Predigt vom 15.11.2015

Predigt über Mt 25,31-46 am 15.11.2015 in Obermaßfeld
(Aktualisierung einer Predigt vom 17.11.1991 in Seebach und Thal)
Liebe Gemeinde,
unser heutiger Predigttext ist vielleicht einer der eindrucksvollsten Texte im Neuen
Testament überhaupt. Nur wenige Verse werden so oft zitiert wie dieser Satz: „Was ihr
getan habt einem von meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
Heute haben wir diesen Vers in seinem Zusammenhang gehört. Und dieser Zusammenhang
ist ein gewaltiges Bild vom letzten Gericht, das Jesus hält.
Es ist still geworden in unseren Kirchen um dieses Thema „Gericht“. Zu oft schon ist in
früheren Jahrhunderten der Kirchengeschichte mit dem Gericht gedroht worden. Viel zu oft
schon ist es vorgekommen, dass Menschen deshalb an Gott glaubten, weil sie sonst Angst
hatten, verdammt zu werden – und nicht weil sie ergriffen und überwältigt gewesen wären
von der großen Liebe Jesu Christi. Auch in unserem heutigen Text gibt es Stellen, die einem
Angst machen können, z.B. der Satz: „Geht von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer.“ Er
lässt sich nicht schamhaft übergehen, als stünde er nicht da.
Aber es macht keinen Sinn, sozusagen mit Angstschweiß auf der Stirn und dem ewigen
Feuer im Nacken verbissen Gutes zu tun, nur um nicht verdammt zu werden. Das wäre auf
keinen Fall der Wille Gottes. Denn Gott sandte Jesus als Mensch auf die Erde und ließ ihn
bis ans Kreuz gehen, um uns Menschen seine unerschöpfliche Liebe zu bringen, bis auch in
unseren Herzen die Flamme der Liebe brennt.
Aber auch der Gott der Liebe muss Gericht halten, weil es eine Rechenschaft geben muss
für dieses Leben. Auch der Gott der Liebe muss Gericht halten, weil es sich nicht auszahlen
darf, ein Schweinehund zu sein. Heute wird in Deutschland der Volkstrauertag begangen. Er
ruft die schrecklichen Jahre in Erinnerung, als unendliches Leid über Abermillionen von
Menschen kam. Dieses Leid kam nicht von einem blinden Schicksal und schon gar nicht vom
Himmel, sondern es entsprang dem Wollen und Machen von Menschen. Soll der Gott der
Liebe mit gütigem Lächeln dem Treiben der Menschen zuschauen? Es ist gut, dass der Gott
der Liebe ein starker, wilder und leidenschaftlicher Gott ist, der es nicht hinnimmt, wenn
sein Wille nicht ernst genommen wird. Es ist gut, dass der Gott der Liebe nicht wegschaut,
wo die Liebe mit Füßen getreten wird. Denn darum geht es im Gericht.
Es ist Jesus, der nach der Darstellung unseres Textes als der Richter im Endgericht erscheint.
Könnte das Endgericht in besseren, vertrauenswürdigeren Händen liegen als in den Seinen?
Jesus sieht alles mit den Augen der Notleidenden. Er erlebt alles mit den Gefühlen der
Bedrängten. Es gibt doch so viel unbemerktes Leiden auf dieser Erde. Statistiken wissen von
Millionen Flüchtlingen. Aber wer kennt den einzelnen Flüchtling in seiner Angst und
Heimatlosigkeit? Jesus kennt ihn, und Jesus fühlt, was der Flüchtling fühlt. „Was ihr ihm
getan habt, das habt ihr mir getan.“ Statistiken wissen von Zigtausenden Gefolterten,
Statistiken wissen Zahlen von Kriegsopfern und Unfallopfern, von Krebs- und von
AIDSkranken. In Paris werden jetzt die Toten und die Verletzten gezählt. Hinter jeder genau
festgestellten Zahl steht unermessliches persönliches Leid, unzählbare Tränen, seien sie
nach außen oder nach innen geweint. Wer empfindet das alles nach? Wer ermisst das Leid
und zählt die Tränen? Jesus empfindet alles nach – an seinem Herzen geht kein Leid
unbemerkt vorüber. Und nach dem, was er mit den Augen der Leidenden gesehen und mit
den Gefühlen der Bedrängten gefühlt hat, nach dem hält er Gericht. Menschliche Gerichte
können das nicht. Sie sind auf objektiv nachprüfbare Fakten angewiesen, und da kann vieles
nicht geklärt werden. Wie oft ist in unseren alltäglichen Gesprächen der Satz zu hören: „Die
Kleinen hängt man, und die Großen lässt man laufen.“ Wie leicht gelingt es manchem, der
seine Macht gegen andere Menschen ausgespielt hat, flugs den Schafspelz des braven
Bürgers überzuziehen. Wie empört es uns manchmal, dass so vieles, was Menschen gelitten
haben, unter den Tisch fällt als wäre es bedeutungslos. Aber an Jesus geht nichts spurlos
vorbei, was ein Mensch durchgemacht hat.
Unser Text zeichnet den Ablauf des Gerichts in eindrucksvollen Szenen. „Kommt her, ihr
Gesegneten…“ sagt der himmlische Richter zu den Einen. Sie wissen gar nicht, wann sie ihn
als Kranken besucht oder als Fremden beherbergt haben. Sie haben es einfach getan, weil
sie die Liebe in ihren Herzen hatten. Ohne Berechnung: „Wenn ich dem helfe, komme ich in
den Himmel. Wenn ich dem helfe, entgehe ich dem Gericht.“ Nicht Angst vor Sünde und
Strafe war ihr Antrieb. Sie haben einfach getan, was ihnen das Natürlichste von der Welt zu
sein schien: „Da ist jemand in Not, da braucht jemand Hilfe, da tue ich doch, was ich kann.“
Im Gericht sagt Jesus: Da hast du, ohne es zu merken, mir geholfen. „Komm her, du
Gesegneter…“ Da erfüllt sich, was Jesus an anderer Stelle sagt: „Selig sind die Barmherzigen,
denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“
Auf der anderen Seite sind Menschen, die an fremdem Leid achtlos vorübergehen. Sie
fragen ebenso erstaunt: „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen, oder durstig, oder
fremd, oder krank?“ Die, zu denen Jesus sagt: „Ich kenne euch nicht“ – das sind nicht
Menschen, deren Gewissen schlägt. Das sind nicht Menschen, die leiden unter ihren
eigenen Versäumnissen. Sondern das sind Menschen, die völlig überrascht sind, dass ihnen
etwas vorgeworfen wird. „Herr, wann haben wir dich…?“ Es ist die kaltherzige
Gleichgültigkeit gegen fremdes Leid, die im Gericht ans Licht kommt. Es gibt Menschen, die
wollen einfach nicht wissen, was ein anderer durchmacht, denn sonst müssten sie ihr
Leben, ihre Einstellungen ändern. Es gibt Menschen, die wollen einfach nicht wissen, was
ein Flüchtling durchmacht, denn sonst müssten ihnen die billigen Vorurteile z.B. gegen die
sog. Wirtschaftsflüchtlinge im Hals stecken bleiben. Es ist nötig, weil das bei uns z.Zt. in so
vielen Gesprächen dran ist, an dieser einen Stelle in unserem Predigttext sozusagen noch
einmal mit der Lupe hinzuschauen.
„Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen.
Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich
hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden … und haben dir nicht gedient?
Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht
getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.“
Das heißt: Jesus sieht auch mit den Augen der Ausländer und fühlt auch mit den Herzen der
Ausländer. Wenn irgendwo an einer Hauswand „Ausländer raus“ gesprüht wird, dann liest
das Jesus, als stünde da „Jesus raus!“ Und wenn irgendwo in einer deutschen Stadt
geschrien wird „wir wollen keine Flüchtlinge hier“, dann wird dort, oft unter dem Beifall der
Bürger, Jesus aus der Stadt vertrieben. „Was ihr nicht getan habt einem unter meinen
geringsten Brüdern, das habt ihr mir auch nicht getan.“ Man kann nicht Christ sein und mit
den Wölfen gegen die Fremden heulen, auch dann nicht, wenn es Muslime sind. Man
schützt nicht das Christentum, wenn man Muslime vertreiben will, sondern man verrät das
Christentum, wenn man das tut. Denn auch Muslime sind zuallererst Menschen wie wir, die
das Gleiche wollen wie wir, nämlich in Frieden leben. Die meisten von ihnen verabscheuen
die Terroristen und viele fliehen gerade vor ihnen.
Es ist nicht Rachedurst, der Jesus Gericht halten lässt. Aber Jesus sorgt dafür, dass das viele
namenlose und oft unerkannt bleibende Leid von Menschen nicht auf ewig übergangen
wird. Das Gericht ist das Ende des Wegschauens, und ich glaube, so ist auch das ewige
Feuer zu verstehen.
Wir dürfen Bilder nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Jesus hat kein Interesse daran,
dass irgendjemand in einem richtigen Feuer schmort. Auf welche Wirklichkeit weist das Bild
vom ewigen Feuer hin? Stellen wir uns vor, wie das ist, wenn im Gericht, nach diesem
Leben, einer all dem Leid ins Auge sehen muss, an dem er im Leben gleichgültig
vorübergegangen ist. Wenn er dem ins Auge sehen muss, an dessen Leid er
vorübergegangen ist, der ihm sagt: „Ich war hungrig, und du hast mir nicht zu essen
gegeben, ich war krank, und du hast mich nicht aufgenommen“, und er kann dem nicht
mehr ausweichen? Ist das nicht, wie wenn innen drin ein unauslöschliches Feuer brennt?
Sozusagen ein ewiges Feuer im eigenen Gewissen? Ich glaube, das brennende Gewissen ist
die Wirklichkeit, auf die das Bild vom ewigen Feuer hinweist. Gegen dieses Feuer hilft nur
eins: Gnade. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Immerhin ist es
gerade der ewige Richter Jesus, der diesen Satz schon über die Lippen gebracht hat. Damit
betete er am Kreuz für die, die seinen Tod wollten und für die, die ihn gedankenlos
herbeiführten. Am Ende gibt der ewige Richter Jesus damit jedem die Hoffnung auf Gnade.
In unserem heutigen Predigttext steht er aber nicht drin, denn er darf nicht verwendet
werden, um Leuten, die sich vor der eigenen Wahrheit verstecken wollen, billig aus der
Patsche zu helfen. Hier geht es erst mal darum, dass der Wahrheit so standgehalten werden
muss, wie sie ist.
Ohne Gericht wäre das menschliche Leben leicht als unverbindliche Spielerei zu verstehen.
Der Gott der Liebe nimmt das Leben jedes Menschen so wichtig, dass er darüber
Rechenschaft fordert. Nicht nur, was wir mit dem Geschenk des eigenen Lebens machen,
sondern auch wie wir dem Nächsten begegnen, den Gott uns anvertraut. Er gebe uns die
Liebe ins Herz, die mitempfindet mit fremder Not, die sich nicht von fremder Not belästigt
fühlt, sondern sich anrühren lässt zu tun, was dem Notleidenden guttut, in dem mir Jesus
selbst gegenübertritt.
Amen.