Leseprobe - Frankfurter Verlagsanstalt

 Leseprobe
Jean-Philippe Toussaint
Fußball
Mehr Infos: www.frankfurter-verlagsanstalt.de
JEAN-PHILIPPE TOUSSAINT
FUSSBALL
Aus dem Französischen von Joachim Unseld
„EIN BUCH, WIE ES NOCH NIE ÜBER DEN FUSSBALL GESCHRIEBEN WURDE –
VON EINEM DER WICHTIGSTEN AUTOREN FRANZÖSISCHER SPRACHE.“
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Jean-Philippe Toussaint hat ein besonderes
Buch über Fußball geschrieben, eine Liebeserklärung, ein Staunen über das Einmalige und Faszinierende dieser Sportart, eine
Hommage an die Stadien, an die Leidenschaft der Zuschauer, die unvergänglichen
Farben der Nationaltrikots und an das absolute Grün des Rasens im hellen Schein
des Flutlichts. Es ist ein Buch über das, was
Fußball auslöst, ob im Kind oder Erwachsenen, verlorengegangene Empfindungen
und vergrabene Erinnerungen werden wachgerufen. Meisterhaft versteht sich Toussaint
in seinen kurzen Geschichten vom Fußball
auf die Details der Details und zeigt dabei
jene äußeres Unheil abwendende, wundervolle Wirkung des Fußballspiels im Moment
des Betrachtens.
Der Schriftsteller erzählt in einem zweiten
Teil von fünf Fußball-Weltmeisterschaften
und wie lebensnahe, dem Autor eigentlich
wesensfremde Bilder sich mit seinen Romanwelten überlagern und in die poetische,
zerbrechliche Allgegenwart der Literatur eindringen. So ist Fußball eine wunderbare autobiographisch-philosophische Abschweifung,
die Liebeserklärung eines Intellektuellen an
eine der wenigen Leidenschaften, die neben
der Literatur Bestand hat. „Dieses Buch wird
niemandem gefallen, den Intellektuellen nicht, die
sich nicht für Fußball interessieren, den Fußballliebhabern nicht, die es zu intellektuell finden werden. Aber ich musste es schreiben, ich wollte nicht
den zarten Faden zerreißen, der mich noch mit der
Welt verbindet.“
„PROUST IM STADION.“
Libération
Foto © Joachim Unseld
„NÄCHSTER NOBELPREIS BITTE AN
TOUSSAINT.“
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Jean-Philippe Toussaint, geboren 1957, ist Schriftsteller,
Drehbuchautor, Regisseur und Fotograf. Er lebt in Brüssel
und auf Korsika. Seine Marie-Tetralogie, die Romane
Sich lieben (2003), Fliehen (2007), Die Wahrheit über Marie
(2010) und Nackt (2014), mit denen Toussaint jeweils
auf der Shortlist für den Prix Goncourt stand, erschienen wie alle Bücher Jean-Philippe Toussaints in der
Frankfurter Verlagsanstalt. Für Fußball wurde er mit dem
Grand Prix Sport & Littérature 2015 ausgezeichnet.
www.frankfurter-verlagsanstalt.de
„UNVERGLEICHLICH! BILDER VOM FUSSBALL, DIE VON DER BEGEISTERUNG DER
KINDHEIT, SEINER BESCHWÖRUNGSMACHT UND SEINER FRAGILEN KLARHEIT
ERZÄHLEN. EIN FEST FÜR DIE LITERATUR.“ Le Monde
Große Lesereise 12.5.–28.5.2016, 23.5. Literaturhaus Frankfurt, 24.5. Literaturhaus Graz
Lesungen mit Jean-Philippe Toussaint können über den Verlag vereinbart werden.
Jean-Philippe Toussaint
Fussball
Aus dem Französischen
von Joachim Unseld
Etwa 128 Seiten
Schön gebunden
Farbiges Vorsatzpapier
Ca. € 17,90/€ 18,50 (A)
ISBN 978-3-627-00227-5
Erscheint Anfang März 2016
JEAN-PHILIPPE TOUSSAINT
Jean-Philippe Toussaint
FUSSBALL
FUSSBALL
Aus dem Französischen von Joachim Unseld
Aus dem Französischen
von Joachim Unseld
Dieses Buch wird niemandem gefallen,
den Intellektuellen nicht, die sich nicht
für Fußball interessieren, den Fußballliebhabern
nicht, die es zu intellektuell finden werden.
Aber ich musste es schreiben, ich wollte nicht
den zarten Faden zerreißen, der mich noch
mit der Welt verbindet.
1998
Diese Geschichte beginnt im Jahr 1998, mit der
Jahreszahl, die mir plötzlich wie in weite Ferne
gerückt scheint, versunken in der Vergangenheit und bereits tief vergraben in dem zu Ende
gegangenen 20. Jahrhundert, das künftigen Generationen wie ein anderes Zeitalter vorkommen
wird. Es ist eine ausgesprochen alberne Ziffer,
1998, mit dieser Eins und dieser Neun am Beginn des Datums, das unseren heutigen Augen
bereits verfallen anmutet, als ob dieses 1998, das
uns noch so nah, so eng verbunden mit unseren
Leben ist, mit unserer Zeit, unserem Fleisch und
unserer Geschichte, unseren Küssen und unseren Sorgen, fatalerweise den Rand des vorigen
Jahrhunderts angeknabbert und versehentlich
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den Fuß in die Vergangenheit gesetzt hätte. Wir
können nichts dafür, sind aber bloßgestellt durch
diese Vergangenheit, vor der wir Abstand hätten wahren wollen. Wir wissen instinktiv, dass
der Vergangenheit, wenn wir auf alten Fotografien oder Archivbildern auf sie stoßen, immer etwas Linkisches, Rührendes, ja sogar Lächerliches
innewohnt, während die Gegenwart – obwohl
sie nichts anderes als deren genaue Antizipation darstellt – als ernst, verlässlich und respektabel gilt. Aber gerade im Jahr 1998 beginnt diese Geschichte. Mein Sohn Jean war neun Jahre
alt, meine Tochter Anna vier. Es war 1998, um
genau zu sein, am 10. Juni 1998, dass ich das
erste Mal in meinem Leben in ein Fußballstadion ging, um mir ein Spiel der Fußball-Weltmeisterschaft anzusehen. Die Jahreszahlen der
darauffolgenden Weltmeisterschaften – 2002,
2006, 2010, 2014 – sind allesamt Daten, die man
als Synonyme von 1998 bezeichnen könnte, aber
sie sind bedeutungsverschieden, entziehen sich
dem Verwelkten, Veralteten und Bizarren dieser
Eins und Neun, die sie gleichsam wie Brandmale
kennzeichnen, wie die Lilie auf der Schulter von
Milady de Winter, und sie unwiderruflich in die
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Vergangenheit einschreiben. Ja, 1998 ist ein seltsam aus der Mode gekommenes, ein schlecht gealtertes Datum, »zu Lebzeiten abgelaufen«, um
einen Ausdruck aus einem meiner Romane zu
verwenden, ein Datum, »das das Leben schnell
mit seiner Patina überziehen würde, denn wie ein
schleichendes Gift barg es schon den Keim des
eigenen Verschwindens und der endgültigen Auslöschung in diesem umfassenden Lauf der Zeit
in sich.«
Entzücken
Der Fußball ist, wie nach Leonardo da Vinci die
Malerei, eine cosa mentale, er lässt sich in der Vorstellungswelt begreifen und schätzen. Das Wesen
des vom Fußball hervorgerufenen Entzückens
rührt aus den Fantasien von Triumph und Allmacht, die er in unserem Geist erzeugt. Gleich
welchen Alters oder welcher körperlichen Konstitution, sobald ich die Augen schließe, bin ich der
Stürmerstar, der das Siegtor schießt, oder der
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Torhüter, der sich in Zeitlupe in den Äther wirft,
um den spielentscheidenden Ball zu halten. Als
Kind habe ich die unglaublichsten Treffer erzielt
(na gut, in meinem tiefsten Inneren). Die Arme,
die ich dann im leeren Wohnzimmer meiner
Eltern jubelnd gen Himmel reckte, gehörten
ebenso zum Ritual und zur Feier wie das eigentliche Tor, das ich soeben geschossen hatte. Gerade
dieses Zelebrieren – die Gratulationen, das Hinknien auf dem Rasen, die Mitspieler, die sich auf
mich werfen und umringen, mich umarmen,
mich feiern und hochleben lassen – genieße ich
am meisten, mehr als die Aktion selbst, es ist dieser Triumph der Selbstverliebtheit, der mir das
Hochgefühl bringt, und keinesfalls die Tatsache,
dass sich das eines Tages wirklich ereignen könnte, dass ich selbst eines Tages ebenso traumhaft
sicher mit dem Fuß einen Ball kontrollieren
könnte, um ihn kaltblütig und meisterlich in
einem richtigen Stadion, angesichts wirklicher
Gegner, auf echtem Rasen mit einem harten
Schuss aus fünfundzwanzig Metern in das obere
Eck des gegnerischen Tores zu hämmern, trotz
der verzweifelten Parade des Torhüters, der
schicksalhaft in der Luft am Ball vorbeifl iegt.
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Das ist sicherlich eine verführerische Vorstellung,
aber ich habe im Leben andere Ambitionen, als
geschickt mit dem Fuß zu sein. Für mich zählt da
eher die Hand, und das nicht nur in der Kunst.
Die Wirklichkeit ist fast immer enttäuschend,
das wird Ihnen nicht entgangen sein. Mit dreizehn war es dann vorbei, meine Fußballerkarriere
war beendet. Meine letzten Träume vom Ruhm
stammen aus dem Frühjahr 1970, das war in
Brüssel in der Wohnung in der Rue Jules-Lejeune.
Meine Eltern hatten mir gerade eröffnet, dass wir
nach Paris ziehen würden, und ich betrachtete
traurig den Türrahmen, der das Wohnzimmer
vom Speisezimmer trennte und mir als Tor für
meine imaginierten Schüsse und zur Schaffung
meiner letzten Momente fußballerischen Ruhms
gedient hatte. Eine Epoche ging zu Ende. Die
Wirklichkeit für mich war jetzt diese unbekannte
Zukunft in Paris, der Schulbeginn 1970, mit dem
ich in die achte Klasse kommen würde als Internatsschüler einer Oberschule in Maisons-Laffitte.
Das bedeutete Entwurzelung, Ende der Kindheit
und der glücklichen Stunden in Brüssel. Schluss
mit meinen schönsten Jahren. Auf die Kindheit
folgt immer die Jugend, und das Leben lässt in
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der Wirklichkeit nicht mit sich reden, der Ball,
auch wenn er rund ist, ist widerspenstig und geht
wunderliche Wege, er widersetzt sich, ärgert uns,
verrät und demütigt uns.
Fußballstadien
Ich gehe nicht regelmäßig ins Stadion, es gibt in
meiner Familie nicht die sonntägliche Tradition,
ins Stadion zu gehen, mein Vater hat mich nie zu
einem Fußballspiel mitgenommen, auch nicht
meine Großväter, und ich hätte es gerne gewollt,
als Dreikäsehoch in meinem kleinen Mantel und
mit meiner kleinen Mütze von einem Erwachsenen ins Stadion mitgenommen zu werden, der
mir in der Halbzeitpause einen Hotdog gekauft
hätte. Ich habe ein altes Kindheitsfoto wiedergefunden, aufgenommen bei den Teichpromenaden von Ixelles, auf dem ich mit meinem Großvater Juoazas Lanskoronskis zu sehen bin. Man
hätte meinen können, wir beide wären auf dem
Weg ins Stadion von Anderlecht gewesen oder in
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das von Union Saint-Gilloise, aber nein, an dem
Tag sind wir nicht ins Stadion gegangen, wir sahen auch nicht wirklich wie Fußballfans aus, eher
wie Schriftsteller auf einem Spaziergang, mein
Großvater, der mein heutiges Alter gehabt haben
dürfte, mit dem strengen Aussehen eines Homme
de Lettres, und ich in seiner Begleitung, wohl vier
Jahre alt, ernst an seiner Seite wie einer seiner ehrwürdigen Kollegen. Ja, man könnte sagen, ich besaß bereits vor fünfzig Jahren das strenge und
verschlossene Wesen, das man allgemein Schriftstellern unterstellt, auch schon den kahlen Kopf
und das – in gewisser Hinsicht – kahle Herz, aus
Solidarität mit meinem litauischen Großvater,
dem Colonel Lanskoronskis, der von der Physis
an Vladimir Nabokov erinnerte und vom Intellekt her an General Dourakine, und der ebenfalls
einen »Hutkopf« hatte, diese schamhafte Umschreibung für eine Glatze. Ich war nur ein einziges Mal im Brüsseler Stadion, in das ich meinen
Sohn während der Europameisterschaften 2000
zu einem Spiel Belgien gegen Italien mitgenommen hatte, und ich besitze einige bruchstückhafte Erinnerungen an Fußballspiele im Parc des
Princes und im Stade de France. Besonders an ein
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Pokalendspiel 2002 zwischen Lorient und Bastia
erinnere ich mich, zu dem wir mit der ganzen Familie gegangen sind, mit Figatellu-Würsten und
der Fahne mit dem Maurenkopf. Es gibt eine
ferne Erinnerung an ein Abendspiel auf Korsika,
in Bastia, das ich mir zusammen mit meinem
Schwiegervater Charles Santandrea angesehen
habe, das muss Anfang der 1980er Jahre gewesen
sein, ich erinnere mich an das Flutlicht, das auf
die alten Holztribünen des Armand-Cesari-Stadions fiel. Am Getränkestand waren wir überraschend auf den Abbé Stra getroffen (sieh an,
der Herr Abbé!), der ein kleines Kreuz am Kragen
und einen Schal von Sporting um den Hals trug.
Der Abbé Stra – den Namen hätte ich gerne erfunden, bin aber schon zufrieden, ihn sorgsam
für einen möglichen zukünftigen Text aufgehoben zu haben – war mit unserer Eheschließung
beauftragt. Aber das ist eine andere Geschichte,
die Vorbereitung meiner Hochzeit mit Madeleine
in einem Hotel in Calacuccia in der Region Niolu,
wo uns am Ende des Essens der Abbé Stra mit
ernster Miene gefragt hatte: »Darf ich Ihnen eine
indiskrete Frage stellen?« Madeleine und ich,
wohl gerade beim Käse angekommen, sozusagen
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zwischen Feige und Käse, senkten züchtig unseren Blick auf die Teller und nickten schweigend
(ich sah, wie Madeleine insgeheim vor Lachen fast
platzte), und er fragte dann mit bedächtiger
Stimme: »Kennen Sie sich schon seit langem?«
Hätte ich die Schlagfertigkeit besessen, hätte ich
ihm mit Gide antworten können: »Es gibt keine
indiskreten Fragen, nur die Antworten können indiskret sein.« Aber ich beschränkte mich
darauf, die Wahrheit zu sagen, dass wir uns seit
zwei Jahren kannten. Aber ich entferne mich vom
Thema, trödele herum und schweife ab, ohne
allerdings mein Ziel aus den Augen zu verlieren,
man möge beruhigt sein. Nein, um zu meinem
Punkt zu kommen: Wenn ich zu Hause bin, in
den Städten, in denen ich wohne, ob nun in Brüssel oder auf Korsika, gehe ich niemals in ein Stadion. Sonst wäre ich 1985 im Heysel-Stadion und
1992 in Furiani dabei gewesen.
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Die Trikots
Ich liebe den Moment, wenn ich das Stadion betrete, um meinen Platz einzunehmen, und inmitten der Menge der Zuschauer die Betonstufen zu
den Tribünen emporsteige, dann ins Freie trete
und vor mir die stufenförmig angelegten Sitzreihen und darunter das absolute Grün des Spielfelds unter den mächtigen Flutlichtlampen erblicke. Ich schaue nicht mehr mit den Augen des
Kindes, aber ich nehme immer noch mit der unschuldigen Unbefangenheit der Kindheit den
Zauber der Farben des Fußballs wahr, das Grün
des Rasens seit unvordenklicher Zeit, und die
Trikots der Spieler: die zeitlosen Trikots der Nationalmannschaften, das Blau Frankreichs oder
Italiens, das Rot Spaniens, das Orange der Niederlande, nicht zu vergessen das himmelblauweiß gestreifte Trikot Argentiniens. Alles gerät
wieder in seine Ordnung, und das Natürliche
wird unverrückbar und beruhigend, wenn wie im
Finale 2002 in Yokohama die Deutschen in
schwarzen Hosen und weißen Hemden gegen die
Brasilianer in Grün und Gelb spielen, aber es versetzt mir ein leichtes Unbehagen, ein ästhetisches
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Missbehagen, ja eine metaphysische Unruhe,
wenn ich die Brasilianer in Dunkelblau spielen
sehe, oder schlimmer noch: die deutschen Spieler
in diesen grauenhaften, rot-schwarz quergestreiften Rugby-Trikots (von Toulouse oder von Toulon?), die sie beim Halbfinale der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien trugen. Dann fühle ich
mich verletzt, nicht ich selbst (ich habe da schon
Schlimmeres erlebt), aber als Kind, das ich einst
war und das um das einfache, ein Gefühl von
Sicherheit gebende Glück betrogen wird, die
Deutschen auf den Fußballplätzen der ganzen
Welt in alle Ewigkeit in schwarzen Hosen und
weißen Hemden spielen zu sehen.
Kindheit
In Brüssel, auf dem Hof unserer Brüsseler Grundschule Nr. 9, spielten wir in der Pause Fußball,
und das Kriterium, nach dem wir die beiden
Teams auswählten, war nicht Kleine gegen Große
oder Blonde gegen Braune oder eine Klasse gegen
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die andere, sondern »Moral« gegen »Religion«.
Am Anfang des Schuljahrs musste in dieser konfessionslosen Schule in der Rue Américaine in
Ixelles tatsächlich zwischen den Fächern Moral
und Religion entschieden werden, je nachdem, ob
unsere Eltern oder wir selbst wünschten, am Religionsunterricht teilzunehmen oder nicht. Während man im Fach Religion in erbauliche Episoden aus dem Leben Jesu und in die Bibellektüre
eingeführt wurde, wurde den anderen eine Art
rudimentäre gemeinschaftskundliche Grunderziehung zuteil, die mit dem etwas hochtrabenden Wort Moral benannt war, dessen ganze Bedeutung ich erst viele Jahre später erfassen sollte.
Jedenfalls haben wir Schüler unsere Mannschaften in der Pause immer nach dieser Methode
eingeteilt, die uns von biblischer Einfachheit erschien und obendrein den Vorteil hatte, generationsübergreifend zu sein (genauso viel Gläubige wie Ungläubige bei den Kleinen wie bei den
Großen, bei den potentiellen Verteidigern und
vermeintlichen Stürmern), und so trugen wir
im Pausenhof an der Rue Américaine unsere
Matches Moral gegen Religion aus – und die Religion, bei denen ich mitspielte (ich war immer sehr
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für Religion, zumindest bis zur sechsten Klasse),
waren verteufelt gut am Ball.
Avenue Louise
Ich befinde mich in Brüssel, es ist ein weit zurückliegendes Bild, vielleicht in der Avenue Louise,
ich bin zusammen mit einigen Freunden aus der
achten Klasse des Gymnasiums Athénée-RobertCatteau mit Schwerpunkt Latein und Mathematik, bei mir Thierry Degulne, Dominique Deredde, Philippe Warneck, womöglich auch Alain
Van Vinck und Éric Peeters, und wir stehen mit
unseren Schulranzen auf dem Rücken vor dem
Schaufenster eines Elektrogeschäfts und amüsieren uns mit jugendlichem Hochmut und der Unverschämtheit der Jugend in Pennälerlaune über
die ersten Farbfernsehgeräte, auf denen Spiele der
Fußball-Weltmeisterschaft von 1970 übertragen
wurden. Bei uns zu Hause haben wir noch keinen
Farbfernseher, und wir machen uns lustig über
die Spieler auf dem Bildschirm, die zu schnell für
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ihre Trikots sind, als ob der Fußballspieler beim
Rennen über den Rasen durch die Geschwindigkeit und Schnelligkeit seines Dribblings sich von
seiner Hülle lösen und seine Aktion in Schwarzweiß fortsetzen würde, die Farbe seines Trikots
hinter sich herziehend, die ihm nur mit Verzögerung folgen kann. Das brachte uns vor dem
Schaufenster des Geschäfts zum Lachen, diese
noch nicht besonders ausgereifte Technologie.
Auch wenn die Art, wie die Spieler in ihrem Kielwasser in einer verlangsamten Dehnung die Farben ihrer Trikots gleichsam einem Lichthof ihrer
selbst hinter sich ließen, eine unleugbar poetische
Dimension hatte. Kürzlich im Pariser Grand
Palais sah ich eine Videoarbeit von Bill Viola, die
mit solch einem Übergang von Schwarzweiß zu
Farbe spielt, drei Frauen, die in derselben Einstellung aus einem grobkörnigen Schwarzweißbild in
die Welt der Farben hinübergehen, eine unsichtbare Grenze überschreitend, einen virtuellen Vorhang, eine Art von symbolischem Checkpoint
zwischen dem Sein und dem Nichtsein, zwischen
der Geburt und dem Tod.
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