52 SPEZIAL MITTELSTAND Ab in die Wolke : Kleine und mittlere Unternehmen nutzen zunehmend Software, auf die sie direkt via Internet zugreifen – und profitieren. W ären sie nicht in die Wolke abgetaucht, Sachin Kumar und Stefan Sarfert hätten es wohl nie geschafft: die Entwicklung von Bikewash, einer neuartigen Fahrradwaschanlage. Sie reinigt mit rotierenden Minirundbürsten ein Fahrrad in drei Minuten, ist dank vier Rollen mobil einsetzbar und eignet sich für Fahrradhändler, -werkstätten und -verleiher. 600 Kilometer wohnen die beiden auseinander, der Kölner Ingenieur Kumar und sein Münchner Freund Sarfert. Mehr als 140 Einzelteile mussten sie beschaffen und über 110 Lieferanten rund um den Globus einbeziehen. Das Edelstahlgehäuse der Anlage etwa wird in Indien gefertigt. „Eine internetbasierte kaufmännische Software war daher für uns alternativlos“, sagt Kumar. Statt das Computerprogramm auf dem eigenen Rechner im Büro zu haben, kann er von überall auf der Welt und mit jedem seiner Geräte auf alle wichtigen Daten der Anlage sowie auf die Lieferanten zugreifen. Cloud Computing heißt die Dienstleistung von IT-Firmen, die Software anbieten und vermieten, die über das Internet abrufbar ist. Trauten sich anfangs nur Konzerne, den Service anzunehmen, springen nun auch kleine und mittelgroße Unternehmen darauf an. Von den neun Milliarden Euro, die für Cloud Computing in Deutschland ausgegeben werden, kommen in diesem Jahr 23 Prozent von Firmen mit bis zu 19 Mitarbeitern und weitere 23 Prozent von solchen mit mit 20 bis 99 Beschäftigten, fand die Marktforschungsfirma Experton in Kassel heraus. „Und das ist noch lange nicht das Ende. Der gesamte Softwaremarkt befindet sich im Wandel“, sagt Heiko Henkes, Analyst bei Ex- INHALT 52 Cloud Computing Auch kleinere Firmen nutzen Software aus der Wolke 56 Social Media So funktioniert die Umsatzsteigerung mit Facebook und Co. 57 IT-Sicherheit Wie sich Mittelständler vor Internetattacken schützen können 60 Mittelstands-Lieblinge Die besten Dienstleister für kleine Unternehmen perton. Im kommenden Jahr rechnet er mit dem Durchbruch von Cloud Computing auf allen betrieblichen Ebenen. Nach einer Untersuchung des IT- und Telekommunikationsverbandes Bitkom und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG nutzen inzwischen 44 Prozent der deutschen Unternehmen die Cloud. Zäsur durch EU-Gerichtsurteil Bikewash-Erfinder Kumar etwa betreibt die gesamte Finanzbuchhaltung, Lagerverwaltung und Produktionsplanung sowie das Auftrags- und Kundenmanagement über die Cloud. Mit nur vier Klicks hat er etwa ein Angebot gefertigt, egal, wo er gerade ist. Das System von Hersteller Exact stellt Stücklisten zusammen und veranlasst automatisch die Bestellung beim Lieferanten. Steuerrechtliche Aktualisierungen und Updates gibt es automatisch. Das kostet 189 Euro im Monat bei monatlicher Kündigungsfrist. Binnen weniger Minuten kann er neue Mitarbeiter zuschalten. Eine im Unternehmensrechner fest installierte Software kann das niemals. Vor allem Newcomer, die keine alten Computerprogramme mitschleppen, setzen vom Start weg auf IT aus der Cloud, zu Deutsch: Wolke. Die 2010 gegründete Tullius Walden WirtschaftsWoche 50/4.12.2015 © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. ILLUSTRATION: CARLO GIAMBERRESI CLOUD COMPUTING SPEZIAL MITTELSTAND Bank AG etwa bedient sich nur noch der Software aus dem Internet. Das Wertpapierhandelsinstitut mit seinen rund 30 Mitarbeitern belässt nur noch Marktdatenanalysen auf den hauseigenen Rechnern. „Kernbankensystem zur Verwaltung von Konten, Risikomanagement, Rechnungs- und Meldewesen, alles befindet sich in einer einheitlichen Cloud-Datenbasis, die komplette Produktionsstrecke sozusagen“, sagt IT-Chef Oliver Schoch. „Wir haben keine eigenen Server mehr, durch die Cloud sparen wir 50 Prozent unserer IT-Betriebskosten.“ Eine Zäsur für das Cloud Computing war das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von Anfang Oktober, welches das sogenannte Safe-Harbor-Abkommen der EU mit den USA für ungültig erklärte. Das Abkommen unterstellte, dass die USA sicherer Aufenthaltsort für Daten seien. Diese Einschätzung teilten die EuGH-Richter nach den Enthüllungen des ehemaligen Mitarbeiters des US-Geheimdienstes Edward Snowden nicht. kanischer Cloud-Anbieter mit deutschen Unternehmen in Europa von der Konzernmutter in den USA getrennt ist: „Wenn die amerikanische Obergesellschaft tatsächlich keinen Zugriff auf die Daten hat, kann sie diese auch nicht an US-Behörden weitergeben.“ Angst vor Abhängigkeit Weshalb deutsche Unternehmen bei der Einführung von Cloud Computing zögern (in Prozent der Befragten)1 Mögliche Abhängigkeit vom Cloud-Anbieter Einhaltung rechtlicher und interner Richtlinien Schwierigkeit, geeignetes Cloud-Produkt auszuwählen Beachtung aller vertraglichen Aspekte 58 49 47 37 Keine 8 Sonstiges 8 Mehrfachnennungen; Quelle: DsiN Cloud-Scout Report 2015 1 Verträge mit Schutzklauseln Die Tullius Walden Bank musste deshalb die Finanzaufsicht BaFin überzeugen, dass sie das Urteil berücksichtige. Denn die Stuttgarter bedienen sich des amerikanischen Onlinehändlers und Cloud-Anbieters Amazon. Allerdings unterhält der inzwischen auch Rechenzentren in Deutschland. Und ausschließlich über die liefen die Daten der Tullius Walden Bank, sagt IT-Chef Schoch. „Wir sind strikt nach geltenden Outsourcing-Richtlinien vorgegangen, und selbstverständlich hat die BaFin ihr Okay gegeben.“ Für Rechtsanwalt Tim Wybitul, Partner der Kanzlei Hogan Lovells am Standort Frankfurt, kommt es darauf an, dass das Geschäft ameri- Kleine Firmen, großes Interesse Ausgaben deutscher Unternehmen für Cloud Computing nach Zahl der Beschäftigten (2015 in Prozent) über 5000 Mitarbeiter 23 24 1000–4999 Mitarbeiter 15 1–19 Mitarbeiter Gesamtumsatz: 9,1 Mrd. € 100–999 Mitarbeiter Quelle: Experton Group 23 15 20–99 Mitarbeiter Erste US-IT-Firmen bieten Unternehmen bereits an, Verträge über Datenverarbeitung mit EU-Klauseln abzuschließen. Diese schließen aus, Daten in ein Land außerhalb der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zu übertragen, zu dem auch Island, Norwegen und Liechtenstein gehören. „Wenn die Daten tatsächlich in der EU oder dem EWR bleiben, reicht das nach deutschem Recht“, sagt IT-Rechtsexperte Wybitul. Mittelständische Kunden sollten deshalb ihre Verträge mit US-Firmen auf eine derartige Klausel hin prüfen. Zu den Cloud-Anbietern, die sich von der neuen Rechtssprechung des EuGH bessere Geschäfte vor allem mit Mittelständlern versprechen und die mit made in Germany werben, gehört die Deutsche Telekom. Von ihr bezieht zum Beispiel Logcom in Herzogenrath bei Aachen Microsoft-Bürosoftware. Das Start-up bietet digitalisierte Lagerlogistik an. „Dieser Markt wächst massiv, daran möchten wir teilhaben, uns aber auf unsere Kernprozesse konzentrieren können und keine kostbare Zeit mit der Pflege der IT vergeuden“, sagt Firmenchef Dirk Franke. Auf den eigenen Rechnern speichert Logcom nur hoch vertrauliche und sensible Daten wie den Quellcode für seine Software. Alle anderen Daten gehen in die Cloud. „Wir benötigen fast gar keine eigene Hardware mehr“, sagt Logcom-Chef Franke. Noch immer gibt es Unternehmen, die aus grundsätzlichen Überlegungen nicht in die Cloud gehen wollen. Sie sorgen sich, auf diese Weise die Kontrolle über ihre Daten zu verlieren. Doch die Vorbehalte schwinden. Das illustriert etwa der Fall der Firma Keramischer Ofenbau aus Hildesheim. Als das Unternehmen eine neue betriebswirtschaftliche Software einführen musste, plädierte Prokurist Robin Stiller für Tabula rasa und das entsprechende Microsoft-Paket aus der Cloud. Am Ende überzeugte er seine zuvor noch sehr reservierten Chefs. Viel Überzeugungsarbeit Vertriebsmitarbeiter gehen deshalb heute mit dem Tablet-PC zu den Kunden. Projektleiter machen Produktions- und Budgetplanung mobil, ebenso Stücklisten. Selbst einfache Prozesse wie die Urlaubsplanung liefen nun wesentlich schneller ab, sagt Prokurist Stiller. „Wir mussten viel Überzeugungsarbeit bei der Geschäftsführung leisten“, erinnert er sich. „Die Cloud ist wie eine Brücke, die man Richtung moderne IT überqueren muss. Uns war gar nicht bewusst, wie kompliziert wir vorher aufgestellt waren.“ n sven hansel | [email protected] WirtschaftsWoche 50/4.12.2015 © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. ILLUSTRATION: CARLO GIAMBERRESI 54
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