Schweiz–EU: Sommaruga bremst die Hoffnungen

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24. 12. 2015
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ST. GALLER
Nummer 300
Donnerstag, 24. Dezember 2015
FA AZ 9001 St.Gallen
Fr. 3.50 / € 4.–
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FERNAUSGABE
Gemeinsame Fernausgabe der
Ostschweizer Tageszeitungen
mit dem aktuellen Lokalteil:
Talentschau im hohen Norden
Digitale Sammelbüchsen
Der in Herisau aufgewachsene Eishockeyspieler Timo Meier
beteiligt sich ab Samstag an der U20-WM in Helsinki. Die
Schweizer Auswahl hat in Finnland hohe Ziele. ! SPORT 15
Spenden haben in der Adventszeit
Hochkonjunktur, auch digitale
Sammelbüchsen. ! WIRTSCHAFT 11
Italienische Meisterweine
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www.caratello.ch
Klosterleben Schwester Agatha und ihre Hoffnung
n St. Galler Tagblatt
für St. Gallen–Gossau
n Wiler Zeitung
n Toggenburger Tagblatt
Aus Vertriebsgründen mit dem
Lokalteil vom Vortag:
n St. Galler Tagblatt
für Rorschach und Umgebung
n Thurgauer Zeitung
n Der Rheintaler
n Appenzeller Zeitung
Den Lokalteil von heute finden Sie
im Internet unter www.tagblatt.ch
FOCUS
Düfte können unsere
Phantasie stark
! 24
stimulieren.
Salzkorn
Lange waren die Bauern die
Meister im Jammern. Sie verstanden es am besten, mit Leichenbittermiene zu erklären, wie
schlecht es um ihre Existenz bestellt sei. Die Disziplin beherrschen sie immer noch. Doch es
gibt Konkurrenz, andere Branchen haben aufgeholt.
Zu schöner Meisterschaft
bringen es mittlerweile auch die
Detailhändler. Weihnachtsgeschäft und Sonntagsverkäufe
laufen unbefriedigend, und an
Begründungen mangelt es nicht.
Der Eurokurs spielt übel mit, der
Onlinehandel funkt drein, und
natürlich benimmt sich das
Wetter daneben, da will einfach
keine Weihnachtsstimmung aufkommen. Im Strassencafé sitzen
statt einkaufen: Unverschämt!
Doch da zeigt sich: Das Wehklagen ist im Grunde ein einziger Vorwurf an die Konsumenten, falsch zu konsumieren. Generalanklage: Kaufunlust. Das
ist eine Frechheit. Deshalb ein
Weihnachtswunsch des anonymen Konsumenten an die Gewerbler: Hört auf, uns das richtige Mass an Kauflust zu diktieren. Und lasst uns einfach das
kaufen, was wir brauchen. B.H.
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Angst habe sie nicht. Sie sei nicht allein im Haus. Es sei voller Engel und
Heiliger. Schwester Agatha lebt vorerst für ein Jahr im Kloster Maria der
Engel in Appenzell – als einzige Schwester und mit der Hoffnung, dass die
Schweiz–EU: Sommaruga
bremst die Hoffnungen
TOBIAS BÄR
BERN. Bei der Suche nach einer
Lösung für die Umsetzung der
Masseneinwanderungs-Initiative
habe sich die Ausgangslage klar
verbessert, sagte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga
am Montag nach ihrem Treffen
mit EU-Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker. Im Gespräch mit unserer Zeitung
dämpft die Justizministerin nun
die Erwartungen. Zwar hätten
die beiden Parteien festgestellt,
dass eine Lösung auf der Basis
der bestehenden Schutzklausel
im
Personenfreizügigkeitsabkommen möglich wäre. «Man
hat am Montag aber auch gesehen, dass die Differenzen in
verschiedenen Fragen nach wie
vor sehr gross sind», sagte Sommaruga.
wirklich hilfreich». Erschwerend
hinzu komme die Frist zur Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative, die im Februar
2017 abläuft: «Eine solche Frist
erleichtert Verhandlungen nie.»
Sommaruga äusserte sich
auch zur Kritik aus der GoogleZentrale, wonach die Schweizer
Kontingente für Zuwanderer aus
Drittstaaten die Rekrutierung
von ausländischen Fachkräften
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Frist erschwert Lösungssuche
Dass Grossbritannien auf Reformen bei der Personenfreizügigkeit drängt, ist aus der Sicht
der Bundespräsidentin «nicht
Bild: freshfocus
Simonetta Sommaruga
Bild: Michel Canonica
Räume bald wieder von einer geistlichen Gemeinschaft belebt sein werden.
Ihr Vorhaben sei schon «eine ziemlich verrückte Idee». Doch sie bete «für
! THEMA 2 + 3
Gspänli», sagt die promovierte Ärztin. (rw)
erschwerten. Gemäss Sommaruga herrscht ein Widerspruch
zwischen der Forderung des Volkes nach einer Begrenzung der
Zuwanderung und den Bedürfnissen der Unternehmen. Die
Politik könne zur Lösung beitragen, indem sie den Arbeitsmarktzugang für inländische Arbeitskräfte erleichtere – «für
Frauen zum Beispiel».
Haftbefehl gegen
Chodorkowski
Regierung legt
Wachstum fest
MOSKAU. Ein Moskauer Gericht
ST. GALLEN. Die St. Galler Regie-
hat wegen eines alten Mordfalls
einen Haftbefehl gegen den
früheren Oligarchen Michail
Chodorkowski erlassen. Zudem
wurde er international zur Fahndung ausgeschrieben, wie die
Nachrichtenagentur Ria Nowosti
meldete. Eine Sprecherin des
Kreml-Kritikers sagte dazu, Chodorkowski werde «seine Reisen
in keinster Weise wegen des Entscheids der Vampire des Kreml»
einschränken. (afp) ! AUSLAND 9
rung hat für die kantonale Richtplanung ein mittleres Bevölkerungswachstum festgelegt. Damit korrigiert sie einen Beschluss
des Kantonsrats, der ein höheres
Wachstum und grössere Bauzonen wollte. Seit der Abstimmung vom November ist wieder
die Regierung für die Richtplanung zuständig. In Zahlen bedeutet dies, dass der Kanton bis
2030 um 40 000 Personen wachsen könnte. (sda) ! OSTSCHWEIZ 17
«Es gab dunkle Momente»
Mit Blick auf ihr Präsidialjahr
sagt Sommaruga: «Es gab dunkle
Momente.» Dazu zählten die
Terroranschläge in Paris oder die
beispiellose
Flüchtlingsbewegung. Kraft schöpfe sie aus den
Begegnungen mit der Bevölkerung. Die Zusammenarbeit im
Bundesrat funktioniere derzeit
so, «wie sie funktionieren sollte».
Es werde hart gerungen. Die Entscheide würden dann aber von
allen Mitgliedern getragen. Sie
sei zuversichtlich, dass sich dies
auch mit dem neuen SVP-Bundesrat Guy Parmelin nicht än! SCHWEIZ 5
dern werde.
BOXING DAY
Weihnachten im Stadion
Am 25. Dezember ist Weihnachten. Für die Anhänger
des englischen Fussballs ist
der 26. Dezember
aber mindestens so
bedeutend: Es ist
wieder Boxing Day.
Die Premier League
trägt am Stephanstag traditionell eine
Vollrunde aus. Die-
se Tradition geht bis ins
19. Jahrhundert zurück. Allerdings ist der Derby-Gedanke
von damals den heutigen kommerziellen
Überlegungen gewichen. Trotzdem ist
die Kernidee der
Rivalität in England
nicht verloren gegangen. (nle) ! SPORT 16
Zentralredaktion St. Galler Tagblatt: Fürstenlandstrasse 122, 9001 St. Gallen, Tel. 071 272 77 11, Fax 071 272 74 76 – Aboservice: Tel. 071 272 72 72, Fax 071 272 72 70, E-Mail aboservice#tagblatt.ch
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2 Thema
Donnerstag, 24. Dezember 2015
Das Kloster Maria der Engel liegt mitten im Dorf Appenzell.
«Er ist der beste Chef, den es gibt»
Schwester Agatha aus Vorarlberg lebt im leeren Kloster Maria der Engel in Appenzell. Vorerst für ein Jahr. Und mit der Hoffnung,
dass die Räume bald wieder von einer geistlichen Gemeinschaft belebt sein werden. Von Regula Weik (Text) und Michel Canonica (Bilder).
Sie zieht eine Wolljacke an und führt
hinaus in den Garten. Die meisten Beete
sind geräumt, winterfest gemacht. In
einem wächst trotz der kalten Nächte
noch frischer Salat. Schwester Agatha
wird ein grüner Daumen nachgesagt.
«Wer sagt das?», fragt sie. Ihre Freude am
Garten kann sie schwer verbergen. Sie
schneidet einen Salat. «Gartenarbeit ist
ein guter Ausgleich.»
Vorschuss an Vertrauen
Sie sei naturverbunden aufgewachsen, erzählt sie später. In der Nähe von
Salzburg. In einer Bergbauernfamilie
mit fünf Kindern; sie ist das älteste. Da
habe es immer viel zu tun gegeben. «Ich
hatte eine positive Einstellung zur Arbeit.» Der Hof ihrer Eltern lag 1000
Meter über Meer. Sie sei sich Hügel und
Berge gewohnt. Schon früh zog sie als
Sennerin auf die Alp, schaute nach den
Tieren, stellte Butter und Käse her. Die
Eltern hätten ihr «einen grossen Vorschuss an Vertrauen» gegeben – «ein
16jähriges Mädchen allein auf einer
Alphütte, da hätte einiges schiefgehen
oder manche Flause ihre Blüten treiben
können». Es geschah nichts dergleichen. Sie zögert bei der Frage, ob sie
immer brav und angepasst gewesen sei.
Ihr aktuelles Vorhaben sei schon «eine
ziemlich verrückte Idee».
Vor acht Jahren aufgehoben
Ende Frühling ist Schwester Agatha
ins Kloster im Dorfzentrum von Appenzell eingezogen – mit der Idee, hier eine
neue geistliche Gemeinschaft zu gründen. Das in Zeiten, da viele Klostergemeinschaften vor grossen Problemen
stehen. Und die Schliessung von Klöstern längst kein Tabu mehr ist. «Ein
grosses Wagnis, ich weiss.»
Sie hat den Gast durch den langen
Gang ins Refektorium geführt. Den Weg
in den Speisesaal des Klosters haben die
Schwestern früher nach dem Gebet
schweigend zurückgelegt. Letztmals im
April 2008. Fünf waren es damals noch;
ihr Durchschnittsalter lag über 75. Das
zehrte an ihren Kräften und brachte sie
öfter an den Rand der Erschöpfung.
Und so beschlossen die fünf Kapuzinerinnen, sich an den Apostolischen Stuhl
in Rom zu wenden mit der Bitte, das
Kloster aufheben zu dürfen. Ein nicht
alltäglicher Schritt. Die Schwestern zogen damals von Appenzell ins Kloster
Grimmenstein bei Walzenhausen. Seither steht das Kloster Maria der Engel
leer.
Das bot Raum für Spekulationen –
erst recht an einem derart prominenten
Platz im Dorf. Luxuswohnungen? Wellness-Hotel? Kongresszentrum? Die
Schwestern hatten einen Wunsch zurückgelassen: Die Klosterliegenschaft
solle auch nach ihrem Auszug einer
geistlichen Gemeinschaft zur Verfügung
stehen. Zu diesem Zweck wurde eine
Stiftung gegründet; sie ist heute die
Hüterin dieses Anliegens.
Vielleicht
entsteht hier
ein neuer Orden.
Ein Appenzeller Orden.
Schwester Agatha schaut sich im
Refektorium um. 43 Schwestern hatten
in den Zwanzigerjahren des vorigen
Jahrhunderts hier an den Tischen gesessen. So viele wie früher und später nie
mehr. Im Laufe von 330 Jahren – bis zur
Klosteraufhebung vor bald acht Jahren –
hatten insgesamt 370 Schwestern in den
Räumen gelebt. Heute ist sie die einzige.
An manchen Tagen teilt sie den Tisch
mit Pilgern. 20 werden maximal aufge-
nommen; sie verbringen die Nacht in
einfachen Zimmern. Ein Bett, ein Stuhl,
eine Kommode. Über der Tür das
Namensschild
einer
ehemaligen
Schwester. «Bei uns haben die Zimmer
keine Nummern wie in einem Hotel. Bei
uns muss sich der Gast einen Schwesternnamen merken, um in sein Zimmer
zurückzufinden.»
Manchmal setzen sich Menschen mit
an den Tisch, die sich «eine Auszeit gönnen», einen Tag, eine Woche oder auch
länger. Menschen, die «genug vom Zuviel» haben. Menschen, die Stille und
Einfachheit suchen. Menschen, die
neue Kraft zu schöpfen versuchen und
eine spirituelle Erfahrung suchen.
«Wellness für die Seele», nennt es
Schwester Agatha.
Ein Neuaufbruch
Das tönt wenig nach klassischem
Klosterleben. Sie nickt und winkt gleichzeitig ab. Solche Neuaufbrüche könnten
nicht erzwungen werden – «es braucht
Offenheit und Gottvertrauen». Sie erinnert an das «wundertätige Kreuz», das
im oberen Stock hängt. Dort hätten die
Kapuzinerinnen in früheren Jahrhunderten um Baumaterial für ihr Gebäude
gebetet. Und so bete auch sie heute für
Schwester Agatha im Gang mit den Zimmern für Pilger und Gäste und im Gemüsegarten.
Anzeigen: Marktplatz 6 Fonds 12 Traueranzeigen 21 Ostevent 26 Service: Börse 12 Kino 26 Radio/TV 27/28/29/30 Wetter/Sudokus 31
eine Zukunft für das Kloster Maria der
Engel – «und für Gschpänli». Sie kann
sich vorstellen, dass sich «ein kleinerer
Kreis von Frauen bildet, die hier ein
Klosterleben führen». Kapuzinerinnen,
wie die ehemaligen Schwestern des
Klosters? Oder Zisterzienserinnen, der
Orden, dem sie angehört? Beides sei
denkbar. Sie möchte die Frauen, die mit
ihr gehen, auch mitentscheiden lassen.
Sie schmunzelt – «vielleicht entsteht
hier ein neuer Orden, ein Appenzeller
Orden».
Der Weg übers Medizinstudium
Nach einer Pause meint die 54-Jährige: «Ich könnte es anderswo einfacher
haben.» Doch sie vertraut darauf, dass
Gott ihr zeigt, ob es nur «meine Idee
oder auch sein Wunsch ist, dass hier
etwas Neues wächst». So wie damals,
als sie während des Medizinstudiums
merkte, dass der Gedanke an ein Leben
im Kloster sie nicht losliess. Pure Einbildung? Oder Gottes Wunsch? Sie habe
mit sich gerungen – stark, sehr stark.
«Ich war hin und her gerissen. Es gab
viele neblige Tage, an denen ich nicht
wusste, wo es mich hinführt.»
Sie wollte Menschen helfen. «Und
kranke Menschen brauchen unsere Un-
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Thema 3
Donnerstag, 24. Dezember 2015
terstützung ganz besonders.» So hatte
sie sich für das Studium der Medizin
entschieden. Sie zog nach Wien, studierte und absolvierte Spitalpraktika –
und machte dabei eine «nachhaltige»
Erfahrung: Eine Frau war mit Verdacht
auf Brustkrebs eingeliefert worden.
Während das Operationsteam auf den
Befund aus dem Labor wartete, überlegte sie sich: Wie geht es jetzt wohl dem
Ehemann? Wie den Kindern? Hoffentlich passiert im Labor kein Fehler, hoffentlich entscheiden die Ärzte richtig.
Umgetrieben von diesen Fragen, begann sie zu beten. Und da habe sie so
richtig gespürt, wie wichtig «das stellvertretende Gebet» sei. Sie lacht. «Seither führe ich eine Gebets-Intensivstation.» Für Krebskranke, für Depressive, für Alkoholiker. Für alle Kranken.
Und für ihre Angehörigen.
«Ich war so verliebt in Jesus»
Als sie kurz vor den letzten Prüfungen
ihres Medizinstudiums stand und gefragt wurde, ob sie schon eine Assistenzstelle habe, verneinte sie und antwortete: «Es gibt ja noch den lieben Gott.»
Um die Doppeldeutigkeit dieser Aussage wusste nur sie.
Nach einer Probewoche im Zisterzienserinnenkloster Mariastern nahe
Bregenz war ihr klar: Hier ist mein Platz.
Doch sie wollte ganz sicher sein und
stellte sich noch einmal auf die Probe.
Eine Nacht lang. «Wenn das Gefühl
morgen noch so ist, dann stimmt es.»
Als sie aufwachte, war es noch da. «Von
dieser Gewissheit zehre ich heute
noch», sagt sie. Die letzte «Prüfung» sei
dann das Gespräch mit der Frau Oberin
gewesen: «Ich konnte es kaum erwarten. Ich war schon so verliebt in Jesus.»
Heute, mit über dreissig Jahren Klostererfahrung, sagt sie: «Er ist der beste
Chef, den es gibt.»
Auch das Kloster Mariastern sei das
richtige gewesen. Trotzdem hat sie im
Frühling ihre Gemeinschaft in Vorarlberg verlassen und ist – vorerst für ein
Jahr – nach Appenzell gezogen. Die Anfrage war eine weltliche gewesen – für
einen Vortrag über Hagiotherapie. Sie
bietet diese seit 13 Jahren an. Erfolgreich, heisst es aus Therapeutenkreisen.
Sie selber liesse sich nie ein solches Urteil über ihre Arbeit entlocken. Bevor sie
für den Fotografen den Gang auf und ab
marschiert, drückt sie dem Gast einen
Prospekt in die Hand. Dort ist zu lesen:
Schwester Agatha im Refektorium, dem Speisesaal des Klosters.
«Hagio heisst heilig. Heilig deshalb, weil
die Geistseele das Zentrum, das Heiligste im Menschen ist, sein unverwechselbarer innerster Kern.» Hagioassistentin Sr. Dr. med. Agatha Kocher – so ihre
Benennung auf dem Prospekt – spricht
von einer Gesprächstherapie mit spirituellem Inhalt. Sie könne dabei ihre
medizinischen Kenntnisse und die Erfahrungen des Klosterlebens verbinden.
Wer zu ihr in die Therapie kommt, muss
nicht gläubig sein. Auch Atheisten zählen zu ihren «Kunden». «Ich stülpe niemandem einen Glauben über», sagt sie.
Wer sich ihr anvertraut, muss nicht befürchten, dass der Nachbar von seinen
Problemen erfährt. Sie untersteht der
Schweigepflicht.
Putzen, kochen, jäten, beten
So reiste Schwester Agatha im Sommer 2013 wegen des Vortrags erstmals
nach Appenzell. Idee des Stiftungsrats
von Maria der Engel war es, die Therapie künftig im Kloster anzubieten. Doch
zuerst wollte er am Vortrags- und Informationsabend den Puls der Bevölkerung spüren. Wird das Angebot akzep-
tiert? Es wurde. Nicht zu konservativ,
nicht zu progressiv, lautete das Urteil.
Nur eine Person machte dem Stiftungsrat einen Strich durch die Rechnung:
Schwester Agatha. Der Stiftungsrat hätte sie gerne nach Appenzell geholt. Dreimal sagte sie ab. «Ich gehöre nicht hierher. Mein Platz ist anderswo.» Doch je
länger sie sich mit dem Gedanken aus-
«Ich bin nicht allein.
Es hat so viele
Engel und Heilige
hier im Haus.»
einandersetzte, desto stärker fühlte sie
sich «von Gott nach Appenzell geleitet».
Ende Mai zog sie in Maria der Engel ein.
In ein Gebäude mit dunklen, hallenden
Gängen und kühlen, unbewohnten
Räumen. Und mit zwei Teilzeitangestellten. Auch sie habe eine «weltliche»
Anstellung. Sie wischt die Gänge, putzt
die Zimmer, bereitet das Frühstück zu,
kocht das Abendessen, spült das Ge-
schirr, jätet Unkraut, giesst die Pflanzen.
Sie bietet Gebetsabende und Exerzitien
an. Sie nimmt sich Zeit für Anliegen, die
an der Pforte an sie herangetragen werden, und sie bewegt sich im Dorf. Sie sei
«erlebbar», sie verkrieche sich nicht hinter den Klostermauern.
Ihr Tag sei ein Wechsel von Arbeit
und Gebet. «Mir ist nie langweilig.» Verspürt sie nie Angst, allein in dem grossen Gebäude? «Ich bin nicht allein», sagt
sie verschmitzt. «Es hat so viele Engel
und Heilige hier im Haus.» Dann, nach
einer Pause: Diese Stille sei auch eine
Hilfe, noch offener zu sein – für Gott.
Eine Art Rückgabe an die Schweiz
Vermisst sie ihre Gemeinschaft in
Mariastern? «Im Geiste bin ich mit ihr
verbunden.» Dann fügt sie an: Es sei
eine Herausforderung, es tagein, tagaus
allein mit sich auszuhalten. Sie habe das
früh gelernt – als Sennerin auf der Alp.
Hat sie kein schlechtes Gewissen, ihr
Heimatkloster im Stich gelassen zu
haben? «Die Erlaubnis von Mariastern
war die Voraussetzung, um ein Jahr ausserhalb des eigenen Klosters leben zu
können.» Und dann ist da noch ein Gedanke. Nachdem der Kanton Thurgau
im 19. Jahrhundert drei Stammklöster
der Zisterzienserinnen – Kalchrain,
Feldbach und Tänikon – aufgehoben
hatte, suchten die heimatlos gewordenen Schwestern Zuflucht in Vorarlberg.
Im Kloster Mariastern fanden sie eine
neue Heimat. Ihr Engagement in Appenzell sei vielleicht auch «eine Möglichkeit, der Schweiz etwas zurückzugeben» – wenn auch in einem andern
Kanton.
Wie zuversichtlich ist sie, dass in
Appenzell eine neue Gemeinschaft
wächst? Sie sei mit einigen Personen in
Kontakt, die sich die Frage eines Klosterlebens stellten. Wer kann sich bei ihr
melden? «Menschen, die offen sind,
einen neuen Weg zu suchen und diesen
gemeinsam zu gehen.» Sie verstehe sich
als «erstes Samenkorn» für eine neue
Gemeinschaft. Diese müsse langsam
und natürlich wachsen. Ihr Blick
schweift durchs Fenster hinaus in den
Garten und bleibt am Salatbeet hängen.
Manchmal erntet sie zu unerwarteter
Zeit. Wie an diesem Nachmittag.