und Leseprobe - Vandenhoeck & Ruprecht

Cicero, Philippische Reden
Lehrerband
zur Reihe classica
von Matthias Hengelbrock
Didaktischer Hinweis zur Leseprobe
Grundsätzlich sollte man die Lektüre in Kap. 1 beginnen. Wenn
die Philippischen Reden aber Thema des (kurzen) vierten Kurshalbjahres sind, kann man mit Kap. 8 (= Phil. 3, 3) anfangen, weil
erst hier Ciceros eigentliche Mobilisierung des Senats zum Kampf
gegen Antonius beginnt. Deshalb enthält die vorliegende Leseprobe auch Kap. 8 und 9.
Der vollständige Lehrerband erscheint am 15. Februar 2015.
Vandenhoeck & Ruprecht
classica
Kompetenzorientierte lateinische Lektüre
Herausgegeben von Peter Kuhlmann
Lehrerband 9
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Inhalt
I.
Einleitung
Textauswahl und -aufbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
Didaktische Schwerpunkte und »Lernstoff« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Zur Arbeit mit der classica-Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Zur Arbeit mit dem Lehrerband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
II. Texte
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
Ciceros Verhalten im März 44 (1, 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Antonius’ Verhalten im März 44 (1, 2–4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Ein wohlwollend-kritischer Blick (1, 29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Hoffnungen nach Caesars Tod (1, 31 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Ein letzter Appell an Antonius (1, 33 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Antonius’ Jugend (2, 44–47). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Antonius’ erstes Auftreten als Staatsfeind (2, 51–53) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Exkurs I: Die Philippischen Reden als Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
Octavian als Retter in der Not (3, 3–5). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
Freiheit oder Tyrannei (3, 28 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Nutzt die Gunst der Stunde! (3, 34 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Freiheit als höchstes Gut (3, 36). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Aufruf zum gemeinsamen Kampf (4, 11–13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
Krieg oder Frieden (5, 1–3). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Ein Plädoyer für das SCU (5, 33 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Umdeutung einer Niederlage (6, 3–5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Cicero und der Konsens aller Gutgesinnten (6, 17 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Das Proprium des römischen Volkes (6, 19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Exkurs II: Zentrale Elemente antiker Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Zwei Argumente gegen einen Frieden mit Antonius (7, 9. 19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Ein drittes Argument (7, 21. 25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Das Exemplum des Gaius Popilius (8, 20–23). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Die Stimme der Weisheit (13, 5 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
Die Lage ist günstig (13, 15 f. 49) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
Ciceros Tod (Liv. CXX frg. 61) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Eine letzte Pointe (Auf. Bass. frg. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
Ein antiker Nachruf (Liv. CXX frg. 62) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
III. Anhang
Alphabetisches Vokabelverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorbemerkung zu den Klausurvorschlägen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Klausurvorschlag I (4, 14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Klausurvorschlag II (5, 42 f. 45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Klausurvorschlag III (8, 8). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Klausurvorschlag IV (8, 11 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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109
113
114
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120
122
124
3
1. Ciceros Verhalten im März 44 (1, 1)
Gedankengang
Vor meinen Ausführungen zur aktuellen politischen Lage möchte ich zunächst kurz rechtfertigen, warum ich am 1. Juli 44 Rom verlassen habe und am 31. August zurückgekehrt bin.
Solange ich hoffen konnte, dass nach Caesars Tod die alte Ordnung, in der die Politik vom
Rat und Einfluss des Senats bestimmt wurde, wiederhergestellt würde, hielt ich es für geboten, umsichtig auf dem Posten eines Konsulars und anerkannten Senators zu bleiben. Und
das habe ich auch getan: In der Senatssitzung, die am 17. März im Tempel der Tellus stattfand, legte ich die Basis für einen politischen Ausgleich, indem ich mich für eine Amnestie
der Caesarmörder einsetzte. Mein Vorbild waren dabei die attischen Demokraten, die 403
v. Chr. den Angehörigen des von ihnen beseitigten oligarchischen Regimes Straffreiheit zugestanden hatten.
Kommentar
In seiner 1. Philippischen Rede bemüht Cicero sich trotz deutlicher Kritik an Antonius und dessen
Kollegen Dolabella grundsätzlich noch um eine Vermittlung zwischen den beiden amtierenden
Konsuln und dem Senat. Deshalb verweist er schon in § 1 auf sein Verhalten im März 44, das
zumindest oberflächlich auf einen Ausgleich der Interessen hinauslief (einerseits Bestätigung
der ācta Caesaris, andererseits Amnestie der Caesarmörder). Hinter dem gleich zweifach vorgetragenen Gedanken, dass jede Form von discordia beseitigt werden solle (vgl. Z. 17 f.), schimmert bereits Ciceros politisches Programm der concordia ōrdinum (vgl. S. 45 der classica-Ausgabe).
Am 1. August hatte Caesars Schwiegervater Lucius Calpurnius Piso im Senat eine mutige Rede
gegen Antonius gehalten, allerdings ohne die von ihm (und im Nachhinein auch von Cicero)
erhoffte Resonanz. Antonius verhielt sich daraufhin dem Senat gegenüber etwas konzilianter,
allerdings nur scheinbar, denn am 1. September beantragte er, dass zukünftig allen Götterdankfesten ein Tag zu Ehren Caesars hinzugefügt werden solle, was einen Affront gegen alle Anhänger der alten republikanischen Ordnung darstellte. Cicero, der erst tags zuvor nach Rom zurückgekehrt war, blieb dieser Senatssitzung fern, was wiederum ein so eklatanter Affront gegen
den prominenteren der beiden Konsuln war, dass Antonius drohte, Ciceros Haus einreißen zu
lassen. Die Fronten waren also wieder verhärtet, und als Cicero am 2. September die vorliegende Rede zur eigenen Rechtfertigung hielt, zog Antonius es seinerseits vor, der Senatssitzung
fernzubleiben. Vor diesem Hintergrund ist die Richtung, die Cicero zu Beginn seiner Rede einschlägt, bemerkenswert.
Anregungen zur Unterrichtsgestaltung
Die fast durchgehend kolometrische Aufbereitung des ersten Textes will ein lineares Vorgehen
unter Verzicht auf eine transphrastische Vorerschließung nahelegen, damit die Schüler möglichst früh einen Sinn für den syntaktischen und logischen Aufbau von Ciceros Gedankenführung entwickeln. Die hierarchische Ordnung der einzelnen Kola soll allerdings noch bestimmt
werden, sei es im gemeinsamen Unterrichtsgespräch, sei es in Einzel- oder Partnerarbeit. Abhängig
von der Lerngruppenanalyse müsste ggf. das grammatikalische Phänomen der relativischen
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Verschränkung zur Vorentlastung wiederholt bzw. erarbeitet werden (S-Text, S. 13 der classicaAusgabe).
Wenn auf eine transphrastische Vorerschließung nicht verzichtet werden soll, müsste der Blick
einerseits auf das Sachfeld »Politik« (rēs pūblica, patrēs cōnscrīptī, cōnsilium, auctōritās, cōnsulāris, senātōrius, aedēs Tellūris [vgl. K-Text, S. 13], templum, cīvitās), andererseits auf die Verbalinformationen der 1. Sg. gelenkt werden (Cicero will etwas sagen, meint etwas, will etwas
darlegen, hoffte etwas, beschloss etwas, wich nicht aus, wandte seine Augen nicht ab, legte Fundamente, erneuerte etwas, nahm etwas in Anspruch, meinte etwas). Wünschenswert wäre dann
allerdings, dass dieser Unterrichtsschritt nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt, um noch in
einer Doppelstunde den gesamten Text (100 Wörter) mit einer Arbeitsübersetzung in den Griff
bekommen zu können.
In der folgenden Einzelstunde können die Aufgaben bearbeitet werden; ihre Ergebnisse sollten
in eine Überarbeitung der vorläufigen Übersetzung eingebracht werden, entweder mit Blick auf
eine klarere bzw. zielsprachengerechtere Formulierung des Gedankengangs oder mit dem Ziel
einer möglichst genauen Abbildung der vom Autor angelegten sprachlich-stilistischen Struktur.
Aufgaben
1 Klären Sie mit Hilfe eines Wörterbuchs das Bedeutungsspektrum von cōnsilium und auctōritās (vgl. Z. 6); erstellen
Sie hierzu ggf. eine Mindmap oder ein Rondogramm.
Einsicht
gemeinsame
Überlegung
Klugheit
gemeinsame
Sitzung
(kluge) Überlegung
Beratung
cōnsilium
»Zusammennehmung«
Plan
Ratschluss
Ratsversammlung
Beschluss
Ratschlag
Gremium
Maßnahme
Rat
Empfehlung
Vorschlag
20
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Ansehen
Ausstrahlung
Vorbild
sozialer Status
Gewähr
Einfluss
auctōritās
»Eigenschaft dessen,
der wachsen lässt«
intendierte Wirkung
auf andere
Vollmacht
Veranlassung
Rat
Die konkrete Gestalt der Mindmap bzw. des Rondogramms21 hängt selbstverständlich von dem
im Unterricht eingeführten Wörterbuch ab. Sie kann auch gemeinsam im Unterrichtsgespräch
entworfen werden, indem einzelne bereits bekannte Wortbedeutungen gesammelt und zueinander in Beziehung gesetzt (Mindmap) bzw. kategorisiert (Rondogramm) werden.
Auf die Ergebnisse dieser Aufgabe kann in Kap. 14 (Aufgabe 2) und Kap. 18 (Aufgabe 1b) zurückgegriffen werden.
2 Arbeiten Sie aus dem Text heraus, worauf Cicero bei seiner Selbstdarstellung besonderen Wert legt.
Cicero habe standhaft (manendum mihī statuēbam, Z. 8; nec vērō usquam discēdēbam, Z. 10)
und wachsam (quasi in vigiliā quādam, Z. 8; nec ā rē pūblicā dēiciēbam oculōs, Z. 11) die ihm
eigene politische Stellung (vigilia quaedam cōnsulāris ac senātōria, vgl. Z. 8 f.) gehalten, solange
noch Hoffnung auf Wiederherstellung der alten republikanischen Ordnung bestanden habe
(egō cum spērārem aliquandō ad vestrum cōnsilium auctōritātemque rem pūblicam esse revocātam, Z. 5 f.). Er habe nach Kräften (quantum in mē fuit, Z. 13) die Basis für einen politischen
Ausgleich geschaffen (iēcī fundāmenta pācis, Z. 13 f.) und sich nach griechischem Vorbild
(Athēniēnsium exemplum, Z. 15) dafür eingesetzt, die Zwistigkeiten der Vergangenheit nicht
nur ruhen, sondern auch völlig vergessen zu lassen (omnem memoriam discordiārum oblīviōne
sempiternā dēlendam cēnsuī, Z. 18 f.).
21
Zur Anlage und didaktischen Funktion eines Rondogramms vgl. Theo Wirth / Christian Seidl / Christian Utzinger, Sprache und Allgemeinbildung. Neue und alte Wege für den alt- und modernsprachlichen Unterricht am
Gymnasium, Zürich 2006, 205–219.
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21
3 Generelle Aufgabe für alle Übersetzungstexte dieser Ausgabe: Belegen Sie die in der rechten Fußzeile genannten
(und ggf. noch weitere) sprachlich-stilistische Mittel am Text und erklären Sie deren Funktion im Textzusammenhang.
Bei der sprachlich-stilistischen Untersuchung eines Textes ist nicht nur die Verwendung
bestimmter Mittel nachzuweisen, sondern auch deren konkrete Funktion im betreffenden Zusammenhang zu erklären. Es muss also deutlich gemacht werden, was inhaltlich hervorgehoben
bzw. welcher Eindruck beim Leser geweckt wird. Exemplarische Interpretationsskizzen für die
Hand der Schüler finden sich auf S. 69 der classica-Ausgabe.
• In dem Hendiadyoin »ad vestrum cōnsilium auctōritātemque« (Z. 6) kann von den formal
einander beigeordneten Begriffen »cōnsilium« (»Rat«) und »auctōritās« (»Einfluss«) einer
dem anderen untergeordnet werden (»zu eurem einflussreichen Rat« oder »zu eurem beratenden Einfluss«). Dadurch betont Cicero, dass für ihn der Rat und der Einfluss des Senats
als Basis des republikanischen Staatswesens (»rēs pūblica«) eine feste, notwendige Einheit
bilden.
• Die Hyperbel »omnem memoriam discordiārum oblīviōne sempiternā dēlendam cēnsuī«
(Z. 18 f.) formuliert etwas Unmögliches, nämlich eine aktive Herbeiführung immerwährenden Vergessens, und zwar bezogen auf die gesamte Erinnerung an alle politischen Zwistigkeiten vor und unmittelbar nach Caesars Ermordung. Mit dieser Übertreibung macht Cicero
deutlich, für wie wichtig er es hält, dass die Magistrate und Senatoren nach den Iden des
März wieder zu dem Gegenteil von »discordia«, nämlich zu »concordia« (»Eintracht«) finden, was einem Leitgedanken seines politischen Programms entspricht.
• Die Inversion »quō tum in sēdandīs discordiīs ūsa erat cīvitās illa« (Z. 17) lenkt in betonter
Endstellung den Blick noch einmal auf die als vorbildlich deklarierten Athener des Jahres
403 v. Chr. Damit ist implizit der Appell an die Senatoren des Jahres 44 verbunden, dem
historischen Vorbild nachzueifern und im eigenen Staat für einen politischen Ausgleich zu
sorgen.
• Das Polysyndeton »et profectiōnis et reversiōnis meae« (Z. 3 f.) gliedert Ciceros Redevorhaben klar in zwei gleichgewichtige Abschnitte: Er will einerseits rechtfertigen, warum er Rom
am 1. Juli 44 verlassen hat, andererseits, warum er entgegen seinem ursprünglichen Plan, bis
zum Jahreswechsel und damit bis zum Amtsantritt der neuen Konsuln auswärtig zu bleiben,
bereits am 31. August 44 zurückgekehrt ist.
Welchen Anspruch man an die inhaltlich-funktionale Erklärung stellt, hängt selbstverständlich
auch davon ab, was an Hintergrundwissen bereits erarbeitet worden ist. Als Minimum ist auf
jeden Fall eine nachvollziehbare textimmanente Erklärung zu erwarten.
Für die Bewertung (v. a. in Klausuren) sei folgendes Verfahren vorgeschlagen: Für den richtigen
Fachbegriff und den formal korrekten Textbeleg wird jeweils eine Berechnungseinheit (BE) vergeben, für die Erklärung je nach Ausführlichkeit (i. d. R. nicht mehr als zwei Sätze), Plausibilität
oder gedanklicher Tiefe ein bis zwei weitere BE. Mit der Benennung, dem Nachweis und der
inhaltlich-funktionalen Erklärung von fünf sprachlich-stilistischen Mitteln kann man also maximal 20 BE erreichen; bei vier oder drei sprachlich-stilistischen Mitteln sind es 15 bzw. 12 BE.
22
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Aus den Vorgaben des nds. KC II ergibt sich folgende Bewertungstabelle:22
Punkte
15
14
13
12
11
10
09
08
07
06
05
04
03
02
01
00
%
94
88
82
76
70
65
60
55
50
45
40
34
28
22
16
<
bei 20 BE
19,0
17,5
16,5
15,0
14,0
13,0
12,0
11,0
10,0
9,0
8,0
7,0
5,5
4,5
3,0
<
bei 16 BE
15,0
14,0
13,0
12,0
11,0
10,5
9,5
9,0
8,0
7,0
6,5
5,5
4,5
3,5
2,5
<
bei 12 BE
11,5
10,5
10,0
9,0
8,5
8,0
7,0
6,5
6,0
5,5
5,0
4,0
3,5
2,5
2,0
<
Wer meint, dass dieses Bewertungsschema zu großzügig ist, weil die Schüler allein schon mit
richtigen Fachbegriffen und formal korrekten Textbelegen genau die Hälfte der erwarteten Gesamtleistung und damit sieben Punkte erreichen können, mag schon in der Korrektur dieser
formalen Hälfte eine gewisse Strenge an den Tag legen (nur eine halbe BE für falsche Schreibweisen wie »Parralelismus« oder für nicht bis ins letzte Detail korrekte Textbelege). Alternativ
dazu kann man das Gewicht von Fachbegriff und Textbeleg dadurch senken, dass man dafür
nur jeweils eine halbe BE vergibt. Die entsprechende KC-II-konforme Bewertungstabelle sieht
dann folgendermaßen aus:
Punkte
15
14
13
12
11
10
09
08
07
06
05
04
03
02
01
00
%
94
88
82
76
70
65
60
55
50
45
40
34
28
22
16
<
bei 15 BE
14,0
13,0
12,5
11,5
10,5
10,0
9,0
8,5
7,5
7,0
6,0
5,0
4,0
3,5
2,5
<
bei 12 BE
11,5
10,5
10,0
9,0
8,5
8,0
7,0
6,5
6,0
5,5
5,0
4,0
3,5
2,5
2,0
<
bei 9 BE
8,5
8,0
7,5
7,0
6,5
6,0
5,5
5,0
4,5
4,0
3,5
3,0
2,5
2,0
1,5
<
Zu überlegen wäre allerdings auch, es bei jeweils einer BE für den richtigen Fachbegriff und den
formal korrekten Textbeleg zu belassen und in diesem besonderen Fall mit einem gewissen Mut
zu einer entsprechenden didaktischen bzw. pädagogischen Begründung (zumindest außerhalb
der Abiturprüfung) die alte 50-Prozent-Regel anzuwenden:23
22
23
Punkte
15
14
13
12
11
10
09
08
07
06
05
04
03
02
01
00
%
100
95
90
85
80
75
70
65
60
55
50
45
40
35
30
<
bei 20 BE
20,0
19,0
18,0
17,0
16,0
15,0
14,0
13,0
12,0
11,0
10,0
9,0
8,0
7,0
6,0
<
bei 16 BE
16,0
15,0
14,5
13,5
13,0
12,0
11,0
10,5
9,5
9,0
8,0
7,0
6,5
5,5
5,0
<
bei 12 BE
12,0
11,5
11,0
10,0
9,5
9,0
8,5
8,0
7,0
6,5
6,0
5,5
5,0
4,0
3,5
<
Nds. KC II, 58: »Bei den Interpretationsaufgaben wird die Note ›ausreichend‹ (05 Punkte) erteilt, wenn von
der erwarteten Gesamtleistung annähernd die Hälfte (mindestens zwei Fünftel) erbracht worden ist. Eine gute
Leistung (11 Punkte) ist dadurch gekennzeichnet, dass von der erwarteten Gesamtleistung annähernd drei
Viertel (mindestens sieben Zehntel) erbracht worden sind.«
Sofern Schüler noch ein gewisses Selbstwertgefühl haben, werden sie leicht einsehen, dass weniger als die Hälfte
nicht mehr glatt ausreichend und weniger als drei Viertel nicht mehr gut ist.
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2. Antonius’ Verhalten im März 44 (1, 2–4)
Gedankengang
Unmittelbar nach Caesars Ermordung schien es so, als könnten die republikanischen Kräfte
auf Antonius setzen: Er hielt am 17. März im Senat eine Rede, die Gutes erwarten ließ, ging
auf die Caesarmörder Marcus Brutus und Gaius Cassius Longinus zu, gab ihnen sogar seinen eigenen Sohn als Geisel. Wenn er in privatem Kreis politische Entscheidungen vorbereitete, überging er die republikanische Führungselite nicht. Alle wichtigen Fragen trug er
im Senat vor, wo er auch Rechenschaft über die ācta Caesaris ablegte. Als Servius Sulpicius
Rufus (in einer weiteren Senatssitzung Ende März 44) beantragte, dass über die bereits bekannten Regelungen der ācta Caesaris hinaus keine weiteren publiziert und ratifiziert werden sollten, stimmte Antonius dem zu (obwohl er vermutlich von weiteren Bestimmungen
wusste, da er ja im Besitz von Caesars Nachlass war). Seine größte Tat war jedoch die Abschaffung der Diktatur, die zwar prinzipiell ein verfassungsmäßiges Amt gewesen, im Laufe
der letzten zwei Generationen aber mehrfach missbraucht worden und damit zum Inbegriff
einer Allein- oder gar Schreckensherrschaft geworden war.
Kommentar
Über Antonius’ Verhalten unmittelbar nach Caesars Ermordung berichtet der griechische Historiker Appian (geb. ca. 90/95, gest. nach 160 n. Chr.) ausführlich im zweiten Buch seiner Bürgerkriege (App. civ. II 496–610). Aus dieser Darstellung geht hervor, dass Antonius zunächst
Caesars Tod rächen wollte, davon aber angesichts der unklaren Stimmungslage absah und aus
rein taktischen Gründen auf die Caesarmörder zuging. Er ließ sich noch in der Nacht nach dem
Attentat Caesars Vermögen und Aufzeichnungen von dessen Witwe Calpurnia übergeben und
hielt damit einen starken Trumpf in der Hand. Caesar hatte bereits auf fünf Jahre im Voraus
alle wichtigen politischen Ämter und militärischen Posten vergeben; damit erpresste Antonius
nun die Senatoren, von denen viele ihre Felle davonschwimmen sahen, zur Bestätigung der ācta
Caesaris.24
Cicero stellt die Situation einseitig, im Detail sogar falsch dar25 und rafft die Vorgänge mehrerer
Senatssitzungen, um mit dem Bild eines scheinbar lupenreinen Republikaners Antonius eine
Folie zu gewinnen, von der er im Folgenden den vom rechten Kurs abgekommenen Beinahediktator Antonius deutlich absetzen kann.
Anregungen zur Unterrichtsgestaltung
Aufgabe 1 kann zusammen mit der Kapitelüberschrift die Leitfrage einer transphrastischen
Vorerschließung bilden. Es ist durchaus ergiebig und möglich, in einem ersten Schritt den gesamten Text (200 Wörter) in den Blick zu nehmen, wenn der Lehrer durch seinen Lesevortrag
klare Akzente setzt und vor allem Ciceros Wertungen auf Lateinisch deutlich hervorhebt. Die
24
25
24
App. civ. II 536 f. Zu den ācta Caesaris siehe ausführlich Krešimir Matijević, »Cicero, Antonius und die acta
Caesaris«, in: Historia 55 (2006), 426–450. Die weiteren Hauptquellen sind Plut. Ant. 14, Plut. Cic. 42 und Cass.
Dio XLVI 22, 3 –34, 1.
Matijević (s. Anm. 24) weist nach, dass Antonius in den ācta mehr vorfand, als seinerzeit allgemein bekannt
war (448).
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additive Struktur des ersten Absatzes (Z. 1–14) erlaubt es, diesen Teil nach einer gemeinsamen
Vorerschließung arbeitsteilig übersetzen zu lassen, um Zeit zu gewinnen.
Der zweite Teil von § 3 (Z. 15–22) lässt sich dank seines kleingliedrigen Aufbaus linear erschließen und übersetzen. Die Aufbereitung des Ablativus absolutus nōn modo rēgnō, quod pertulerāmus, sed etiam rēgnī timōre sublātō (Z. 23 f.) durch Farbwechsel und größere Spatia lässt den
grammatikalischen Kern deutlich hervortreten; er könnte vorab übersetzt werden. Ebenso
könnten die bewusst knappen, metasprachlich anspruchsvollen Anmerkungen 21–23 im Unterrichtsgespräch vorab besprochen werden. Ohnehin empfiehlt es sich, die Satzgrammatik von
§ 4 (Z. 22–28) nach der im Unterricht eingeführten Methode gemeinsam an der Tafel graphisch
aufzubereiten.
Für das Verständnis der weiteren Lektüre reichen die minimalistischen Informationen, die im
K-Text (S. 15) zu Antonius gegeben werden, völlig aus, da die Schüler ja zunächst nur das Bild
erarbeiten sollen, das Cicero von seinem Gegner zeichnet. Wenn an dieser Stelle schon ein Referat eingeschoben werden soll, empfiehlt sich als Thema weniger die Person des Antonius denn
das Geschehen im März 44. Die Sekundärliteratur bietet hierzu reichlich Material, doch die sehr
lebendige Darstellung des Appian ist nach wie vor unschlagbar und für Schüler sicherlich sehr
attraktiv.26
Aufgaben
1 Arbeiten Sie aus dem Text heraus, wie Antonius sich laut Cicero unmittelbar nach Caesars Ermordung verhalten
hat und wie Cicero dies bewertet.
• Antonius’ Verhalten:
– hielt eine vorzügliche Rede, zeigte eine hervorragende Absicht (Z. 1 f.),
– bestätigte den Ausgleich mit den Caesarmördern (Z. 2 f.),
– zog führende Politiker zu seinen Privatkonsultationen hinzu (Z. 4–6),
– trug alle wichtigen Fragen im Senat vor und legte dort Rechenschaft über die ācta Caesaris
ab (Z. 6–12),
– bestätigte den Status quo der ācta Caesaris (Z. 12–14),
– schaffte die Diktatur ab (Z. 16–18 und 26–28), beseitigte damit die Furcht vor neuer Alleinherrschaft (Z. 24).
• Ciceros Beurteilung:
– vorzüglich (praeclāra, Z. 1 und 15)
– hervorragend (ēgregia, Z. 1)
– einzigartig (singulāre, Z. 15)
– nacheifernswert (auctōritātem summo studiō secūtī sumus, Z. 20)
– dankenswert (eī … grātiās ēgimus, Z. 21 f.)
– hoffnungsvoller Lichtblick (lūx quaedam vidēbātur oblāta, Z. 22)
26
Appian von Alexandria, Römische Geschichte. Zweiter Teil: Die Bürgerkriege, übersetzt von Otto Veh, durchgesehen, eingeleitet und erläutert von Wolfgang Will, Stuttgart 1989, 166–196.
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25
2 Erläutern Sie mit Hilfe eines Lexikons oder Ihres Geschichtsbuchs der Sek. I, wie die Diktatur im römischen Staatswesen ursprünglich definiert war und welche Gestalt sie im Laufe der Geschichte zunächst unter Sulla, dann unter Caesar annahm.
• Ursprüngliche Definition: Verfassungsmäßiges Amt, mit dem in Notzeiten die Doppelherrschaft der Konsuln ersetzt wurde, um eine äußere Bedrohung abzuwenden oder innere Unruhen zu bekämpfen. Auftrag und Aktionsradius eines Diktators waren fest umrissen. Er
musste sein Amt nach Erledigung seines unmittelbaren Auftrags, spätestens jedoch nach
sechs Monaten niederlegen und danach dem Senat Rechenschaft ablegen; berühmtestes Beispiel hierfür ist Lucius Quinctius Cincinnatus (vgl. Liv. III 26–29).
• Unter Sulla: Im Zeitalter der Bürgerkriege ließ Lucius Cornelius Sulla sich 82 v. Chr. zum
dictātor lēgibus scrībundīs et reī pūblicae cōnstituendae auf unbestimmte Zeit ernennen.
Seine politischen Gegner wurden auf Proskriptionslisten gesetzt und brutal verfolgt, er selbst
ließ sich bis dahin ungekannte Ehrungen zuteilwerden (Cognomen Fēlīx, goldene Reiterstatue auf dem Forum, Triumphzug formal zwar für seinen Sieg über Mithridates VI., faktisch
aber für seinen Sieg im Bürgerkrieg). Nach umfangreichen Reformen dankte er 79 v. Chr.
ab, vermutlich, um seinen zentralen Auftrag als erfüllt zu deklarieren und um noch etwas
Ruhe im Alter zu genießen.
• Unter Caesar: Nach seinem Sieg über Pompeius und die Senatspartei ließ Caesar sich 46
v. Chr. zum Diktator auf zehn Jahre ernennen, ohne dass es für diese außerordentlich lange
Frist einen sachlichen Grund wie noch bei der Vergabe des Prokonsulats über Gallien gab.
Einerseits demütigte er den Senat durch offene Missachtung und Anmaßung übertriebener
Ehrungen, andererseits gewann er durch attraktive Bauprogramme und sinnvolle Reformen
nicht nur im Volk, sondern auch in Teilen des Senats (den er von 600 auf 900 Mitglieder
aufgestockt hatte) Anerkennung, zumal er seinen Gegnern, wenn sie sich ihm unterwarfen,
großmütig begegnete (Programm der clēmentia Caesaris). Caesars Diktatur, die er sich 44
v. Chr. dauerhaft (perpetuō) verleihen ließ, wurde daher nicht so einhellig als Tyrannei (im
modernen Sinne) empfunden wie Sullas.27
3 Charakterisieren Sie das von Cicero hier beschriebene Verhalten des Senats.
• Der Senat nimmt einerseits seine traditionelle Aufgabe wahr, indem er Antonius kritisch zur
Rechenschaft zieht (Z. 9–12); er verhält sich somit aktiv.
• Anderseits folgt er Antonius in wesentlichen Punkten:
– Zustimmung zu Sulpicius’ Barriereantrag (Z. 12–14)
– Abschaffung der Diktatur ohne Diskussion (Z. 18–20)
• Darüber hinaus stattet er Antonius überschwänglichen Dank ab (Z. 21 f.). Insgesamt wirkt
der Senat in diesem Kapitel also eher zurückhaltend und passiv.
27
26
Zu den Gründen für Caesars Ermordung siehe S. 21 und 31 der classica-Ausgabe.
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Exkurs I: Die Philippischen Reden als Zyklus
Kommentar
Der Exkurs I ist an dieser Stelle eingeschoben, um die Zäsur, die zwischen der 2. und der 3.
Philippischen Rede liegt, zu betonen.
Die einschlägigen Stellen für die Zitate sind Cic. Att. XV 13, 1 (= XVI 8, 1 der Tusculum-Ausgabe), Cic. ad Brut. II 3, 4 (= II 18, 4 Tusculum) und Cic. ad Brut. II 4, 2 (= II 3, 2 Tusculum). Die
Tabelle (S. 27) wurde erstellt nach:
• Manfred Fuhrmann, »Einleitung und Literatur zu den Philippischen Reden insgesamt«, in:
Marcus Tullius Cicero, Die politischen Reden, lateinisch-deutsch, herausgegeben, übersetzt
und erläutert von Manfred Fuhrmann, München 1993, Bd. 3, 587–616 (hier 609–613).
• Wilfried Stroh, »Ciceros Philippische Reden. Politischer Kampf und literarische Imitation«,
in: Martin Hose (Hg.), Meisterwerke der antiken Literatur. Von Homer bis Boethius, München 22010 (12000), 76–102 (hier 96 f.).
• Wilfried Stroh, Cicero. Redner, Staatsmann, Philosoph, München 22010 (12008), 113–115.
Anregungen zur Unterrichtsgestaltung
Der Exkurs I ist vor allem wichtig, um den Namen der Philippischen Reden zu verstehen und
zu erkennen, dass bestimmte Aspekte der lateinischen Literatur oft nur vor dem Hintergrund
der griechischen zu erfassen sind (hier: imitātiō und aemulātiō). Außerdem werden im Informationstext die fünf wichtigsten Leitmotive der Philippischen Reden aufgelistet, die in den folgenden Texten immer wieder anklingen und von Schülern, wenn sie einmal dafür sensibilisiert
sind, leicht herausgearbeitet werden können. Daher sollten die ersten vier Absätze des Informationstextes (Z. 1–34) unbedingt behandelt werden, sei es im Unterrichtsgespräch mit zusätzlichen Erläuterungen des Lehrers, sei es als Hausaufgabe mit entsprechenden Erschließungsaufträgen.
Der letzte Absatz (Z. 35–42) und die beiden Gliederungen geben Einblicke in Forschungsfragen,
die sicherlich nicht abiturrelevant sind, aber grundsätzliche Probleme der Klassischen Philologie (v. a. hinsichtlich der Überlieferung und der Intention des Autors) beleuchten. Hier geht es
in erster Linie darum, dass die Schüler zunächst einmal die beiden »Thesen« (Gliederungen)
inhaltlich nachvollziehen und dann auf der relativ dünnen Basis ihrer bisherigen Literaturkenntnisse Kriterien der Beurteilung entwickeln. Da hier zusätzliche Einhilfe nötig sein könnte,
empfiehlt sich für die Bearbeitung der Aufgaben 1 und 2 das Unterrichtsgespräch.
42
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Aufgaben
1 a) Vergleichen Sie Fuhrmanns und Strohs Gliederung. – b) Suchen Sie (auch vor dem Hintergrund des Informationstextes) eine Erklärung dafür, dass Stroh die ersten beiden Reden vom Rest des überlieferten Corpus trennt.
c) Beurteilen Sie die Plausibilität beider Gliederungen.
a) • Gemeinsamkeiten: Einschnitte nach den Reden II, IV und IX.
• Unterschiede: Fuhrmann setzt nach XI eine große Zäsur, während Stroh dort nur eine
Binnenzäsur sieht. Stroh trennt I und II vom Rest des überlieferten Corpus ab.
b) • Durch die Abtrennung von I und II bleibt ein rundes Dutzend Reden. Zu dieser klassischen Anzahl hatte Cicero seine Konsulatsreden gebündelt (Z. 13 des Informationstextes),
und zu Ciceros Zeit gab es unter Demosthenes’ Namen wohl ebenfalls zwölf λόγοι
Φιλιππικοί (Z. 16 f.).
• Zwischen II und III liegt die Zeit, in der Cicero sich wieder aus der Tagespolitik zurückzog
und seinem philosophischen Werk (Lael. und off.) widmete.
• In I und II ist anders als in III–XIV das Vorbild von Demosthenes’ λόγοι Φιλιππικοί nicht
zu erkennen.50
c) Fuhrmanns Gliederung hat den Charme, das literarische Werk wie ein Drama aussehen zu
lassen, aber es scheint mehr als fraglich, ob dies Ciceros Intention entspricht.51 An Strohs
Gliederung überzeugt die Berücksichtigung der historischen Zäsur zwischen II und III, das
klassische Dutzend sowie – was Schüler allerdings nicht wissen können – die Tatsache, dass
nur in III–XIV das Vorbild von Demosthenes’ λόγοι Φιλιππικοί zu erkennen ist.
2 Erläutern Sie, warum Stroh die Koalition aus dem von Caesar auf 900 Senatoren aufgestockten Senat, den Caesarmördern und Octavian (→ S. 29) als widernatürlich bezeichnet.52
• Im Senat saßen viele Caesarianer, die dem ermordeten Diktator zu Dank verpflichtet waren
und sein Ansehen in Ehren halten wollten. Einige von ihnen hätten überdies bei einer Annullierung von Caesars Verfassungsreformen ihren Sitz im Senat verloren; sie waren also an
Kontinuität interessiert.
• Die Caesarmörder wollten ohne klares Konzept zurück zur alten republikanischen Ordnung.
Sie hatten sich sowohl bei den Caesarianern als auch bei Octavian verhasst gemacht.
• Octavian ging es erstens darum, den Mord an seinem Großonkel und Adoptivvater zu rächen, zweitens darum, das von Antonius beschlagnahmte Erbe Caesars zu erhalten, und drittens darum, Caesars Nachfolge anzutreten. Dafür und für den Kampf gegen Antonius
brauchte er ein imperium, das mit den Regeln der alten republikanischen Ordnung nicht zu
vereinbaren war.
50
51
52
Vgl. Wilfried Stroh, »Die Nachahmung des Demosthenes in Ciceros Philippiken«, in: Olivier Reverdin / Bernard Grange (Hgg.), Éloquence et rhétorique chez Cicéron, Vandœuvres, Genf 1982 (= Entretiens sur l'antiquité
classique 28), 1–40.
Auch in der Einleitung der classica-Ausgabe ist die Gliederung des Geschehens nach dem Aufbau einer Tragödie
(S. 10 f.) selbstverständlich nur ein nachträgliches Konstrukt, zumal der Geschichte – sofern man kein Hegelianer ist – keine Intention unterstellt werden darf.
Die Bezeichnung stammt aus: Wilfried Stroh, Cicero. Redner, Staatsmann, Philosoph, München 22010 (12008), 113.
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8. Octavian als Retter in der Not (3, 3–5)
Gedankengang
In den drei Monaten, die seit meiner letzten Rede vergangen sind, hat Antonius’ Wahnsinn
sich immer mehr gesteigert, und wir alle mussten Tod und Verderben für den Fall fürchten,
dass es ihm gelänge, mit seinen makedonischen Legionen aus Brundisium zurück nach Rom
zu kommen. Doch dann kam der junge Octavian – er ist ja fast noch ein Kind – als Retter
in der Not und bewies eine tugendhafte Gesinnung, die unglaublich, ja fast schon göttlich
ist: Ohne dass wir ihn dazu aufgefordert oder es zumindest in Erwägung gezogen hätten –
wir wagten ja nicht einmal im Traum daran zu denken, weil es unmöglich schien –, bildete
er aus Caesars unschlagbaren Veteranen eine starke Truppe. Das Geld dafür nahm er aus
seinem väterlichen Erbe – was für eine uneigennützige, patriotische Tat!
Man kann ihm dafür gar nicht genug danken – wir sollten es dennoch wenigstens versuchen.
Wer nämlich die Lage nur einigermaßen durchschaut und auch nur ein Fünkchen politischen Verstand hat, begreift sofort, dass Antonius in Rom ein unbeschreiblich brutales Gemetzel angerichtet hätte, wenn es ihm gelungen wäre, mit den schon sicher in seiner Hand
geglaubten makedonischen Legionen in die Hauptstadt zu gelangen.
Doch vor dieser Katastrophe hat uns Octavian bewahrt, und zwar aus privatem Entschluss,
denn anders war es ihm ja nicht möglich. Ich wage folgende These: Wäre Octavian nicht in
diesem Staat geboren, hätten wir nun aufgrund von Antonius’ wahnsinnigem Verbrechen
überhaupt keinen Staat mehr. Zum Glück ist es anders gekommen, und da wir uns dank
Octavian jetzt nach langer Zeit zum ersten Mal wieder in einer Situation befinden, in der
wir unsere Meinung frei äußern können, sollten wir ihn schleunigst mit allen nötigen Befugnissen ausstatten, damit er unsere republikanische Ordnung nicht nur aus Privatinitiative, sondern auch im Auftrag des Senats verteidigen kann.
Kommentar
Nach dem offenen Bruch mit Antonius hatte Cicero sich aus der Tagespolitik zurückgezogen,
um auf den Jahreswechsel und damit auf den Amtsantritt der beiden neuen Konsuln Hirtius
und Pansa zu warten. Einstweilen setzte er seine philosophische Schriftstellerei mit Dē virtūte,
Laelius dē amīcitiā und Dē officiīs fort. Das Geschehen in Rom beobachtete er mit Sorge, wovon
zahlreiche Notizen in seinen Briefen zeugen.
Inzwischen wuchs für ein Antonius ein anderer Gegner heran: Gaius Octavius, Caesars Großneffe und Adoptivsohn, den wir heute Octavian nennen (s. K-Text, S. 29 der classica-Ausgabe).
Von der Ermordung seines Großonkels erfuhr der Achtzehneinhalbjährige in Apollonia, wohin
er zur Vorbereitung von Caesars Partherfeldzug vorausgeschickt worden war. Rasch kehrte er
nach Rom zurück, wo ihm Antonius zunächst die Herausgabe seines Erbes verweigerte. Schon
hier erwies Octavian sich als geschickter Taktierer: Er streckte die Zahlungen, die laut Testament an Caesars Veteranen geleistet werden sollten, einfach vor und gewann so deren Sympathie auf Antonius’ Kosten. Auch mit weiteren populären Maßnahmen wie mit den lūdī victōriae
Caesaris lief Octavian dem mächtigen Konsul in der breiten Öffentlichkeit den Rang ab. An
ihm war wohl nicht mehr vorbeizukommen. Cicero, mit dem Octavian bereits am 21. April
ersten Kontakt aufgenommen hatte, war sich zunächst unsicher, was er von dem Jüngling halten sollte. Noch im November schrieb er an Atticus auf Griechisch: »Von so einem möchte ich
44
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nicht gerettet werden.«53 Erst als Decimus Brutus, der Statthalter von Gallia cisalpina, sich Antonius’ Anweisungen offen widersetzte und sich auf die republikanische Seite des Senats schlug
(vgl. K-Text, S. 33), glaubte Cicero eine Möglichkeit zu sehen, in dieser Kombination Octavian
sicher vor den Karren des Senats zu spannen.
Mit der Privatarmee, die er kurz nach seinem 19. Geburtstag54 aus Caesars Veteranen in Kampanien rekrutiert, und den beiden makedonischen Legionen, die er zum Übertritt von Antonius’
auf seine Seite bestochen hatte, besaß Octavian eine schlagkräftige Armee, die nun unbedingt
eingebunden werden musste, wenn es nicht wieder zu solchen Eigenmächtigkeiten kommen
sollte wie in den vorigen Bürgerkriegen. Cicero war sich seiner Sache durchaus nicht
sicher, durfte davon aber bei seinem spontanen Plädoyer am 20. Dezember selbstverständlich
nichts spüren lassen.55 Dies erklärt den immensen rhetorischen Impetus seiner 3. Philippischen
Rede: Mit Volldampf voraus gegen den Staatsfeind!
Anregungen zur Unterrichtsgestaltung
An dem ersten Absatz dieses Textes (Z. 1–10, 69 Wörter) kann exemplarisch gezeigt werden,
wie auch längere Cicero-Perioden relativ schnell in den Griff zu bekommen sind. Den ersten
Schritt bildet der Lesevortrag des Lehrers, aus dem die Schüler deutliche Zäsuren als Markierungen grammatikalischer Einheiten in ihren Text übernehmen:
Gāius Caesar, / adulēscēns (paene potius puer) incrēdibilī ac dīvīnā quādam mente atque
virtūte, / cum maximē furor ārdēret Antōnī / cum-que eius ā Brundisiō crūdēlis et pestifer reditus timērētur, / nec postulantibus nec cōgitantibus nē optantibus quidem nōbīs / (quia nōn posse fierī vidēbātur) /
firmissimum exercitum ex invictō genere veterānōrum mīlitum comparāvit / patrimōnium-que
suum effūdit. / Quamquam nōn sum ūsus eō verbō, quō dēbuī; / nōn enim effūdit: / in reī pūblicae salūte conlocāvit. /
In einem zweiten Schritt werden alle Konnektoren markiert, entweder in Einzelarbeit mit anschließender Auswertung im Unterrichtsgespräch oder gleich in Plenumsarbeit. Die Ergebnisse
dieser beiden Schritte können in der linken Hälfte des auf der nächsten Seite folgenden Tafelbildes festgehalten werden. In einem dritten Schritt wird die syntaktisch-semantische Funktion
der einzelnen Einheiten betrachtet; Ergebnissicherung in der linken Hälfte des Tafelbildes (mit
mündlichen Erläuterungen, s. u., S. 46).
Bei der gemeinsamen inhaltlichen Betrachtung kann schon allgemein die für Ciceros Philippische Reden typische Polarisierung herausgearbeitet werden (im Hauptsatz unglaublich tugendhafte Einstellung des Octavian, im Gliedsatz verderblicher Wahnsinn des Antonius). Die Übersetzung des ersten Satzes (53 Wörter) kann dann zügig in Partnerarbeit erfolgen, ggf. binnendifferenziert:56
• Anforderungsniveau A: Periodenkern = Hauptsatz (Z. 1 f. und 7 f. des Tafelbildes)
• Anforderungsniveau B: Kontext = Gliedsätze (Z. 3 f.)
• Anforderungsniveau C: Begleitumstand = Abl. abs. mit Begründung (Z. 5 f.)
53
54
55
56
Cic. Att. XVI 15, 3 (= XVI 17, 3 der Tusculum-Ausgabe): μηδὲ σωϑείην ὑπό γε τοιούτου.
Diesbezüglich ist in der Erstauflage der classica-Ausgabe auf S. 28 eine Korrektur vorzunehmen: Statt »erst
achtzehnjährige« (Z. 3 des Vorspanns) lies »erst neunzehnjährige«. Entsprechend muss es im K-Text (S. 29)
nach dem Gedankenstrich »Als gerade Neunzehnjähriger« statt »Als gut Achtzehnjähriger« heißen.
Ursprünglich sollte in dieser Sitzung nur über Sicherungsmaßnahmen für den Amtsantritt der neuen Konsuln
beraten werden. Cicero weitere die Tagesordnung zu einer Debatte dē tōtā rē pūblicā aus, vgl. Cic. fam. X 28, 2
(= X 27, 2 der Tusculum-Ausgabe).
Die Zuordnung zu einem der drei Anforderungsniveaus kann in Selbsteinschätzung durch die Schüler erfolgen.
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Der Trick besteht bei diesem Verfahren darin, dass man sich nicht an ein bestimmtes Schema
klammert und sich auch nicht zwingt, Beobachtungen in nur einer Kategorie anstellen zu lassen, sondern in einem linearen Durchgang abfragt, was den Schülern dabei auf- bzw. dazu einfällt. Die Beobachtungen werden teils syntaktischer, teils formal semantischer, teils lexikalischer, teils inhaltlicher, teils stilistischer Natur sein und einander gut ergänzen. Wenn das Verfahren eingeübt ist, können dieser lange Satz und auch noch der folgende – dieser je nach verbleibender Zeit entweder in Partner- oder gleich in Plenumsarbeit – locker in einer Einzelstunde vorerschlossen, übersetzt und interpretiert werden.
Mögliches Tafelbild
3
C. Caesar,
Subjekt des HS
adulēscēns (paene potius puer) incrēdibilī ac dīvīnā
quādam mente atque virtūte,
Apposition: nähere Informationen zu
Caesar
cum maximē furor ārdēret Antōnī
cum-Satz: Erläuterung des Kontextes
cumque eius ā Brundisiō crūdēlis et pestifer reditus timērētur,
zweiter cum-Satz, angeknüpft mit -que:
Fortsetzung der Erläuterung
polysyndet. Abl. abs.: Begleitumstand
des HS
quia-Satz in Klammern: Begründung
von etwas*
HS
nec postulantibus nec cōgitantibus nē optantibus quidem nōbīs
6
(quia nōn posse fierī vidēbātur)
firmissimum exercitum ex invictō genere veterānōrum mīlitum
comparāvit
patrimōniumque suum effūdit.
9
Quamquam nōn sum ūsus eō verbō, quō dēbuī;
Fortsetzung des HS, angeknüpft mit
-que
nächster HS** mit kurzem RS
nōn enim effūdit: in reī pūblicae salūte conlocāvit.
zwei kurze HS (asyndet.)
Mündliche Erläuterungen: * bislang unklar, kann übersprungen werden, da es in Klammern steht ** vgl. Anm. 5 der Textausgabe
Aufgaben
1 Arbeiten Sie aus dem Text heraus, wie Antonius und Octavian von Cicero charakterisiert werden.
• Antonius: brenne vor Wahnsinn (Z. 3 und 23), drohe Rom seine Rückkehr an (Z. 16), lasse
für den Fall seiner Rückkehr Grausamkeit und Verderben befürchten (Z. 3 f., 17 f., 19 und
23 f.), plane einen verbrecherischen Angriff (Z. 21 und 23).
• Octavian: sei ein Jüngling, eher fast noch ein Junge (Z. 1), habe eine unglaubliche und gewissermaßen göttliche tugendhafte Einstellung (Z. 1 f.), habe bei seiner Privatinitiative das Wohl
des Staates im Blick gehabt (Z. 9 f.), sei die letzte Rettung für Roms Existenz (Z. 20–22 und
22–25) und eine Wohltat für den Senat (Z. 26 f.) gewesen, habe Dank (Z. 11–13) und außerordentliche Befugnisse (Z. 25–30) verdient.
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2 a) Erläutern Sie die Argumente, mit denen Cicero dem Senat Octavians eklatanten Verfassungsbruch schmackhaft
machen will. – b) Beurteilen Sie diese Argumente aus der Sicht eines republikanischen Senators.
a) Octavian habe keine verfassungsgemäße Möglichkeit besessen, den Staat zu retten. Seine Privatinitiative habe aber ausschließlich das Wohl des Staates im Blick gehabt und faktisch eine
Katastrophe abgewendet, der nicht anders zu entkommen gewesen wäre. Das sei ein Geschenk des Himmels gewesen und müsse nachträglich legitimiert werden, denn außergewöhnliche Situationen erforderten außergewöhnliche Maßnahmen.
b) Es ist zwar richtig, dass wir keine Möglichkeit haben, die Konsuln Antonius und Dolabella
ihres Amtes zu entheben, und selbst wenn wir eine solche Möglichkeit hätten, könnten wir
sie angesichts dessen, wie die Karten gegenwärtig verteilt sind, nicht wirklich durchsetzen.
Uns fehlt schlichtweg ein fähiger, erfahrener General wie Pompeius, den wir vor fast sechs
Jahren noch gegen Caesar aufstellen konnten. Einen Jüngling aber, der erst vor Kurzem die
Männertoga angelegt hat, über keine nennenswerte militärische Erfahrung verfügt und vor
allem noch kein politisches Amt bekleidet hat, darf man nicht mit so außerordentlichen Vollmachten ausstatten, wie Cicero es vorschlägt. Das widerspricht eklatant dem mōs māiōrum
und ist nicht nur militärisch, sondern auch politisch äußerst riskant. Wer garantiert, dass
Octavian diese Vollmachten nicht für seine persönlichen Zwecke missbraucht? Schließlich
hat er sich u. a. Rache an den Caesarmördern auf seine Fahne geschrieben. Nun gut, er hat
tatsächlich eine Katastrophe abgewendet, wenn auch mit illegalen Mitteln. Wir können ja
ein Auge zudrücken und müssen ihn dafür nicht unbedingt zur Rechenschaft ziehen; von
mir aus können wir ihm sogar den Dank abstatten, den Cicero vorschlägt. Im Übrigen sollten wir aber noch zwölf Tage warten, bis die neuen Konsuln Hirtius und Pansa ihr Amt
antreten; dann haben wir wieder legale, dem mōs māiōrum entsprechende Mittel zum Kampf
gegen Antonius zur Verfügung.
3 Der vorliegende Text ist, von einigen Bemerkungen in seinerzeit noch unveröffentlichten Briefen Ciceros einmal
abgesehen, die erste Stelle der lateinischen Literatur, in der Octavian erwähnt wird. Nehmen Sie zu der Frage
Stellung, ob er schon die Qualität einer Schlüsselszene hat.
Man könnte geneigt sein, in der Formulierung C. Caesar, adulēscēns (paene potius puer) incrēdibilī ac dīvīnā quādam mente atque virtūte eine Prophezeiung der segensreichen Herrschaft des
Augustus zu erkennen und dem vorliegenden Text daher die Qualität einer Schlüsselszene für
die Weltgeschichte beizumessen. Das Bild von der Wiederkehr des Goldenen Zeitalters unter
Augustus idealisiert aber einerseits den frühen Prinzipat maßlos; andererseits blendet es die
ungeheuren Grausamkeiten, die Octavian im Bürgerkrieg begangen hat, völlig aus. Außerdem
konnte Cicero gar nicht ahnen, was am Ende der Entwicklung des von ihm protegierten
Octavian stehen würde. Bekanntlich hat er dessen Skrupellosigkeit in einer für ihn fatalen Weise
unterschätzt. In dieser Hinsicht ist der Text also keine Schlüsselszene.
Etwas anders sieht es aus, wenn man den Blick auf das Corpus der Philippischen Reden fokussiert. Unter der Annahme, dass Cicero sie vor der Veröffentlichung redigiert und dabei gerade
dem Redenpaar III/IV eine programmatische Bedeutung beigemessen hat, kommt es auf die
Art, wie der junge Mann, der alles richten soll, rhetorisch eingeführt wird, besonders an. Cicero
wäscht ihn von allen (nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch politisch-strategisch mehr
als nachvollziehbaren) Vorwürfen rein, betont seine virtūs und umgibt ihn mit göttlichem
Glanz, weil er – man möchte aus Ciceros Perspektive ergänzen: wie einst der Konsul des Jahres
63 – das Vaterland aus höchster Not gerettet habe. Schon hier versteht man, warum Cicero so
unbedingt auf Octavian setzt. In dieser Hinsicht hat der Text also durchaus die Qualität einer
Schlüsselszene.
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9. Freiheit oder Tyrannei (3, 28 f.)
Gedankengang
Meine Herren Senatoren, nach langer Zeit setzen wir heute zum ersten Mal wieder unseren
Fuß auf den Boden der Freiheit. Ihr wisst, dass ich diese Freiheit als Politiker immer aktiv
verteidigt habe, solange es die Umstände erlaubten. Als das aber nach der Schlacht bei Pharsalos nicht mehr möglich war, habe ich mich zurückgezogen und der Gesellschaft durch
meine schriftstellerische Tätigkeit auf zweitbestem Wege gedient. Weil ich auf diese Weise
meine dignitās wahren konnte, war Caesars Herrschaft für mich noch einigermaßen erträglich. Wer aber kann diese abscheuliche Bestie Antonius ertragen? Wie soll das möglich sein,
wo in ihm doch nichts steckt außer Triebhaftigkeit, Grausamkeit, Dreistigkeit und Skrupellosigkeit? Edelmut, Bescheidenheit, Rücksicht oder Anstand – das alles ist ihm völlig fremd.
Da es jetzt nur noch um die Frage geht, ob Antonius seine Verbrechen am Staat büßt oder
wir seine Sklaven sind, lasst uns endlich den Mut und die Entschlossenheit unserer Vorfahren an den Tag legen, um entweder die für uns Römer charakteristische Freiheit wiederzuerlangen oder den Tod der Knechtschaft vorzuziehen! Unter Caesar haben wir vieles ertragen, was in einer freien Gesellschaft eigentlich unerträglich wäre – die einen vielleicht in der
Hoffnung auf bessere Zeiten, die anderen wohl aus übertriebener Sorge um ihre Existenz.
Das war den Zeitumständen geschuldet, vielleicht auch dem Schicksal, doch letztlich haben
wir dabei immer unsere Haltung gewahrt. Wollen wir uns jetzt von Antonius’ abscheulicher
und grausamer Tyrannei brechen lassen?
Kommentar
Nach der Schlacht bei Pharsalos (9. August 48 v. Chr.), in der Caesar den entscheidenden Sieg
über Pompeius und die Senatspartei errungen hatte, war Cicero politisch kaltgestellt. Aus den
Reden, die er unter Caesars Diktatur hielt (Prō Mārcellō, Prō Ligāriō und Prō rēge Dēiotarō)
lesen einige Interpreten eine charakterlose Unterwürfigkeit heraus. Treffender ist wohl die Lesart, dass Cicero hier diplomatisch auf Caesar zuging, ihn auf seine clēmentia festnagelte und
ihm einen Spiegel vorhielt, nicht ohne die Mahnung, den Bogen nicht zu überspannen, sondern
die auctōritās des Senats und die dignitās der Senatoren zu respektieren. Im Übrigen widmete
er sich der philosophischen Schriftstellerei, die für ihn eine Art δεύτερος πλοῦς war, der zweitbeste Weg, einer Sache (hier: dem römischen Staat und der römischen Gesellschaft) zu dienen.
In dem vorliegenden Auszug aus der 3. Philippischen Rede verschweigt Cicero nicht, wie schwer
es ihm gefallen ist, Caesars Diktatur zu ertragen, welchen Schmerz er über dieses politische Unglück empfunden hat. Er unterstellt, dass es vielen anderen Senatoren ähnlich ging, spricht
ihnen aber für ihr Stillhalten auch eine Ehrenrettung aus. Damit ist eine Folie geschaffen, von
der es nun Antonius klar abzusetzen gilt: Mit Caesar konnte man sich noch irgendwie arrangieren und dabei seine eigene dignitās wahren, mit Antonius ist das völlig unmöglich – lieber
tot als Sklave dieses Tyrannen!
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Anregungen zur Unterrichtsgestaltung
Wenngleich beide Abschnitte dieses Kapitels (73 und 92 Wörter) nicht selbsterklärend sind,
was das Verhalten Ciceros und der Senatoren während Caesars Diktatur betrifft (Z. 4–6 und
17–22), springt bei einer transphrastischen Vorerschließung doch das invektive Vokabular ins
Auge, mit dem Antonius diffamiert werden soll. Ebenso müssten die rhetorischen Fragen (Z. 6–9)
und der Appell (Z. 14–17) leicht zu erkennen sein. Hieraus ergeben sich die Leitfragen für die
weitere Untersuchung.
Nach der Übersetzung von § 28 kann schon der erste Teil von Aufgabe 1 bearbeitet werden.
Eine Hilfe hierzu mag ein Blick auf die Zeittafel (S. 9) bieten; im Übrigen empfiehlt sich, bei
dieser Gelegenheit die Schüler erneut zur Lektüre von Sekundärliteratur anzuhalten.57
Der K-Text »Kernbegriff lībertās« (S. 31) ist für das Semesterthema von zentraler Bedeutung
und sollte im Unterricht unbedingt gründlich behandelt werden. Eine Auseinandersetzung mit
dem modernen Freiheitsbegriff (in politischer, juristischer und persönlicher Hinsicht) kann dabei einen sinnvollen existentiellen Transfer ermöglichen.
Aufgaben
1 Erläutern Sie die Aussagen, die Cicero hier über sein eigenes Verhalten und das des Senats während Caesars Diktatur trifft.
• Nec abiectē nec sine aliquā dignitāte cāsum illum temporum et dolōrem tulī (Z. 5 f.): Cicero
habe diese Zeit als schmerzhaftes Unglück empfunden, aber eine Lebensform gefunden, die
es ihm ermöglichte, seine dignitās zu wahren. Gemeint ist damit seine philosophische
Schriftstellerei (vgl. Zeittafel, S. 9).
• Multa, quae in līberā cīvitāte ferenda non essent, tulimus et perpessī sumus, aliī spē forsitan
recuperandae lībertātis, aliī vīvendī nimiā cupīditāte (Z. 17–20): Für die Senatoren lagen die
Motive, Caesars Diktatur zu ertragen, teils in der Hoffnung, die Freiheit wiederzuerlangen,
teils in dem übertriebenen Streben zu leben. Das eine kann als eine Art innere Emigration
bezeichnet werden, das andere als ethisch fragwürdiger Opportunismus.
• Illa tulimus, quae nōs necessitās ferre coēgit, quae vīs quaedam paene fātālis 〈nōs ferre coēgit〉,
quae tamen ipsa nōn tulimus (Z. 20–22): Das angepasste Verhalten wird mit dem Hinweis
auf die schicksalshafte Zwangslage entschuldigt; zugleich wird behauptet, die Senatoren hätten die Diktatur nie wirklich akzeptiert.
2 Zeigen Sie, dass in Ciceros vorliegender Charakterisierung des Antonius eine Steigerung gegenüber Text 8 zu erkennen ist.
In Text 8 wird Antonius in seinem äußeren Verhalten charakterisiert: Er brenne vor Wahnsinn
(Z. 3), drohe grausames Unheil bei seiner Rückkehr an (Z. 3 f. und 16–18), habe Verbrechen
(Z. 21), Angriffe auf den Staat (Z. 23) und sonstige grausame Vorhaben (Z. 23 f.) im Sinn. In
Text 9 wird er in seinem eigentlichen Charakter beschrieben, der durch libīdō, crūdēlitās, petulantia und audācia sowie durch die Abwesenheit aller positiven moralischen Eigenschaften gekennzeichnet sei (Z. 7–11).
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Es sei noch einmal auf Wilfried Strohs Taschenbuch Cicero. Redner, Staatsmann, Philosoph hingewiesen, das
bei aller Kürze eigentlich alles bietet, was man in diesem Zusammenhang braucht.
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3 Erläutern Sie den Freiheitsbegriff des vorliegenden Textes inhaltlich und funktional.
• Inhaltlich: In Ciceros (optimatischem) Sinne ist lībertās der spätrepublikanische Gegenbegriff
zu dominātiō oder dominātus, der unrechtmäßigen und unkontrollierbaren Vormachtstellung
eines Einzelnen. Unter lībertās wird hier der traditionelle Ordnungsrahmen der mittleren
Republik verstanden, innerhalb dessen sich alle nōbilēs politisch frei und gleichberechtigt
entfalten konnten (vgl. K-Text, S. 31).
• Funktional: Cicero benutzt den Begriff lībertās hier, um an das republikanische Selbstverständnis der Senatoren zu appellieren und sie zum bedingungslosen Kampf gegen Antonius’
dominātus zu mobilisieren.
4 Analysieren Sie gemäß der von Ihnen bereits erarbeiteten Methode (→ S. 19, Aufgabe 3) die unten abgebildete
Münze.
Um diese Aufgabe vollständig lösen zu können, benötigen die Schüler Informationen über die
politische Lage des Jahres 55 v. Chr. und das sog. erste Triumvirat. Eine entsprechende Hausaufgabe zur Vorbereitung – Stichworte: sog. erstes Triumvirat, Konferenz von Luca (moderne
Schreibweise: Lucca) – wäre vielleicht hilfreich.
• Allgemeine Beschreibung der äußeren Merkmale: Silberdenar (3,81 g) des Quintus Cassius
Longinus, Rom, 55 v. Chr.58
• Beschreibung des Avers: Frauenkopf, nach rechts blickend, geschmückt mit kreuzförmigem
Ohrring, Halskette, Haarknoten und fallenden Locken; links davon die Buchstaben LIBERT,
rechts davon die Buchstaben Q∙CASSIVS.
• Entzifferung und Erläuterung der Legenden: lībert〈ās〉 »Freiheit«; Q〈uīntus〉 Cassius
〈Longīnus〉, Augur und Münzmeister, Bruder des Caesarmörders Gaius Cassius Longinus.
• Erklärung von Details der Darstellung: Der abstrakte Begriff »Freiheit« wird hier personifiziert und als eine Göttin dargestellt, die durch ihren reichen Schmuck und ihre aufwendige
Frisur Würde ausstrahlt und Verehrung verdient.
• Einordnung in den historischen Kontext: Auf den Konferenzen von Ravenna und Luca hatten Caesar, Pompeius und Crassus 56 v. Chr. vereinbart, dass Caesars Prokonsulat in Gallien
um weitere fünf Jahre verlängert wurde; zugleich sollten im folgenden Jahr Pompeius und
Crassus zum zweiten Mal Konsul werden. Das sog. erste Triumvirat (vgl. Zeittafel, S. 9) war
zwar nur ein privates Abkommen und kein staatsrechtliches Konstrukt, schränkte aber den
politischen Spielraum in Rom stark ein.
• Deutung der Mitteilungsabsicht: Quintus Cassius Longinus, der 52 v. Chr. Quästor unter
Pompeius werden und sich 49 v. Chr. als Volkstribun auf Caesars Seite schlagen sollte, sprach
sich im Jahr 55 noch gegen die politische Dominanz der sog. ersten Triumvirn und für die
alte republikanische Ordnung aus.
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https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b0/Cassius_Longinus_%28Cassia_8%29_80000489.jpg.
Vgl. Michael H. Crawford, Roman Republican Coinage, 2 Bde., Cambridge 1974, Nr. 428/2.
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