Ab in die Wolke

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SPEZIAL MITTELSTAND
Ab in die Wolke
: Kleine und mittlere Unternehmen
nutzen zunehmend Software, auf die
sie direkt via Internet zugreifen – und
profitieren.
W
ären sie nicht in die Wolke abgetaucht, Sachin Kumar und Stefan
Sarfert hätten es wohl nie geschafft: die Entwicklung von Bikewash, einer neuartigen Fahrradwaschanlage. Sie reinigt mit rotierenden Minirundbürsten ein
Fahrrad in drei Minuten, ist dank vier Rollen
mobil einsetzbar und eignet sich für Fahrradhändler, -werkstätten und -verleiher.
600 Kilometer wohnen die beiden auseinander, der Kölner Ingenieur Kumar und sein
Münchner Freund Sarfert. Mehr als 140 Einzelteile mussten sie beschaffen und über 110
Lieferanten rund um den Globus einbeziehen. Das Edelstahlgehäuse der Anlage etwa
wird in Indien gefertigt. „Eine internetbasierte kaufmännische Software war daher
für uns alternativlos“, sagt Kumar. Statt das
Computerprogramm auf dem eigenen Rechner im Büro zu haben, kann er von überall
auf der Welt und mit jedem seiner Geräte
auf alle wichtigen Daten der Anlage sowie
auf die Lieferanten zugreifen.
Cloud Computing heißt die Dienstleistung
von IT-Firmen, die Software anbieten und
vermieten, die über das Internet abrufbar
ist. Trauten sich anfangs nur Konzerne, den
Service anzunehmen, springen nun auch
kleine und mittelgroße Unternehmen darauf an. Von den neun Milliarden Euro, die
für Cloud Computing in Deutschland ausgegeben werden, kommen in diesem Jahr 23
Prozent von Firmen mit bis zu 19 Mitarbeitern und weitere 23 Prozent von solchen mit
mit 20 bis 99 Beschäftigten, fand die Marktforschungsfirma Experton in Kassel heraus.
„Und das ist noch lange nicht das Ende. Der
gesamte Softwaremarkt befindet sich im
Wandel“, sagt Heiko Henkes, Analyst bei Ex-
INHALT
52 Cloud Computing Auch kleinere
Firmen nutzen Software aus der Wolke
56 Social Media So funktioniert die Umsatzsteigerung mit Facebook und Co.
57 IT-Sicherheit Wie sich Mittelständler
vor Internetattacken schützen können
60 Mittelstands-Lieblinge Die besten
Dienstleister für kleine Unternehmen
perton. Im kommenden Jahr rechnet er mit
dem Durchbruch von Cloud Computing auf
allen betrieblichen Ebenen. Nach einer Untersuchung des IT- und Telekommunikationsverbandes Bitkom und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG nutzen inzwischen 44 Prozent der deutschen Unternehmen die Cloud.
Zäsur durch EU-Gerichtsurteil
Bikewash-Erfinder Kumar etwa betreibt die
gesamte Finanzbuchhaltung, Lagerverwaltung und Produktionsplanung sowie das Auftrags- und Kundenmanagement über die
Cloud. Mit nur vier Klicks hat er etwa ein Angebot gefertigt, egal, wo er gerade ist. Das
System von Hersteller Exact stellt Stücklisten
zusammen und veranlasst automatisch die
Bestellung beim Lieferanten. Steuerrechtliche Aktualisierungen und Updates gibt es automatisch. Das kostet 189 Euro im Monat bei
monatlicher Kündigungsfrist. Binnen weniger Minuten kann er neue Mitarbeiter zuschalten. Eine im Unternehmensrechner fest
installierte Software kann das niemals.
Vor allem Newcomer, die keine alten Computerprogramme mitschleppen, setzen vom
Start weg auf IT aus der Cloud, zu Deutsch:
Wolke. Die 2010 gegründete Tullius Walden
WirtschaftsWoche 50/4.12.2015
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ILLUSTRATION: CARLO GIAMBERRESI
CLOUD COMPUTING
SPEZIAL MITTELSTAND
Bank AG etwa bedient sich nur noch der
Software aus dem Internet. Das Wertpapierhandelsinstitut mit seinen rund 30 Mitarbeitern belässt nur noch Marktdatenanalysen
auf den hauseigenen Rechnern. „Kernbankensystem zur Verwaltung von Konten, Risikomanagement, Rechnungs- und Meldewesen, alles befindet sich in einer einheitlichen
Cloud-Datenbasis, die komplette Produktionsstrecke sozusagen“, sagt IT-Chef Oliver
Schoch. „Wir haben keine eigenen Server
mehr, durch die Cloud sparen wir 50 Prozent unserer IT-Betriebskosten.“
Eine Zäsur für das Cloud Computing war
das Urteil des Europäischen Gerichtshofs
(EuGH) von Anfang Oktober, welches das
sogenannte Safe-Harbor-Abkommen der
EU mit den USA für ungültig erklärte. Das
Abkommen unterstellte, dass die USA sicherer Aufenthaltsort für Daten seien. Diese
Einschätzung teilten die EuGH-Richter
nach den Enthüllungen des ehemaligen Mitarbeiters des US-Geheimdienstes Edward
Snowden nicht.
kanischer Cloud-Anbieter mit deutschen Unternehmen in Europa von der Konzernmutter
in den USA getrennt ist: „Wenn die amerikanische Obergesellschaft tatsächlich keinen Zugriff auf die Daten hat, kann sie diese auch
nicht an US-Behörden weitergeben.“
Angst vor Abhängigkeit
Weshalb deutsche Unternehmen bei der
Einführung von Cloud Computing zögern
(in Prozent der Befragten)1
Mögliche Abhängigkeit
vom Cloud-Anbieter
Einhaltung rechtlicher
und interner Richtlinien
Schwierigkeit, geeignetes
Cloud-Produkt auszuwählen
Beachtung aller
vertraglichen Aspekte
58
49
47
37
Keine
8
Sonstiges
8
Mehrfachnennungen;
Quelle: DsiN Cloud-Scout Report 2015
1
Verträge mit Schutzklauseln
Die Tullius Walden Bank musste deshalb
die Finanzaufsicht BaFin überzeugen, dass
sie das Urteil berücksichtige. Denn die
Stuttgarter bedienen sich des amerikanischen Onlinehändlers und Cloud-Anbieters
Amazon. Allerdings unterhält der inzwischen auch Rechenzentren in Deutschland.
Und ausschließlich über die liefen die Daten der Tullius Walden Bank, sagt IT-Chef
Schoch. „Wir sind strikt nach geltenden
Outsourcing-Richtlinien vorgegangen, und
selbstverständlich hat die BaFin ihr Okay
gegeben.“
Für Rechtsanwalt Tim Wybitul, Partner der
Kanzlei Hogan Lovells am Standort Frankfurt,
kommt es darauf an, dass das Geschäft ameri-
Kleine Firmen, großes Interesse
Ausgaben deutscher Unternehmen
für Cloud Computing nach Zahl der
Beschäftigten (2015 in Prozent)
über 5000
Mitarbeiter
23
24
1000–4999
Mitarbeiter
15
1–19
Mitarbeiter
Gesamtumsatz:
9,1 Mrd. €
100–999
Mitarbeiter
Quelle: Experton Group
23
15
20–99
Mitarbeiter
Erste US-IT-Firmen bieten Unternehmen
bereits an, Verträge über Datenverarbeitung
mit EU-Klauseln abzuschließen. Diese
schließen aus, Daten in ein Land außerhalb
der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zu übertragen, zu dem auch
Island, Norwegen und Liechtenstein gehören. „Wenn die Daten tatsächlich in der EU
oder dem EWR bleiben, reicht das nach
deutschem Recht“, sagt IT-Rechtsexperte
Wybitul. Mittelständische Kunden sollten
deshalb ihre Verträge mit US-Firmen auf eine derartige Klausel hin prüfen.
Zu den Cloud-Anbietern, die sich von der
neuen Rechtssprechung des EuGH bessere
Geschäfte vor allem mit Mittelständlern versprechen und die mit made in Germany werben, gehört die Deutsche Telekom. Von ihr
bezieht zum Beispiel Logcom in Herzogenrath bei Aachen Microsoft-Bürosoftware.
Das Start-up bietet digitalisierte Lagerlogistik an. „Dieser Markt wächst massiv, daran
möchten wir teilhaben, uns aber auf unsere
Kernprozesse konzentrieren können und
keine kostbare Zeit mit der Pflege der IT
vergeuden“, sagt Firmenchef Dirk Franke.
Auf den eigenen Rechnern speichert Logcom nur hoch vertrauliche und sensible Daten wie den Quellcode für seine Software.
Alle anderen Daten gehen in die Cloud. „Wir
benötigen fast gar keine eigene Hardware
mehr“, sagt Logcom-Chef Franke.
Noch immer gibt es Unternehmen, die aus
grundsätzlichen Überlegungen nicht in die
Cloud gehen wollen. Sie sorgen sich, auf diese Weise die Kontrolle über ihre Daten zu
verlieren. Doch die Vorbehalte schwinden.
Das illustriert etwa der Fall der Firma Keramischer Ofenbau aus Hildesheim. Als das
Unternehmen eine neue betriebswirtschaftliche Software einführen musste, plädierte
Prokurist Robin Stiller für Tabula rasa und
das entsprechende Microsoft-Paket aus der
Cloud. Am Ende überzeugte er seine zuvor
noch sehr reservierten Chefs.
Viel Überzeugungsarbeit
Vertriebsmitarbeiter gehen deshalb heute
mit dem Tablet-PC zu den Kunden. Projektleiter machen Produktions- und Budgetplanung mobil, ebenso Stücklisten. Selbst einfache Prozesse wie die Urlaubsplanung liefen
nun wesentlich schneller ab, sagt Prokurist
Stiller. „Wir mussten viel Überzeugungsarbeit bei der Geschäftsführung leisten“, erinnert er sich. „Die Cloud ist wie eine Brücke,
die man Richtung moderne IT überqueren
muss. Uns war gar nicht bewusst, wie kompliziert wir vorher aufgestellt waren.“
n
sven hansel | [email protected]
WirtschaftsWoche 50/4.12.2015
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ILLUSTRATION: CARLO GIAMBERRESI
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