessen Kollegen Dolabella grundsätzlich noch um eine Vermittlung zwischen den beiden amtierenden Konsuln und dem Senat. Deshalb verweist er schon in § 1 auf sein Verhalten im März 44, das zumindest oberflächlich auf einen Ausgleich der Interessen hinauslief (einerseits Bestätigung der ācta Caesaris, andererseits Amnestie der Caesarmörder). Hinter dem gleich zweifach vorgetragenen Gedanken, dass jede Form von discordia beseitigt werden solle (vgl. Z. 17 f.), schimmert bereits Ciceros politisches Programm der concordia ōrdinum (vgl. S. 45 der classica-Ausgabe). Am 1. August hatte Caesars Schwiegervater Lucius Calpurnius Piso im Senat eine mutige Rede gegen Antonius gehalten, allerdings ohne die von ihm (und im Nachhinein auch von Cicero) erhoffte Resonanz. Antonius verhielt sich daraufhin dem Senat gegenüber etwas konzilianter, allerdings nur scheinbar, denn am 1. September beantragte er, dass zukünftig allen Götterdankfesten ein Tag zu Ehren Caesars hinzugefügt werden solle, was einen Affront gegen alle Anhänger der alten republikanischen Ordnung darstellte. Cicero, der erst tags zuvor nach Rom zurückgekehrt war, blieb dieser Senatssitzung fern, was wiederum ein so eklatanter Affront gegen den prominenteren der beiden Konsuln war, dass Antonius drohte, Ciceros Haus einreißen zu lassen. Die Fronten waren also wieder verhärtet, und als Cicero am 2. September die vorliegende Rede zur eigenen Rechtfertigung hielt, zog Antonius es seinerseits vor, der Senatssitzung fernzubleiben. Vor diesem Hintergrund ist die Richtung, die Cicero zu Beginn seiner Rede einschlägt, bemerkenswert. Anregungen zur Unterrichtsgestaltung Die fast durchgehend kolometrische Aufbereitung des ersten Textes will ein lineares Vorgehen unter Verzicht auf eine transphrastische Vorerschließung nahelegen, damit die Schüler möglichst früh einen Sinn für den syntaktischen und logischen Aufbau von Ciceros Gedankenführung entwickeln. Die hierarchische Ordnung der einzelnen Kola soll allerdings noch bestimmt werden, sei es im gemeinsamen Unterrichtsgespräch, sei es in Einzel- oder Partnerarbeit. Abhängig von der Lerngruppenanalyse müsste ggf. das grammatikalische Phänomen der relativischen © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 19 Verschränkung zur Vorentlastung wiederholt bzw. erarbeitet werden (S-Text, S. 13 der classicaAusgabe). Wenn auf eine transphrastische Vorerschließung nicht verzichtet werden soll, müsste der Blick einerseits auf das Sachfeld »Politik« (rēs pūblica, patrēs cōnscrīptī, cōnsilium, auctōritās, cōnsulāris, senātōrius, aedēs Tellūris [vgl. K-Text, S. 13], templum, cīvitās), andererseits auf die Verbalinformationen der 1. Sg. gelenkt werden (Cicero will etwas sagen, meint etwas, will etwas darlegen, hoffte etwas, beschloss etwas, wich nicht aus, wandte seine Augen nicht ab, legte Fundamente, erneuerte etwas, nahm etwas in Anspruch, meinte etwas). Wünschenswert wäre dann allerdings, dass dieser Unterrichtsschritt nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt, um noch in einer Doppelstunde den gesamten Text (100 Wörter) mit einer Arbeitsübersetzung in den Griff bekommen zu können. In der folgenden Einzelstunde können die Aufgaben bearbeitet werden; ihre Ergebnisse sollten in eine Überarbeitung der vorläufigen Übersetzung eingebracht werden, entweder mit Blick auf eine klarere bzw. zielsprachengerechtere Formulierung des Gedankengangs oder mit dem Ziel einer möglichst genauen Abbildung der vom Autor angelegten sprachlich-stilistischen Struktur. Aufgaben 1 Klären Sie mit Hilfe eines Wörterbuchs das Bedeutungsspektrum von cōnsilium und auctōritās (vgl. Z. 6); erstellen Sie hierzu ggf. eine Mindmap oder ein Rondogramm. Einsicht gemeinsame Überlegung Klugheit gemeinsame Sitzung (kluge) Überlegung Beratung cōnsilium »Zusammennehmung« Plan Ratschluss Ratsversammlung Beschluss Ratschlag Gremium Maßnahme Rat Empfehlung Vorschlag 20 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 Ansehen Ausstrahlung Vorbild sozialer Status Gewähr Einfluss auctōritās »Eigenschaft dessen, der wachsen lässt« intendierte Wirkung auf andere Vollmacht Veranlassung Rat Die konkrete Gestalt der Mindmap bzw. des Rondogramms21 hängt selbstverständlich von dem im Unterricht eingeführten Wörterbuch ab. Sie kann auch gemeinsam im Unterrichtsgespräch entworfen werden, indem einzelne bereits bekannte Wortbedeutungen gesammelt und zueinander in Beziehung gesetzt (Mindmap) bzw. kategorisiert (Rondogramm) werden. Auf die Ergebnisse dieser Aufgabe kann in Kap. 14 (Aufgabe 2) und Kap. 18 (Aufgabe 1b) zurückgegriffen werden. 2 Arbeiten Sie aus dem Text heraus, worauf Cicero bei seiner Selbstdarstellung besonderen Wert legt. Cicero habe standhaft (manendum mihī statuēbam, Z. 8; nec vērō usquam discēdēbam, Z. 10) und wachsam (quasi in vigiliā quādam, Z. 8; nec ā rē pūblicā dēiciēbam oculōs, Z. 11) die ihm eigene politische Stellung (vigilia quaedam cōnsulāris ac senātōria, vgl. Z. 8 f.) gehalten, solange noch Hoffnung auf Wiederherstellung der alten republikanischen Ordnung bestanden habe (egō cum spērārem aliquandō ad vestrum cōnsilium auctōritātemque rem pūblicam esse revocātam, Z. 5 f.). Er habe nach Kräften (quantum in mē fuit, Z. 13) die Basis für einen politischen Ausgleich geschaffen (iēcī fundāmenta pācis, Z. 13 f.) und sich nach griechischem Vorbild (Athēniēnsium exemplum, Z. 15) dafür eingesetzt, die Zwistigkeiten der Vergangenheit nicht nur ruhen, sondern auch völlig vergessen zu lassen (omnem memoriam discordiārum oblīviōne sempiternā dēlendam cēnsuī, Z. 18 f.). 21 Zur Anlage und didaktischen Funktion eines Rondogramms vgl. Theo Wirth / Christian Seidl / Christian Utzinger, Sprache und Allgemeinbildung. Neue und alte Wege für den alt- und modernsprachlichen Unterricht am Gymnasium, Zürich 2006, 205–219. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 21 3 Generelle Aufgabe für alle Übersetzungstexte dieser Ausgabe: Belegen Sie die in der rechten Fußzeile genannten (und ggf. noch weitere) sprachlich-stilistische Mittel am Text und erklären Sie deren Funktion im Textzusammenhang. Bei der sprachlich-stilistischen Untersuchung eines Textes ist nicht nur die Verwendung bestimmter Mittel nachzuweisen, sondern auch deren konkrete Funktion im betreffenden Zusammenhang zu erklären. Es muss also deutlich gemacht werden, was inhaltlich hervorgehoben bzw. welcher Eindruck beim Leser geweckt wird. Exemplarische Interpretationsskizzen für die Hand der Schüler finden sich auf S. 69 der classica-Ausgabe. • In dem Hendiadyoin »ad vestrum cōnsilium auctōritātemque« (Z. 6) kann von den formal einander beigeordneten Begriffen »cōnsilium« (»Rat«) und »auctōritās« (»Einfluss«) einer dem anderen untergeordnet werden (»zu eurem einflussreichen Rat« oder »zu eurem beratenden Einfluss«). Dadurch betont Cicero, dass für ihn der Rat und der Einfluss des Senats als Basis des republikanischen Staatswesens (»rēs pūblica«) eine feste, notwendige Einheit bilden. • Die Hyperbel »omnem memoriam discordiārum oblīviōne sempiternā dēlendam cēnsuī« (Z. 18 f.) formuliert etwas Unmögliches, nämlich eine aktive Herbeiführung immerwährenden Vergessens, und zwar bezogen auf die gesamte Erinnerung an alle politischen Zwistigkeiten vor und unmittelbar nach Caesars Ermordung. Mit dieser Übertreibung macht Cicero deutlich, für wie wichtig er es hält, dass die Magistrate und Senatoren nach den Iden des März wieder zu dem Gegenteil von »discordia«, nämlich zu »concordia« (»Eintracht«) finden, was einem Leitgedanken seines politischen Programms entspricht. • Die Inversion »quō tum in sēdandīs discordiīs ūsa erat cīvitās illa« (Z. 17) lenkt in betonter Endstellung den Blick noch einmal auf die als vorbildlich deklarierten Athener des Jahres 403 v. Chr. Damit ist implizit der Appell an die Senatoren des Jahres 44 verbunden, dem historischen Vorbild nachzueifern und im eigenen Staat für einen politischen Ausgleich zu sorgen. • Das Polysyndeton »et profectiōnis et reversiōnis meae« (Z. 3 f.) gliedert Ciceros Redevorhaben klar in zwei gleichgewichtige Abschnitte: Er will einerseits rechtfertigen, warum er Rom am 1. Juli 44 verlassen hat, andererseits, warum er entgegen seinem ursprünglichen Plan, bis zum Jahreswechsel und damit bis zum Amtsantritt der neuen Konsuln auswärtig zu bleiben, bereits am 31. August 44 zurückgekehrt ist. Welchen Anspruch man an die inhaltlich-funktionale Erklärung stellt, hängt selbstverständlich auch davon ab, was an Hintergrundwissen bereits erarbeitet worden ist. Als Minimum ist auf jeden Fall eine nachvollziehbare textimmanente Erklärung zu erwarten. Für die Bewertung (v. a. in Klausuren) sei folgendes Verfahren vorgeschlagen: Für den richtigen Fachbegriff und den formal korrekten Textbeleg wird jeweils eine Berechnungseinheit (BE) vergeben, für die Erklärung je nach Ausführlichkeit (i. d. R. nicht mehr als zwei Sätze), Plausibilität oder gedanklicher Tiefe ein bis zwei weitere BE. Mit der Benennung, dem Nachweis und der inhaltlich-funktionalen Erklärung von fünf sprachlich-stilistischen Mitteln kann man also maximal 20 BE erreichen; bei vier oder drei sprachlich-stilistischen Mitteln sind es 15 bzw. 12 BE. 22 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 Aus den Vorgaben des nds. KC II ergibt sich folgende Bewertungstabelle:22 Punkte 15 14 13 12 11 10 09 08 07 06 05 04 03 02 01 00 % 94 88 82 76 70 65 60 55 50 45 40 34 28 22 16 < bei 20 BE 19,0 17,5 16,5 15,0 14,0 13,0 12,0 11,0 10,0 9,0 8,0 7,0 5,5 4,5 3,0 < bei 16 BE 15,0 14,0 13,0 12,0 11,0 10,5 9,5 9,0 8,0 7,0 6,5 5,5 4,5 3,5 2,5 < bei 12 BE 11,5 10,5 10,0 9,0 8,5 8,0 7,0 6,5 6,0 5,5 5,0 4,0 3,5 2,5 2,0 < Wer meint, dass dieses Bewertungsschema zu großzügig ist, weil die Schüler allein schon mit richtigen Fachbegriffen und formal korrekten Textbelegen genau die Hälfte der erwarteten Gesamtleistung und damit sieben Punkte erreichen können, mag schon in der Korrektur dieser formalen Hälfte eine gewisse Strenge an den Tag legen (nur eine halbe BE für falsche Schreibweisen wie »Parralelismus« oder für nicht bis ins letzte Detail korrekte Textbelege). Alternativ dazu kann man das Gewicht von Fachbegriff und Textbeleg dadurch senken, dass man dafür nur jeweils eine halbe BE vergibt. Die entsprechende KC-II-konforme Bewertungstabelle sieht dann folgendermaßen aus: Punkte 15 14 13 12 11 10 09 08 07 06 05 04 03 02 01 00 % 94 88 82 76 70 65 60 55 50 45 40 34 28 22 16 < bei 15 BE 14,0 13,0 12,5 11,5 10,5 10,0 9,0 8,5 7,5 7,0 6,0 5,0 4,0 3,5 2,5 < bei 12 BE 11,5 10,5 10,0 9,0 8,5 8,0 7,0 6,5 6,0 5,5 5,0 4,0 3,5 2,5 2,0 < bei 9 BE 8,5 8,0 7,5 7,0 6,5 6,0 5,5 5,0 4,5 4,0 3,5 3,0 2,5 2,0 1,5 < Zu überlegen wäre allerdings auch, es bei jeweils einer BE für den richtigen Fachbegriff und den formal korrekten Textbeleg zu belassen und in diesem besonderen Fall mit einem gewissen Mut zu einer entsprechenden didaktischen bzw. pädagogischen Begründung (zumindest außerhalb der Abiturprüfung) die alte 50-Prozent-Regel anzuwenden:23 22 23 Punkte 15 14 13 12 11 10 09 08 07 06 05 04 03 02 01 00 % 100 95 90 85 80 75 70 65 60 55 50 45 40 35 30 < bei 20 BE 20,0 19,0 18,0 17,0 16,0 15,0 14,0 13,0 12,0 11,0 10,0 9,0 8,0 7,0 6,0 < bei 16 BE 16,0 15,0 14,5 13,5 13,0 12,0 11,0 10,5 9,5 9,0 8,0 7,0 6,5 5,5 5,0 < bei 12 BE 12,0 11,5 11,0 10,0 9,5 9,0 8,5 8,0 7,0 6,5 6,0 5,5 5,0 4,0 3,5 < Nds. KC II, 58: »Bei den Interpretationsaufgaben wird die Note ›ausreichend‹ (05 Punkte) erteilt, wenn von der erwarteten Gesamtleistung annähernd die Hälfte (mindestens zwei Fünftel) erbracht worden ist. Eine gute Leistung (11 Punkte) ist dadurch gekennzeichnet, dass von der erwarteten Gesamtleistung annähernd drei Viertel (mindestens sieben Zehntel) erbracht worden sind.« Sofern Schüler noch ein gewisses Selbstwertgefühl haben, werden sie leicht einsehen, dass weniger als die Hälfte nicht mehr glatt ausreichend und weniger als drei Viertel nicht mehr gut ist. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 23 2. Antonius’ Verhalten im März 44 (1, 2–4) Gedankengang Unmittelbar nach Caesars Ermordung schien es so, als könnten die republikanischen Kräfte auf Antonius setzen: Er hielt am 17. März im Senat eine Rede, die Gutes erwarten ließ, ging auf die Caesarmörder Marcus Brutus und Gaius Cassius Longinus zu, gab ihnen sogar seinen eigenen Sohn als Geisel. Wenn er in privatem Kreis politische Entscheidungen vorbereitete, überging er die republikanische Führungselite nicht. Alle wichtigen Fragen trug er im Senat vor, wo er auch Rechenschaft über die ācta Caesaris ablegte. Als Servius Sulpicius Rufus (in einer weiteren Senatssitzung Ende März 44) beantragte, dass über die bereits bekannten Regelungen der ācta Caesaris hinaus keine weiteren publiziert und ratifiziert werden sollten, stimmte Antonius dem zu (obwohl er vermutlich von weiteren Bestimmungen wusste, da er ja im Besitz von Caesars Nachlass war). Seine größte Tat war jedoch die Abschaffung der Diktatur, die zwar prinzipiell ein verfassungsmäßiges Amt gewesen, im Laufe der letzten zwei Generationen aber mehrfach missbraucht worden und damit zum Inbegriff einer Allein- oder gar Schreckensherrschaft geworden war. Kommentar Über Antonius’ Verhalten unmittelbar nach Caesars Ermordung berichtet der griechische Historiker Appian (geb. ca. 90/95, gest. nach 160 n. Chr.) ausführlich im zweiten Buch seiner Bürgerkriege (App. civ. II 496–610). Aus dieser Darstellung geht hervor, dass Antonius zunächst Caesars Tod rächen wollte, davon aber angesichts der unklaren Stimmungslage absah und aus rein taktischen Gründen auf die Caesarmörder zuging. Er ließ sich noch in der Nacht nach dem Attentat Caesars Vermögen und Aufzeichnungen von dessen Witwe Calpurnia übergeben und hielt damit einen starken Trumpf in der Hand. Caesar hatte bereits auf fünf Jahre im Voraus alle wichtigen politischen Ämter und militärischen Posten vergeben; damit erpresste Antonius nun die Senatoren, von denen viele ihre Felle davonschwimmen sahen, zur Bestätigung der ācta Caesaris.24 Cicero stellt die Situation einseitig, im Detail sogar falsch dar25 und rafft die Vorgänge mehrerer Senatssitzungen, um mit dem Bild eines scheinbar lupenreinen Republikaners Antonius eine Folie zu gewinnen, von der er im Folgenden den vom rechten Kurs abgekommenen Beinahediktator Antonius deutlich absetzen kann. Anregungen zur Unterrichtsgestaltung Aufgabe 1 kann zusammen mit der Kapitelüberschrift die Leitfrage einer transphrastischen Vorerschließung bilden. Es ist durchaus ergiebig und möglich, in einem ersten Schritt den gesamten Text (200 Wörter) in den Blick zu nehmen, wenn der Lehrer durch seinen Lesevortrag klare Akzente setzt und vor allem Ciceros Wertungen auf Lateinisch deutlich hervorhebt. Die 24 25 24 App. civ. II 536 f. Zu den ācta Caesaris siehe ausführlich Krešimir Matijević, »Cicero, Antonius und die acta Caesaris«, in: Historia 55 (2006), 426–450. Die weiteren Hauptquellen sind Plut. Ant. 14, Plut. Cic. 42 und Cass. Dio XLVI 22, 3 –34, 1. Matijević (s. Anm. 24) weist nach, dass Antonius in den ācta mehr vorfand, als seinerzeit allgemein bekannt war (448). © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 additive Struktur des ersten Absatzes (Z. 1–14) erlaubt es, diesen Teil nach einer gemeinsamen Vorerschließung arbeitsteilig übersetzen zu lassen, um Zeit zu gewinnen. Der zweite Teil von § 3 (Z. 15–22) lässt sich dank seines kleingliedrigen Aufbaus linear erschließen und übersetzen. Die Aufbereitung des Ablativus absolutus nōn modo rēgnō, quod pertulerāmus, sed etiam rēgnī timōre sublātō (Z. 23 f.) durch Farbwechsel und größere Spatia lässt den grammatikalischen Kern deutlich hervortreten; er könnte vorab übersetzt werden. Ebenso könnten die bewusst knappen, metasprachlich anspruchsvollen Anmerkungen 21–23 im Unterrichtsgespräch vorab besprochen werden. Ohnehin empfiehlt es sich, die Satzgrammatik von § 4 (Z. 22–28) nach der im Unterricht eingeführten Methode gemeinsam an der Tafel graphisch aufzubereiten. Für das Verständnis der weiteren Lektüre reichen die minimalistischen Informationen, die im K-Text (S. 15) zu Antonius gegeben werden, völlig aus, da die Schüler ja zunächst nur das Bild erarbeiten sollen, das Cicero von seinem Gegner zeichnet. Wenn an dieser Stelle schon ein Referat eingeschoben werden soll, empfiehlt sich als Thema weniger die Person des Antonius denn das Geschehen im März 44. Die Sekundärliteratur bietet hierzu reichlich Material, doch die sehr lebendige Darstellung des Appian ist nach wie vor unschlagbar und für Schüler sicherlich sehr attraktiv.26 Aufgaben 1 Arbeiten Sie aus dem Text heraus, wie Antonius sich laut Cicero unmittelbar nach Caesars Ermordung verhalten hat und wie Cicero dies bewertet. • Antonius’ Verhalten: – hielt eine vorzügliche Rede, zeigte eine hervorragende Absicht (Z. 1 f.), – bestätigte den Ausgleich mit den Caesarmördern (Z. 2 f.), – zog führende Politiker zu seinen Privatkonsultationen hinzu (Z. 4–6), – trug alle wichtigen Fragen im Senat vor und legte dort Rechenschaft über die ācta Caesaris ab (Z. 6–12), – bestätigte den Status quo der ācta Caesaris (Z. 12–14), – schaffte die Diktatur ab (Z. 16–18 und 26–28), beseitigte damit die Furcht vor neuer Alleinherrschaft (Z. 24). • Ciceros Beurteilung: – vorzüglich (praeclāra, Z. 1 und 15) – hervorragend (ēgregia, Z. 1) – einzigartig (singulāre, Z. 15) – nacheifernswert (auctōritātem summo studiō secūtī sumus, Z. 20) – dankenswert (eī … grātiās ēgimus, Z. 21 f.) – hoffnungsvoller Lichtblick (lūx quaedam vidēbātur oblāta, Z. 22) 26 Appian von Alexandria, Römische Geschichte. Zweiter Teil: Die Bürgerkriege, übersetzt von Otto Veh, durchgesehen, eingeleitet und erläutert von Wolfgang Will, Stuttgart 1989, 166–196. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 25 2 Erläutern Sie mit Hilfe eines Lexikons oder Ihres Geschichtsbuchs der Sek. I, wie die Diktatur im römischen Staatswesen ursprünglich definiert war und welche Gestalt sie im Laufe der Geschichte zunächst unter Sulla, dann unter Caesar annahm. • Ursprüngliche Definition: Verfassungsmäßiges Amt, mit dem in Notzeiten die Doppelherrschaft der Konsuln ersetzt wurde, um eine äußere Bedrohung abzuwenden oder innere Unruhen zu bekämpfen. Auftrag und Aktionsradius eines Diktators waren fest umrissen. Er musste sein Amt nach Erledigung seines unmittelbaren Auftrags, spätestens jedoch nach sechs Monaten niederlegen und danach dem Senat Rechenschaft ablegen; berühmtestes Beispiel hierfür ist Lucius Quinctius Cincinnatus (vgl. Liv. III 26–29). • Unter Sulla: Im Zeitalter der Bürgerkriege ließ Lucius Cornelius Sulla sich 82 v. Chr. zum dictātor lēgibus scrībundīs et reī pūblicae cōnstituendae auf unbestimmte Zeit ernennen. Seine politischen Gegner wurden auf Proskriptionslisten gesetzt und brutal verfolgt, er selbst ließ sich bis dahin ungekannte Ehrungen zuteilwerden (Cognomen Fēlīx, goldene Reiterstatue auf dem Forum, Triumphzug formal zwar für seinen Sieg über Mithridates VI., faktisch aber für seinen Sieg im Bürgerkrieg). Nach umfangreichen Reformen dankte er 79 v. Chr. ab, vermutlich, um seinen zentralen Auftrag als erfüllt zu deklarieren und um noch etwas Ruhe im Alter zu genießen. • Unter Caesar: Nach seinem Sieg über Pompeius und die Senatspartei ließ Caesar sich 46 v. Chr. zum Diktator auf zehn Jahre ernennen, ohne dass es für diese außerordentlich lange Frist einen sachlichen Grund wie noch bei der Vergabe des Prokonsulats über Gallien gab. Einerseits demütigte er den Senat durch offene Missachtung und Anmaßung übertriebener Ehrungen, andererseits gewann er durch attraktive Bauprogramme und sinnvolle Reformen nicht nur im Volk, sondern auch in Teilen des Senats (den er von 600 auf 900 Mitglieder aufgestockt hatte) Anerkennung, zumal er seinen Gegnern, wenn sie sich ihm unterwarfen, großmütig begegnete (Programm der clēmentia Caesaris). Caesars Diktatur, die er sich 44 v. Chr. dauerhaft (perpetuō) verleihen ließ, wurde daher nicht so einhellig als Tyrannei (im modernen Sinne) empfunden wie Sullas.27 3 Charakterisieren Sie das von Cicero hier beschriebene Verhalten des Senats. • Der Senat nimmt einerseits seine traditionelle Aufgabe wahr, indem er Antonius kritisch zur Rechenschaft zieht (Z. 9–12); er verhält sich somit aktiv. • Anderseits folgt er Antonius in wesentlichen Punkten: – Zustimmung zu Sulpicius’ Barriereantrag (Z. 12–14) – Abschaffung der Diktatur ohne Diskussion (Z. 18–20) • Darüber hinaus stattet er Antonius überschwänglichen Dank ab (Z. 21 f.). Insgesamt wirkt der Senat in diesem Kapitel also eher zurückhaltend und passiv. 27 26 Zu den Gründen für Caesars Ermordung siehe S. 21 und 31 der classica-Ausgabe. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 Exkurs I: Die Philippischen Reden als Zyklus Kommentar Der Exkurs I ist an dieser Stelle eingeschoben, um die Zäsur, die zwischen der 2. und der 3. Philippischen Rede liegt, zu betonen. Die einschlägigen Stellen für die Zitate sind Cic. Att. XV 13, 1 (= XVI 8, 1 der Tusculum-Ausgabe), Cic. ad Brut. II 3, 4 (= II 18, 4 Tusculum) und Cic. ad Brut. II 4, 2 (= II 3, 2 Tusculum). Die Tabelle (S. 27) wurde erstellt nach: • Manfred Fuhrmann, »Einleitung und Literatur zu den Philippischen Reden insgesamt«, in: Marcus Tullius Cicero, Die politischen Reden, lateinisch-deutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Manfred Fuhrmann, München 1993, Bd. 3, 587–616 (hier 609–613). • Wilfried Stroh, »Ciceros Philippische Reden. Politischer Kampf und literarische Imitation«, in: Martin Hose (Hg.), Meisterwerke der antiken Literatur. Von Homer bis Boethius, München 22010 (12000), 76–102 (hier 96 f.). • Wilfried Stroh, Cicero. Redner, Staatsmann, Philosoph, München 22010 (12008), 113–115. Anregungen zur Unterrichtsgestaltung Der Exkurs I ist vor allem wichtig, um den Namen der Philippischen Reden zu verstehen und zu erkennen, dass bestimmte Aspekte der lateinischen Literatur oft nur vor dem Hintergrund der griechischen zu erfassen sind (hier: imitātiō und aemulātiō). Außerdem werden im Informationstext die fünf wichtigsten Leitmotive der Philippischen Reden aufgelistet, die in den folgenden Texten immer wieder anklingen und von Schülern, wenn sie einmal dafür sensibilisiert sind, leicht herausgearbeitet werden können. Daher sollten die ersten vier Absätze des Informationstextes (Z. 1–34) unbedingt behandelt werden, sei es im Unterrichtsgespräch mit zusätzlichen Erläuterungen des Lehrers, sei es als Hausaufgabe mit entsprechenden Erschließungsaufträgen. Der letzte Absatz (Z. 35–42) und die beiden Gliederungen geben Einblicke in Forschungsfragen, die sicherlich nicht abiturrelevant sind, aber grundsätzliche Probleme der Klassischen Philologie (v. a. hinsichtlich der Überlieferung und der Intention des Autors) beleuchten. Hier geht es in erster Linie darum, dass die Schüler zunächst einmal die beiden »Thesen« (Gliederungen) inhaltlich nachvollziehen und dann auf der relativ dünnen Basis ihrer bisherigen Literaturkenntnisse Kriterien der Beurteilung entwickeln. Da hier zusätzliche Einhilfe nötig sein könnte, empfiehlt sich für die Bearbeitung der Aufgaben 1 und 2 das Unterrichtsgespräch. 42 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 Aufgaben 1 a) Vergleichen Sie Fuhrmanns und Strohs Gliederung. – b) Suchen Sie (auch vor dem Hintergrund des Informationstextes) eine Erklärung dafür, dass Stroh die ersten beiden Reden vom Rest des überlieferten Corpus trennt. c) Beurteilen Sie die Plausibilität beider Gliederungen. a) • Gemeinsamkeiten: Einschnitte nach den Reden II, IV und IX. • Unterschiede: Fuhrmann setzt nach XI eine große Zäsur, während Stroh dort nur eine Binnenzäsur sieht. Stroh trennt I und II vom Rest des überlieferten Corpus ab. b) • Durch die Abtrennung von I und II bleibt ein rundes Dutzend Reden. Zu dieser klassischen Anzahl hatte Cicero seine Konsulatsreden gebündelt (Z. 13 des Informationstextes), und zu Ciceros Zeit gab es unter Demosthenes’ Namen wohl ebenfalls zwölf λόγοι Φιλιππικοί (Z. 16 f.). • Zwischen II und III liegt die Zeit, in der Cicero sich wieder aus der Tagespolitik zurückzog und seinem philosophischen Werk (Lael. und off.) widmete. • In I und II ist anders als in III–XIV das Vorbild von Demosthenes’ λόγοι Φιλιππικοί nicht zu erkennen.50 c) Fuhrmanns Gliederung hat den Charme, das literarische Werk wie ein Drama aussehen zu lassen, aber es scheint mehr als fraglich, ob dies Ciceros Intention entspricht.51 An Strohs Gliederung überzeugt die Berücksichtigung der historischen Zäsur zwischen II und III, das klassische Dutzend sowie – was Schüler allerdings nicht wissen können – die Tatsache, dass nur in III–XIV das Vorbild von Demosthenes’ λόγοι Φιλιππικοί zu erkennen ist. 2 Erläutern Sie, warum Stroh die Koalition aus dem von Caesar auf 900 Senatoren aufgestockten Senat, den Caesarmördern und Octavian (→ S. 29) als widernatürlich bezeichnet.52 • Im Senat saßen viele Caesarianer, die dem ermordeten Diktator zu Dank verpflichtet waren und sein Ansehen in Ehren halten wollten. Einige von ihnen hätten überdies bei einer Annullierung von Caesars Verfassungsreformen ihren Sitz im Senat verloren; sie waren also an Kontinuität interessiert. • Die Caesarmörder wollten ohne klares Konzept zurück zur alten republikanischen Ordnung. Sie hatten sich sowohl bei den Caesarianern als auch bei Octavian verhasst gemacht. • Octavian ging es erstens darum, den Mord an seinem Großonkel und Adoptivvater zu rächen, zweitens darum, das von Antonius beschlagnahmte Erbe Caesars zu erhalten, und drittens darum, Caesars Nachfolge anzutreten. Dafür und für den Kampf gegen Antonius brauchte er ein imperium, das mit den Regeln der alten republikanischen Ordnung nicht zu vereinbaren war. 50 51 52 Vgl. Wilfried Stroh, »Die Nachahmung des Demosthenes in Ciceros Philippiken«, in: Olivier Reverdin / Bernard Grange (Hgg.), Éloquence et rhétorique chez Cicéron, Vandœuvres, Genf 1982 (= Entretiens sur l'antiquité classique 28), 1–40. Auch in der Einleitung der classica-Ausgabe ist die Gliederung des Geschehens nach dem Aufbau einer Tragödie (S. 10 f.) selbstverständlich nur ein nachträgliches Konstrukt, zumal der Geschichte – sofern man kein Hegelianer ist – keine Intention unterstellt werden darf. Die Bezeichnung stammt aus: Wilfried Stroh, Cicero. Redner, Staatsmann, Philosoph, München 22010 (12008), 113. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 43 8. Octavian als Retter in der Not (3, 3–5) Gedankengang In den drei Monaten, die seit meiner letzten Rede vergangen sind, hat Antonius’ Wahnsinn sich immer mehr gesteigert, und wir alle mussten Tod und Verderben für den Fall fürchten, dass es ihm gelänge, mit seinen makedonischen Legionen aus Brundisium zurück nach Rom zu kommen. Doch dann kam der junge Octavian – er ist ja fast noch ein Kind – als Retter in der Not und bewies eine tugendhafte Gesinnung, die unglaublich, ja fast schon göttlich ist: Ohne dass wir ihn dazu aufgefordert oder es zumindest in Erwägung gezogen hätten – wir wagten ja nicht einmal im Traum daran zu denken, weil es unmöglich schien –, bildete er aus Caesars unschlagbaren Veteranen eine starke Truppe. Das Geld dafür nahm er aus seinem väterlichen Erbe – was für eine uneigennützige, patriotische Tat! Man kann ihm dafür gar nicht genug danken – wir sollten es dennoch wenigstens versuchen. Wer nämlich die Lage nur einigermaßen durchschaut und auch nur ein Fünkchen politischen Verstand hat, begreift sofort, dass Antonius in Rom ein unbeschreiblich brutales Gemetzel angerichtet hätte, wenn es ihm gelungen wäre, mit den schon sicher in seiner Hand geglaubten makedonischen Legionen in die Hauptstadt zu gelangen. Doch vor dieser Katastrophe hat uns Octavian bewahrt, und zwar aus privatem Entschluss, denn anders war es ihm ja nicht möglich. Ich wage folgende These: Wäre Octavian nicht in diesem Staat geboren, hätten wir nun aufgrund von Antonius’ wahnsinnigem Verbrechen überhaupt keinen Staat mehr. Zum Glück ist es anders gekommen, und da wir uns dank Octavian jetzt nach langer Zeit zum ersten Mal wieder in einer Situation befinden, in der wir unsere Meinung frei äußern können, sollten wir ihn schleunigst mit allen nötigen Befugnissen ausstatten, damit er unsere republikanische Ordnung nicht nur aus Privatinitiative, sondern auch im Auftrag des Senats verteidigen kann. Kommentar Nach dem offenen Bruch mit Antonius hatte Cicero sich aus der Tagespolitik zurückgezogen, um auf den Jahreswechsel und damit auf den Amtsantritt der beiden neuen Konsuln Hirtius und Pansa zu warten. Einstweilen setzte er seine philosophische Schriftstellerei mit Dē virtūte, Laelius dē amīcitiā und Dē officiīs fort. Das Geschehen in Rom beobachtete er mit Sorge, wovon zahlreiche Notizen in seinen Briefen zeugen. Inzwischen wuchs für ein Antonius ein anderer Gegner heran: Gaius Octavius, Caesars Großneffe und Adoptivsohn, den wir heute Octavian nennen (s. K-Text, S. 29 der classica-Ausgabe). Von der Ermordung seines Großonkels erfuhr der Achtzehneinhalbjährige in Apollonia, wohin er zur Vorbereitung von Caesars Partherfeldzug vorausgeschickt worden war. Rasch kehrte er nach Rom zurück, wo ihm Antonius zunächst die Herausgabe seines Erbes verweigerte. Schon hier erwies Octavian sich als geschickter Taktierer: Er streckte die Zahlungen, die laut Testament an Caesars Veteranen geleistet werden sollten, einfach vor und gewann so deren Sympathie auf Antonius’ Kosten. Auch mit weiteren populären Maßnahmen wie mit den lūdī victōriae Caesaris lief Octavian dem mächtigen Konsul in der breiten Öffentlichkeit den Rang ab. An ihm war wohl nicht mehr vorbeizukommen. Cicero, mit dem Octavian bereits am 21. April ersten Kontakt aufgenommen hatte, war sich zunächst unsicher, was er von dem Jüngling halten sollte. Noch im November schrieb er an Atticus auf Griechisch: »Von so einem möchte ich 44 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 nicht gerettet werden.«53 Erst als Decimus Brutus, der Statthalter von Gallia cisalpina, sich Antonius’ Anweisungen offen widersetzte und sich auf die republikanische Seite des Senats schlug (vgl. K-Text, S. 33), glaubte Cicero eine Möglichkeit zu sehen, in dieser Kombination Octavian sicher vor den Karren des Senats zu spannen. Mit der Privatarmee, die er kurz nach seinem 19. Geburtstag54 aus Caesars Veteranen in Kampanien rekrutiert, und den beiden makedonischen Legionen, die er zum Übertritt von Antonius’ auf seine Seite bestochen hatte, besaß Octavian eine schlagkräftige Armee, die nun unbedingt eingebunden werden musste, wenn es nicht wieder zu solchen Eigenmächtigkeiten kommen sollte wie in den vorigen Bürgerkriegen. Cicero war sich seiner Sache durchaus nicht sicher, durfte davon aber bei seinem spontanen Plädoyer am 20. Dezember selbstverständlich nichts spüren lassen.55 Dies erklärt den immensen rhetorischen Impetus seiner 3. Philippischen Rede: Mit Volldampf voraus gegen den Staatsfeind! Anregungen zur Unterrichtsgestaltung An dem ersten Absatz dieses Textes (Z. 1–10, 69 Wörter) kann exemplarisch gezeigt werden, wie auch längere Cicero-Perioden relativ schnell in den Griff zu bekommen sind. Den ersten Schritt bildet der Lesevortrag des Lehrers, aus dem die Schüler deutliche Zäsuren als Markierungen grammatikalischer Einheiten in ihren Text übernehmen: Gāius Caesar, / adulēscēns (paene potius puer) incrēdibilī ac dīvīnā quādam mente atque virtūte, / cum maximē furor ārdēret Antōnī / cum-que eius ā Brundisiō crūdēlis et pestifer reditus timērētur, / nec postulantibus nec cōgitantibus nē optantibus quidem nōbīs / (quia nōn posse fierī vidēbātur) / firmissimum exercitum ex invictō genere veterānōrum mīlitum comparāvit / patrimōnium-que suum effūdit. / Quamquam nōn sum ūsus eō verbō, quō dēbuī; / nōn enim effūdit: / in reī pūblicae salūte conlocāvit. / In einem zweiten Schritt werden alle Konnektoren markiert, entweder in Einzelarbeit mit anschließender Auswertung im Unterrichtsgespräch oder gleich in Plenumsarbeit. Die Ergebnisse dieser beiden Schritte können in der linken Hälfte des auf der nächsten Seite folgenden Tafelbildes festgehalten werden. In einem dritten Schritt wird die syntaktisch-semantische Funktion der einzelnen Einheiten betrachtet; Ergebnissicherung in der linken Hälfte des Tafelbildes (mit mündlichen Erläuterungen, s. u., S. 46). Bei der gemeinsamen inhaltlichen Betrachtung kann schon allgemein die für Ciceros Philippische Reden typische Polarisierung herausgearbeitet werden (im Hauptsatz unglaublich tugendhafte Einstellung des Octavian, im Gliedsatz verderblicher Wahnsinn des Antonius). Die Übersetzung des ersten Satzes (53 Wörter) kann dann zügig in Partnerarbeit erfolgen, ggf. binnendifferenziert:56 • Anforderungsniveau A: Periodenkern = Hauptsatz (Z. 1 f. und 7 f. des Tafelbildes) • Anforderungsniveau B: Kontext = Gliedsätze (Z. 3 f.) • Anforderungsniveau C: Begleitumstand = Abl. abs. mit Begründung (Z. 5 f.) 53 54 55 56 Cic. Att. XVI 15, 3 (= XVI 17, 3 der Tusculum-Ausgabe): μηδὲ σωϑείην ὑπό γε τοιούτου. Diesbezüglich ist in der Erstauflage der classica-Ausgabe auf S. 28 eine Korrektur vorzunehmen: Statt »erst achtzehnjährige« (Z. 3 des Vorspanns) lies »erst neunzehnjährige«. Entsprechend muss es im K-Text (S. 29) nach dem Gedankenstrich »Als gerade Neunzehnjähriger« statt »Als gut Achtzehnjähriger« heißen. Ursprünglich sollte in dieser Sitzung nur über Sicherungsmaßnahmen für den Amtsantritt der neuen Konsuln beraten werden. Cicero weitere die Tagesordnung zu einer Debatte dē tōtā rē pūblicā aus, vgl. Cic. fam. X 28, 2 (= X 27, 2 der Tusculum-Ausgabe). Die Zuordnung zu einem der drei Anforderungsniveaus kann in Selbsteinschätzung durch die Schüler erfolgen. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 45 Der Trick besteht bei diesem Verfahren darin, dass man sich nicht an ein bestimmtes Schema klammert und sich auch nicht zwingt, Beobachtungen in nur einer Kategorie anstellen zu lassen, sondern in einem linearen Durchgang abfragt, was den Schülern dabei auf- bzw. dazu einfällt. Die Beobachtungen werden teils syntaktischer, teils formal semantischer, teils lexikalischer, teils inhaltlicher, teils stilistischer Natur sein und einander gut ergänzen. Wenn das Verfahren eingeübt ist, können dieser lange Satz und auch noch der folgende – dieser je nach verbleibender Zeit entweder in Partner- oder gleich in Plenumsarbeit – locker in einer Einzelstunde vorerschlossen, übersetzt und interpretiert werden. Mögliches Tafelbild 3 C. Caesar, Subjekt des HS adulēscēns (paene potius puer) incrēdibilī ac dīvīnā quādam mente atque virtūte, Apposition: nähere Informationen zu Caesar cum maximē furor ārdēret Antōnī cum-Satz: Erläuterung des Kontextes cumque eius ā Brundisiō crūdēlis et pestifer reditus timērētur, zweiter cum-Satz, angeknüpft mit -que: Fortsetzung der Erläuterung polysyndet. Abl. abs.: Begleitumstand des HS quia-Satz in Klammern: Begründung von etwas* HS nec postulantibus nec cōgitantibus nē optantibus quidem nōbīs 6 (quia nōn posse fierī vidēbātur) firmissimum exercitum ex invictō genere veterānōrum mīlitum comparāvit patrimōniumque suum effūdit. 9 Quamquam nōn sum ūsus eō verbō, quō dēbuī; Fortsetzung des HS, angeknüpft mit -que nächster HS** mit kurzem RS nōn enim effūdit: in reī pūblicae salūte conlocāvit. zwei kurze HS (asyndet.) Mündliche Erläuterungen: * bislang unklar, kann übersprungen werden, da es in Klammern steht ** vgl. Anm. 5 der Textausgabe Aufgaben 1 Arbeiten Sie aus dem Text heraus, wie Antonius und Octavian von Cicero charakterisiert werden. • Antonius: brenne vor Wahnsinn (Z. 3 und 23), drohe Rom seine Rückkehr an (Z. 16), lasse für den Fall seiner Rückkehr Grausamkeit und Verderben befürchten (Z. 3 f., 17 f., 19 und 23 f.), plane einen verbrecherischen Angriff (Z. 21 und 23). • Octavian: sei ein Jüngling, eher fast noch ein Junge (Z. 1), habe eine unglaubliche und gewissermaßen göttliche tugendhafte Einstellung (Z. 1 f.), habe bei seiner Privatinitiative das Wohl des Staates im Blick gehabt (Z. 9 f.), sei die letzte Rettung für Roms Existenz (Z. 20–22 und 22–25) und eine Wohltat für den Senat (Z. 26 f.) gewesen, habe Dank (Z. 11–13) und außerordentliche Befugnisse (Z. 25–30) verdient. 46 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 2 a) Erläutern Sie die Argumente, mit denen Cicero dem Senat Octavians eklatanten Verfassungsbruch schmackhaft machen will. – b) Beurteilen Sie diese Argumente aus der Sicht eines republikanischen Senators. a) Octavian habe keine verfassungsgemäße Möglichkeit besessen, den Staat zu retten. Seine Privatinitiative habe aber ausschließlich das Wohl des Staates im Blick gehabt und faktisch eine Katastrophe abgewendet, der nicht anders zu entkommen gewesen wäre. Das sei ein Geschenk des Himmels gewesen und müsse nachträglich legitimiert werden, denn außergewöhnliche Situationen erforderten außergewöhnliche Maßnahmen. b) Es ist zwar richtig, dass wir keine Möglichkeit haben, die Konsuln Antonius und Dolabella ihres Amtes zu entheben, und selbst wenn wir eine solche Möglichkeit hätten, könnten wir sie angesichts dessen, wie die Karten gegenwärtig verteilt sind, nicht wirklich durchsetzen. Uns fehlt schlichtweg ein fähiger, erfahrener General wie Pompeius, den wir vor fast sechs Jahren noch gegen Caesar aufstellen konnten. Einen Jüngling aber, der erst vor Kurzem die Männertoga angelegt hat, über keine nennenswerte militärische Erfahrung verfügt und vor allem noch kein politisches Amt bekleidet hat, darf man nicht mit so außerordentlichen Vollmachten ausstatten, wie Cicero es vorschlägt. Das widerspricht eklatant dem mōs māiōrum und ist nicht nur militärisch, sondern auch politisch äußerst riskant. Wer garantiert, dass Octavian diese Vollmachten nicht für seine persönlichen Zwecke missbraucht? Schließlich hat er sich u. a. Rache an den Caesarmördern auf seine Fahne geschrieben. Nun gut, er hat tatsächlich eine Katastrophe abgewendet, wenn auch mit illegalen Mitteln. Wir können ja ein Auge zudrücken und müssen ihn dafür nicht unbedingt zur Rechenschaft ziehen; von mir aus können wir ihm sogar den Dank abstatten, den Cicero vorschlägt. Im Übrigen sollten wir aber noch zwölf Tage warten, bis die neuen Konsuln Hirtius und Pansa ihr Amt antreten; dann haben wir wieder legale, dem mōs māiōrum entsprechende Mittel zum Kampf gegen Antonius zur Verfügung. 3 Der vorliegende Text ist, von einigen Bemerkungen in seinerzeit noch unveröffentlichten Briefen Ciceros einmal abgesehen, die erste Stelle der lateinischen Literatur, in der Octavian erwähnt wird. Nehmen Sie zu der Frage Stellung, ob er schon die Qualität einer Schlüsselszene hat. Man könnte geneigt sein, in der Formulierung C. Caesar, adulēscēns (paene potius puer) incrēdibilī ac dīvīnā quādam mente atque virtūte eine Prophezeiung der segensreichen Herrschaft des Augustus zu erkennen und dem vorliegenden Text daher die Qualität einer Schlüsselszene für die Weltgeschichte beizumessen. Das Bild von der Wiederkehr des Goldenen Zeitalters unter Augustus idealisiert aber einerseits den frühen Prinzipat maßlos; andererseits blendet es die ungeheuren Grausamkeiten, die Octavian im Bürgerkrieg begangen hat, völlig aus. Außerdem konnte Cicero gar nicht ahnen, was am Ende der Entwicklung des von ihm protegierten Octavian stehen würde. Bekanntlich hat er dessen Skrupellosigkeit in einer für ihn fatalen Weise unterschätzt. In dieser Hinsicht ist der Text also keine Schlüsselszene. Etwas anders sieht es aus, wenn man den Blick auf das Corpus der Philippischen Reden fokussiert. Unter der Annahme, dass Cicero sie vor der Veröffentlichung redigiert und dabei gerade dem Redenpaar III/IV eine programmatische Bedeutung beigemessen hat, kommt es auf die Art, wie der junge Mann, der alles richten soll, rhetorisch eingeführt wird, besonders an. Cicero wäscht ihn von allen (nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch politisch-strategisch mehr als nachvollziehbaren) Vorwürfen rein, betont seine virtūs und umgibt ihn mit göttlichem Glanz, weil er – man möchte aus Ciceros Perspektive ergänzen: wie einst der Konsul des Jahres 63 – das Vaterland aus höchster Not gerettet habe. Schon hier versteht man, warum Cicero so unbedingt auf Octavian setzt. In dieser Hinsicht hat der Text also durchaus die Qualität einer Schlüsselszene. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 47 9. Freiheit oder Tyrannei (3, 28 f.) Gedankengang Meine Herren Senatoren, nach langer Zeit setzen wir heute zum ersten Mal wieder unseren Fuß auf den Boden der Freiheit. Ihr wisst, dass ich diese Freiheit als Politiker immer aktiv verteidigt habe, solange es die Umstände erlaubten. Als das aber nach der Schlacht bei Pharsalos nicht mehr möglich war, habe ich mich zurückgezogen und der Gesellschaft durch meine schriftstellerische Tätigkeit auf zweitbestem Wege gedient. Weil ich auf diese Weise meine dignitās wahren konnte, war Caesars Herrschaft für mich noch einigermaßen erträglich. Wer aber kann diese abscheuliche Bestie Antonius ertragen? Wie soll das möglich sein, wo in ihm doch nichts steckt außer Triebhaftigkeit, Grausamkeit, Dreistigkeit und Skrupellosigkeit? Edelmut, Bescheidenheit, Rücksicht oder Anstand – das alles ist ihm völlig fremd. Da es jetzt nur noch um die Frage geht, ob Antonius seine Verbrechen am Staat büßt oder wir seine Sklaven sind, lasst uns endlich den Mut und die Entschlossenheit unserer Vorfahren an den Tag legen, um entweder die für uns Römer charakteristische Freiheit wiederzuerlangen oder den Tod der Knechtschaft vorzuziehen! Unter Caesar haben wir vieles ertragen, was in einer freien Gesellschaft eigentlich unerträglich wäre – die einen vielleicht in der Hoffnung auf bessere Zeiten, die anderen wohl aus übertriebener Sorge um ihre Existenz. Das war den Zeitumständen geschuldet, vielleicht auch dem Schicksal, doch letztlich haben wir dabei immer unsere Haltung gewahrt. Wollen wir uns jetzt von Antonius’ abscheulicher und grausamer Tyrannei brechen lassen? Kommentar Nach der Schlacht bei Pharsalos (9. August 48 v. Chr.), in der Caesar den entscheidenden Sieg über Pompeius und die Senatspartei errungen hatte, war Cicero politisch kaltgestellt. Aus den Reden, die er unter Caesars Diktatur hielt (Prō Mārcellō, Prō Ligāriō und Prō rēge Dēiotarō) lesen einige Interpreten eine charakterlose Unterwürfigkeit heraus. Treffender ist wohl die Lesart, dass Cicero hier diplomatisch auf Caesar zuging, ihn auf seine clēmentia festnagelte und ihm einen Spiegel vorhielt, nicht ohne die Mahnung, den Bogen nicht zu überspannen, sondern die auctōritās des Senats und die dignitās der Senatoren zu respektieren. Im Übrigen widmete er sich der philosophischen Schriftstellerei, die für ihn eine Art δεύτερος πλοῦς war, der zweitbeste Weg, einer Sache (hier: dem römischen Staat und der römischen Gesellschaft) zu dienen. In dem vorliegenden Auszug aus der 3. Philippischen Rede verschweigt Cicero nicht, wie schwer es ihm gefallen ist, Caesars Diktatur zu ertragen, welchen Schmerz er über dieses politische Unglück empfunden hat. Er unterstellt, dass es vielen anderen Senatoren ähnlich ging, spricht ihnen aber für ihr Stillhalten auch eine Ehrenrettung aus. Damit ist eine Folie geschaffen, von der es nun Antonius klar abzusetzen gilt: Mit Caesar konnte man sich noch irgendwie arrangieren und dabei seine eigene dignitās wahren, mit Antonius ist das völlig unmöglich – lieber tot als Sklave dieses Tyrannen! 48 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 Anregungen zur Unterrichtsgestaltung Wenngleich beide Abschnitte dieses Kapitels (73 und 92 Wörter) nicht selbsterklärend sind, was das Verhalten Ciceros und der Senatoren während Caesars Diktatur betrifft (Z. 4–6 und 17–22), springt bei einer transphrastischen Vorerschließung doch das invektive Vokabular ins Auge, mit dem Antonius diffamiert werden soll. Ebenso müssten die rhetorischen Fragen (Z. 6–9) und der Appell (Z. 14–17) leicht zu erkennen sein. Hieraus ergeben sich die Leitfragen für die weitere Untersuchung. Nach der Übersetzung von § 28 kann schon der erste Teil von Aufgabe 1 bearbeitet werden. Eine Hilfe hierzu mag ein Blick auf die Zeittafel (S. 9) bieten; im Übrigen empfiehlt sich, bei dieser Gelegenheit die Schüler erneut zur Lektüre von Sekundärliteratur anzuhalten.57 Der K-Text »Kernbegriff lībertās« (S. 31) ist für das Semesterthema von zentraler Bedeutung und sollte im Unterricht unbedingt gründlich behandelt werden. Eine Auseinandersetzung mit dem modernen Freiheitsbegriff (in politischer, juristischer und persönlicher Hinsicht) kann dabei einen sinnvollen existentiellen Transfer ermöglichen. Aufgaben 1 Erläutern Sie die Aussagen, die Cicero hier über sein eigenes Verhalten und das des Senats während Caesars Diktatur trifft. • Nec abiectē nec sine aliquā dignitāte cāsum illum temporum et dolōrem tulī (Z. 5 f.): Cicero habe diese Zeit als schmerzhaftes Unglück empfunden, aber eine Lebensform gefunden, die es ihm ermöglichte, seine dignitās zu wahren. Gemeint ist damit seine philosophische Schriftstellerei (vgl. Zeittafel, S. 9). • Multa, quae in līberā cīvitāte ferenda non essent, tulimus et perpessī sumus, aliī spē forsitan recuperandae lībertātis, aliī vīvendī nimiā cupīditāte (Z. 17–20): Für die Senatoren lagen die Motive, Caesars Diktatur zu ertragen, teils in der Hoffnung, die Freiheit wiederzuerlangen, teils in dem übertriebenen Streben zu leben. Das eine kann als eine Art innere Emigration bezeichnet werden, das andere als ethisch fragwürdiger Opportunismus. • Illa tulimus, quae nōs necessitās ferre coēgit, quae vīs quaedam paene fātālis 〈nōs ferre coēgit〉, quae tamen ipsa nōn tulimus (Z. 20–22): Das angepasste Verhalten wird mit dem Hinweis auf die schicksalshafte Zwangslage entschuldigt; zugleich wird behauptet, die Senatoren hätten die Diktatur nie wirklich akzeptiert. 2 Zeigen Sie, dass in Ciceros vorliegender Charakterisierung des Antonius eine Steigerung gegenüber Text 8 zu erkennen ist. In Text 8 wird Antonius in seinem äußeren Verhalten charakterisiert: Er brenne vor Wahnsinn (Z. 3), drohe grausames Unheil bei seiner Rückkehr an (Z. 3 f. und 16–18), habe Verbrechen (Z. 21), Angriffe auf den Staat (Z. 23) und sonstige grausame Vorhaben (Z. 23 f.) im Sinn. In Text 9 wird er in seinem eigentlichen Charakter beschrieben, der durch libīdō, crūdēlitās, petulantia und audācia sowie durch die Abwesenheit aller positiven moralischen Eigenschaften gekennzeichnet sei (Z. 7–11). 57 Es sei noch einmal auf Wilfried Strohs Taschenbuch Cicero. Redner, Staatsmann, Philosoph hingewiesen, das bei aller Kürze eigentlich alles bietet, was man in diesem Zusammenhang braucht. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5 49 3 Erläutern Sie den Freiheitsbegriff des vorliegenden Textes inhaltlich und funktional. • Inhaltlich: In Ciceros (optimatischem) Sinne ist lībertās der spätrepublikanische Gegenbegriff zu dominātiō oder dominātus, der unrechtmäßigen und unkontrollierbaren Vormachtstellung eines Einzelnen. Unter lībertās wird hier der traditionelle Ordnungsrahmen der mittleren Republik verstanden, innerhalb dessen sich alle nōbilēs politisch frei und gleichberechtigt entfalten konnten (vgl. K-Text, S. 31). • Funktional: Cicero benutzt den Begriff lībertās hier, um an das republikanische Selbstverständnis der Senatoren zu appellieren und sie zum bedingungslosen Kampf gegen Antonius’ dominātus zu mobilisieren. 4 Analysieren Sie gemäß der von Ihnen bereits erarbeiteten Methode (→ S. 19, Aufgabe 3) die unten abgebildete Münze. Um diese Aufgabe vollständig lösen zu können, benötigen die Schüler Informationen über die politische Lage des Jahres 55 v. Chr. und das sog. erste Triumvirat. Eine entsprechende Hausaufgabe zur Vorbereitung – Stichworte: sog. erstes Triumvirat, Konferenz von Luca (moderne Schreibweise: Lucca) – wäre vielleicht hilfreich. • Allgemeine Beschreibung der äußeren Merkmale: Silberdenar (3,81 g) des Quintus Cassius Longinus, Rom, 55 v. Chr.58 • Beschreibung des Avers: Frauenkopf, nach rechts blickend, geschmückt mit kreuzförmigem Ohrring, Halskette, Haarknoten und fallenden Locken; links davon die Buchstaben LIBERT, rechts davon die Buchstaben Q∙CASSIVS. • Entzifferung und Erläuterung der Legenden: lībert〈ās〉 »Freiheit«; Q〈uīntus〉 Cassius 〈Longīnus〉, Augur und Münzmeister, Bruder des Caesarmörders Gaius Cassius Longinus. • Erklärung von Details der Darstellung: Der abstrakte Begriff »Freiheit« wird hier personifiziert und als eine Göttin dargestellt, die durch ihren reichen Schmuck und ihre aufwendige Frisur Würde ausstrahlt und Verehrung verdient. • Einordnung in den historischen Kontext: Auf den Konferenzen von Ravenna und Luca hatten Caesar, Pompeius und Crassus 56 v. Chr. vereinbart, dass Caesars Prokonsulat in Gallien um weitere fünf Jahre verlängert wurde; zugleich sollten im folgenden Jahr Pompeius und Crassus zum zweiten Mal Konsul werden. Das sog. erste Triumvirat (vgl. Zeittafel, S. 9) war zwar nur ein privates Abkommen und kein staatsrechtliches Konstrukt, schränkte aber den politischen Spielraum in Rom stark ein. • Deutung der Mitteilungsabsicht: Quintus Cassius Longinus, der 52 v. Chr. Quästor unter Pompeius werden und sich 49 v. Chr. als Volkstribun auf Caesars Seite schlagen sollte, sprach sich im Jahr 55 noch gegen die politische Dominanz der sog. ersten Triumvirn und für die alte republikanische Ordnung aus. 58 50 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b0/Cassius_Longinus_%28Cassia_8%29_80000489.jpg. Vgl. Michael H. Crawford, Roman Republican Coinage, 2 Bde., Cambridge 1974, Nr. 428/2. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen · ISBN E-Book: 978-3-647-90044-5
© Copyright 2025 ExpyDoc