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SE IT E 12 · F R E I TAG , 1 1 . D E Z E M B E R 2 0 1 5 · N R . 2 8 8
Neue Sachbücher
F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G
Ziemlich
heftiges
Wirken
Es muss mehr
Traum in
die Physik
Und hin und wieder ein
hübscher Blitz: Karl Heinz
Bohrer spürt Dionysos nach
Erbaulicher Rat: Ernst
Peter Fischer sammelt
sehr viel Nächtliches
Es gab auch begründete Skepsis. Thomas
Mann artikulierte seine Warnung vor
dem mit dem antiken Gott des Rausches,
des Wahns und der Entgrenzung verbundenen irrationalen Treiben im „Tod in
Venedig“ und später noch im Kapitel
„Schnee“ seines Romans „Der Zauberberg“. Hofmannsthals Mythenrezeption
war eher von allgemeinen anthropologischen Interessen geprägt, und auch Rilke
blieb das Dionysische letztlich fremd. Mythologische Motive gestaltete er auch
dann als recht klar fassbare Bedeutungsträger, wenn sie, wie die Orpheus-Sage,
dem im Blitz geborenen Zeus-Sohn Dionysos nahestehen.
Das hat Rilke zwar zu einem Lieblingsdichter von Philosophen gemacht, aber
nicht von Karl Heinz Bohrer, dem es in seiner jüngsten, weit ausgreifenden literaturhistorischen Studie wieder eher um künstlerische Autonomie und die Selbständigkeit des ästhetischen Scheins geht als um
eine literarisch vermittelte Einsicht ins
Gesellschaftliche, Geschichtliche oder
Menschliche an sich, die sich ebenso gut
außerliterarisch gewinnen lässt.
Bohrer interessieren die modernen
Dichter und Autoren, die „Das Erscheinen
des Dionysos“, so der Titel seines Buches,
poetisch gestalten, und er spinnt damit
Themen und Motive fort, die den Bielefelder Professor der Literaturgeschichte und
Ästhetik, viele Jahre auch Herausgeber
der Zeitschrift „Merkur“, seit langem
schon beschäftigen. Zunächst analysiert
Bohrer frühe literarische Gestaltungen
dionysischer Motive und Stoffe, vor allem
Euripides’ „Bakchen“; dann widmet er
sich ihrer Aktualisierung bei Hölderlin,
Nietzsche – eigentlicher Erfinder des „Dionysischen“ nach noch heute gültigem Verständnis –, Ezra Pound, T.S. Eliot und
Paul Valéry. Aber auch einige andere Autoren, etwa Heinrich von Kleist oder die Surrealisten, werden kommentiert.
Mit dem Ende der Klassik tritt auch
das vom maßvollen Apollon personifizierte Kunstideal in den Hintergrund.
Etwa gleichzeitig, um das Jahr 1800, entfaltet das Dionysische in der frühromantischen „Neuen Mythologie“ und besonders bei Hölderlin seinen Einfluss und
macht sich in „mythopoetischer Rede“
als Ereignis geltend. Plötzlich, blitz- und
augenblickshaft tritt der Gott bei Hölderlin in Erscheinung und vermittelt so
nach Bohrer auch eine neue Zeiterfahrung. Wie die Götter überhaupt ist derjenige des Weins für den Dichter zwar ein
anschauliches Wesen, aber letztlich doch
nichts Fassbares; lediglich Annäherungen lässt es zu.
Als Ereignis fasst auch Nietzsche, nach
Bohrers Analyse, das Dionysische: Es
löst das Ich-Bewusstsein auf und wird in
Nietzsches Ästhetik zum Gegenpol des
abgelehnten künstlerischen Naturalismus und psychologischen Realismus. Später erscheint Dionysos auch als Symbol
der „ewigen Wiederkehr“ und des „Willens zur Macht“. Für Pound und Eliot
markieren Kunst und Dichtung ebenfalls
ein Jenseits der Individualität. Aggression, Wahnsinn, überhaupt Heftiges wirken im Sinne des von Pound vertretenen
„Imagismus“ poetisch. Bei Eliot hingegen finden sich die mythologischen Motive ironisch gebrochen wieder, etwa wenn
er in „The waste land“ am Beispiel eines
routinierten ehelichen Sexualakts ein
„Nichtereignis als Ereignis“ darstelle.
Und Valéry? Er, der dichterisch auf die
Erregung von Empfindungen setzte, verwendet zwar nur ansatzweise Bilder des
Dionysos-Mythos, zeige sich aber in seiner Metaphorik geprägt vom überfallartig Ereignishaften.
Bohrers gelehrte Studie will weder eine
Motivgeschichte nacherzählen noch intertextuelle Einflüsse aufzeigen. Es geht ihm
um das Wiederauftauchen antiker mythologischer, besonders dionysischer Metaphern in der Moderne und die Gründe dafür. Alle behandelten Autoren verteidigten den künstlerischen Ausdruck gegen
die verschiedenen Zeitströmungen. Was
daraus für den Blick auf eine großteils realistische Gegenwartsliteratur folgen könnte, versteht sich fast von selbst. Man fragt
sich lediglich, wie Bohrer angesichts seiner Hochschätzung künstlerischer Individualität Hölderlin und Kleist schlicht als
Romantiker bezeichnen kann – und ob es
das ergiebige Buch verdient hat, mit der
leider üblich gewordenen großen Zahl
von Kasus- und anderen Wortendungsfehlern zu erscheinen.
Ob sich das Besondere, Andere der ästhetisch-dionysischen Erfahrung noch etwas näher fassen, gar systematisieren ließe? In solcher Hinsicht hält sich Bohrer
nach wie vor zurück und bestätigt so sein
Selbstverständnis als Repräsentant einer
Literaturgeschichtsschreibung, die, wo es
um Künstlerisches geht, theorieaffine
Wissenschaft eher für unangemessen
THOMAS GROSS
hält.
F. M. Dostojewski:
„Russland und die Welt“.
Politische Schriften.
Hrsg. v. Martin Bertleff.
„Eine Naturgeschichte der Dunkelheit“ lautet der Untertitel, doch was er
verspricht, hält das Buch nur zum Teil
– nämlich dort, wo es um die astrophysikalischen Ursachen der Dunkelheit,
um die visuelle Wahrnehmung, um Biorhythmen und den Schlaf bei Mensch
und Tier geht. Hier demonstriert Ernst
Peter Fischer seine Fähigkeit, naturwissenschaftliche Sachverhalte eingängig
und doch mit der nötigen Genauigkeit
zu präsentieren. Leider verzichtet er
aber darauf, diese Aspekte ausführlicher zu behandeln.
Stattdessen berührt Fischer so ziemlich alles, was sich mit dem Oberthema
‚Nacht‘ verbinden lässt, und hastet
auch noch durch die Sozial- und Kulturgeschichte. Im Schnelldurchlauf streift
er die Entwicklung der Schlaf- und Sexualgewohnheiten, das Aufkommen
der Straßenbeleuchtung, die Entstehung des Nachtlebens, die Traumdeutung, die Kunstgeschichte, die Religion,
die Kriminalität. Die Aneinanderreihung von Faktensplittern und der gelegentlich menschelnde Ton, in den Fischer vor allem dann verfällt, wenn es
um Liebe und Sexualität geht, wird keinem dieser Themen wirklich gerecht.
Die Klammer, die dieses Konglomerat zusammenhalten soll, bildet die Kalenderweisheit, dass die Nacht doch
auch ihre Vorzüge hat und dass Licht
und Dunkel einander so bedingen wie
Yin und Yang oder Gefühl und Verstand. Um die „Doppelrolle“ der Nacht
– Quelle der Furcht, aber auch der Intimität und Intuition – als Leitmotiv
durchzuhalten, geht Fischer mitunter
recht lax mit den historischen Fakten
um. Seine Behauptung, im Mittelalter
hätten „plötzlich“ die Menschen den Satan als „Luzifer“ bezeichnet, weil sie
mit dem Namen des Lichtbringers auch
die positiven Seiten der Finsternis würdigen wollten und den Teufel jetzt als
eine Art intellektuellen Meister mephistophelischer Dialektik begriffen, ist anachronistisch.
Sie blendet nicht nur den zugrundeliegenden Mythos vom Sturz des strahlenden Engels in die Verdammnis aus.
Auch die Tatsache, dass Name und Gestalt des Luzifer keine Schöpfungen des
Mittelalters sind – selbst wenn sie in dieser Zeit besondere Aufmerksamkeit fanden –, sondern ihre Wurzeln in der biblischen Überlieferung sowie in apokryphen Schriften und Legenden haben,
findet keine Erwähnung.
Wenig überzeugend ist auch, dass im
siebzehnten Jahrhundert die zunehmende Straßenbeleuchtung und die
schwindende Furcht vor der nächtlichen Dunkelheit bewirkt hätten, dass
„die Hölle niemandem mehr Angst einjagen konnte“. Fischer beruft sich dabei auf ein Buch des Historikers Daniel
P. Walker aus den sechziger Jahren.
Doch dieser führt für den „Niedergang
der Hölle“ ganz andere Gründe an,
nämlich einen sich verändernden Gottesbegriff, der die Liebe über die strafende Gerechtigkeit stellte. Zudem verlor die Hölle als gesellschaftspolitisches Mittel der Einschüchterung zunehmend ihre Funktion. Trotzdem war
die Hölle in großen Teilen der Bevölkerung bis ins achtzehnten Jahrhundert
hinein eine wirkmächtige Vorstellung.
Der letzte Teil des Buches beginnt
mit der Rolle, die Träume für naturwissenschaftliche Entdeckungen und
Theorien spielen. Fischer widmet sich
vor allem dem Physiker Wolfgang Pauli, der seine Träume protokollierte und
einen intensiven Austausch mit Carl
Gustav Jung pflegte. Dessen tiefenpsychologische Lehre von den „Archetypen“ wandte Pauli auf Keplers Entdeckung der Planetengesetze an und interpretierte auch seine eigenen Erkenntniswege vor diesem Hintergrund.
Fischer verzichtet auf eine historisch-kritische Einbettung der zwischen Wissenschaft, Spekulation und
Ideologie oszillierenden Theorien
Jungs und ihrer Rolle in der Biographie
Paulis. Vielmehr nutzt er das Thema,
um dem Leser seine eigene Wissenschaftsethik zu präsentieren. Sie mündet in die Forderung, die Überbetonung „der“ Rationalität aufzugeben
und auch die Intuitionen und Gefühle –
die „faszinierende Nachtseite der Psyche“ – zum Bestandteil einer „umfassenden Menschenerziehung“ zu machen, auf dass die Wissenschaft ihre humanitären Maßstäbe zurückgewinne.
Über die konkreten politischen und
ökonomischen Kontexte, von denen es
abhängt, ob wissenschaftliche Rationalität segensreich oder zerstörerisch
wirkt, hebt sich dieser abstrakte Idealismus hinweg. Zum Ende hin wird das
Buch immer mehr zu einem moralphilosophischen Traktat mit allerlei
Mahnungen, Erbaulichkeiten und gutgemeinten Botschaften. Sie zu verbreiten war wohl Fischers Hauptanliegen.
Das ist natürlich legitim, sollte dann
aber dem Publikum auch deutlich angezeigt werden. WOLFGANG KRISCHKE
Karolinger Verlag,
Wien 2015. 212 S., geb.,
23,– €.
Ernst Peter Fischer: „Durch die Nacht“.
Eine Naturgeschichte der Dunkelheit.
Siedler Verlag, München 2015. 240 S.,
geb., 22,99 €.
Karl Heinz Bohrer: „Das Erscheinen
des Dionysos“. Antike Mythologie und
moderne Metapher.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 389 S.,
geb., 29,95 €.
Vorarbeiten zu „Your Funeral . . . My Trial“? Notate aus dem privaten Wörterbuch des Musikers und Schriftstellers Nick Cave, festgehalten 1984
Foto a. d. bespr. Band/© Nick Cave
Als Alfred Hitchcock einmal ein paar tolle Filmtitel ausschlug
isten gehören zum ältesten literarischen Bestand. An Anziehungskraft
L
verloren hat diese vielseitig verwendbare Form – wenn es denn wirklich nur
eine sein soll – seither auch nicht. Trotzdem oder vielmehr gerade deshalb ergibt
sich eine anziehende Sammlung von Listen keineswegs von selbst. Sie muss
schon mit Sinn für Variantenreichtum
und Überraschungen komponiert sein.
Shaun Ushers Kollektion, im englischen
Original vor zwei Jahren erschienen und
ein großer Erfolg, überzeugt in beiden
Registern (Shaun Usher: „1.Lists, 2.of,
3.Note“. Aufzeichnungen, die die Welt
bedeuten. Zahlreiche Übersetzer. Heyne
Verlag, München 2015. 344 S., Abb.,
geb., 34,99 €.)
Es gibt darin Listen von Namen, Worten, Regeln, Vorsätzen, Ratschlägen,
Vorlieben, Abneigungen, Bekenntnissen,
Dingen, Waren, Titeln (von Büchern,
Filmen) und einige mehr. Nehmen wir
den Faden bei den Namen auf, etwa bei
jenen, die Thomas Alva Edison für seinen Phonographen durchspielte: eine
köstliche Etüde über die Verwendung
des Lateinischen und Griechischen. Von
ihr kann man zu den Namen übergehen,
die sich Charles Dickens für das Personal
künftiger Romane zurechtlegte. Oder
auch zu den erstaunlichen Namen, die
sich die Dichterin Marianne Moore auf
Bitten der Marketingabteilung des FordKonzerns für ein neues Automodell
ausdachte. Ford überging klingende
Vorschläge wie „Taper Racer“ oder
„Chaparral“ und scheiterte mit dem
eigenen „Edsel“ wohl zu Recht.
Von den Namen lässt sich zu Titeln
wechseln, etwa zur stattlichen Liste der
Vorschläge, die das Paramount Studio an
Alfred Hitchcock schickte, um ihm den
Filmtitel „Vertigo“ auszureden – und
sogar bereit war, man glaubt es kaum,
dafür „Shadow and Substance“ in Kauf
zu nehmen. Bleibt man bei Hollywood,
kann man dann die Varianten durchgehen, die man sich bei Selznick International Pictures ausdachte, um der etwas
rüden Antwort Rhett Butlers auf Scarlett
O’Haras bange Frage nach ihrer Zukunft
ohne ihn – „Frankly, my dear, I don’t
give a damn“ – eine weniger „verdammte“ Form zu geben, bei der ein
Einspruch der Zensur nicht zu befürchten war. Kaum freundlichere Wendungen wie „the devil may care – I don’t“
oder „it makes my gorge rise“ wurden
als weniger anstößig erachtet.
Berühmte Listenmacher wie Georges
Perec und Jorge Luis Borges sind vertreten. Und von Edisons ebenso zu finden-
der Liste erstrebenswerter Erfindungen
kann man zurückblicken auf Robert
Boyles’ Katalog der Wünsche (1662),
welche die Wissenschaft der Zukunft
erfüllen sollte – und in der Mehrzahl
tatsächlich erfüllte. Von Galilei gibt’s
dafür eine hübsche Einkaufsliste, die
man neben jene von zwei tibetischen
Mönchen im China des zehnten Jahrhunderts halten kann. Sofern man sich
nicht lieber an einen Speisezettel von
Michelangelo hält, der freilich von einer
Aufzählung des durch Europa reisenden
Mark Twain in den Schatten gestellt
wird, die alle Gerichte der heimatlichen
Küche anführt, die der gastronomisch
darbende Verfasser sich bei seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten wollte
kochen lassen. Womit die insgesamt 123
Listen, die dieser Band bietet, noch
lange nicht ausgeschöpft sind. (hmay)
Wie sollte der Westen uns auch verstehen?
Eine neue Ausgabe der
politischen Schriften
Fjodor Dostojewskis
zeigt, warum dieser
Autor als Bezugsfigur
der heutigen russischen
Staatsideologie taugt.
eute wäre Dostojewski ein Fall
für den Verfassungsschutz: Er
lästerte über Ausländer, hetzte
gegen die Juden und rechtfertigte Angriffskriege, um die Welt mit der
russischen Idee zu beglücken. Seine chauvinistischen Ideen formulierte er vor allem in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“, einem der ersten Blogs der
Weltliteratur. Dostojewskis wichtigste
politische Schriften liegen nun in einer
Neuausgabe vor, die auf die klassischen
Übersetzungen von Less Kaerrick (E. K.
Rahsin) und Alexander Eliasberg zurückgreift.
Dostojewski hat seine ideologische Position am deutlichsten im Aufsatz „Drei
Ideen“ (1876) dargelegt. Die Welt müsse
sich zwischen dem französischen Katholizismus, dem deutschen Protestantismus
und der russischen Orthodoxie entscheiden. Die Religionsbegriffe sind dabei maximal weit gefasst. Zum Katholizismus
rechnet Dostojewski auch den Sozialismus, der für ihn notwendigerweise atheistisch ist und den Grundfehler des Katholizismus wiederholt: Er schiebt sich
als menschliches Heilsmanagement an
die Stelle Gottes selbst. Der Protestantismus steht für alle rationalen Denkweisen, die über keine eigene Wahrheit verfügen. Dostojewski kritisiert den destruktiven Impetus des Protestantismus: Diese
Idee protestiere gegen alles, bis alle Gegner vernichtet seien. Dann aber habe
auch der Protestantismus seine Daseinsberechtigung verloren, weil es nichts
mehr gebe, wogegen man protestieren
könne.
Als Hoffnungsschimmer in diesem ausweglosen Dilemma zwischen zwei westlichen, gleichermaßen verderblichen Ansätzen präsentiert Dostojewski seine
„russische Idee“, die zwar noch unbestimmt sei, aber unbedingt zur Erlösung
der Menschheit führen müsse. Er begrün-
det diese Gewissheit mit der Einheit des
russischen Volkes, das geschlossen hinter seinem Monarchen stehe. Dostojewski versteigt sich in seinem nationalistischen Dünkel zur Behauptung, die
Russen verstünden zwar selbst alles, stießen aber aufgrund der tieferen Entwicklungsstufe der westlichen Völker im Ausland auf Unverständnis. In einem Brief
aus dem Jahr 1880 schrieb er an einen
französischen Literaturkritiker: „Wir haben das Genie aller Völker, dazu noch
den russischen Genius; daher können
wir Sie verstehen, während Sie uns nicht
verstehen.“
mengehalten werde. Wenn man westliche Effizienzkriterien auf die Bürokratie
anwende, dann zerstöre man die Essenz
des russischen Staates – es gehe nicht um
eine möglich gut funktionierende Verwaltung, sondern um die Entwicklung eines
kräftigen Organismus, der auf der Volksnähe des Beamtenapparats aufbaue.
Ähnlich geht Dostojewski vor, wenn er
seine kriegstreiberischen Ansichten verbreiten will. Hier schiebt er einen philosophischen Freund vor, der den Krieg als
probates Mittel der Volksvereinigung
preist: „Vergossenes Blut ist eine wichtige Sache. Die gemeinsame Heldentat er-
H
Gekärcherter Reaktionär: Dostojewskis Denkmal in Moskau
Dostojewskis polemische Einlassungen lassen den Leser zwar immer wieder
die Augenbrauen hochziehen, gleichzeitig bieten sie aus zwei Gründen eine
hochinteressante Lektüre: Einerseits
wendet Dostojewski die polyphone Kompositionsweise seiner Kunstprosa auch
auf seine Essays an, andererseits findet
man hier in Reinform jenen Wahrheitsentwurf, der auch seinen Romanen zugrunde liegt.
Dostojewski lässt auch in seinen politischen Schriften fiktive Protagonisten auftreten. Ihnen legt er heikle Aussagen in
den Mund, die er nicht direkt selbst vertreten will. So behauptet etwa ein Angestellter der zaristischen Bürokratie, dass
Russland gerade durch die aufgeblähte
Kanzleimaschine im Innersten zusam-
Foto AP
zeugt die stärkste Verbindung zwischen
den verschiedenen Ständen.“ Der Autor
selbst tritt in diesem Dialog nur mit kritischen Rückfragen in Erscheinung und bekennt am Schluss resigniert: „Ich widersprach ihm natürlich nicht weiter.“ Mit
dem Kunstgriff der Wiedergabe der fremden Stimme gelingt es Dostojewski, seine Extrempositionen in den öffentlichen
Diskurs einzuspeisen, ohne sich selbst zu
exponieren.
Eine zweite Form der Selbstcamouflage besteht in der Verwandlung von
Ideologie in einen literarischen Text.
Alle großen Romane Dostojewskis bauen auf dem gleichen Wahrheitsentwurf
auf. Sie stellen in gewisser Weise künstlerische Antworten auf folgende Frage dar:
Wenn Christus in Russland erscheinen
muss (und davon war Dostojewski fest
überzeugt), warum sieht dann die Lebenswirklichkeit im Zarenreich so miserabel aus? Dostojewski vertritt in seinen
Romanen eine erzkonservative Position:
Man dürfe sich nicht von den Grundwerten der russischen Orthodoxie ablenken
lassen, sonst drohe ein Abgleiten in die
westeuropäische Dekadenz.
Der Mord an der Wucherin in „Schuld
und Sühne“ ist eigentlich richtig (er richtet sich gegen den westlichen Kapitalismus), er geschieht aber aus den falschen
Motiven (der Held will Napoleon, dem Inbegriff des westlichen Machtstrebens,
nacheifern). Im „Idiot“ erscheint zwar
Christus in der Gestalt des Fürsten
Myschkin, aber niemand erkennt ihn,
weil alle in den konkurrierenden Glaubenssystemen der erotischen Leidenschaft, der Machtpolitik oder des Geldes
gefangen sind. In den „Dämonen“ gerät
der russische Protagonist ebenfalls auf
westliche Abwege und steht am Ende vor
den gleichwertigen Alternativen, entweder Bürger des engen Schweizer Kantons
Uri zu werden oder Selbstmord zu begehen. Die „Brüder Karamasow“ zeigen
schließlich die fatale Spaltung des russischen Bewusstseins in vier Personen auf:
den impulsiven Dmitri, den rationalen
Iwan, den sanften Aljoscha und den finsteren Smerdjakow. Russland kann erst gerettet werden, wenn Aljoscha die geistige
Führung der Familie übernimmt – in der
Tat wäre Aljoscha die Hauptfigur der geplanten Fortsetzung der „Brüder Karamasow“ geworden.
Dostojewski geht sowohl in seinen Romanen als auch in seiner Publizistik von
derselben Diagnose der russischen Krankheit aus: Russland muss zu seiner wahren
Kulturidentität zurückfinden und darf
sich nicht vom Westen beeinflussen lassen. Mit dieser Position gehört Dostojewski zu den wichtigsten Stichwortgebern der konservativen Staatsideologie
im heutigen Russland – der hundertste Todestag des Pazifisten und Regierungskritikers Lew Tolstoi wurde dagegen im Jahr
ULRICH SCHMID
2010 kaum gefeiert.