pdf-Leseprobe - des Machandel Verlag

Kurt
In göttlicher Mission
Sascha Raubal
Urban-Fantasy-Krimi
Machandel Verlag
2015
Für Pia, Adrian und Yasmina
Ihr seid mein Leben.
Zitate aus dem Songtext „Hier kommt Kurt“
Musik: Frank Zander
Text: Frank Zander, Hanno Bruhn
Verlag: Zett Records Musikverlag
verwendet mit freundlicher Genehmigung
der Zett Records Produktions Verlag GmbH
Machandel Verlag
Charlotte Erpenbeck
Cover: Bob Alex / www .shutterstock .com
Druck: booksfactory.de
Haselünne
1. Auflage 2015
ISBN 978-3-939727-98-9
Inhaltsverzeichnis
Praeludium ....................................................................5
Der Mann im Pullunder.................................................7
PSY 4 ..........................................................................27
Interludium..................................................................41
Annegrets Sünden........................................................43
Lebensrettender Gotteswahn.......................................59
Interludium..................................................................67
Der Pinguin..................................................................69
Ein ganz schöner Hammer...........................................90
Angelika.....................................................................116
Interludium................................................................124
Brainstorming............................................................145
Für unsere Sache........................................................162
Interludium................................................................181
Überzeugungen..........................................................182
Wer glaubt denn so was?...........................................205
Alte Freunde..............................................................232
Alles blitzblank im Sündenpfuhl...............................254
Wahre Engel – wahre Götter.....................................279
Interludium................................................................292
Tempeltour.................................................................293
Überraschungen.........................................................314
Interludium................................................................334
Unerwartete Hilfe......................................................336
Katz' und Maus..........................................................351
Die Saat des Bösen....................................................375
Das war’s dann..........................................................396
Alle handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden.
Ausnahmslos. Wenn auch nicht alle von mir.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen ...
na, Sie kennen den Spruch.
S.Raubal
Homepage des Autors:
http://Fantasy.Raubal.de
Praeludium
„Ich kann einfach nicht.“ Flehentlich blickte sie ihn an. „Bitte
versteh doch, ich …“
„Ich verstehe nur, dass du schwach bist. Damals und heute
immer noch.“ Traurig schüttelte er den Kopf. „Er wird sehr enttäuscht von dir sein.“
„Aber er kennt mich doch, er weiß, dass ich so etwas nicht
übers Herz bringe. Kann nicht jemand anderes …?“
„Natürlich kann jemand anderes.“ Er wandte sich zum Gehen. „Aber er wollte dir die Chance geben, dich reinzuwaschen.
Deine Liebe zu beweisen. Hannes hat sich so für dich eingesetzt!
Obwohl du dich an ihm versündigt hast. So sehr liebt er dich
noch immer. Nur ihm hast du zu verdanken, dass er dir diese
Aufgabe überantworten wollte. Und du erweist dich als derart
unwürdig.“
Er hob die Hand zum Abschied. „Es tut mir leid für dich. Aber
noch mehr tut es mir für Hannes leid. Er hat auf dich vertraut.
Du jedoch verrätst sein Vertrauen. Wieder einmal. Du hast Treue
geschworen und bist nicht bereit, den Schwur zu halten. Dem
einen wie dem anderen.“
Augenblicke wartete er noch, sah zu, wie sie mit sich rang,
dann öffnete er die Tür und trat hinaus. „Es wird ihm das Herz
brechen. Zum zweiten Mal. Aber es ist deine Entscheidung.“
„Warte!“ Sie streckte die Hand nach ihm aus. „Bitte! Bist du
dir ganz sicher, dass ich meinen Hannes dann sofort wiedersehe?“
Er hielt inne. Drehte sich um. Lächelte.
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Der Mann im Pullunder
Die Schlacht um Helms Klamm, großartig geschrieben von JRR
Tolkien, phantastisch in Szene gesetzt von Peter Jackson: Tausende und abertausende von Orks und Uruk-hai gegen Zwerge,
Elben und Menschen; der Klang der Hörner, das Schlachtengebrüll aus unzähligen Kehlen, das Scheppern von Schwert auf
Schwert, Morgenstern auf Schild, Keule auf Schädel. Ein beeindruckendes Erlebnis. Auf der Kinoleinwand. Weniger beeindruckend das Scharmützel, das gut ein halbes Dutzend Gläser Pils
mit etwa derselben Truppenstärke Korn in Kurts Kopf ausfochten.
Kurt Odensen, Privatdetektiv, saß über den Münchner Merkur
gebeugt in seinem Büro, neben sich ein großes Haferl starken,
schwarzen Kaffees und einen überquellenden Aschenbecher,
und wartete verzweifelt darauf, dass dieses furchtbare Dröhnen
in seinem Schädel endlich nachließ. Er verstand sich selbst nicht
mehr. Pils und Korn, wie hatte er so wahnsinnig sein können?
Nur, weil ihn sein verdammter Ex-Kamerad Hinrichs aufgespürt
und in Ottos Kneipe geschleppt hatte. Und weil der bestellt, der
die Runden spendiert. Mit Kurts Kontostand lehnte man da einfach nicht ab. Aber das war es nicht wert gewesen. Die Geschäfte
liefen zwar – nun ja – schleppend wäre geschmeichelt, doch das
war noch lange kein Grund, sich so mit diesem Gift vollzupumpen. In Zukunft, das schwor Kurt sich, würde er seinen Prinzipien treu bleiben: nur Hefeweizen und Obstler. Nichts anderes.
Kurt versuchte, die Überschriften zu entziffern.
Bombenanschlag bei Alchimisten-Versammlung.
Was? Er holte tief Atem und zwang die Buchstaben, ihr Geschunkel vor seinen Augen zu beenden. Ah. Keine Alchimisten.
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Atheisten. Und wer jagte so was in die Luft? Wahrscheinlich Islamisten. Die bekloppten Turban-Alis waren heute eh für alles gut.
Wobei die Pfeifen im sogenannt christlichen Lager nicht wirklich
besser waren. Aber über Letztere schrieb ein Münchner Merkur,
auch bekannt als das CSU-Hausblatt, natürlich nicht.
Oha, oder etwa doch? Am Tatort des Anschlags war laut Artikel ein kleines Pamphlet gefunden worden, das die Gottlosen
beschimpfte, ihnen ewige Höllenqualen versprach und sich darüber empörte, dass derartige Veranstaltungen der Feinde Gottes
und Jesu Christi überhaupt erlaubt seien. Unterschrieben mit: In
nomine patris et filii et spiritus sancti.
„Na dann Prost.“ Kurt nahm einen großen Schluck von seinem inzwischen erkalteten Kaffee, verzog angewidert das Gesicht und kippte den Rest hinterher. „Klasse, jetzt fangen die
Spinner von der Vatikansfraktion auch schon an mit Bombenschmeißen. Lauter Irre. Wenigstens sind die noch zu blöd zum
Bombenbauen.“ Selbst der Redner, unter dessen Pult der Knaller hochgegangen war, konnte nur leicht verletzt bereits nach einer Stunde aus dem Krankenhaus entlassen werden. Das wäre
einem Djihadisten nicht passiert, die verstanden ihr Handwerk.
Er schüttelte resigniert den Kopf und stemmte sich hoch. Die
drei Aspirin und der Kaffee fingen langsam an zu wirken, und er
musste sich noch für die nächsten Tage mit Verpflegung eindecken. Er schloss die Bürotür ab – heute würde sowieso kein
Kunde auftauchen, wie an den anderen Tagen auch – und
stapfte die Treppe hinab.
*
In beiden Händen große Plastiktüten mit Tiefkühlpizzen und
Weißbier in Plastikflaschen, tappte Kurt die Stufen wieder hinauf. Ein paar Schachteln Zigaretten noch, damit war für die Woche gesorgt. Als er an der Bürotür vorüber zu seiner Wohnung
im nächsten Stock wollte, stolperte er fast über einen schmächtigen Mann so um die fünfzig, der auf der Treppe saß.
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Kurt quetschte sich mit einem gemurmelten
„Entschuldigung“ vorbei und ging weiter nach oben. Dann kam
ihm ein vager Verdacht. Irgendetwas an dem Mann war seltsam.
Konnte es sein, dass … nein, das war Unsinn. Obwohl, ach, unwahrscheinlich hin oder her, was kostete es schon, ihn zu fragen?
„Wollen Sie zu mir?“
Das Männlein – im altbackenen, karierten Pullunder gegen
die leichte Kühle des Frühlings – sah ihn über seine Brillengläser hinweg unsicher an.
„Ich weiß nicht. Wenn Sie der Privatdetektiv sind, dann
schon.“
Kurt ließ vor Überraschung fast die Einkäufe fallen. Sollte das
wirklich ein potentieller Kunde sein?
So lässig, wie es ihm nur möglich war, stellte er die Tüten ab
und streckte dem Besucher die Hand entgegen. „Kurt Odensen,
zu Ihren Diensten.“ Dann fiel ihm ein, dass man Kundengespräche doch nicht im Hausflur führte. „Aber lassen Sie uns doch in
mein Büro gehen.“ Noch bevor der Mann seine Hand ergreifen
konnte, schob Kurt diese auch schon wieder in die Hosentasche
und zog den Schlüssel hervor. Er öffnete die Tür und stürmte
fast in den großen Raum, der früher mal ein Ein-Zimmer-Appartement gewesen war. Nur, weil darin die Vormieter ein ziemlich
blutiges und noch dazu tödliches Ehedrama dargeboten hatten
und diese Geschichte weithin bekannt war, hatte der Hausbesitzer so weit mit der Miete heruntergehen müssen, dass Kurt sich
die Räume als Büro leisten konnte. Er zumindest hatte keine
Angst vor Geistern.
Der Mann im Karopullunder folgte ihm etwas verwirrt und
nahm auf dem Stuhl Platz, der vor dem wuchtigen Schreibtisch
langsam verstaubte. Er setzte die Brille ab und drehte sie zwischen den Fingern, während Kurt zwei hektisch abgewischte
Kaffeetassen aus der Thermoskanne füllte und vor ihnen beiden
platzierte.
„Also?“ Kurt ließ sich in seinem ledernen Drehsessel nieder
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und sah den potentiellen Kunden neugierig an. „Was führt Sie
zu mir?“
Der Gast blickte etwas verunsichert. Das konnte heißen, dass
der ihn jetzt schon als Verlierer einordnete und sich im Stillen
bereits eine Ausrede überlegte, wie er hier wieder herauskam.
Oder das kleine Kerlchen mit dem großen Kopf war ganz einfach von Kurts Statur eingeschüchtert. Vergeistigte Eierköpfe wie
sein Gegenüber hatten meist zwar wenig Respekt, aber dafür
umso mehr Angst vor echten Kerlen. Speziell denen, die aus
knapp zwei Metern voll Muskeln bestanden.
„Sie sind mir empfohlen worden.“
Kurt nickte bedächtig mit dem Kopf. „Es ist immer schön, von
zufriedenen Kunden weiterempfohlen zu werden.“ Zumindest
dachte er sich das so. Gehörnte Ehemänner waren im Allgemeinen wenig dankbar dafür, dass man ihnen Beweise für ihren
Verdacht lieferte. Aber wenn er zufriedene Kunden hätte, dann
fände er das sicher schön, würden sie ihn weiterempfehlen.
Sein Besucher sah den Merkur auf dem Schreibtisch liegen,
die große Schlagzeile vom Bombenanschlag oben auf. „Wie ich
sehe, haben Sie schon von dem Anschlag bei unserem Symposium am Samstag gelesen.“
„Bei Ihrem Symbio …, Sympa … äh“ Verdammt, hatte er
nun Abitur oder was? Das musste der Kater sein. „Ja natürlich,
von dem Anschlag habe ich gelesen. Sie sind also auch einer dieser Alchimisten – Verzeihung – Atheisten?“
Der Mann straffte sich. „Haben Sie Probleme mit Menschen,
die keinem Aberglauben anhängen?“
Kurt hob beschwichtigend die Hände. „Nein, nein, um Gottes
willen, äh, also nein, wirklich nicht. Ich selbst bin auch kein religiöser Mensch. Bin schon in einem gottlosen Elternhaus aufgewachsen. Sozusagen.“
Der Interessent – der vielleicht ein Kunde hätte werden können – erhob sich und wandte sich zum Gehen. „Ich sehe schon,
ich muss mir einen Ihrer Kollegen suchen, der weniger voreingenommen ist.“
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Kurt entdeckte plötzlich etwas, was er seit geraumer Zeit
nicht mehr gesehen hatte: seinen Kampfgeist. Bevor der Besucher auch nur drei Schritte machen konnte, schoss er aus dem
Sessel und nahm vor der Tür Aufstellung.
„Nun mal ganz mit der Ruhe.“ Er fasste den Anderen freundlich, aber bestimmt am Arm und führte ihn zurück zum Stuhl.
„Lassen Sie mich doch erst mal ausreden, bitte. Danach können
Sie immer noch gehen.“
Der Mann nahm widerwillig erneut Platz, vermutlich vor allem aus Angst vor Kurts festem Griff, und schwieg.
„Um ehrlich zu sein: Mir geht das alles hinten vorbei. Ich bin
nicht religiös, meine Eltern waren es auch schon nicht, aber ich
bin kein Überzeugungsatheist. Wer dran glauben will, soll es
tun, wer nicht, der soll es bleibenlassen. Das ist jedem seine eigene Sache. Nur, wer Bomben legt, weil ihm die Meinung des
anderen nicht passt, der gehört in den Knast und Punkt. Also
denken Sie nicht, ich wäre voreingenommen. Im Gegenteil, ich
bin da ganz unparteiisch. Und nun, bitte, erklären Sie mir,
warum Sie bei mir sind. Der Anschlag ist offenbar ein Fall für die
Polizei. Was kann ich als Privatdetektiv für Sie tun?“
Sein Gast musterte ihn eine Weile schweigend, bevor er wieder das Wort ergriff.
„Zuerst einmal sollte ich mich vorstellen. Mein Name ist
Marx. Friedl Marx.“ Er schnippte eine Visitenkarte auf den
Schreibtisch, streckte die Hand aus, und Kurt schüttelte sie.
„Ich bin im Vorstand der Münchner Ortsgruppe des deutschen Freidenker-Verbandes und habe die gestrige Veranstaltung mit organisiert. Sie können sich ausmalen, wie schockiert
wir alle waren, als diese Bombe hochging. Nur durch puren Zufall wurde niemand wirklich schwer verletzt. Professor Uhl, der
zum Zeitpunkt der Explosion am Rednerpult stand, hatte zum
Glück einige dicke Bücher mitgebracht und unter das Pult gesteckt, genau zwischen sich und die Bombe. Die Wälzer haben
einen Teil der Wucht und die allermeisten Splitter abgefangen.
Wie Sie vielleicht auch wissen, war das nicht der erste Anschlag
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auf frei denkende Menschen in den letzten Monaten. Schon in
Hamburg und in Leipzig wurden Redner auf Veranstaltungen
des DFV – des deutschen Freidenker-Verbandes – und befreundeter Organisationen bedroht und angegriffen.“
Nein, davon wusste Kurt nichts, was man ihm wohl auch ansah. Marx seufzte und holte weiter aus. „In Hamburg wurden
vergangenen Dezember mehrere Teilnehmer, die mit eigenen
Referaten auf dem Programm einer Tagung standen, schwer bedroht. Sie bekamen Briefe mit Morddrohungen, in denen man
sie aufforderte, ihre satanische Missionierungsarbeit sofort einzustellen und auf keinen Fall an der Tagung teilzunehmen. Natürlich lassen wir uns nicht so leicht von denen einschüchtern,
und alle Vorträge wurden gehalten. In Leipzig dann, diesen Januar, gab es ein Messerattentat auf den Moderator der Veranstaltung. Der Mann erlitt drei tiefe Stiche in den Oberkörper, bevor
man die Wahnsinnige stoppen konnte. Bei ihrer Vernehmung faselte sie die ganze Zeit etwas davon, Gott hätte sie durch einen
seiner Engel beauftragt, die Ungläubigen zu bekämpfen. Vorläufig ist sie in die Nervenheilanstalt eingewiesen worden, wahrscheinlich wird sie auch nach der Gerichtsverhandlung wieder
dort landen. Selbstverständlich nur eine verwirrte Einzeltäterin,
was sonst? Bei den Islamisten steckt immer Al Kaida dahinter,
bei den christlichen Spinnern, die ebenso schlimm sind, darf es
so etwas wie eine Organisation natürlich nicht geben. Da sind es
grundsätzlich nur verwirrte Einzeltäter.“
Marx war aufgestanden und wanderte aufgeregt gestikulierend im Raum hin und her. Kurt dagegen saß immer noch seelenruhig in seinem Sessel und wartete auf die Erklärung, was er
denn nun mit der ganzen Sache zu tun hätte.
„So, und gestern nun also der Anschlag hier. Herr Odensen,
Sie als Fachmann, was glauben Sie? Ist das Zufall? Sind das wirklich nur verwirrte Einzeltäter?“
Kurt. Als Fachmann. Okay. „Nun, das ist schon eine auffällige
Häufung. Man kann natürlich annehmen, dass die christlichen
Fundamentalisten miteinander vernetzt sind. Man muss ja nur
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mal bedenken, was auf diversen Internetseiten alles zu lesen ist.
Ganz besonders die menschenverachtenden Hasstiraden auf
kreuz.net. Sie sehen, ich verfolge durchaus, was sich in diesen
Kreisen so tut.“ Nun gut, genau genommen war Kurt nur ab und
an beim Surfen über entsprechende Inhalte gestolpert, und
kreuz.net hatte er sowieso erst mal für eine schlechte Satireseite
gehalten. Erst spät war ihm aufgegangen: Die meinten das wirklich ernst. Aber das musste er seinem Gegenüber ja nicht gerade
auf die Nase binden.
„Andere Verrückte“, fuhr er fort, „könnten durchaus von den
Drohungen in Hamburg und dem Anschlag in Leipzig zu Nachahmungstaten angeregt worden sein.“ Das klang doch ziemlich
fachmännisch, oder?
„Andererseits …“, er musste den Verdacht des Kunden ja
schließlich erst mal ernst nehmen, „… könnte man auch annehmen, dass tatsächlich eine organisierte Gruppierung dahintersteckt. Extremisten finden sich in jeder Religion. Unsere Staatsdoktrin verbietet vielleicht, das offen auszusprechen. Aber natürlich kann man nicht ernsthaft abstreiten, dass es unter den fanatischen Christen genauso gefährliche Irre gibt wie unter den fanatischen Moslems oder Juden. Und diese Christen könnten
sich bestimmt auch auf ähnliche Weise verschwören.“
Ja, das klang sehr fachmännisch.
„Nur weiß ich immer noch nicht so recht, warum Sie damit zu
mir kommen. Das ist doch nun wirklich ein Fall für die Polizei.“
Marx fuchtelte aufgeregt mit den Armen. „Aber das ist ja gerade das Problem: die Staatsdoktrin. Unser angeblich so säkularer Staat, in dessen Grundgesetz die Trennung zwischen Staat
und Kirche sowieso nur ausgesprochen halbherzig festgeschrieben ist, ist unterwandert und kontrolliert von den Kirchen und
ihren Lakaien. Da kann ich der Polizei hundertmal erklären, dass
wir es hier mit einer organisierten Anschlagsserie zu tun haben,
die interessiert das nicht. Die werden nie in die richtige Richtung ermitteln, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“
Kurt zuckte die Schultern. „Mag ja sein, aber ich sage Ihnen
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eines: Wenn ich anfange, in diese Richtung zu ermitteln, und
den offiziellen Stellen passt das tatsächlich nicht, dann werden
die mich ganz flott ausbremsen.“ Er merkte, dass er die lange
Narbe rieb, die sich seinen Hals hinabzog. Schnell nahm er die
Hand herunter. „Also, so gerne ich natürlich Ihren Auftrag annehmen würde, ich muss Ihnen ehrlicherweise sagen, dass ich
kaum eine Chance sehe, eine Verschwörung von christlichen Taliban, wie Sie sie vermuten, aufzudecken.“
Nun gut, wirklich ehrlich wäre gewesen, dem Manne zu erklären, dass er schon bereute, ihn vorhin am Gehen gehindert zu
haben. Egal, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich diese
Verschwörung auch war, er hatte einfach keine Lust, den Hirngespinsten dieses Mannes nachzujagen oder gar in den Krieg
zwischen fanatisch Gläubigen und fast ebenso fanatisch Nichtgläubigen hineingezogen zu werden. Zu viele Aussagen von Seiten der organisierten Religionskritiker liefen auf ein Vernichtet
den Glauben, wo ihr ihn findet! hinaus, was für ihn etwa dieselbe Qualität wie das Gebrüll der Gegenseite hatte. Fanatiker
unter sich, nur bitte ohne ihn. Afghanistan hatte ihm da vollauf
gereicht, das brauchte er nicht noch mal.
Marx sah ihn verzweifelt an. „Sie verstehen nicht. Es geht
nicht nur darum, die bisherigen Anschläge aufzuklären. Es geht
auch um die Verhinderung weiterer Attentate. In den nächsten
Wochen ist in München und Umgebung eine ganze Serie von
Tagungen, Symposien und einzelnen Vorträgen angesetzt, und
den Höhepunkt bildet ein Abend mit Richard Dawkins im Audimax der Technischen Universität. Richard Dawkins persönlich
kommt nach München! Stellen Sie sich mal die Blamage vor,
wenn er diesen Auftritt absagt, weil bei uns ein paar irre Extremisten ungehindert Anschläge verüben können! Oder, noch
schlimmer, er kommt trotzdem und fällt selbst einem Attentat
zum Opfer. Der große Richard Dawkins, bei einer Veranstaltung
des deutschen Freidenker-Verbandes von einem religiösen Fanatiker verletzt oder gar getötet! Unser Ruf wäre dahin! Davon
würden wir uns nie wieder erholen!“
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Richard Dawkins persönlich kam nach München! Ja, wenn
Kurt das gewusst hätte! Vor allem: Wer, zum Geier, war das eigentlich? Er stand auf und legte dem weiterhin aufgeregt im
Raum stehenden Marx die Hand auf die Schulter.
„Hören Sie. Ich verstehe ja, dass Sie Angst um Ihren Großmeister haben. Oder wie immer man diesen Dawkins auch bezeichnen mag. Aber ich bin nicht die Polizei und ich bin ebensowenig Personenschützer. Überlassen Sie Ersterer die Aufklärung
der bisherigen Anschläge und engagieren Sie Letztere, um Ihre
Veranstaltungen und Redner – ganz besonders diesen Dawkins
– zu schützen. An der Bombe gestern hat man gesehen, dass
hier nur absolute Laien am Werk sind. Die sind sogar zu blöd,
jemanden in die Luft zu jagen, der nur Zentimeter von der Explosion entfernt steht. Glauben Sie mir, die Profis im Personenschutz werden mit solchen Hanswursten spielend fertig. Ich bin
nun mal in einem anderen Sektor tätig.“
Augenblicke später war Marx auch schon aus der Tür geschoben, die hinter ihm ins Schloss fiel. Kurt stand noch ein paar Sekunden da und lauschte, wie sein Besucher enttäuscht die
Treppe hinunterschlurfte.
Er sperrte sein Büro ab, nahm seine Lidl-Tüten und stieg in
den zweiten Stock hinauf, wo seine Wohnung lag. Na klasse. In
den neun Monaten, seit er sich als Privatdetektiv versuchte, wäre
das der erste vielleicht halbwegs interessante Fall gewesen. Und
den hatte er abgeblockt, weil er mit zu vielen Bekloppten zu tun
hatte. Was für eine grandiose Leistung. Außerdem war über das
Gespräch das Bier warm geworden und die Tiefkühlpizzen aufgetaut. Damit war klar, was in der nächsten Zeit mittags wie
abends auf dem Speiseplan stehen würde. Mal wieder ein wunderbarer Tag im glanzvollen Leben des Kurt Odensen.
*
Den Abend dieses wunderbaren Tages wollte Kurt, wie so ziemlich alle anderen auch, bei Otto verbringen. Gegen halb sieben
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schob er sich durch die Kneipentür – sie kündigte jeden neuen
Gast mit einem durchdringenden Quietschen an – und steuerte
seinen Stammplatz in der hintersten dunklen Ecke des Raumes
an. Wie üblich tippte er sich im Vorbeigehen mit zwei Fingern
an die Stirn, um Otto zu grüßen, der seinerseits wie üblich etwa
eine Minute später mit einer frischen Halben Hefeweizen an
Kurts Tisch erscheinen würde. Die übrigen Kneipenbesucher,
fast ausschließlich Stammgäste wie er, pflegten kurz zu nicken
und ihn ansonsten in Ruhe zu lassen. Sein Stammplatz war immer leer, niemand wagte es, ihn Kurt streitig zu machen.
Normalerweise.
Noch während er die Hand zum Gruß erhob, wusste Kurt,
dass etwas nicht stimmte. Spannung lag in der Luft. Otto schob
langsam ein Weizenglas in die Spüle und warf einen bedeutsamen Blick in Richtung Kurts gewohnten Tisches. Egon und Costas sahen aufmerksam zu ihm herüber, und Theo, Antonio und
Ilse drehten sich auf ihren Barhockern erwartungsvoll um. Kurt
straffte sich und stapfte, als sei nichts Besonderes los, weiter in
seine Ecke. Nach außen hin ruhig, hatte er sich innerlich schon
zum Kampf gewappnet. Tatsächlich: Da saß einer. Auf seinem
Stammplatz.
Eine Hand legte sich auf Kurts Schulter. Er fuhr herum, bereit
zur Gegenwehr, hielt aber inne, als er Ottos erschrockenem
Blick begegnete. Herrje, dachte der Wirt wirklich, er müsste eine
Schlägerei verhindern? Als wenn Kurt sich schon jemals hier geprügelt hätte. Das war im Allgemeinen auch nicht nötig. Es
reichte, sich voll zu seinen knapp zwei Metern aufzurichten und
ein paarmal wie unbewusst und doch gut eingeübt mit den immer noch durchtrainierten Brustmuskeln unter dem T-Shirt zu
zucken. Das erstickte jeden Widerstand im Keim.
„Schon gut Otto, ich mache keinen Ärger, okay?“ Kurt schob
die Hand des dicken Kneipiers von seiner Schulter. Er wäre
auch schön blöd gewesen, hier Probleme zu machen, wo er seit
beinahe einem Jahr seine allabendliche zweite Heimat gefunden
hatte. Otto – nicht restlos überzeugt – nickte ihm zu und zog
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sich wieder hinter den Tresen zurück. Demonstrativ holte er
eine Flasche Franziskaner hervor und spülte ein Glas kalt aus.
Sein Stammgast würde sein Bier bekommen, wie es ihm zustand.
Betont ruhig steuerte Kurt seinen Tisch an. Da saß er: Kräftige Statur, vermutlich recht groß gewachsen, auch wenn man
das in seiner vornübergebeugten Haltung schlecht beurteilen
konnte; nicht mehr der Jüngste, was schon seine grauen, gut
schulterlangen Haare deutlich machten, die er zu einem losen
Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.
Der Kerl hatte ein Glas Wein vor sich – Kurt hatte nicht mal
gewusst, dass Otto Wein im Angebot hatte – und starrte geistesabwesend in das tiefe Rot, das hier, in dieser finsteren Ecke, beinahe schwarz erschien. Lange konnte er noch nicht hier sitzen;
das Glas war fast unberührt.
„Freund?“ Kurt baute sich vor dem Tisch auf. „Entschuldigen
Sie, Sie können das nicht wissen, aber das hier ist mein Platz.
Seien Sie so gut, nehmen Sie Ihren Schoppen und suchen Sie
sich einen anderen Tisch.“ Der Kerl rührte sich nicht. Ein Sturschädel, der den Harten markieren wollte.
Kurt stützte sich auf die Fingerknöchel und schob sein Gesicht etwa einen halben Meter an den Fremden heran. „Freund,
wirklich. Ich hatte einen beschissenen Tag und möchte hier in
Ruhe an meinem Stammplatz mein Bier genießen. Also bitte:
Machen Sie keinen Ärger, und setzen Sie sich woanders hin.“
Der Grauhaarige hob den Kopf und sah ihn an. Kurt prallte
zurück. Sein Kontrahent hatte eine Augenklappe, und die trug
er sicher nicht als Modeaccessoire. Aber viel erschreckender war
das unbedeckte Auge. Eisblau war es, so hell, dass es im Dunkeln zu leuchten schien. Stählern durchbohrte ihn der Blick unter der buschigen Augenbraue hervor. Und das, obwohl die Mimik des Mannes noch nicht mal Aggression ausdrückte, sondern
eher ein gelangweiltes 'Was willst du Pimpf denn von mir?'.
Sein dicker Schnauzbart zuckte leicht, dann öffnete er den
Mund.
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„Kurt. Setz Dich!“
Kurt setzte sich. Warum, das wusste er selbst nicht. Seit wann
gehorchte er Befehlen? Oder, besser gesagt: Seit wann nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst tat er das? Der Alte hatte
ganz ruhig gesprochen, beinahe sanft. Wie kam es, dass Kurt
trotzdem ohne zu zögern tat, was der Kerl wollte?
Otto schien genauso verwundert. Er war just in diesem Moment mit der Halben Franziskaner am Tisch erschienen und
stellte sie nun vorsichtig ab. Er sah Kurt fragend an. Der schüttelte ärgerlich den Kopf und scheuchte ihn mit einem knappen
Wink weg.
„Was wollen Sie? Habe ich irgendeine Rechnung übersehen?
Keine Sorge, das regele ich gleich morgen.“
Ein leichtes und unangenehm mitleidiges Lächeln huschte
über die verwitterten Züge seines Tischnachbarn. Seltsam, einerseits schien er gerade mal Ende fünfzig zu sein, andererseits
durchquerten Furchen sein Gesicht, als sei er kurz vor seinem
Hundertsten. Vielleicht war er viel an der Sonne gewesen, das
gerbte die Haut. Die schaufelgroßen Hände, die neben dem
Weinglas auf dem Tisch lagen, wirkten knorrig wie die Äste einer
alten Eiche, und irgendwie erinnerte die ganze Statur, so gelassen er hier saß, an einen alten Baum, den so leicht kein Sturm
umwarf.
Der Grauhaarige nahm sein Glas und trank einen kräftigen
Schluck. Nicht gerade die Art eines Weinkenners. „Ah, der Wein!
Immerhin, wenn sie auch sonst rechte Nervensägen waren, da
haben uns die Römer schon was Feines mitgebracht, nicht?“
Kurt schwieg dazu. Er glaubte nicht, dass seine historischen
Kenntnisse hier gefragt waren. „Kurt, ich möchte dich nur etwas
fragen.“
Wieder sprach der Typ ihn mit Vornamen und du an. Kurt
hob abwehrend die Hände.
„Moment mal, ja? Ich wüsste nicht, dass wir beide schon ein
Bier zusammen getrunken hätten, also wie kommen Sie dazu,
mich zu duzen?“
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Der Fremde lächelte wieder. „Aber was denn? Vor dir steht
dein Bier, und ich habe gerade getrunken. Wenn du möchtest,
kann ich mir gerne auch ein Bier bestellen; du lässt deines nicht
warm werden, dann sollte der Form Genüge getan sein.“
Die Chuzpe dieses Mannes war beeindruckend. Kurt hielt die
Klappe. Sollte der Alte doch sein Spielchen weiter treiben, er
würde sich nicht provozieren lassen, den Streit zu beginnen.
„Also, Kurt, heute war ein Kunde bei dir. Schmal, klein, Brille,
meist in einem schrecklichen Pullunder wie Mamis Liebling. Er
hatte einen Auftrag für dich. Warum hast du ihn abgewiesen?“
Kurt entgleisten sämtliche Gesichtszüge.
Woher zum Teufel …?
„Woher ich das weiß? Ich habe dich ihm empfohlen. Und ich
empfinde es als ausgesprochen unangenehm, wenn ich jemandem einen Rat gebe und hinterher dastehe wie ein Dummkopf,
der nicht weiß, was er sagt. Also, warum hast du mich in diese
missliche Lage gebracht?“
Kurt schnappte nach Luft und nach Worten. „Ich … also …
also bitte, ich werde wohl noch selbst entscheiden dürfen, welchen Kunden und welchen Auftrag ich annehme oder eben ablehne. Wie kommen Sie überhaupt dazu, mich zu empfehlen?
Sie kennen mich doch gar nicht!“
Sein Gegenüber nahm erneut in aller Ruhe einen Schluck
Wein, bevor er antwortete.
„Ich kenne dich nicht. Meinst du. Na gut.“ Sein eines Auge,
bislang meist auf den Tisch oder das Glas gerichtet, spießte Kurt
wieder mit eisigem Blick auf. „Kurt Odensen, neununddreißig,
bis vor einem Jahr Zeitsoldat, ausgeschieden als Hauptmann der
Feldjäger. Als Infanterist im Kosovo gewesen, als Feldjäger in Afghanistan. Dort Mitarbeit, und zwar sehr erfolgreiche, bei der
Aufklärung mehrerer Material- und Munitionsdiebstähle sowie
der Verhaftung einer größeren Bande von Drogenhändlern innerhalb des Bundeswehrkontingents. Bei einem Anschlag der
Taliban, oder vielleicht auch irgendwelcher Banditen, ist da ja
schwer auseinanderzuhalten, verwundet. Daraufhin auf eigenen
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Wunsch kurz vor Ende deiner Verpflichtung aus dem Dienst geschieden. Du hältst dich – noch – mit dem Übergangsgeld von
Vater Staat und einer kleinen Extra-Unterstützung wegen deiner
Verwundung über Wasser, weil du zwar ein begabter Ermittler
bist, als Geschäftsmann aber bedauerlicherweise ein Vollpfosten.“
Kurt hätte dem Kerl für diese Bemerkung am liebsten die
Faust ins Gesicht gerammt. Was ihn davon abhielt, war die Tatsache, dass der Mann leider nur allzu recht hatte. Kundenakquise
lautete das Zauberwort. Genau darin war er weiß Gott herzlich
unbegabt, oder, wie sein geheimnisvoller Gesprächspartner es
gerade so galant formuliert hatte, ein Vollpfosten.
„In den vergangenen neun Monaten hast du sage und
schreibe vier Fälle gehabt. Da war die Serie von Ladendiebstählen. Der arme Junge, den du erwischt hast, hat dir so leidgetan,
dass du ihn nicht verraten hast. Dann gab es noch drei eifersüchtige Ehemänner, deren Weibern du hinterherschnüffeln durftest.
Gut, du hast alle drei überführt und scharfe in-flagranti-Photos
gemacht, aber sehr befriedigend können solche Jobs doch wohl
nicht sein.“
Der Grauhaarige grinste schmutzig, trank noch einen Schluck
von seinem Wein und fuhr fort. „Befriedigend … na ja, vielleicht vor und nach dem Bilderknipsen. Womit sich dann auch
schon dein Sexualleben des letzten Jahres erschöpft hätte, aber
das ist ja hier nicht das Thema.“
Kurt fuhr hoch. Drohend ragte er vor dem Anderen auf. „Jetzt
reicht’s.“ Er knurrte die Worte wie ein Wolf, leise und gefährlich.
„Sie haben mich gut ausspioniert, auch wenn Ihnen in Bezug
auf mein Sexua- ähm, Privatleben manches entgangen ist. Aber
solche Sprüche muss ich mir nicht gefallen lassen. Sie verschwinden jetzt. Sofort.“
Einige Sekunden sah ihn der Alte abschätzig von unten herauf
an. So schwer es ihm fiel, Kurt hielt dem eisigen Blick stand.
Dann gab der Grauhaarige nach und erhob sich langsam. Sein
Gesicht kam mit dem Kurts auf eine Höhe – und stieg weiter
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hinauf. Plötzlich fühlte sich Kurt ausgesprochen flau in der Magengrube. Für einen Mann von einem Meter achtundneunzig
war es schon ein eher seltenes Erlebnis, zu jemandem aufsehen
zu müssen. Aber was da vor ihm aufragte, war ein wahrer Riese.
Um mindestens einen halben Kopf überragte er ihn, der Brustkasten wie eine Tonne, und auch die Schultern waren ein ganzes Stück breiter als die seinen. Da war kein Mann aufgestanden,
da war ein Baum aus dem Boden gewachsen.
„Nein. Und jetzt setz dich wieder.“ Ruhig, freundlich, bestimmt kamen diese Worte aus dem Schnauzbart hervor. Kurt
saß wieder, bevor er sich überhaupt dessen bewusst war.
Auch der Gigant nahm Platz und blitzte ihn spöttisch an.
„Schon recht, die letzte Bemerkung war überflüssig und ging zu
weit. Ich bitte um Verzeihung.“ Kurt erinnerte sich an sein Weißbier, dessen wunderschöne Blume inzwischen vollkommen zusammengesunken war, nahm einen tiefen Zug und nickte. Entschuldigung angenommen. Irgendwie blieb ihm auch keine andere Wahl.
„Deine berufliche Karriere habe ich aber, denke ich, ganz treffend zusammengefasst. Nun frage ich also nochmals: Du bist ein
guter Ermittler, das hast du bewiesen. Du bist eine Niete, wenn
es darum geht, interessante Fälle an Land zu ziehen. Auch das
hast du bewiesen. Nun kommt heute ein wirklich interessanter
Fall einfach so zu dir hereingeschneit, und dir fällt nichts Besseres ein, als ihn abzulehnen. Warum tust du das?“
Kurt nahm noch einen weiteren großen Schluck Bier, ließ die
Kohlensäure dezent leise aus seiner Kehle entweichen und holte
tief Luft.
„Kurz und knapp, ja, Sie haben recht. Es klingt unlogisch. Sie
wissen offenbar alles Wichtige über mich, auch was meine etwas
heikle finanzielle Situation angeht, und es scheint dumm, dass
ich überhaupt irgendeinen Fall ablehne. Aber sehen Sie, ich bin
lange genug zwischen Verrückten eingekeilt gewesen. Ich war
zwei ganze Jahre in Afghanistan, auf der einen Seite die durchgeknallten Alis, auf der anderen die genauso depperten Amis.“
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Als der Grauhaarige missbilligend das Gesicht verzog, beeilte
Kurt sich hinterherzusetzen: „Na ja, natürlich sind die nicht alle
bescheuert, aber eindeutig zu viele. Auf beiden Seiten. Die einen
wedeln mit ihrem Koran, die anderen mit der Bibel, und beide
ballern wie wild aufeinander. Dazwischen ich, ein paar andere
Soldaten und Polizisten, die ihr Hirn noch beieinanderhaben,
und ein Haufen arme Zivilisten, die ständig als Kugelfang herhalten müssen. Oh ja, nicht zu vergessen die Banden der Warlords,
die sich das einträgliche Drogengeschäft mit der CIA nicht vermiesen lassen wollen. Ich habe die Schnauze voll von Fundamentalisten jeglicher Couleur. Ich durfte erleben, was ach so
gute Christen, die täglich brav in ihrer Bibel lesen, für Massaker
anrichten können. Kein Deut besser als die Turbanspinner. Und
diese Typen von den Freidenkern? Okay, die werden nicht grad
mit Feuer und Schwert auf Bekehrungstour gehen. Aber mal
ehrlich, ein paar von denen sind genau so stur und verbohrt wie
die von den Gottesfanclubs.“
Er kippte den Rest seiner Weißen hinunter und atmete tief
durch. „Ich mag da einfach nicht reingezogen werden. Wenn die
Herrschaften Atheisten gegen das Übel der Religion zu Felde ziehen wollen, sollen sie das tun. Und wenn die Katholiken oder
von mir aus auch die Evangelikalen meinen, sie müssten sich
hier bei uns aufmandeln wie Bin Laden für Arme, dann ist das
Sache der Polizei. Mir reicht’s mit Extremisten, egal aus welchem
Lager.“
Kurt konnte sich nicht erinnern, Otto ein Zeichen gegeben zu
haben, aber der Dicke erschien plötzlich am Tisch und stellte
zwei Obstler vor den beiden Männern ab. Der Alte schob seinen
vor Kurt hin und sah ihn ruhig an. Zum ersten Mal glaubte Kurt,
weder Spott noch Herablassung im Auge des Fremden zu sehen,
sondern etwas wie Verständnis und sogar Respekt.
„Das sind gute Gründe. Ich weiß aus eigener Erfahrung, was
religiöser Wahn anrichtet. Hab meine Frau so verloren.“ Er trank
seinen Wein in einem Zug leer und starrte einige Sekunden vor
sich hin. Tiefer Schmerz huschte über sein Gesicht und machte
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dann wieder der gewohnten Gelassenheit Platz. „Trotzdem muss
ich dich bitten, diesen Fall anzunehmen.“
Kurt glaubte, sich verhört zu haben. „Habe ich nicht gerade
deutlich gemacht, dass ich mit Glaubenskriegen aller Art nichts
mehr zu tun haben will?“
„Ja, das hast du.“ Er hätte es nicht für möglich gehalten, doch
aus dem eisblauen Auge strömte nun väterliche Wärme zu ihm
herüber. „Ich verstehe dich gut. Aber dies ist zu wichtig, um darauf Rücksicht zu nehmen. Ich kann es dir nicht erklären, doch es
ist von großer Bedeutung, dass der Hintergrund – und auch die
Hintermänner – dieser Anschläge aufgedeckt werden. Und ich
bin überzeugt, du bist der richtige Mann für diesen Job.“
Kurt wusste nicht, was er sagen sollte. Es kostete ihn enorme
Anstrengung, sich dem Wunsch dieses Fremden zu widersetzen.
Aus irgendeinem Grunde glaubte er ihm sogar.
„Hören Sie, es ehrt mich ja, dass Sie so großes Vertrauen in
meine Fähigkeiten setzen. Aber ich habe den Kerl doch schon
weggeschickt, und der wird sicher längst zu einem anderen Privatdetektiv gegangen sein, der den Fall mit Kusshand annimmt.“
Der Graue nickte. „Ja, er war bei anderen. Als er deren Preise
gehört hat, ist er rückwärts wieder rausgegangen. Was Geld angeht, ist der Mann etwas weltfremd. Du hast ihm noch nicht gesagt, was du kostest?“
Kurt schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich kenne natürlich die
bei meinen Kollegen üblichen Tagessätze und nehme nicht viel
weniger.“
Sein Gegenüber langte in die Tasche und holte ein Bündel
Hunderter heraus. „Doch, in diesem speziellen Falle wirst du
viel weniger verlangen. Den Rest lege ich obendrauf, und ich
verdopple sogar. Du wirst morgen bei ihm anrufen – seine Telephonnummer hast du?“
Kurt starrte auf das Geldbündel und nickte mechanisch. Dann
wurde er sich der Frage bewusst, überlegte kurz und dachte an
die Visitenkarte, die immer noch unbeachtet auf dem Schreibtisch liegen musste. Ja, er hatte die Nummer wirklich. Wie von
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selbst wanderte seine Hand zu einem der Schnapsgläser, führte
es zum Mund und kippte den Obstler die Kehle hinunter.
„Dann ist ja recht. Das hier reicht für zwei Wochen. Wenn du
mehr Zeit brauchst, schicke ich jemanden mit weiterem Geld.“
Kurt nickte erneut und schüttete den zweiten Schnaps hinterher. Das Bündel, das da vor ihm lag, sah nach mehreren tausend
Euro aus. Hatte er jemals so viel Bares vor der Nase gehabt?
Dann riss es ihn. Moment! Wer entschied hier eigentlich, was er
tat? So schwer es ihm fiel, er schob die Scheine wieder zurück.
„Ich sagte schon, ich will nicht in so was mit reingezogen
werden. Die Summe spielt dabei keine Rolle.“
Der Alte schaute ihn forschend an, machte aber keine Anstalten, die Scheine wieder einzustecken. „Angst?“ Weder Hohn
noch Verachtung lagen in seiner Stimme.
Kurt sah eine ganze Weile schweigend auf die leeren
Schnapsgläser hinab, dann erwiderte er den Blick. „Mag sein,
ja.“ Er drehte den Kopf und wies auf die lange Narbe, die seinen
Hals verunzierte. „Das hier hab ich von irgend so einem Fanatiker. Wenn einem so ein Schrapnell fast die Halsschlagader aufreißt, hinterlässt das Spuren, wissen Sie? Nicht nur die sichtbaren.“
„Ja, ich weiß. Da bist du nicht der Einzige.“
„Sicher.“ Aber hier ging es nun mal um ihn. „Also respektieren Sie bitte meine Entscheidung. Mit dieser Sorte Spinner bin
ich durch.“
„Das tue ich, mein Junge, das tue ich.“ Das Auge, eisblau nach
wie vor, drückte jetzt tiefes Verständnis aus. Noch nie hatte Kurt
erlebt, dass ein Gesicht beinahe ohne Regung so viel ausdrücken
konnte. „Am Respekt mangelt es mir auch nicht, glaube mir. Ich
frage mich nur, wie du jemals damit fertig werden willst, wenn
du weiter davor wegläufst.“
Weglaufen? Ja, mochte schon sein, dass er davonlief. Nur …
„Was, bitte, soll es mir denn bringen, wenn ich diesen Fall
übernehme?“
„Selbstbewusstsein. Du hattest mal reichlich davon, aber im
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Moment scheint nichts mehr übrig zu sein.“ Der Grauhaarige
langte über den Tisch und packte fest Kurts Unterarm. „Stell
dich deiner Angst! Beweise dir selbst, dass du auch hier, im zivilen Leben, was drauf hast als Ermittler! Nimm den Auftrag an,
und schnapp dir die Hintermänner der Anschläge! Dann kannst
du dir morgens beim Rasieren wieder in die Augen schauen und
nicht immer nur auf deine Narbe. Dann bist du nicht mehr Kurt,
der verwundete Ex-Soldat, der sich irgendwie über Wasser hält,
sondern Kurt, der Privatdetektiv, der vor keinem Fall zurückschreckt. Denkst du nicht, das ist es wert?“
Kurt war noch nicht völlig überzeugt. „Sie glauben wirklich,
dass es da auch Hintermänner gibt, die man schnappen kann?
Vielleicht steckt ja gar nicht mehr dahinter als ein paar Spinner,
die gar nichts miteinander zu tun haben.“
„Oh ja, Kurt, ich bin sicher. Es gibt Hintermänner, mächtige
Hintermänner. Vielleicht mächtiger, als du es dir vorstellen
kannst. Aber nicht man kann sie schnappen, du kannst es. Doch
bevor du das tust, musst du den schlimmsten aller Gegner überwinden: dich selbst. Schaffst du das?“
Was alles kann ein einzelnes Auge ausstrahlen? Eisige Kälte
und väterliche Wärme, stechenden Spott und wohltuendes Verständnis. Und nun Kraft. Wie der Dürstende aus der Quelle das
Wasser, so trank Kurt Kraft aus diesem Blick.
Nach einer gefühlten Ewigkeit riss er sich von dem Strom eisblauer Energie los und schüttelte benommen den Kopf. „Also
gut. Wenn Sie meinen, er will mich immer noch engagieren,
dann mache ich es.“
„Gut.“ Der Alte ließ seinen Arm los, schob das Geldbündel erneut vor Kurt hin und lehnte sich zurück. „Ruf diesen Marx
gleich morgen früh an. Sag ihm, du hast es dir anders überlegt.
Du findest seinen Fall jetzt doch so interessant, dass du ihn
übernehmen wirst. Nenne ihm ein Drittel deines normalen Honorars. Er wird sich wundern, es wird ihm wahrscheinlich auch
sehr suspekt vorkommen, aber er wird nicht ablehnen. So wichtig ihm die Sache ist, er ist nun mal ein Knauserer.“
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Sein neuer Auftraggeber stand auf und wandte sich zum Gehen. Er wirkte immer noch sehr groß, aber nicht mehr ganz so
beeindruckend wie vorhin. Das kam Kurt etwas spanisch vor,
doch er war noch viel zu benommen, als dass er weiter darüber
nachgedacht hätte.
„Erzähle Marx nichts von mir. Du hast es dir einfach anders
überlegt, wie besprochen. Er muss nicht wissen, dass ich nachgeholfen habe.“ Der Alte legte eine Visitenkarte auf den Tisch. Es
stand nur eine Handynummer darauf. „Wenn du Probleme hast,
mit den Behörden zum Beispiel, oder wenn du sonst etwas
brauchst, ruf mich an!“ Er beugte sich zu Kurt hinab und starrte
ihn aus seinem geheimnisvollen Auge durchdringend an. „Ohne
zu zögern! Ich will, dass das aufgeklärt wird.“ Im nächsten Moment langte er nach einem Stock, der im Schatten an der Wand
gelehnt hatte, und klopfte Kurt mit der freien Hand auf die
Schulter. „Keine Bange, mein Junge. Du kriegst das hin. Ich vertraue dir.“
Ein paarmal hörte Kurt noch das Tok – Tok – Tok, mit dem
der Stock auf dem Boden landete – Stock war etwas untertrieben, es war eher ein Pfahl, beinahe so lang wie der Mann selbst
– dann war der Alte aus der Kneipe verschwunden. Hatte die
Tür überhaupt gequietscht?
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PSY 4
Marx' zweifelnder Blick verwunderte Kurt nicht wirklich. Gestern noch hatte er ihn regelrecht aus dem Büro geworfen, heute
war er plötzlich in aller Frühe aufgetaucht und hatte sich fast um
den Auftrag gerissen. Angeblich hatte er über die ganze Angelegenheit noch mal gründlich nachgedacht und war zu dem
Schluss gekommen, dass der Fall ihn nun doch brennend interessierte und er der Sache unbedingt auf den Grund gehen
wollte. Hoffentlich kaufte Marx ihm die Geschichte ab.
„Sie sind sicher, was das Honorar angeht? Ich war bei drei anderen Privatdetektiven, nachdem Sie mich gestern weggeschickt
haben, und die wollten mehr als das Doppelte, der eine fast das
Vierfache.“
Kurt nickte. „Ja, ich weiß. Im Allgemeinen ist mein Tagessatz
auch etwa dreimal so hoch, aber ich mache diesmal eine Ausnahme. Sehen Sie, ich sage es Ihnen ganz ehrlich“, und das
stimmte ja sogar, „in der letzten Zeit habe ich mich hauptsächlich mit Untreue- und Scheidungsfällen beschäftigt. Misstrauischen Männern Beweise dafür geliefert, dass ihre holden Gattinnen sich in der olympischen Disziplin der hundert Meter Seitensprung übten und solche Sachen. Das bringt zwar Geld ein, ist
aber furchtbar langweilig. Da ist so ein Fall wie der Ihre doch
wesentlich interessanter. Dann ist da noch die kleine Entschädigung von Vater Staat für meine Verwundung. Das Geld ermöglicht es mir, mein Honorar ein wenig herunterzuschrauben. Außerdem, das sollte auch Ihnen klar sein, ist das keine Sache von
zwei oder drei Tagen. Wir können davon ausgehen, dass sich die
Ermittlungen einige Wochen hinziehen. Und je länger der Auftrag dauert, desto niedriger kann ich den Tagessatz wählen. Ich
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hoffe, das Budget Ihrer Ortsgruppe erlaubt einen Einsatz in dem
von mir erwarteten Umfang?“
Marx, auch heute im braven Pullunder, wand sich ein wenig.
„Nun ja, um ehrlich zu sein, es ist mein persönliches Budget,
das hierfür herhalten muss. Meine Vorstandskollegen sind leider
derselben Ansicht, die Sie gestern geäußert haben. Die Ermittlungen sind Angelegenheit der Polizei, der Personenschutz Sache der Bodyguards. Die Hinzuziehung eines Privatdetektivs billigen sie zwar zähneknirschend, aber nicht, dass dafür Mittel des
Ortsverbandes lockergemacht werden.“
Kurt war beeindruckt. Seine bisherigen Kunden hatten ihn
aus sehr privaten Motiven engagiert, waren allesamt mehr oder
minder stinkend reich gewesen und hatten um jeden Cent gefeilscht. Danach waren sie dann mit ihren Porsches oder S-Klassen davongedüst, vermutlich, um mit ihrem Steuerberater zu besprechen, wie man die Kosten der Ermittlungen ihrer Firma unterjubeln konnte. Doch dieser unscheinbare Mann hier zahlte
ihn aus eigener Tasche, obwohl die Untersuchungen eigentlich
im Interesse des ganzen Verbandes gewesen wären. Und das, wo
es bei ihm wirklich nicht gerade nach allzu viel Geld aussah. Professoren verdienten laut Kurts Informationen ziemlich gut, also
stimmte das wohl, was der geheimnisvolle Alte gestern Abend
über die Knauserigkeit Marxens gesagt hatte. Nun allerdings
sprang der Mann weit über seinen Schatten, denn selbst das reduzierte Honorar würde ihn im Laufe der Wochen eine vermutlich fünfstellige Summe kosten.
„Ich weiß, dass es mich einiges kosten wird.“ Kurts Auftraggeber seufzte. „Aber ich arbeite nun schon seit vielen Jahren im
Freidenker-Verband und habe meine gesamte Freizeit der Aufklärung verschrieben, dem Kampf gegen den Aberglauben und
die Macht der Kirchen. Ich habe über ein Jahr mit der Vorbereitung dieser Veranstaltungsreihe zugebracht, das will ich mir von
diesen Fanatikern nicht kaputtmachen lassen. Immerhin habe
ich im Laufe der Jahre doch ein wenig gespart und keine Familie, der ich das Geld irgendwann vererben könnte. Also kann ich
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es genauso gut jetzt hierfür ausgeben.“
Kurt stand auf und streckte die Hand aus. „Herr Marx, ich verspreche Ihnen, mein Bestes zu tun, um herauszufinden, wer
oder was hinter diesen Anschlägen steckt. Wir werden Ihre Vortragsreihe schon retten.“ Marx schlug tief erleichtert ein. „Aber“,
fügte Kurt hinzu, „ich rate Ihnen trotzdem, auch die Polizei in
Ihrer Arbeit voll zu unterstützen und auf jeden Fall Personenschutz für die zukünftigen Veranstaltungen zu organisieren.“
Der Professor nickte eifrig. „Natürlich, natürlich! Meine Vorstandskollegen kümmern sich ja schon darum. Ich bin sicher,
wenn wir alle Kräfte einsetzen, können wir die Wahnsinnigen
stoppen, bevor sie noch mehr Schaden anrichten. Ich danke Ihnen, Herr Odensen. Ich danke Ihnen sehr!“
*
Eine Stunde und ein längeres Detailgespräch später verließ Kurt
das Mietshaus, in dem Marx wohnte. Der Mann war vorerst
schwer beschäftigt. Er beabsichtigte nämlich, Kurt nach besten
Kräften bei seinen Ermittlungen zu unterstützen. Als Professor
der Biologie an der Ludwig-Maximilians-Universität hatte Marx
natürlich auch in den Semesterferien reichlich zu tun. Nun
wollte er sich freischaufeln und diese ganze Arbeit an seine Mitarbeiter delegieren.
Kurt passte so ein Hobbydetektiv zwar ganz und gar nicht in
den Kram, er hatte es ihm aber leider nicht ausreden können.
Also wollte Kurt schon mal ein paar wichtige Dinge erledigen,
bevor er sich auch noch mit dem Professor herumschlagen
musste. Alles, was Marx über die Attentäterin von Leipzig
wusste, stand auf einem kleinen Block in Kurts Jackentasche.
Mal sehen, was bei der angeblich Irren in Erfahrung zu bringen
war.
Nach einem kurzen Abstecher zu seiner Wohnung, um ein
paar Sachen zu packen und kurz an den Rechner zu gehen,
machte er sich mit einigen Scheinen aus dem Bündel des Grau28
haarigen in der Tasche auf den Weg zum Bahnhof. Selbst wenn
er seinen Führerschein noch gehabt hätte, wäre er nur ungern
mit dem Auto nach Leipzig gefahren. Er stieg lieber entspannt
aus dem Zug, statt von hunderten Kilometern Autobahn gerädert aus dem Auto. Ohne das Papierchen allerdings blieb ihm
sowieso nichts anderes übrig, als den Zug zu nehmen.
Kurt schaffte es frühzeitig, fand einen nicht reservierten Platz
in einem Großraumwagen und stopfte seine Reisetasche in das
Gepäckfach. Er sank in den Sitz und lehnte sofort den Kopf ans
Fenster, um möglichst den größten Teil der Fahrt zu verschlafen. Die Zeit im Feld hatte ihn gelehrt, immer und überall schlafen zu können und seine innere Uhr beinahe minutengenau einzustellen. Er würde pünktlich eine Viertelstunde vor der Ankunft in Leipzig wieder aufwachen. Gerade wollte er die Augen
schließen, da fiel ihm eine Nonne auf, die sich mit einem Köfferchen durch den Gang schlängelte. „Verdammt, was für eine Verschwendung!“, dachte er, als er das hübsche Gesicht der jungen
Frau sah. Wie kamen so süße Dinger nur dazu, ihr Leben wegzuwerfen und sich hinter Klostermauern und Nonnentracht zu verstecken, statt einen Mann glücklich zu machen und ein paar
niedliche Blagen in die Welt zu setzen? Er würde es nie verstehen.
Mit diesem Gedanken im Kopf schlief er ein.
*
Die Psychiatrie lag nur etwa vier Kilometer vom Leipziger Hauptbahnhof entfernt. Leider konnte er nicht direkt dort hingehen,
sondern musste erst mal zur Kriminalpolizei, um sich da eine
Genehmigung einzuholen, mit der Attentäterin zu sprechen. Die
nächste Hürde würde dann der behandelnde Arzt sein, nahm er
an. Er hoffte nur, dass er beide Genehmigungen auch bekam.
Zumindest hatte er ein Schreiben von Friedl Marx in der Tasche,
das seinen Auftrag bestätigte und um Unterstützung bei den Ermittlungen bat. Ob das aber viel helfen würde, bezweifelte Kurt.
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Nun gut, Versuch macht kluch, er schnappte sich ein Taxi und
ließ sich zur Kripo kutschieren. Es war schon späterer Nachmittag, und er hoffte, noch heute mit der Verdächtigen sprechen zu
können.
Kurt erkundigte sich nach dem Beamten, der für die Ermittlungen im Fall des Messerattentats verantwortlich war, und hatte
Glück. Herr Schmaißer war im Hause und wollte sich sogar ein
paar Minuten Zeit für ihn nehmen. Nach einer kleinen Wanderung durch zwei Stockwerke stand Kurt vor dessen Büro und
klopfte an.
Schmaißer war ein dicklicher Mann um die vierzig, der sich
gemächlich von seinem Drehstuhl erhob und um den Tisch
herum auf ihn zukam. „Herr Odensen? Kriminalhauptkommissar
Schmaißer, guten Tag.“ Kurt schüttelte die ausgestreckte Hand,
zog das Empfehlungsschreiben von Marx aus der Tasche und
reichte es dem Polizisten. Der las es aufmerksam durch und gab
es dann zurück.
„Jaaaaa … Herr Odensen, das ist ja schön und gut, dass dieser Herr Marx Ihnen so ein Briefchen mitgegeben hat, aber erwarten Sie ernsthaft, dass Ihnen das hier irgendwelche Türen
öffnet?“ Schmaißer deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch und nahm selbst wieder dahinter Platz. „Sehen Sie, ich
habe natürlich schon von der Bombe in München gehört und
kann mir vorstellen, dass den Herrschaften dieses FreidenkerVerbandes nun der Hintern auf Grundeis geht. Ich habe auch
volles Verständnis für deren Wunsch, weitere solche Vorkommnisse zu verhindern. Aber deshalb kann ich doch nicht einfach
irgendeinen Privatdetektiv mit einer offenbar geistig verwirrten
Verdächtigen sprechen lassen.“
Kurt hatte eigentlich nichts anderes erwartet. Trotzdem setzte
er sich auf den angebotenen Stuhl und wollte gerade versuchen,
den Kriminalen noch umzustimmen, da schnitt dieser ihm mit
einem Wink das Wort ab.
„Im Ernst, Herr Odensen. Wenn Sie ein Kollege der Münch30
ner Polizei und hier mit einem Amtshilfeersuchen aufgekreuzt
wären, dann sähe die Sache natürlich anders aus. Aber so? Was
glauben Sie, was passiert, wenn der Staatsanwalt das spitzbekommt? Ich lasse einfach einen Privatmann eine des Mordversuches Verdächtige befragen. Der verehrte Herr Mauser würde
mich gleich mal mit in die Klapse stecken, und das zu Recht.“
Mauser. Aha, so hieß also der zuständige Staatsanwalt. Kurt
dankte dem Polizisten im Stillen für diesen versehentlichen Hinweis. „Und wenn ich versuche, mal mit Herrn Mauser direkt zu
sprechen?“ Viel Hoffnung hatte Kurt in diese Idee nicht gelegt,
und das mittlere Erdbeben, das den Bauch seines Gegenübers
durchlief, als der über diesen Vorschlag lachte, bestätigte seine
Einschätzung.
„Herr Odensen, ich bitte Sie! Sie können den Mann natürlich
nicht kennen, sonst wüssten Sie, wie aussichtslos ein solcher
Versuch wäre. Ich gebe Ihnen den gutgemeinten Rat: Lassen Sie
es. Ich weiß die Arbeit des privaten Ermittlungssektors durchaus
zu schätzen – wenn auch nicht auf jedem Gebiet –, aber der
Herr Staatsanwalt ist da gänzlich anderer Ansicht. Das Einzige,
was Sie erreichen würden, wäre eine dringende Bitte, die Stadt
so schnell wie möglich wieder zu verlassen.“
Die dringende Bitte klang eher so, als dürfte Kurt damit rechnen, regelrecht aus Leipzig verwiesen zu werden. Dass auch
Schmaißer keine Privatermittler in echten Kriminalfällen sehen
wollte, hatte er durch die Blume, aber doch unmissverständlich
klar gemacht. Von dieser Seite war also keine Hilfe zu erwarten.
Er bedankte sich artig bei Schmaißer für seine Zeit und sah zu,
dass er aus dem Gebäude herauskam.
*
Kurt war heilfroh, dass er das Taxi vorsichtshalber vor der Tür
hatte warten lassen. Die zwei Kilometer waren nicht weit zu laufen, aber jetzt war jede Minute kostbar. Er wollte versuchen,
auch ohne offizielle Erlaubnis in die psychiatrische Station zu
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kommen und mit der Messerstecherin zu reden. Je länger er für
den Weg brauchte, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass
Schmaißer erst den Staatsanwalt über den Besuch des Privatdetektivs informierte und dann dem Personal der Klinik Bescheid
gab, damit es auf einen großen Fremden mit Stoppelhaaren und
auffälliger Narbe achtete.
PSY 4 nannte sich die Station und gehörte laut Internet zur
Polyklinik. Das Gebäude lag in der Nähe eines kleinen Parks,
den der Taxifahrer als Friedenspark bezeichnete. Viel interessanter fand Kurt allerdings die Erwähnung eines Hotels Am Bayrischen Platz. Alleine der Name war schon einladend genug, und
außerdem sah die alte Stadtvilla im Vorbeifahren auch recht
sympathisch aus. Warum nicht mal ein wenig Luxus? Mit dem
Geld des Alten in der Tasche konnte er sich ruhig mal etwas Gutes tun. Aber das kam später; sein Chauffeur hielt an, sie hatten
die Psychiatrie erreicht.
Kurt verzichtete auf jeglichen Versuch, sich zu verkleiden. Als
er das Gebäude betrat, war auch sofort klar, dass er sich nicht
einfach irgendwie hineinschleichen konnte. Eine kräftige Frau
am Empfang sah ihm aufmerksam entgegen und machte ihm mit
ihrem Blick deutlich, dass niemand hier hereinspazieren würde,
ohne ihre Erlaubnis eingeholt zu haben.
Innerlich seufzend, aber mit einem freundlichen und hoffentlich unschuldigen Lächeln im Gesicht hielt er auf die Wächterin
zu.
„Wunderschönen guten Nachmittag, mein Name ist Sperling,
Doktor Sperling, und ich bin Psychiater. Sie haben hier eine Patientin, Annegret Freitaler, deren Familie mich gebeten hat, mich
ein wenig um sie zu kümmern. Verstehen Sie das bitte nicht als
Misstrauen Ihrer Einrichtung gegenüber, ich bin einfach nur ein
alter Freund der Familie und …“ Kurt unterbrach seinen Redefluss. Die Frau hinter dem Schalter brauchte die Frage noch
nicht mal laut auszusprechen: Für wie blöd hältst Du mich eigentlich? stand deutlich in ihrem Gesicht geschrieben.
„Herr Odensen, nehme ich an.“
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Kurt bekam unwillkürlich Durst, so trocken und spröde klang
diese Stimme.
„Vor etwa einer Minute habe ich den Hörer aufgelegt. Raten
Sie, wer mich angerufen hat!“
Er hatte das Gefühl, auf einen knappen Meter zusammenzuschrumpfen. „Herr Schmaißer?“
„Wie schön, ganz verblödet können Sie also doch nicht sein.
Aber offenbar haben Sie leichte Probleme mit der deutschen
Sprache. Daher bat der Herr Kriminalhauptkommissar mich, Ihnen noch mal in einfachen Worten zu erklären, was Sie vorhin
wohl nicht verstanden haben: Sie lassen Frau Freitaler in Ruhe.
Sie kommen nicht mal mehr in die Nähe dieses Gebäudes. Versuchen Sie es ein weiteres Mal, bekommen Sie Ärger mit ihm
und dem Staatsanwalt. Und mit mir.“
Die letzten drei Worte und der Blick, der sie begleitete, reichten ihm. Wortlos nickend drehte Kurt sich um und flüchtete aus
dem Haus. Verdammt noch mal, so einen Dragoner hätte er früher gerne bei so manchem Verhör dabeigehabt.
Er stieg ins Taxi und atmete erst mal tief durch. Himmel, er
konnte die ganzen fünf Stunden doch nicht umsonst gefahren
sein! Irgendwie musste er was aus der Verrückten herausbekommen, aber mit einem Schmierentheater á la Doktor Sperling
brauchte er es nicht noch einmal zu versuchen. Er hätte sich
selbst in den Hintern beißen können, einen so plumpen Frontalangriff versucht zu haben. Nun gut, erst mal ein ordentliches
Abendessen, anschließend eine Runde darüber schlafen, dann
fiel ihm vielleicht etwas Besseres ein.
*
Eine halbe Stunde später stand seine Reisetasche in einem Zimmer des Hotels, und Kurt schlenderte, etwas frischgemacht, aus
dem Haus, um einen kleinen Spaziergang zu machen. Ah, sieh
an, hier hatte sich also auch schon Marx einquartiert. Nicht
Friedl. Karl, der alte Kommunist. Als Gast von Liebknecht, soso.
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Kurt fand derartige historische Hinweise ungeheuer uninteressant, aber man las eben automatisch solche Tafeln, wenn sie
schon an der Hauswand hingen.
Beeindruckend fand er allerdings das große, vierbögige Tor,
das mitten auf einer Baustelle stand. Und was war auf diesem
Tor zu lesen? Sächsisch-Bayerische Staats-Eisenbahn. Er grinste
in sich hinein. Was es doch alles gab.
Am Bauzaun wiesen Schilder darauf hin, dass hier der City
Tunnel entstand; vier Kilometer lang sollte er vom Hauptbahnhof hierher führen. Na, da hatten sie ja was zu buddeln.
Interessante Bauwerke gab es hier ja schon, große Wohnblocks mit schönen, phantasievollen Mustern, irgendein Unigebäude mit einer elendig langen Zahl an der geschwungenen
Wand (Pi war es nicht, aber um welche Zahl es sich handelte,
konnte er nicht mal raten) und eine bunte Mischung aus alten
und modernen Bauten.
Unwillkürlich hatte er die Richtung zur PSY4 eingeschlagen.
Natürlich hatte die Pförtnerin etwas übertrieben damit, dass er
nicht mal mehr in die Nähe des Gebäudes kommen sollte. Niemand konnte ihm verbieten, an dem Haus vorbeizugehen. Zumindest nicht ohne Gerichtsbeschluss, und so weit würde er es
nicht kommen lassen. Außerdem gab es ja noch diesen hübschen, kleinen Park direkt gegenüber, und ein unschuldiger Spaziergang an der frischen Luft konnte doch keine Sünde sein!
*
Die Idee mit dem Park erwies sich leider als vollkommen nutzlos. Der Park war hübsch, keine Frage, wenn auch wesentlich
kleiner als der Englische Garten in München. Auch diese verspielte Kirche direkt der Klinik gegenüber sah nett aus. Nur, irgendwelche Beobachtungen, die ihm weiterhelfen konnten, waren von hier aus nicht zu machen. Man sah den Haupteingang
mit den beiden großen Rampen, die von der Straße aus hinaufführten, aber das war’s auch schon.
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Nun, dann also die Rückseite.
Hier sah es leider nicht besser aus. Hinter dem Gebäude zog
sich auf ganzer Länge eine Mauer an der Straße entlang. Darüberzuklettern wäre arg auffällig gewesen. Drei Tore führten
insgesamt auf den Hinterhof, zwei für Fahrzeuge, eines für Fußgänger, und alle verschlossen. Über die Tore der Zufahrten hätte
er zwar locker eine Flanke machen können, doch auch hier galt:
viel zu auffällig. Es musste also eine List her.
Er rief sich noch mal den Internetauftritt der psychiatrischen
Klinik ins Gedächtnis. Was hatte da gestanden? Die Station PSY
4 ist offen, kann jedoch als akut-psychiatrische Abteilung wahlweise geschlossen geführt werden.
Was das in der Praxis bedeutete, konnte er sich zwar nicht so
recht vorstellen, er wusste nur, dass er ganz persönlich hier Persona non grata war. Aber vollständig abgeriegelt sah der Laden
nun wirklich nicht aus, also sollte es ihm doch gelingen, irgendwie ins Haus an sich hineinzukommen. Wie, das musste er eben
herausfinden. Wenn das geschafft war, würde er weitersehen.
*
Der Knall war ohrenbetäubend. Kurt wurde nach hinten geschleudert und krachte mit dem Kreuz gegen den Wagen. Glühender Schmerz wütete in seinem Hals, überdeckte die Pein im
Rest des Körpers. Staub und Rauch nahmen ihm kurz die Sicht,
wurden dann vom Wind weggeweht. Ein alter Mann lag wenige
Meter entfernt am Boden. Sein Kopf hing nur noch an einem
Fetzen Haut, die schmutzige, zerrissene Kleidung saugte literweise Blut in sich auf, der Rest floss einfach in den Dreck.
Right said Fred, die beiden singenden Glatzköpfe aus England, dröhnten plötzlich über die Szene.
Irgendein Kerl mit Bart und Turban kam grinsend um die
Ecke. Er trug einen Ghettoblaster auf der Schulter. Komisch,
wunderte sich Kurt, diese Spinner hatten doch was gegen
Musik! Aber der hier tanzte nun fröhlich um den Toten herum,
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während I’m too sexy aus den Lautsprechern hallte.
Kurt betrachtete abwechselnd den Boden um die Leiche, der
sich von deren Blut rot färbte, und seinen Arm, an dem sein eigener Lebenssaft hinabrann. Verdammte Musik! Eigentlich
mochte er den Song, fand ihn witzig, doch jetzt nervte er einfach
nur. Konnte der Scheiß Spinner nicht endlich sein verfluchtes
Gerät ausschalten?
„Hauptmann!“ Jemand rüttelte ihn an der Schulter. „Hauptmann Odensen!“ Kurt ignorierte es. Er streckte den Arm aus,
versuchte, seine Pistole zu erreichen, um dem Turban-Kerl in
dessen eigener Sprache die Meinung zu geigen. Doch die Waffe
lag zu weit weg. Er wälzte sich mühsam herum und …
… tastete nach seinem Handy auf dem Nachttisch. Kurt
klappte es auf und drückte auf die Taste. Right said Fred verstummten. Die Uhr zeigte halb fünf Uhr morgens an. Er quälte
sich aus dem Bett, schlurfte ins Bad und warf sich erst mal ein
paar Hände voll kaltes Wasser ins Gesicht. Ein Blick in den Spiegel. Unweigerlich wanderte sein Blick hinab zum Hals.
*
Nur eine halbe Stunde später bezog Kurt Posten an der Rückseite des Klinikbaus. Ihn interessierten vor allem die Schichtwechsel.
Beinahe den ganzen Tag lang beobachtete er das Geschehen.
Lieferwagen von Lebensmittelhändlern und Wäschediensten kamen und fuhren wieder ab, Angestellte erschienen zur Arbeit
und verließen nach Schichtende das Gelände durch das hohe
Gitter des Personenzugangs. Hier irgendwo musste der
Schwachpunkt sein, die Gelegenheit, ins Gebäude zu kommen.
Am späten Nachmittag stand der Plan. Er war so einfach wie
irgend möglich gehalten, umso weniger konnte schiefgehen.
Auch die benötigte Ausrüstung hielt sich in Grenzen. Das Glück
war ihm hold, nur wenige hundert Meter entfernt konnte er alles Nötige erstehen. Nun hieß es, früh schlafen zu gehen, denn
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morgen würde er ebenso früh aufstehen müssen wie heute.
*
So kurz vor Sonnenaufgang herrschten noch überall Schatten
und Dunkelheit. In ihrem Schutz wartete Kurt auf seine Gelegenheit. Sie kam in Gestalt eines jungen Mannes die Straße
herab. Kurt kannte ihn schon von der gestrigen Observierung;
die lange, blonde Mähne war unverkennbar. Er schätze die Geschwindigkeit seiner Beute und trat rechtzeitig aus der Deckung,
um ebenfalls flott, aber nicht zu gehetzt, das Tor ansteuern zu
können.
„Morgen!“ Freundlich winkte Kurt dem Jungen entgegen.
Eine wunderbare Gelegenheit, die weiße Hose über dem Arm
und die ebenso weißen Clogs zu präsentieren, die er locker in
der Hand hielt. Er beschleunigte seinen Schritt. „Nehmen Sie
mich grad mit rein?“
Der Fremde hielt ihm das Gitter auf.
„Dankeschön.“ Kurt kuckte verlegen. „Mein erster Tag, ich
hab noch keine Karte.“
„Kein Problem. Die brauchen immer ein bisschen in der Verwaltung.“ Der Junge schob seine eigene Schlüsselkarte wieder
ein und sah den angeblichen neuen Kollegen neugierig an. „Erster Tag also, ja? Na, dann mal willkommen in der Klapse.“ Er
streckte Kurt die Hand hin. „Martin. Martin Weiz.“
„Franz.“ Kurt schlug ein. „Nett, Sie kennenzulernen.“
„Sag du! Bei uns werden nur die Ärzte gesiezt, und du bist
doch keiner, oder?“
Kurt schüttelte lachend den Kopf. „Sicher nicht, nein. Die
Verantwortung als Pfleger langt mir völlig, und für die Uni hab
ich eh nicht das Hirn. Zu viel Auswendiglernen.“
„Aber dafür hast du Durchsetzungsvermögen, was?“ Martin
klopfte ihm anerkennend auf den eindrucksvollen Bizeps.
„Sollst du dich um die schwierigen Fälle kümmern? Da wären
wir ganz froh, jemanden wie dich dabeizuhaben. Manchmal geht
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mir schon ganz schön die Muffe, wenn einer austickt.“
Kurt zuckte die Schultern. „Kann schon sein, dass ich euch öfter mal bei sowas zur Seite stehen soll. Ich kenn das ja, manche
haben einfach keine Kontrolle mehr über sich. Da kann man
schon Angst kriegen.“ Er beschloss, ein wenig auf Risiko zu spielen. „Hier soll ja auch so eine irre Messerstecherin sein, oder? Ist
die arg gefährlich?“
Martin lachte. „Die nette Omi? Nee, die ist völlig harmlos.
Keine Ahnung, wie die auf die Schnapsidee gekommen ist, auf
den Typ loszugehen. Der traut man so was gar nicht zu.“
Über das Gespräch hatten sie den Hintereingang des Gebäudes erreicht, der Pfleger zog wieder seine Karte hervor und hielt
sie an das Lesegerät. Klickend öffnete sich die Tür. Damit war
der einfache Teil geschafft, ab jetzt musste Kurt höllisch aufpassen. Doch etwas musste er noch wissen.
„Aber eingesperrt ist sie schon, oder?“
„Eingesperrt? Nee. Die Annegret hat von Anfang an gestanden
und sich nicht einmal beschwert, dass sie hier ist. Die nimmt alles einfach hin, was mit ihr passiert. Seit ein paar Wochen darf
sie sich auch im kompletten ersten Stock frei bewegen. Nur ganz
raus lassen sie sie halt nicht.“
Kurt traute seinen Ohren kaum. Nicht nur, dass er nun das
Stockwerk kannte, er musste anscheinend nicht einmal mit verschlossenen Türen oder gar Bewachern rechnen. Konnte es
noch besser laufen?
„Du, äh, geh schon mal weiter, ich muss jetzt erst mal flott
woanders hin.“ Ein verlegenes Lächeln machte klar, was mit woanders gemeint war. „Wir sehen uns dann später sicher noch,
ja?“
Ah, und da war auch schon eine Toilette. Kurt hob die Hand
zum Gruß, verschwand darin und atmete tief durch. Puh, so
weit, so gut. Wie wusste doch schon Asterix, der Held seiner
Kindheit? Frechheit siegt. Manchmal waren die einfachsten
Tricks immer noch die besten.
Schnell waren Hose und Schuhe gewechselt und die Straßen38
kleidung in einer Stofftasche verpackt. Nur eine Tür weiter fand
er eine Putzkammer und stopfte die Tasche hinter ein paar Kisten mit Papierhandtüchern. Hoffentlich würde er Gelegenheit
haben, sie wieder abzuholen.
Er kehrte in die Toilette zurück und schloss sich wieder ein.
Sechs Uhr morgens, das war zu früh, um auf die Suche nach der
Attentäterin zu gehen. Er würde warten müssen, bis etwas mehr
Betrieb herrschte und sein Zielobjekt wach und zumindest ausreichend angezogen war, um Besuch zu empfangen. Wenn er
denn zu ihr gelangte. Bis dahin hatte er noch reichlich Zeit, sich
ihr Gesicht genau einzuprägen. Er zog das Photo, das Marx ihm
gegeben hatte, aus der Tasche und setzte sich auf den Klodeckel.
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Interludium
„Das war verdammt knapp, das ist Ihnen schon klar?“
„Aber ja. Dumm gelaufen. Aber es hätte schlimmer kommen
können.“
„Dumm gelaufen?“ Der Mann beliebte zu untertreiben. „Sie
sind gut! Sie haben es ja auch nicht abbekommen!“
Sein Gegenüber nickte teilnahmsvoll. „Sicher, sicher, ich verstehe Sie ja. Ich wäre an Ihrer Stelle auch wütend. Andererseits
hat uns dieser teilweise Fehlschlag auch in die Hände gespielt.
Ein Verletzter, auch wenn er dabei noch Glück hatte, ist noch
viel medienwirksamer. Vergessen Sie im Übrigen nicht, es war
auch Ihre Schuld.“
„Glück!“ Er schnaubte. „Na, vielen Dank auch.“
Das Ärgerliche war, der Andere hatte Recht. Die Schlagzeilen
waren wirklich gut gewesen. Ob sie allerdings das wert gewesen
waren, die Frage stand auf einem anderen Blatt. Und ja doch,
natürlich war es auch seine eigene Schuld gewesen. Was die Wut
eher noch vergrößerte.
„Ich hoffe, Ihr neuer Plan ist etwas besser durchdacht.“
Sein Besucher erhob sich aus dem Sessel. Immer wieder beeindruckend, diese Statur. Zu so einem Mann musste man aufsehen. Obwohl der Hausherr ihn gerade ziemlich harsch angegangen war, behielt er doch die Contenance. Auch das rang einem
Respekt ab.
„Gewiss ist er das. Ich habe bereits das passende Subjekt gefunden und bin mit ihm in Kontakt getreten. Diese Person ist genau das, was wir suchen. Ihre Mitarbeit, mein Lieber, wird sich
dieses Mal auf einen kleinen Botendienst beschränken. Ach, und
wir müssen der bewussten Person natürlich Gelegenheit ver40
schaffen, hineinzukommen. Aber auch dazu habe ich schon eine
Idee.“
Er hörte aufmerksam zu. Ja, das konnte klappen. Natürlich
bedeutete es ein weiteres Risiko, doch das musste er nun einmal
eingehen, wenn sie Erfolg haben wollten.
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