1 Predigt: Werde Mensch!

Predigt: Werde Mensch!
(1. Mose 28, 10-16 + Lukas 24, 13-35)
Im Kirchenjahr endet mit dem heutigen Sonntag der Weihnachtszyklus, der
letzte Sonntag nach Epiphanias. Adventskranz und Weihnachtsbaum sind
abgeräumt, Schmuck und Girlanden verstaut fürs nächste Jahr.
Und jetzt? Wie finde ich jetzt das Licht, das mein Leben erleuchtet, das Licht,
das mir den Weg zeigt? Wie finde ich heraus aus dem Dunkel, das weiterhin
bestehen wird, auch wenn die Tage jetzt wieder länger werden?
Traditionell wird am heutigen Kirchensonntag das Evangelium von der Verklärung
Jesu gelesen. Auf wundervolle Weise wird drei Jüngern die Göttlichkeit Jesu
offenbart, den sie zuvor nur als Menschen gekannt hatten.
Ich habe mich gefragt, ob es nicht eine andere Möglichkeit gibt, diesen Sonntag
zu begehen. Sicherlich könnte ich über die Verklärung Jesu predigen, aber
letztendlich geht es doch um die Frage, wie ich Gott in meinem Alltag erkennen
kann. Und das ist ja so einfach nun doch nicht!
Dieser Sonntag ist auch als Begrüssungsgottesdienst gedacht, damit wir uns
noch besser kennenlernen können. Das ist eine schöne Sache, aber da gehen auch
Fragen mit: Wie wird das Zusammenleben, das Zusammenarbeiten? Wie stellen
wir uns aufeinander ein, wie begegnen wir uns, wie lassen wir uns aufeinander ein,
wenn wir nicht einer Meinung sind, wenn es verschiedene Meinungen und
Auffassungen geben wird? Wie entdecken wir dann Gott in der VillamontGemeinde?
Vielleicht auf die gleiche Art, wie die Frauen und Männer, von denen uns die
Bibel erzählt.
Da war zum Beispiel Jakob, der auf der Flucht war vor seinem Bruder. Er
versucht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Aber sie klebt an ihm, lässt
ihn nicht los, treibt ihn weiter. Jakob ist auf der Flucht vor dem Fluch, in den
sich der erschlichene selbstgemachte Segen verwandelt hat. Keine Stadt weit
und breit, kein Haus, um sicher zu schlafen. Jakob muss sich unter freiem
Himmel niederlegen. Er wird zum Anhalten gezwungen, er muss sich sich selber
stellen. Und er träumt. Keine Bilder aus der Vergangenheit, keine Bilder von
seinem Betrug. Nein! Er sieht plötzlich einen Weg, eine Leiter, einen Weg, der
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nicht hinauf, sondern von oben senkrecht zu ihm nach unten führt. Und Gott
steht plötzlich selber bei ihm.
Was Gott wohl Jakob gesagt hat? Vielleicht dieses: "Jakob, warum machst du
dich selbst unglücklich? Ständig bist du auf der Flucht vor dem Glück und
wünschst dir doch nichts sehnlicher, als dass sich das Glück einholt und fängt.
Sieh' auf die Leiter: so wie ich selbst zu dir herabgestiegen bin, so ist auch dein
Glück schon längst aus unerreichbaren Höhen in deine Nähe gekommen. Du bist
schon gesegnet, du bist schon wer in meinen Augen, selbst dann, wenn du
schutzlos im Staub liegst."
Und plötzlich gab es keine Zweifel mehr für Jakob: „Fürwahr, der Herr ist an
dieser Stätte und ich wusste es nicht“.
Und da ist noch eine andere Geschichte, auch sehr bekannt. Die Geschichte der
Emmaus-Jünger, die noch ganz verwirrt sind von den Ereignissen der
vorhergehenden Tage und die Jesus nicht erkennen. Im Text heisst es: „Ihre
Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten“.
Von was werden unsere Augen manchmal gehalten? Woher kommt es, dass wir
das, was offen vor unseren Augen liegt, nicht erkennen können? Bei den Jüngern
war es die Trauer, die Traurigkeit um den gewaltsamen Tod ihres Herrn. Und
was ist es bei uns? Unsere Mutlosigkeit, unsere Ratlosigkeit, unser Wissen?
In dem Moment, in dem Jesus das Brot bricht und verteilt, werden die Augen
der Jünger geöffnet und sie erkennen Jesus. Oft ist es nur eine kleine Geste,
und schon sehe ich meine Welt mit anderen Augen. Es braucht oft so wenig,
damit sich alles ändert!
Es braucht nur diese ganz kleinen Dinge, um Gott in der Unauffälligkeit des
Alltags zu erkennen. Und der Verfasser des Lukasevangeliums versteht es wie
kein anderer, auf besonders einfühlsame Weise den Weg Jesu und die
Begegnungen mit Menschen zu beschreiben. Nicht umsont wird Lukas manchmal
das Evangelium der Zärtlichkeit Gottes genannt.
Lukas zeigt seinen Lesern: Der Auferstandene geht mit und neben den
Zweifelnden und Traurigen, selbst wenn diese nichts davon ahnen. "Und das
Herrlichste in dieser ganzen Geschichte ist vielleicht das, was sich ereignet,
bevor sie ihn erkennen: Während ein Mensch in der tiefsten Anfechtung ist, ist
Jesus schon längst neben ihm." (Gollwitzer)
Lukas, das Evangelium der Zärtlichkeit! Wir brauchen Zärtlichkeit in unserem
Leben, um das Göttliche darin zu sehen. Es braucht Barmherzigkeit und
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Zärtlichkeit, ganz einfach Menschlichkeit, um den Geist Gottes, den Geist der
Liebe zu spüren.
Da gibt es eine andere Geschichte, eine Liebesgeschichte, die es bestens
zusammenfasst!
Zu Weihnachten wollten sie es endlich wissen.
Also suchten sie einen Mann auf, der für seine Klugheit und Weisheit weithin
gerühmt wurde und trugen ihm die Frage vor, die sie schon so lange
beschäftigte. "Sag uns, Meister, warum wurde Gott Mensch? Er, dem alles
möglich ist, hätte doch ebenso gut andere Wege finden können, den Menschen
nahe zu sein. "Da erzählte er ihnen folgende Geschichte:
Es war ein junger König, der sich unsterblich in ein einfaches armes Mädchen
vom Lande verliebt hatte. Sie lebte in einer winzigen, erbärmlichen Hütte und
konnte sich von ihrer Hände Arbeit eher schlecht als recht ernähren.
Der König war fast krank vor Liebe zu ihr. "Wie kann ich dieses Mädchen nur für
mich gewinnen, und wie kann ich ihr meine Liebe zeigen?"
So sehr er aber auch suchte und nachdachte, es wollte ihm nichts Brauchbares
einfallen.
Was die Dinge zusätzlich erschwerte, war seine Stellung. Als König war es ihm
kaum möglich, sich dem Mädchen zu nähern, ohne dadurch größeres Aufsehen zu
erregen. Könige heirateten Prinzessinnen aus fernen Königreichen, aber keine
einfachen Mädchen vom Land.
Das würde doch alles auf den Kopf stellen. Nein, wenn er nüchtern blieb, war es
nicht denkbar, dass sie Mann und Frau werden konnten.
Nachdem ihm sein Kummer den Schlaf zu rauben begann, vertraute sich der
König seinem Kanzler an, auf dessen Rat er auch in wichtigen
Regierungsangelegenheiten baute. "Befiehl ihr einfach, deine Frau zu werden",
empfahl der Kanzler. "Du bist der König. Sie wird Dir gehorchen."
Das stimmte wohl. Der König verfügte über unbegrenzte Macht. Und wenn er
seinen Untertanen auch als gerecht und großmütig galt, so mischte sich doch
immer auch ein wenig Furcht in die Achtung und ein kaum wahrnehmbares
Zittern in die Zuneigung, die sie ihm entgegenbrachten.
Aber Unterwerfung einer Untertanin? Nein, das war nicht das, was der König
wollte.
Er suchte Vertrautheit, unbefangene Zuneigung und reine Liebe. Macht
vermochte viele Türen zu öffnen, da war er sicher, aber niemals die Tür eines
Herzens.
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Den Kanzler beeindruckte die Haltung des Königs. Er dachte darüber nach und
zog nun seinerseits den königlichen Leibarzt hinzu. "Und wenn er ihr seine
Wertschätzung mit Wohltaten, mit Großmut und Geschenken bekundet", riet
dieser.
Gemeinsam traten sie wieder vor den König: "Kleide sie in Samt und Seide,
schenke ihr goldenes und silbernes Geschmeide. Sie wird in deinen Armen dahin
schmelzen, wie Wachs unter der Sonne."
"Nein", wehrte der König ab. "Sie soll ganz frei bleiben, mich um meiner selbst
Willen wollen, nicht um meiner Macht, materiellen Überflusses oder meines
Vermögens Willen."
Dann fiel er in abgründiges Schweigen. Langsam begannen sich nun auch der
Kanzler und der königliche Leibarzt um die tiefe Traurigkeit ihres Herrn zu
sorgen. Also beschlossen sie, nach dem Hofnarren zu rufen, damit er den König
wieder aufmuntere.
Warum er ausgerechnet den Spaßmacher so ernst nahm, wusste der König später
selber nicht mehr zu sagen. Aber er vertraute sich auch ihm an und wunderte
sich nicht wenig über dessen Antwort.
Das heißt, eine Antwort war es eigentlich nicht, jedenfalls nicht im
herkömmlichen und unmittelbaren Sinn: Der Hofnarr begann nämlich
Purzelbäume zu schlagen und Kopfstände zu machen.
Der König spürte, wie seine Verwunderung einem langsam aufkeimenden Zorn
wich. "Was soll das", unterbrach er ihn barsch. "Willst du mich zum Narren
halten?"
Da setzte sich der Hofnarr zu Füßen des Königs auf die Stufen des Throns.
"Die Liebe stellt die Welt auf den Kopf.
Ein Kopfstand, der die Dinge richtig stellt. Es ist für die Liebe leicht, wenn sie
gleich und gleich vereint", erklärte er dem König. "Aber die Liebe ist dann
wirklich groß und machtvoll, wenn sie gleich macht, was zuvor ungleich war."
"Was soll diese rätselhafte Rede bedeuten, Narr?"
"Stelle deine Welt auf den Kopf, König, und du wirst das Wunder erleben."
"Du meinst", entgegnete der König und ein Leuchten ging über sein Gesicht.
"Genau", lächelte der Hofnarr, sprang in einen letzten Kopfstand, rollte im
Purzelbaum ab und verließ so den Thronsaal.
Der König aber stieg von seinem Thron herab, nahm seine Krone vom Kopf und
zog den purpurnen Mantel aus. Aus Liebe verwandelte er sich in einen einfachen
Landarbeiter, wanderte zur Hütte im nahegelegenen Wald und bot dem Mädchen
seiner Träume seine Dienste an.
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Sein Verzicht sollte ihn reich machen, anders reich.
Sie arbeiteten und lebten zusammen, darüber aber lernten sie einander lieben
und ihre Liebe endete nie.
"Gut erzählt", zollten die Menschen, die dabei standen, dem weisen Mann Beifall.
"Eine schöne Geschichte. Aber was hat sie mit unserer Frage zu tun und – vor
allem – was soll sie uns lehren?"
"Macht's wie Gott", schmunzelte der Weise. "Werdet einfach Mensch."
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