Liebe auf Zeit Claudia Atts LESEPROBE: Abdruck und Veröffentlichung verboten Oncken-Verlag Kassel Coverdesign: Isabell Schmitt-Egner Fotorechte: Claudia Atts www.OnckenVerlag.de Kapitelübersicht Part 1 Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Der Anfang vom Ende Ausgerechnet Mozart Bayern gegen Hertha Mutter wer? Ein Freund bleibt Untermieter Wer ist Errig? Part 2 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Neuanfang Im Himmel? Antworten Ragna Johnathan Zu Pferd durch Ragna Die Wildgänse kommen Flucht Zu Hause Sara in Hochform Beförderung Vorbereitungen für den Rücksprung Drei Tage Hauptquartier Disziplinierte sechs Richtige Part 3 Kapitel 20 Kapitel 21 Kapitel 22 Kapitel 23 Kapitel 24 Kapitel 25 Kapitel 26 Kapitel 27 Kapitel 28 Kapitel 29 Kapitel 30 Kapitel 31 Alles ändert sich Thomas mit einer Mission Rettungsmission John Nächtliche Versuchung Schritte in der Dunkelheit 2073 Das Sara-Eisfuß-Forschungszentrum Jungfrau 1791 Unendliche Möglichkeiten Wie starb Daniel Köller? Daniel ist eben Daniel Herzblut Part 1 Der Anfang vom Ende Kapitel 1 Ausgerechnet Mozart? Die Sonnenallee war eine vielbefahrene Straße. Diesen Umstand verdankte sie dem Durchgangsverkehr, der sich seit der Wende durch die Häuserschluchten zwängte. Sie bildete eine Achse zwischen Kreuzberg-Mitte und Treptow-Köpenick. Pendler verursachten den Straßenlärm, die Anwohner hatten den Ärger. Die Parkplatzknappheit sorgte vor allem dafür, dass mancher keine Wahl hatte als in zweiter Reihe zu halten oder auszuladen. Was regelmäßig zu Staus, Auffahrunfällen und Hupkonzerten führte. Der Verkehr kümmerte Sara Eisfuß inzwischen wenig, denn schon vor Monaten hatte sie sich von ihrem SUV mit Anhängerkupplung getrennt. Wenn sie gegen halb zehn in die Klinik fuhr, war in der U-Bahn nicht mehr ganz so viel los. Die meisten Fahrgäste fanden einen Sitzplatz. Die Schüler saßen längst in ihren Klassen und die meisten Berufstätigen waren an ihrem Arbeitsplatz angekommen. Sara war der dunkelhaarige Mann schon seit mehreren Wochen aufgefallen. Wenn sie in ihr Abteil stieg, um ins Krankenhaus zu fahren, saß er bereits da. Wie sie selbst schien er immer den ersten Wagen zu wählen, der in die Station einfuhr. Nie sah sie ihn ohne ein Buch. Sara fielen zunächst seine wirren, schwarzen Haare auf und dann, dass er jedes Buch, das er las, in Packpapier eingeschlagen hatte. Eine Angewohnheit, die sie offenbar mit ihm teilte. Ihr waren ihre Bücher heilig. Bevor sie ihre Schätze in der Tasche mit sich herumtrug, entfernte sie den Schutzumschlag und schlug die Bücher neu ein; meistens in Geschenkpapier. Was auch den Vorteil hatte, dass niemand sah, welches Buch sie im Augenblick gerade las. Bei ihrem unrasierten Mitfahrer empfand sie genau diesen Umstand jetzt als Nachteil. Zu gerne hätte sie gewusst, worin er sich im Moment vertieft hatte. Er war ein aufmerksamer Beobachter. Er verfolgte schon einmal interessiert ein Gespräch oder schaute fassungslos mit seinen dunklen Augen einer auffällig gekleideten Person nach. So wie neulich dem Punk, der sich wirklich bilderbuchmäßig gestylt hatte. So einen perfekten grünen Irokesenschopf sah man nicht mehr alle Tage, nicht einmal am berüchtigten Hermannplatz in der Nähe. Selbst Sara schmunzelte amüsiert hinter ihrem Klassiker. Mr. Cool hatte stets einen Drei-Tage-Bart und mit diesem Detail lag er voll im Trend. Im Gegensatz zu vielen anderen Möchtegernpiraten sah es bei ihm attraktiv aus. Er trug saubere, meist dunkle Kleidung, dennoch sah er immer irgendwie zerknautscht aus, als hätte er unter der Brücke geschlafen. Zum Glück roch er aber besser, wie sie feststellen konnte, als sie sich an diesem Montag auf den einzigen freien Platz direkt neben ihn setzte. Die dunklen Haare blieben bei seiner morgendlichen Toilette öfter mal etwas strubbelig. Offensichtlich hatte er keine weibliche Person, die ihn noch einmal kritisch beäugte, bevor er das Haus verließ. Und häufig trug er einen dunklen Trenchcoat, der ihm zwar gut stand, aber nun doch schon ein paar Jahre richtig aus der Mode gekommen war. Er sah unverschämt gut aus. Sehr groß, sicher einen Meter neunzig, und breitschultrig, aber nicht wie ein Bodybilder. Er lächelte selten. Nicht gerade der Typ Mann von dem sich eine vernünftige Frau ansprechen ließe, wenn sie ihn kennen lernen würde. Er sah zu gut aus, um ernste Absichten bei einer grauen Maus wie ihr zu haben und blickte mitunter so finster in die Gegend, dass es Sara schon einmal kalt den Rücken runter gelaufen war. Normalerweise genügte für sie ein Blick auf so einen Mann und er wurde schon allein wegen seiner Größe von ihr gedanklich aussortiert. Ihrer Erfahrung nach suchten sehr große Männer nicht nach einer Frau, die einen Meter fünfundfünfzig groß war. Und ihr selbst wäre ein derart gewaltiger Größenunterschied auch nicht recht. „Nicht, dass ich auf der Suche wäre!“, erinnerte sie sich selbst in Gedanken an ihre Lebenssituation. Sara war sich nicht bewusst, dass sie sich trotz ihrer strengen Vorsätze immer nach diesem Trenchcoatriesen umsah. Er stieg jeden Tag an der gleichen Station aus wie sie, aber er nahm dann den Ausgang entgegen der Fahrtrichtung, während Sara den kürzesten Weg in die Klinik wählte. Sie hatten noch nie ein Wort miteinander gesprochen. Allerdings hatte sie ihn mehrmals dabei ertappt, dass er sie anstarrte, während sie las. Das verwirrte sie. Vielleicht erinnerte sie ihn an jemanden. Wenn es so war, schienen es keine erfreulichen Erinnerungen zu sein. Wie immer hatte sie ihn nicht gegrüßt, als sie sich neben ihn gesetzt hatte. Stattdessen nahm sie sogleich ihr Buch aus der Tasche. Sara hätte es nie gewagt, ihm auch nur durch ein Kopfnicken zu verstehen zu geben, dass er ihr aufgefallen war und sie ihn wiedererkannte. Wenn sie ehrlich mit sich gewesen wäre, hätte sie zugeben müssen, dass sie jeden Tag nach ihm Ausschau hielt und enttäuscht war, wenn sie ihn nicht sah, was bisher nur einmal vorkam. Seine Abwesenheit an jenem Tag hatte sie fast erschreckt. Als ob in ihrer kleinen Welt etwas fehlte. Sie hatte es sogar in ihrem Tagebuch vermerkt, dass er nicht da war. Als sie den Eintrag einige Tage später noch einmal las, wurde ihr klar, dass sich dieser gut aussehende Mann mit den dunklen Augen in ihrem Denken schon viel zu breit gemacht hatte. Sie hatte beschlossen, ihm keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Der gute Vorsatz des Tages! Nach einer Weile klingelte ihr Handy leise. Sie hatte einen unverfänglichen und unaufdringlichen Ton gewählt. Sie blickte auf die Nummer, bevor sie das Gespräch annahm. Das musste diese Tiernärrin aus Pankow sein. Sie war dankbar für den Rückruf. Sara suchte noch einen neuen Besitzer für die letzte ihrer vormals sechs Ratten. Von Mozart konnte sie sich nur schwer trennen, weil er ein begabtes und musikalisches Tier war. Dreimal stand er schon vor der Kamera. In einem Werbespot hatte er komplizierteste Aufgaben mit Bravur erledigt und sah wirklich zu niedlich aus; ein kluges Kerlchen. So etwas wie Mozart hatte sie in ihrer Laufbahn als Tiertrainerin noch nicht erlebt. Sie war sich sicher, dass sie ihm hätte das Tanzen beibringen können, wenn ihr die Zeit vergönnt gewesen wäre. „Nein, Mozart geht es hervorragend!“, beruhigte sie ihre Gesprächspartnerin. „Er ist unkompliziert, aber es wäre schade, ihn zu unterfordern. Er ist so talentiert. Er braucht seine Musik wie die Luft zum Atmen. Ohne Klaviersonaten oder Don Giovanni geht gar nichts. Und wenn sie Mozarts Musik nicht wirklich gerne mögen, sollte er vielleicht doch nicht bei Ihnen einziehen“, gab sie zu bedenken. Die Frau aus Pankow interessierte sich jedoch wirklich ernsthaft dafür, Mozart aufzunehmen. Offenbar war sie ein Klassikfan; sehr praktisch. Während Sara der Anruferin zuhörte, bemerkte sie, dass Mr. Cool aufmerksam geworden war und dem Gespräch gespannt folgte. Er versuchte es zu verbergen und hielt seine Augen, scheinbar gleichgültig, auf sein Buch gerichtet, aber immer wenn sie im weiteren Verlauf des Gesprächs den Namen Mozart erwähnte, schien er interessiert zu lauschen. Schließlich verabredete sie mit der Pankowerin, dass sie noch am selben Abend Mozart kennen lernen sollte. Die Tierfreundin wollte sich vor Ort ein Bild machen. Sara war froh, dass sie nicht abgesprungen war und hoffte inständig, dass Mozart zu ihr passte. Sie hatte einfach nicht mehr genug Energie für viele weitere Anläufe dieser Art. Als sie endlich die rote Beendentaste ihres Handys drückte, seufze sie erleichtert auf. „Entschuldigung, dass ich Sie anspreche!“ Sara blickte ihren Nachbarn überrascht an. Er hatte noch nie auch nur einen Gruß mit ihr gewechselt. Seine Stimme war sympathisch. „Es ist sicher sehr unhöflich, einem Handygespräch zu folgen, aber habe ich eben richtig gehört? Mozart wohnt bei Ihnen?“, fragte er mit offenbar ehrlichem Interesse. Sara war zunächst von der Frage überrascht. Sie überlegte schnell, ob sie denn tatsächlich so von ihrer Ratte gesprochen hatte, als ob sie ein Mensch sei. „Wirklich!“, dachte sie schnell. „Dieser Eindruck hätte entstehen können.“ Fragen über Haltung und Ernährung hatte sie schon im Vorgespräch geklärt. Sie fragte sich, ob sie dem fremden Mann vertrauen konnte. Aber was konnte schon passieren? Umgeben von anderen Fahrgästen, ein unverfängliches Gespräch, jeden Tag ein kleiner Plausch in der Bahn, das wäre nicht schlecht. Jetzt war sie plötzlich mit ihren Gedanken schon zu weit voraus. „So gehen sie dahin, die guten Vorsätze!“, dachte sie, als sie sich an ihren Entschluss erinnerte, den geheimnisvollen Mann nicht weiter zu beachten. „Ja, Mozart! Meine Ratte!“, entgegnete sie schließlich. „Ratte?“, fragte der Mann so entgeistert, als ob er gar nicht wüsste, was das ist. Nach einer Weile hakte er nach. „Sie halten eine Ratte als Haustier?“, fragte er ungläubig. „Mozart war immer ein Einzelgänger. Eigentlich soll man Ratten nicht einzeln halten. Das bekommt ihnen nicht, dann nagen sie die Möbel ihrer Halter an“, erklärte Sara. „Eine Ratte?“, fragte der Mann mit den dunklen Augen noch einmal. „Das ist nicht ungewöhnlich. Besonders die Männchen sind sehr zutraulich, sie haben Charakter und man kann ihnen eine Menge beibringen. Sie sind fast so gelehrig wie Hunde oder meine Pferde. Natürlich sind sie kostengünstiger. Leider werden sie höchstens drei Jahre alt“, verteidigte Sara nun fast gekränkt die Wahl ihrer Tiere. „Und das wissen Sie alles aus eigener Erfahrung?“, fragte der Fremde leicht sarkastisch. Seine Augen lächelten vielleicht ein wenig dabei. „Ich glaube, dass ich mir als Tiertrainerin da ein fachliches Urteil erlauben kann“, konterte Sara leicht schnippisch, ganz gegen ihre Art. Sie fühlte sich von seiner arroganten Art provoziert. „Und das machen Sie beruflich?“, fragte er erstaunt und mit einem vorwurfsvollen Unterton, den Sara nicht verstand. „Jetzt leider nicht mehr!“, gab sie traurig zu. „War ja auch eine völlig unsinnige Zeitverschwendung!“, murmelte er so leise vor sich hin, dass sie nicht sicher sein konnte, ob sie das wirklich richtig verstanden hatte. Trotzdem war sie ein bisschen beleidigt und sprach für den Rest der Fahrt kein Wort mehr mit ihm, sondern starrte demonstrativ in ihr Buch. Sie blätterte zwar einmal die Seite um, verstand aber kein Wort von dem, was sie da las. Sie ärgerte sich über ihn. „Mist! Mist! Mist!“, dachte sie. So hatte sie sich ein erstes Gespräch mit Mr. Cool nicht vorgestellt. Warum hatte er ihren Beruf madig gemacht? „Aussehen ist eben doch nicht alles.“ Das war das erste Kapitel. Und hier noch drei weitere Kapitel zum Anfüttern: Kapitel 6 Wer ist Errig? Legolas hatte an ihren Bewegungen gemerkt, dass Sara wach war und erhob sich von seinem angestammten Platz am Fußende. Er stolzierte zu ihrem Kopfkissen hinauf und drückte seinen Kopf gegen ihre Wange, die er dann ableckte. Er maunzte leicht. Sie kraulte ihm sein samtenes Fell direkt unter dem Maul, so wie er es gern hatte. Sie drückte ihn an sich und streichelte ihm über den Rücken. Er kuschelte sich noch enger an Sara und die beiden genossen einen innigen Moment lang die gegenseitigen Streicheleinheiten. „Guten Morgen, mein Süßer“, flüsterte Sara ihm zu. Als Legolas sie erneut ableckte und fordernder maunzte und mit seiner Nase anstupste, verstand Sara seine Botschaft. „So einen großen Hunger hast du? Ich glaube, Errig braucht etwas Nachhilfe in Katzenpflege. Wenn er sich hier einnisten will, dann muss er sich um dich genauso gut kümmern, wie er es bei mir schon tut!“ „Das will ich gerne versuchen. Aber in der Tat brauche ich da eine Einweisung!“, sagte Errigs ruhige Stimme. Erschrocken blickte sie auf. Sara hatte Errig nicht eintreten hören. Er stand an ihrem Bett und lächelte. Er war frisch rasiert. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Sein Dreitagebart war verschwunden. Allerdings sah er unausgeschlafen und müde aus. Er setzte sich auf ihre Bettkante. Dafür roch er heute ungeheuer gut. Er hatte mehr von „was auch immer es war“ benutzt als sonst. Und auch die Haare waren nach dem Waschen noch etwas feucht und zurückgekämmt. Seine schwarzen Locken klebten eng an seinem Kopf. „Guten Morgen, Sara“, sagte er und nahm ihre Hand. Er küsste sie ein paar Mal leicht. „Wie geht es dir heute? Lust auf Frühstück?“ Sara hatte von ihrem augenblicklichen Zustand noch keine klare Vorstellung. Sie holte tief Luft und machte einen kurzen Check. Dank der Pumpe fühlte sie keine Schmerzen, aber auch keine Kraft zum Bäumeausreißen. „Beides beantworte ich dir, nachdem ich im Bad war“, erwiderte sie schließlich. „Hilfst du mir auf?“ Diesmal schaffte sie den Weg auf ihren eigenen Füßen, zwar langsam aber immerhin. Die Zeit im Bad brauchte sie dringend zum Nachdenken. Am liebsten hätte sie sich Badewasser einlaufen lassen. Aber sie fürchtete, dass die Wärme ihren Kreislauf belastete und das Pflaster des Verbandes am Hals nass würde. So entschied sie, nur ganz kurz und vorsichtig zu duschen. Als das warme Wasser an ihr herabfloss, merkte sie, wie sie sich entspannte. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie angespannt sie gewesen war. Wie sollte sie mit Errig umgehen? Warum gab er so gar nichts von sich preis? Vertraute er ihr nicht? Ihr war immer noch nicht klar, warum er sich ihr so anbot. Was hatte er davon? Er kannte sie doch überhaupt nicht. Und sie kannte ihn noch weniger. Wer war er eigentlich? Sie nahm sich vor, ihn noch einmal zur Rede zu stellen und auf Antworten zu bestehen. Sie stellte das Wasser ab und drehte sich um, um nach ihrem Handtuch zu greifen, das sie immer über die durchsichtige Tür der Dusche hängte. So hatte sie es stets griffbereit. Sie trocknete sich normalerweise in der Duschkabine vor, denn so tropfte sie nicht den ganzen Fußboden nass, wenn sie heraustrat. Sie nahm die Pumpe vom Haken, aber das Handtuch fehlte. Sie erschrak. Errig stand vor der Dusche und hielt ihr das ausgebreitete Handtuch hin: „Du hast so lange gebraucht, dass ich mir schon Sorgen gemacht habe. Ich wollte nach dir sehen“, sagte er ganz unbekümmert. Ihr war es nicht recht, dass er einfach so ihren nackten Körper sah: „Gibt es kein Schamgefühl, da wo du herkommst?“, fragte sie kleinlaut und trat schüchtern aus der Dusche. Sie hatte angenommen, dass er sie nun zügig in das Handtuch wickeln würde. Als sie zu ihm aufsah - ein langer Weg bis zu seinem Gesicht erkannte sie, wie er sie entsetzt anschaute. Genauer, er starrte auf die beiden halbmondförmigen Narben auf ihrem Brustkorb. Dort wo andere Frauen Brüste haben, hatte sie nur noch ihre beiden Brustwarzen auf einer völlig glatten Haut, die sich über die Rippen spannte, wie bei einem Mädchen vor der Pubertät. Dass sie so abgemagert war, verstärkte diesen Eindruck sicherlich noch. Er hatte seine Fassung noch nicht wiedergewonnen. Daher nahm sie ihm unwirsch das Handtuch ab und bedeckte sich: „Ich dachte, Dr. Thorig hätte dich über mein Krankheitsbild aufgeklärt“, brachte Sara schließlich hervor, um das peinliche Schweigen zu brechen. Errig war immer noch wie im Schock. Er ließ sich auf seine Knie sinken. In dieser Haltung war er fast genau mit Sara auf Augenhöhe. Sie sah Trauer und Schmerz in seinen Augen. Er schloss sie in seine Arme und zog sie an sich: „Oh, Sara, ich hatte ja keine Ahnung“, flüsterte er über ihre Schulter. „Es tut mir so Leid für dich!“ Für Sara war es nie ein großes Ding gewesen. Sie hatte es als eines ihrer kleineren Probleme gesehen. Da es zu Ende ging und die Hoffnung auf einen neuen, gesunden, unversehrten Körper in der Ewigkeit in ihr lebendig war, hatte sie sich nicht allzu viele Gedanken gemacht. Keine Tränen mehr, kein Leid und kein Geschrei, so sagte es die Bibel. Da sie keinen Partner hatte, der etwas vermisste, war es ihr eigentlich egal gewesen: „Es ist okay. Es stört mich nicht“, konnte sie nun also wahrheitsgemäß mit Überzeugung sagen. „Im Himmel werde ich wieder einen neuen Körper haben. Da freue ich mich schon drauf.“ „Im Himmel?“, fragte Errig und sah dabei ehrlich erstaunt aus. „Du glaubst wohl nicht an ein Leben nach dem Tod?“ „Nein. Dieses Konzept von einem nahen Gott und einem lebendigen Glauben ist mir fremd. Ich habe in deinem Tagebuch deine Gebete gelesen. Es war ... bewegend.“ Offenbar wollte Errig dieses Thema jetzt nicht vertiefen. „Aber der Himmel muss noch warten. Ich lasse nicht zu, dass du stirbst“, sagte er mit verbissener Entschlossenheit. „Errig! Mir kann kein Arzt mehr helfen. Es gibt keine Möglichkeiten mehr. Nicht, dass ich deine Fähigkeiten in Frage stelle, aber es ist zu spät.“ „Du weißt nichts über meine Fähigkeiten!“, sagte Errig ungewohnt scharf und sah sie fast kämpferisch an. „Und noch weniger von meinen Möglichkeiten!“ Da, jetzt hatte er es schon wieder getan. Warum haute er immer nur so kryptische Anmerkungen heraus, ohne eine einzige davon zu erklären? „Wenn es dir gut genug geht, kannst du dich ja anziehen. Ich habe Frühstück für dich gemacht! Du brauchst Energie“, sagte er noch und ließ sie im Bad allein. Seufzend wickelte sie sich aus dem Handtuch und trocknete sich ab. Ihr Haarflaum war noch so kurz, sie konnte ihn mit dem Handtuch trocknen und kämmen. Viel Kraft hatte sie auch heute nicht. Sie streifte sich also nur ein frisches Nachthemd über und griff ihren Morgenmantel vom Haken an der Tür und trat, sich anziehend, ins Wohnzimmer. Hinter dem Küchencounter machte sich Errig eifrig zu schaffen. Es roch nach Kaffee, Rührei und Speck. Ihr Magen revoltierte etwas, als sich die Gerüche in ihrer Nase mischten: „Für mich bitte nur etwas Leichtes“, sagte sie matt, als sie zu ihm trat und die Mengen an Nahrungsmitteln sah, die Errig vorbereitet hatte. „Sehr gern, Sara, aber verzeih, wenn ich mir auch etwas mache.“ „Natürlich. Es tut mir Leid!“, sagte sie. Errig hatte ihr Unwohlsein bemerkt. „Der Widerwillen könnte bald nachlassen. Dr. Thorig hat alle Medikamente abgesetzt. Wenn der Spiegel in deinem Blut sinkt, könnte auch der Appetit wiederkommen“, erklärte Errig. „Leider habe ich trotzdem keinen großen Hunger“, bemerkte Sara. Sie sah, dass Errig frisches Wasser für Legolas hingestellt hatte. Und ein leerer Fressnapf zeigte Spuren von Resten von seinem Frischfutter, das er gern hatte. Errig musste eine der letzten Dosen im Schrank gefunden haben. Sara lächelte dankbar und sah zu ihm hinüber. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und werkelte geschäftig. Inzwischen hatte er sich wohl mit ihrem Kücheninventar vertraut gemacht. Sie staunte über seine sicheren Handgriffe, wie er Geschirr aus dem Schrank nahm und Besteck sogleich in der Schublade fand, ohne zu suchen. Sie nahm sich den Augenblick, um ihn bewusst anzuschauen. Seine engen Fade-Jeans ließen seine kräftigen Beine noch länger erscheinen. Auch das marine-farbene T-Shirt saß knapp. Es betonte seine Muskeln. Sara hatte Errig bisher nur in förmlicher Kleidung gesehen: im Trenchcoat, im Anzug und im Arztkittel. Dieser Freizeitlook sah außerordentlich attraktiv an ihm aus. Er drehte sich zu ihr um. „Fertig. Magst du dich setzen?“, fragte er. Errig hatte verschiedene Speisen auf den Küchencounter zu den erhöhten Barhockern gestellt. Dort hatte Sara schon länger nicht mehr gesessen. Es kostete sie Kraft hinaufzuklettern und dann hatte sie auch Bedenken, sie könnte herunterstürzen, wenn ihr schwindelig wurde. Ein Sturz aus einer größeren Höhe als von einem Stuhl. Daher hatte sie sich in letzter Zeit ihr Essen mit auf das Sofa genommen. Errig sah ihr Zögern: „Warte, ich helfe dir hinauf“, und damit hatte er sie auch schon leicht wie eine Puppe auf einen der Barhocker gehoben. Immerhin gab es eine Rückenlehne. „Solltest du fallen, bin ich schneller.“ „Danke!“, sagte Sara und schaute sich an, was Errig vorbereitet hatte. Er hatte schon seine Gabel in der Hand und wollte sich über das Rührei auf seinem Teller hermachen. Sara lächelte ihn an: „Guten Appetit!“, ermutigte sie ihn. Sie hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet und schloss ihre Augen für ein stilles Tischgebet. „Geht es dir nicht gut?“, fragte er besorgt. „Alles in Ordnung. Ich spreche immer ein Dankgebet vor dem Essen. Und auch dir vielen Dank für die Vorbereitungen“, erwiderte Sara. „Ich würde mich freuen, wenn etwas dabei ist, was du magst. Ich wusste ja nicht, was du normalerweise frühstückst“, sagte er und deutete über die Speisenauswahl. Es gab Obst, Brot und Butter, Honig, Käse, Speck und Eier. Errig hatte alles aus den Verpackungen genommen und auf ihren Holzbrettern angerichtet. Es sah natürlich und rustikal aus. Offenbar hatte Errig ihren Biomarkt in der Nähe gefunden. „Das sieht sehr gut aus“, lobte sie. Sie strich sich Butter auf ein Brot und nahm etwas Honig. „Ich freue mich, dass du versuchst zu essen“, sagte Errig. Die Gemeinschaft beim Essen tat ihr gut. Ein Luxus, den sie schon sehr lange nicht mehr gehabt hatte. Errig aß beherzt. Er musste für seine 190 Zentimeter Körpergröße sorgen. Zwischendurch schaute Sara ihm zu. Er schien jeden Bissen zu genießen. Sie hatte eine halbe Scheibe Brot geschafft und fragte sich, ob sie die Säure im Apfel wohl vertragen würde. Errig war sehr aufmerksam. Er hatte ihren Blick gesehen. Er nahm einen Apfel und schnitt ihn für sie auf: „Versuch einfach mal ein Stück. Vielleicht bekommt er dir ja.“ Sie schaute ihn an. „Errig. Ich bin froh, dass du da bist. Ich danke dir!“ Er nahm ihre Hand und drückte sie leicht: „Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht“, sagte er und es klang wie ein Schwur, der viel mehr einzuschließen schien, als das Frühstück und die Pflege, die er ihr bisher gegeben hatte. Und wieder blitzte es kämpferisch in seinen Augen. „Was soll ich nur von dir halten?“, seufzte sie und lächelte ihn an. Nach dem Frühstück legte sich Sara wieder hin. Als sich Legolas wieder auf seinem Stammplatz zu ihren Füßen niederließ, erinnerte sich Sara, dass Errig noch eine Einwei- sung in Katzenhaltung brauchte. Er stellte so viele Rückfragen, dass ihr klar wurde, dass er es noch nie mit Katzen zu tun gehabt hatte. „Du bist wohl eher der Hundetyp?“, fragte sie unverfänglich. „Auch nicht. Aber ich mag Pferde, so wie du“, sagte er. Damit hatte Errig ein Thema erwischt, das für Sara zu schmerzlich war, um jetzt darüber zu reden. Etwas später rief Errig in der Praxis von Dr. Thorig an und bat, die gesamte Akte von Sara zu kopieren. Er wollte sie abholen, wenn sie fertig wäre, damit er nicht lange fort sein musste. Errig holte den bequemen Sessel näher an ihr Bett und arbeitete am Laptop. Sara war froh, einen Moment Ruhe zu haben. Er drängte ihr kein Gespräch auf. Sie nahm sich ihre Bibel vom Nachtschrank, las ein paar Verse und betete. Legolas hatte sich wieder auf seinem Lieblingsplatz an ihrem Fußende niedergelassen. Es war eine behagliche Atmosphäre. Gelegentlich schaute Errig nachdenklich zu ihr hinüber. Wenn sich ihre Blicke trafen, lächelten sie sich an. Dann wieder wirkte er sehr grüblerisch, als ob er wichtige Pläne schmiedete. Er schien seine Gedanken zu ordnen und dann seine Ergebnisse niederzuschreiben. Sara konnte den Bildschirm nicht sehen und als sie fragte, was er mache, sagte er nur: „Ich schreibe auch Tagebuch, weißt du.“ „Darf ich es dann auch mal lesen?“, fragte sie. „Wohl eher nicht“, sagte er halb in Gedanken. „Errig. Du hast meins doch auch gelesen. Hast du denn gar keine Manieren?“, sagte Sara herausfordernd. „Jetzt klingst du wie meine Mutter!“ Ah, eine neue Information. Er hatte eine Mutter. „Wie heißt deine Mutter?“, fragte Sara so unschuldig wie möglich. „Linda“, sagte Errig automatisch, immer noch in Gedanken. Merkte aber sofort, dass er eine Information preisgegeben hatte und sah sie fast vorwurfsvoll an. „Du sollst mich nicht aushorchen!“, sagte sein Blick ganz eindeutig, so eindringlich, dass Sara „Entschuldigung“ murmelte, obwohl die Frage eigentlich nicht schlimm war, oder? Ist es nicht normal nach den Eltern zu fragen? Sein Zorn war schnell verraucht. „Nein, ich entschuldige mich. Es ist ja ganz natürlich, dass du etwas über mich erfahren willst. Vertraust du mir?“, fragte er. Sara dachte eine Weile nach. Eine interessante Frage. „Ich vertraue darauf, dass du es gut mit mir meinst. Ich verstehe nicht, warum du dich mit hoffnungsloser Idiotie an mich klammerst. Ich wünschte, du würdest mir das erklären. Aber ich freue mich trotzdem, in dieser Situation nicht allein zu sein. Ich will ehrlich mit dir sein. Es ist mir nicht mehr so wichtig, wer oder was du bist. Ich merke, wie meine Lebenskraft schwindet. Es geht zu Ende. Ich habe nicht mehr viel Zeit.“ „Sara. Sag so etwas nicht. Du wirst nicht sterben. Ich lasse das nicht zu. Ich werde dir helfen“, sagte Errig mit großer Entschlossenheit. „Errig. Das hast du gestern auch schon gesagt, aber meine Zeit ist gekommen. Ich werde meine Eltern wiedersehen, meine Schwester Maya, meinen Bruder. Ich werde bei Gott sein, an den ich mein Leben lang geglaubt habe. Du musst mich gehen lassen! Es ist in Ordnung.“ „Nein, Sara. Ich will dich nicht verlieren. Ich werde einen Weg finden.“ „Errig, es tut mir so Leid für dich“, sagte Sara traurig. „Ich lasse es nicht zu!“, sagte er und klang wie ein bockiges Kind. „Das ist sehr egoistisch von dir!“, sagte Sara, nicht böswillig, sondern um ihn herauszufordern, um ihn herauszulocken, um seine Motive zu verstehen. „Ja. - Ja, das ist sehr egoistisch von mir“, bestätigte Errig einfach nur. Dann schwiegen sie eine ganze Weile. Sara hing ihren Gedanken nach. Sie hörte wie das Klappern der Tastatur verstummte. Sie sah zu ihm hinüber. Errig sah sie unverwandt an. Woran auch immer er gearbeitet hatte, schien beendet zu sein. Mit Entschlossenheit stand er auf: „Geht es dir im Moment gut genug, dass ich kurz zur Praxis von Dr. Thorig rübergehen könnte? Inzwischen sollte die Kopie vorliegen. Du wärst nicht lange allein“, fragte er sie. Sara nickte: „Ich glaube schon. Hier im Bett kann mir nicht viel passieren. Legolas passt auf mich auf!“, sagte sie. Tatsächlich kam Errig bald wieder. Er hatte einen dicken Ordner voller Fotokopien unter den Arm geklemmt. Sara brauchte seine Hilfe, um auf die Toilette zu gehen, legte sich aber gleich wieder hin. Ohne ihn hätte sie es nicht geschafft. Sie dämmerte vor sich hin wie im Halbschlaf. Sie konnte es nicht fassen, wie sehr sie in nur wenigen Tagen abgebaut hatte. Vor drei Tagen war sie um diese Uhrzeit noch in der Klinik gewesen und hatte ihren Kindern vorgelesen. Wie es ihnen wohl ging? Einige waren alt genug, um zu wissen, dass sie nur ausblieb, wenn sie selbst krank war. Sie bedauerte, zu ihrer schlimmen Lage beitragen zu müssen. Errig nahm seinen Platz an ihrer Seite wieder ein und studierte ihre Akte mit der Professionalität seines Berufsstandes. Er wusste, wonach er zu suchen hatte. Eine halbe Stunde hatte er nun schon gelesen. Er wurde bleicher, seine Augen besorgter, er hielt sich eine Hand vor den Mund, ohne dass er diese Geste zu bemerken schien. Er war hochkonzentriert und blätterte schließlich die letzte Seite um. Errig stöhnte leise auf: „Oh, Sara!“, presste er heraus. „Ich habe keine Zeit mehr. Es ist schon fast zu spät.“ Sara ahnte, dass dies wohl der letzte Bericht aus der Charité war. Errig klappte die Akte zu und legte sie zur Seite. Er kam zu ihr ans Bett und kniete sich neben sie. Er nahm ihre Hand in seine beiden Hände und legte sein Gesicht darauf. Er weinte, viele Tränen flossen. Sara hatte kaum jemals einen Mann so häufig weinen sehen wie Errig, und er schämte sich seiner Tränen nicht. Ob das normal war, da wo er herkam? „Es ist sehr schlimm“, stöhnte er. „Das habe ich dir die ganze Zeit zu erklären versucht“, tröstete ihn Sara. Sie strich ihm übers Haar, als wäre er ein kleiner Junge. „Nein, du verstehst mich falsch. Es ist sehr schlimm, was ich jetzt tun muss.“ Er stand abrupt auf und ging zu seiner Arzttasche. Er nahm eine Spritze und eine Ampulle heraus. Mit versteinerter Miene zog er sie auf. Er kam zurück zu ihr ans Bett und legte die fertige Spritze auf den Nachtschrank: „Sara, bitte glaube mir: Ich liebe dich.“ Und wieder konnte sie sich nicht erwehren, als er ihr Gesicht in seine Hände nahm und sie küsste. Als er nachließ, wollte sie wegen dieses erneuten Übergriffs protestieren: „Errig, … “, sagte sie entsetzt, aber weiter kam sie nicht als sie seinen Blick sah. Er sah wild aus, entschlossen, verzweifelt; alles auf einmal. So einen Blick hatte sie noch bei keinem Menschen gesehen. „Wenn du das nächste Mal wach wirst, werde ich dich geheilt haben“, sagte er grimmig und nahm die Spritze in die Hand, „und wenn du nicht mehr wach wirst, habe ich dich getötet.“ Mit einer schnellen Handbewegung stöpselte er den Schlauch der Schmerzpumpe ab, setzte die Spritze auf und drückte Sara ein Medikament über den Schlauch direkt in die Halsvene. Legolas sprang mit einem schnellen Satz vom Bett und machte einen Buckel. Er fauchte Errig aggressiv an. Das war das Letzte, was Sara in diesem Leben hörte. Part 2 Der Neuanfang Kapitel 7 Im Himmel? Ganz langsam fand Sara zu ihrem eigenen Bewusstsein zurück. Noch waren die Gedanken verschwommen, die Sinne leicht benebelt. Hatte sie geschlafen? Sie erinnerte sich nicht an Träume. Was war nur geschehen? Langsam stieg ihre letzte Erinnerung in ihr hoch: Errig. Richtig, sie war in ihrer Wohnung und lag im Sterben. Als sie versuchte, sich über Einzelheiten einen Weg an die Oberfläche zu bahnen, wurden ihre Sinneseindrücke ebenfalls klarer. Sie hörte Vogelstimmen, laute Vogelstimmen. Viel mehr und viel lauter als sie sie jemals in ihrem Leben gehört hatte, einen ungeheuren Chor. Und als sie genauer lauschte, konnte sie einzelne Stimmen unterscheiden. Sie hörte Kuckucksrufe, Tauben, Krähen, aber nicht nur von einzelnen Tieren, nein, es mussten gleich mehrere Vögel einer Gattung sein. Und dann nahm sie die Luft war, die sie atmete. Ein frischer, aromatischer Duft. Sie sog die Luft begierig ein. Die Vogelstimmen, diese Luft, das muss wahrlich der Himmel sein. Sie war sich sicher: Nirgendwo in Berlin, nein, nirgendwo auf der Welt gab es solche Luft, so viele Vögel in bewohnten Gebieten. Ja! Dies muss wahrlich der Himmel sein. Der Himmel! Sie hatte es ihr ganzes Leben lang geglaubt, sie hatte es erwartet, sie hatte bestimmte Vorstellungen. Sie würde Gott sehen, und Jesus und Engel und ihre Familie. Es würde wunderbar sein. Irgendwie traute sie sich noch nicht, die Augen aufzuschlagen. Irgendetwas war merkwürdig. Ihr Unterbewusstsein hatte es bereits vor ihrem Gehirn registriert. Wenn dies der Himmel war, wieso hatte sie so einen abscheulichen, furchtbaren, widerwärtigen Geschmack im Mund - wie alter Teppich? Wieso brannte es in ihrer Kehle, wieso klebte ihre Zunge am Gaumen? Sie brauchte einen Moment, diesen Schmerz zu identifizieren. Durst, sie hatte unglaublichen Durst. Und ein anderer, nicht ganz so starker Schmerz machte sich noch bemerkbar, einer den sie schon sehr lange nicht mehr verspürt hatte. Leichte Krämpfe im Magen deutete sie nach kurzem Nachdenken als Hunger. Schmerzen? Genau, sie hatte immer Schmerzen gehabt. Aber der gewohnte, ziehende, stechende, mürbe machende Schmerz ihrer Krebskrankheit, den spürte sie nirgends in sich. Aber dieser furchtbare Durst? Hatte man im Himmel quälenden Durst? Und sie lag auch nicht wirklich bequem. Sie spürte jetzt stärker die Unterlage, auf der sie auf dem Rücken lag. Sie war rau, irgendwie kratzig an den Händen, die neben ihrem Körper lagen. Jetzt nahm sie zwischen den Vogelstimmen auch andere Geräusche wahr. Ein regelmäßiges, aber weit entferntes Klopfen oder Hämmern und Rufen von menschlichen Stimmen. Sie lauschte. Sie waren zu weit weg, um einzelne Worte auszumachen. Und dann näherte sich ein Geräusch, das sie immer geliebt hatte. Sie hörte ein Pferd im Schritt über Holz gehen. Eindeutig ein Pferd oder ein Esel, aber ohne Hufeisen. Auf Holz, vielleicht eine Brücke? Mit dem Geräusch kam auch ein heftiger Gestank von Exkrementen. Hatte Sara schon vorher Zweifel gehabt, ob sie sich wirklich im Himmel befand, jetzt hatte sie Gewissheit, dass es nicht so war. Was für eine unglaubliche Enttäuschung. Sie spürte wie die Ernüchterung in ihr aufstieg. Ihre Wangen wurden heiß. Normalerweise hätte sie vermutlich geweint, aber ihr Körper schien keine überschüssige Flüssigkeit für Tränen mehr zu besitzen. „Guten Morgen, Linda!“, rief eine männliche Stimme. „Grüß dich, Hans!“, antwortete eine weibliche Stimme. „Stell doch bitte deinen Eimer hoch, dann muss ich nicht absteigen. Ich bin schon spät dran. Gibt es bei dir etwas Neues?“, fragte der Mann, der Hans hieß. „Nein, alles unverändert“, antwortete Lindas Stimme gefolgt von einem metallischen Klappern. „Grüße bitte Marla, wenn du sie bei ihrem Haus siehst. Und sage, dass ich sobald wie möglich mal wieder komme. Ich hatte schon länger keine Zeit, sie zu besuchen.“ „Mach ich! Na dann bis morgen, Linda!“ „Bis morgen!“ Die Geräusche der Hufe und eines Wagens, den sie jetzt auch hörte, entfernten sich. Und allmählich wurde auch die Luft wieder besser, die durch ein offenes Fenster hereinzuströmen schien. Jetzt fühlte sie sich hellwach, wenn nur dieser Durst nicht wäre, der sich jetzt wieder in den Vordergrund schob. Und wenn dies nicht der Himmel war, wo war sie dann? Inzwischen war Sara bereit, auch die Augen zu öffnen und noch mehr Sinneseindrücke zuzulassen. Sie könnte ja mal rufen, vielleicht hörte sie jemand und sie könnte Wasser bekommen. Als sie die Augen aufschlug, sah sie über sich eine Holzdecke aus groben, breiten Brettern und Balken. Eine Deckenlampe gab es nicht. Sie versuchte zu rufen, aber ihr Mund war so trocken, dass es nicht einmal für den kleinsten Laut ausreichte. Sie versuchte, sich umzuschauen. Es fiel ihr erstaunlich schwer, den Kopf zu drehen. Die Wände eines kleinen Zimmers waren aus großen Feldsteinen mit Mörtel errichtet und nicht verputzt. Die wenigen Möbel waren aus Holz gebaut: Ein Tisch, vier Stühle, eine Truhe, ein Schrank. Auf dem Tisch lagen zwei Bücher. Eines davon war aufgeschlagen. Sie sah einen offenen Kamin, in dem aber gerade kein Feuer brannte und in einer Ecke stand ein Spinnrad. Am Kamin stand eine Art Schaukelsessel. Er sah bequem aus. Das Licht kam durch drei offene Fenster an zweien der Wände. An der dritten Wand, an der sich auch ihr Lager befand, sah sie eine schlichte Holztür. „Okay. Dies ist nicht der Himmel. Aber warum bin ich im Filmset von Unsere Kleine Farm aufgewacht?“, fragte sich Sara erstaunt. Sie hörte entfernt eine Tür gehen. Vielleicht war ja diese Linda ins Haus gekommen? Vielleicht war es ja ihr Haus? Es frustrierte Sara, dass sie nicht rufen konnte. Dieser Zustand dauerte allerdings nicht lange, da gleich darauf die Tür geöffnet wurde. Eine große, drahtige und sehr schlanke Frau kam herein. Ihr offenbar langes graues Haar hatte sie zu einem festen Knoten gedreht, der den Blick ungehindert auf ihr ernstes, faltiges Gesicht frei ließ. Sie ging ein wenig gebeugt. Sie trug ein graues, gewebtes Leinenkleid, das nicht schlichter hätte sein können. Ihre nackten Füße steckten in abgetragenen Lederpantoffeln. Die Frau schien allerdings ein ganz klein wenig zu alt, um die Mistress Ingalls in „Unsere kleine Farm“ zu verkörpern. Das Kostüm jedoch war ein echter Volltreffer. Sara hätte gelächelt, wenn sie nicht so durstig gewesen wäre. Stattdessen versuchte sie die Aufmerksamkeit der Frau zu bekommen, indem sie ein Geräusch mit den Fingern machte. Dies wäre allerdings gar nicht notwendig gewesen, denn die Frau hatte sich ihr bereits zugewandt und musterte sie mit dem interessierten Blick, wie etwa eine Krankenschwester nach einer Patientin schaut. Ihre Augen trafen sich. Und dies veränderte den Blick der Frau sofort. Da gab es neben Wiedererkennen höchstes Erstaunen, fast Erschrecken. „Joanna? Aber wie ist das möglich? Joanna? Du bist ja wach“, sprach die Frau sie an. Sie wirkte plötzlich ganz aufgeregt. Sara erkannte die Stimme wieder, die sie eben von draußen gehört hatte. Dies musste also Linda sein, die eben mit dem Mann Hans gesprochen hatte. Außerdem kam Sara diese Linda auch vom Aussehen irgendwie vertraut vor. Obwohl sie sich sicher war, dass sie diese Frau noch nie vorher gesehen hatte. Es musste an den Augen liegen, die sie so durchdringend angeschaut hatten. Linda hatte sich jetzt zu Sara gekniet und kam mit dem Gesicht recht nahe an sie heran. Wieder blickte sie ihr tief in die Augen. Und auf einmal erkannte sie Errigs Augen in diesem Gesicht wieder. „Joanna“, sagte Linda erneut. Jetzt klang es aber fast wie eine Frage. Zweifel hatte ich in ihre Stimme gemischt. Aus der Nähe hatte sie wohl etwas gesehen, was sie nicht erwartet hatte. Sara schüttelte den Kopf und wollte sprechen, aber ihre Lippen hingen aneinander wie festgeklebt. Daher brachte sie ihre Hand zum Mund und sah die Frau an. Die Bewegung fiel ihr erstaunlich schwer. Sie konnte den Kopf nur wenig anheben. Sie machte dann eine Geste, als ob sie aus einem Glas trinken würde. Ihren Arm zu heben machte ihr Mühe. Er fühlte sich bleischwer an und sie sackte, ermattet wie von großer Anstrengung, zurück auf ihr Lager. „Warte, ich hole dir zu trinken.“ Sie stand auf und verließ eilig das Zimmer. Saras Gedanken rasten. Linda! So hieß doch Errigs Mutter. Dies war eines der wenigen Details aus Errigs Leben, das sie jemals aus ihm herausgeholt hatte. Auch wenn er sich nur aus Versehen verplappert hatte. Und dass er Pferde mochte. Errig musste es tatsächlich gelungen sein, ihren Zustand zumindest zu verbessern. Nach diesen kleinen Bewegungen fühlte sie sich total schlapp. Aber immerhin hatte sie außer dem Durst und dem Hunger keine weiteren Schmerzen. „Das ist erstaunlich! Einfach unglaublich!“, dachte Sara. „Ich lag im Sterben!“ Aber in genau diesem Moment stieg ihre letzte Erinnerung auf. Errig hatte ihr ungefragt eine Spritze verpasst. Sie war zwischendurch offenbar nicht aufgewacht. Und jetzt war sie hier. Wo auch immer hier war. Eigentlich müsste sie wütend auf ihn sein. Aber jetzt ging es ihr offenbar gut genug, dass er sie hatte transportieren können. Seit Monaten hatte sie sich nicht mehr so gut gefühlt. Natürlich konnte sie sich nicht sicher sein, was Errig erreicht hatte. Aber für den Moment fühlte es sich wunderbar an. Vielleicht war es nur eine vorübergehende Verbesserung. Ein letztes Aufbäumen ihres Körpers vor dem Ende? „Oder er hat mich irgendwo in ein Rehazentrum gebracht. Aber warum war dann Errigs Mutter auch hier? Und der Luft und dem Ambiente nach zu urteilen bin ich nicht gerade um die Ecke von der Sonnenallee“, dachte Sara und fragte sich angesichts ihrer Umgebung, wo man Häuser wohl so rustikal einrichtet. Und warum wurden die Toiletteneimer mit dem Pferdewagen abgeholt? Linda kam herein und dies beendete ihren Gedankengang. Sie trug einen Krug und einen Becher. Sie stellte den Becher auf den Tisch und schenkte Wasser aus dem Krug ein. Sie wandte sich Sara zu. „Warte, ich helfe dir, dich aufzusetzen“, sagte Linda. „Dazu nehme ich deine Schultern. Du kannst dich ja mit den Beinen ein wenig abstoßen.“ Ihre Stimme klang jetzt etwas härter und distanzierter. Aber mit Pflege hatte Linda offenbar Erfahrung. Sara versuchte erfolglos, ihre Knie anzuziehen. Ihre Beine gehorchten ihr nicht. Linda gab ihren Versuch auf, Sara hinzusetzen. Stattdessen setzte sich Linda auf die Bettkante und stützte Saras Kopf und Oberkörper. Sara griff nach dem Becher, brauchte zum Trinken allerdings Lindas Unterstützung. Sie konnte nicht einmal den Becher allein halten. Zwar handelte es sich um einen schweren Tonbecher, aber so schwer war er nun auch wieder nicht. Sie fühlte sich einfach unglaublich schwach. Ihr Körper gierte nach der Flüssigkeit und sie hätte schneller getrunken, wenn sie gekonnt hätte. Linda gab ihr immer nur einen kleinen Schluck auf einmal. „Langsam“, mahnte sie. „Dein Körper kann das Wasser gar nicht so schnell aufnehmen. Es ist genug da.“ Sie trank gleich noch einen zweiten Becher langsam aus. Das Wasser tat so gut. Sara spürte sofort die Verbesserung. „Vielen Dank!“, brachte sie endlich heraus, als sie auch diesen Becher ganz geleert hatte. Linda legte Sara wieder ab und stand auf. „Du kannst gleich noch mehr trinken.“ Sie schaute Sara noch einmal direkt an und schüttelte für sich selbst den Kopf: „Ich bin übrigens Linda“, stellte sie sich kurz vor. „Ich werde jetzt zum Spital rübergehen und dem Heiler mitteilen, dass du wach bist. Ich muss dann auch noch ein paar Sachen holen. Wir kommen dann gleich wieder. Wir hatten, ehrlich gesagt, nicht damit gerechnet, dass du je wieder aufwachst.“ „Und ich bin Sara“, sagte Sara und wollte noch etwas hinzufügen. Doch Linda fiel ihr ins Wort: „Ich weiß genau, wer du bist!“, sagte sie scharf, warf ihr noch einen eigenartigen Blick zu und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Sara wunderte sich über Lindas Schroffheit. War dieser Blick eben vorwurfsvoll gewesen? Was hatte sie getan? „Zuerst hatte sie gedacht, ich sei eine gewisse Joanna, wer auch immer das war. Und als ich es offensichtlich nicht war, hat Linda mich plötzlich sehr schroff behandelt“, grübelte Sara. Viele Fragen stiegen in ihr auf. Wo war Errig? Und was hatte er seiner Mutter über sie erzählt, dass Linda so kühl zu ihr war? Sie hatten sie hier wohl schon abgeschrieben gehabt. Sie lag in einem Privatquartier und nicht im Spital, das offenbar in der Nähe war. Was hatte das alles zu bedeuten? Das Wasser tat seine Wirkung. Sara fühlte sich besser. Wenn auch immer noch sehr hungrig. Sie hoffte, sie würde auch bald etwas zu essen bekommen. Gerne wäre sie aufgestanden, um noch mehr zu trinken. Aber sie konnte sich kaum bewegen. Sara nutzte die Gelegenheit, um eine kurze Inventur ihres Körpers zu machen. Alle ihre Sinne funktionierten prima. Dass Augen, Ohren und Nase ihren Dienst taten, hatte sie ja bereits festgestellt. Ihre Hände tasteten die Unterlage ab, auf der sie lag. Sie hatte schon vorher bemerkt, dass sie auf einer eher rauen Fläche lag. Ein grobes, gräuliches Leinentuch, ein flaches Kissen, ebenfalls mit Leinen bezogen und ein ebensolches Laken bedeckte sie. Sie steckte in einer Art Nachthemd aus dem gleichen rauen Material. Unter ihrem Gesäß fühlte sie eine Art Filzfließ, das wiederum auf einem Plastiktuch lag. Dies waren wohl Vorkehrungen, falls sie sich hätte erleichtern müssen. Da sich alles trocken anfühlte, kam sie zu dem Schluss, dass ihr wohl außerordentlich gute Pflege zugekommen war. Das erfüllte sie mit Dankbarkeit gegenüber Linda, Errig und vielleicht anderen, von denen sie noch nichts wusste. Vielleicht wurde Linda die Pflege zu viel und sie hatte sie deshalb so scharf behandelt? „Da habe ich wohl etwas gutzumachen“, nahm sich Sara vor und beschloss, Linda zu helfen, wo sie konnte, sobald sie wieder zu Kräften kam. Sie fror auch nicht. Ihr war weder kalt noch warm. Diese wunderbare Luft, die durch das offene Fenster kam, nahm Sara als herrlich würzige und leichte Brise wahr. Mit den Kräften allerdings haperte es noch. Warum war sie so ungeheuer schwach? Sara fühlte mit den Händen nach ihren Beinen. Sie waren nicht gelähmt, denn sie konnte ihre Finger auf den Oberschenkeln spüren. Sie konnte auch ihre Zehen ein wenig bewegen. Aber die Bewegungen strengten sie unsagbar an. Sie war so matt und schlapp. Wie lange war sie wohl so außer Gefecht gesetzt gewesen? Sie besah sich ihre Arme, so gut es ging. Sie waren immer noch so dünn wie vorher, ihre Finger lang und schmal. Ihre Fingernägel waren ziemlich lang. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben einen so schönen Satz natürlicher Fingernägel gehabt zu haben. Früher hatte sie die Nägel für ihre Arbeit kurz gehalten. Und während ihrer Krankheitsphase waren sie durch die Chemotherapie so angegriffen gewesen, dass sie von allein abgefallen und ihre Hände unansehnlich waren. Jetzt allerdings sahen sie perfekt aus. Das musste ein gutes Zeichen sein. Zwar war ihre Haut sehr blass, aber dies war nichts Neues. Woher hätte sie auch Farbe bekommen sollen? Sie betastete ihr Gesicht, alles fühlte sich normal an. Sie wollte sich über den Kopf streichen, um zu sehen, ob ihre Haare wieder wuchsen und wurde überrascht von dem dichten Haarschopf, den sie auf ihrem Kopf fühlte. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, die länger waren als ihre Finger, ja sogar als ihre Hand. Wie war das möglich? Es dauerte doch bestimmt Monate, bis Haare so lang wachsen konnten, oder? Und hatten ihr die Ärzte im Krankenhaus nicht gesagt, dass, falls sie je wieder gesund werden würde, nach der Chemo die ersten Haare wie ein dünner Flaum sein würden und so zart wie Babyhaare? Einen kleinen Ansatz davon hatte sie bereits gehabt. Diese Haare, die sie nun fühlte, ja sie konnte sich sogar schon eine Strähne vor die Nase halten und sehen, fühlten sich an wie ihre alten Haare, wenn auch im Moment sehr fettig. Vielleicht waren sie sogar kräftiger und gesünder als zuvor. Wie konnte das nur möglich sein? Ihr kam ein Verdacht und so betastete sie auch ihren Oberkörper, um nach den Operationsnarben auf ihrem Brustkorb zu fühlen. Sie konnte ihre Hand von oben unter das weite Nachthemd fahren lassen. Aber sie zog ihre Hand sogleich überrascht zurück. Wo sich früher ihre Haut spannte, fühlte sie nun einen festen, rundlichen Hügel und auf der anderen Seite auch. Mehr Oberweite als sie jemals in gesunden Tagen gehabt hatte. Das konnte doch nicht wahr sein. Wie um sich vom Gegenteil zu überzeugen, wiederholte sie die Untersuchung nun etwas mutiger. Natürlich konnte sie sich im Liegen nicht sicher sein, aber das fühlte sich doch nach reichlich mehr als einer Handvoll an. „Errig! Wenn ich dich in die Finger kriege!“, dachte sie verärgert. Ungefragt Spritzen zu verabreichen, das war eine Sache. Sie wollte ihm nichts Böses unterstellen und glaubte sicher, dass er ihr hatte helfen wollen, Schmerzen zu verhindern. Und irgendetwas hatte er richtig gemacht, sonst würde ihr es jetzt nicht so gut gehen. Aber bei ihr, ohne ihre Zustimmung, eine Brustvergrößerung durchzuführen, war ein starkes Stück. So viel Silikon hätte sie sich niemals selbst ausgesucht. Sie hätte so eine OP nie auch nur in Erwägung gezogen. Das grenzte schon an Körperverletzung. „Na warte!“, dachte sie. „So dankbar ich auch bin, dass ich keine Schmerzen mehr habe, aber das geht zu weit. Da sind deine Männerfantasien aber kräftig mit dir durchgegangen!“ Geräusche und ein Poltern vor der Tür rissen Sara aus ihren Gedankengängen. Linda und ein großer, grauhaariger Mann traten ein. Die wenigen Haare seines Haarkranzes fielen ihm bis auf die Schulter, ihn schmückte ein langer, buschiger Bart, der sein hageres Gesicht umrahmte. Er trug eine Tunika und eine weite Hose, beide braun, aus grobem Leinen gewebt. Insgesamt wirkte er wie ein gütiger, alter Mönch. Sein Blick suchte sofort den von Sara. Er lächelte sie breit an. Seine wachen Augen lächelten auch. „Solche Momente sind doch Höhepunkte unserer Arbeit“, sagte er mit einer tiefen Stimme, die gut zu ihm passte. „Dass ich erleben kann, in diese Augen zu sehen. Und du hast Recht, Linda. Es sind Joannas Augen“, sagte er nun zu Linda gewandt. Diese nickte, schluckte, schlug sich eine Hand vor den Mund und verließ fluchtartig das Zimmer. Der Mann wandte sich wieder an Sara. „Ich bin Jaason, der Heiler. Und dass du lebst, Sara, ist unfassbar“, stellte er sich vor. „Wer ist Joanna?“, fragte Sara etwas irritiert von Lindas Abgang. „Entschuldige. Das muss alles sehr verwirrend für dich sein. Joanna war Errigs verstorbene Ehefrau. Du hast ihre Augen und siehst ihr auch sonst sehr ähnlich. Du hast sogar ihre Stimme. Ich kann jetzt verstehen, dass Errig dich retten wollte.“ „Wo ist Errig?“, fragte Sara. Jaason schürzte die Lippen. „Später, Sara, erkläre ich dir alles“, wehrte Jaason ab. „Kann ich bitte noch etwas Wasser haben?“, fragte Sara. „Und etwas zu essen? Ich habe einen Riesenhunger. Ich könnte ein Pferd essen.“ „Bitte nicht, wie haben nur wenige Pferde. Und die brauchen wir alle zu dringend, als dass wir sie essen sollten. Obwohl sie bestimmt sehr lecker wären. Ich war selbst schon in der Versuchung.“ Sara wusste nicht recht, ob Jaason scherzte. Er hatte warme, heitere Augen, und sicher den Schalk im Nacken. Andererseits war Jaason so hager, dass Sara bereit gewesen wäre zu glauben, dass er jedes Wort buchstäblich so meinte, wie er es sagte. Er stand auf und füllte den Becher erneut. Jaason half ihr, wie Linda, langsam zu trinken. „Ich werde dir etwas Brot und Suppe aus dem Spital kommen lassen. Linda kann dir dann beim Essen helfen.“ Jaason hatte Sara wieder abgelegt und betastete ihre Hände und Arme. „Aber zuerst möchte ich wissen, wie es dir geht. Als du im Koma lagst, hatten wir den Eindruck, du müsstest gelähmt sein. Du hattest überhaupt keinen Muskeltonus. Jetzt habe ich eher den Eindruck von Schwäche, was nach den vielen Wochen allerdings auch nicht verwunderlich ist.“ „Ich lag im Koma? Wochenlang?“, fragte sie erstaunt. „Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen sollte. Als John dich fand, warst du an eine Maschine angeschlossen, doch die hatte keine Energie mehr. Immerhin hast du selbstständig geatmet. Er hat entschieden, dich hierher mitzubringen, obwohl wir hier nur wenige Möglichkeiten haben. Wir haben dir Infusionen gegeben, doch die sind seit zwei Tagen restlos aufgebraucht. Es gab einfach nichts mehr, was wir für dich tun konnten. Als dann viele Kinder Keuchhusten bekamen, brauchten wir drüben im Spital jedes Bett...“ Er sah sie nachdenklich an. „Ehrlich gesagt, ich hatte gedacht, du würdest sterben. Du warst nicht ansprechbar oder erweckbar. Wir konnten weder Wasser noch Nahrung in dich hineinbekommen. Auf der anderen Seite sehen wir seit Wochen dabei zu, wie deine Haare und Fingernägel wachsen und deine Haut immer gesünder aussieht. Ich habe keine Erklärung dafür. Wir wissen nicht genau, was diese Maschine in dir bewirkt hat. Und jetzt bist du einfach so aufgewacht. Es ist unglaublich. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Wie fühlst du dich?“ „Hungrig! Schwach! Alle Sinne funktionieren normal. Ich kann zwar alle Körperteile bewegen, aber jede Bewegung macht mir Mühe! Und ich habe überhaupt keine Schmerzen mehr von meiner Krebserkrankung. Errig hat es tatsächlich geschafft, meine Situation zu verbessern. Und ich habe ihm nicht geglaubt. Allerdings: Meine Muskeln müssen völlig zurückgebildet sein. Nichts, was ich mit Gymnastikübungen nicht wieder hin bekäme.“ Jason nickte. „Wenn du das allein wieder hinbekommst. Wir haben hier nur wenig praktische Erfahrung damit. Errig hatte mit Schulungen begonnen.“ Sara fuhr ungeduldig fort: „Jetzt habe ich erst mal ein paar Fragen. Wer ist dieser John, der mich gefunden hat? Und wo ist Errig? Ich muss ihn unbedingt sprechen. Und wo bin ich überhaupt? Welches Datum haben wir? Und warum ist Linda so abweisend?“, sprudelte es aus Sara heraus. Jaason sah sie nachdenklich an: „Das sind aber viele Fragen auf einmal“, sagte er, stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. „Linda!“, rief er und fuhr fort, nachdem Sara Schritte vor der Tür hörte. „Würdest du bitte Brot und Suppe aus dem Spital holen?“ Dann schloss er die Tür wieder. Er nahm sich einen Stuhl und stellte ihn zu Sara ans Bett. Er setzte sich. Das alles tat er langsam. Als ob er Zeit zu gewinnen versuchte, um seine Gedanken zu ordnen. Er sah sie einen Moment an. Dann holte er tief Luft und sagte: „Und nun zu deinen Fragen. Manche sind leichter zu beantworten als andere.“ Wieder machte er eine Pause und schloss kurz die Augen, wie um sich zu konzentrieren. „Das Einfachste zuerst. John, eigentlich heißt er Johnathan, ist Lindas jüngerer Sohn. Er hatte nach Errig gesucht, nachdem der sich mehrere Wochen nicht zurückgemeldet hatte. John konnte ihn in Berlin nicht aufspüren. Errig hatte überraschend seine Arbeit im Krankenhaus abgebrochen und weder dort noch bei uns eine Nachricht hinterlassen. John suchte eine Nadel im Heuhaufen bis er an einem Ort, der Hermannplatz heißt, von einem Fremden als Errig angesprochen wurde. Das kann leicht geschehen, denn die Brüder sehen sich sehr ähnlich. John folgte dem Fremden zu seinem Haus. Es stellte sich heraus, dass es dein Nachbar Peter war. Er zeigte John die Wohnung, in der er Errig gesehen haben wollte. Es war deine Wohnung, Sara. Wenn dein Nachbar John nicht angesprochen hätte, dann hätte er euch nie gefunden.“ „Du sagtest etwas von einer Maschine, an die ich angeschlossen war. Hat Errig versucht, mich damit zu heilen?“, fragte Sara. „So muss es wohl gewesen sein. John fand dich und Errig in der Wohnung. Ihr wart gemeinsam an diese Maschine angeschlossen. Aber nur du hast normal geatmet...“ Jaason biss sich auf die Lippen. Leise fügte er hinzu. „Für Errig kam jede Hilfe zu spät. Er ist zwar noch nicht tot, aber so gut wie. Er ist nur Haut und Knochen. Wir können ihn nicht erwecken. Errigs Pulsschlag war kaum noch existent. Seine Atemfrequenz bei fünf. Alles was John tun konnte, war ihn im Hauptquartier in eine Kryogenkammer zu legen. Das mag zwar noch Monate lang funktionieren, aber wir haben keine Kenntnisse, um seinen Zustand zu verändern. Es ist so, als sei er lebendig tot. Eingefroren in der Zeit.“ Sara brauchte einige Atemzüge lang, bis sie diese Nachricht richtig in ihrem Gehirn zusammengesetzt hatte. „Errig ist wie tot in einer Art Koma? Eingefroren? Ohne Hoffnung je zu erwachen?“, fragte Sara entsetzt. „Es tut mir Leid, Sara, dir das sagen zu müssen. Für uns hier ist sein Zustand ein so schmerzlicher Verlust, dass ich kaum weiß, wie es weitergehen kann.“ Sie konnte es nicht fassen. Errig im Koma. Eigentlich müsste es anders sein. Sie hätte sterben sollen. So war es abzusehen gewesen. Es wäre in Ordnung gegangen, ihr Weg, der Lauf der Dinge. Das wäre der Wille Gottes, oder? Wenn Gott gewollt hätte, dass sie lebt, dann hätte er sie geheilt. Das hätte er getan. Gott hätte das gekonnt. Davon war Sara überzeugt. Und dann hatte Errig sich eingemischt und Gott ins Handwerk gepfuscht. Und jetzt war er weg. Das war so unlogisch, so unvorhergesehen, so falsch. Das kann doch unmöglich der Wille Gottes sein: „Er hat sich an eine Maschine angeschlossen, um mir das Leben zu retten? Er hat sich für mich geopfert?“, fragte Sara, um sich zu vergewissern. „Ich glaube nicht, dass Errig gedacht hat, dass er dabei sterben oder ins Koma fallen würde. Er wollte dich bestimmt heilen und hat dann die Maschine falsch eingestellt. Vielleicht war sie auch kaputt. Die Maschine hat Errig seine gesamte Lebensenergie entzogen. Es war wohl eher ein Unfall. Er war unser einziger, gut ausgebildeter Arzt. Er war sehr verantwortungsbewusst. Er wusste, dass er hier gebraucht wurde. Er war immer für seine Mutter und seinen Sohn da.“ „Seinen Sohn?“, fragte Sara. „Ja. Du wirst Tim sicher noch kennen lernen. Er wird hier im Haus von Linda gepflegt.“ „Gepflegt?“ „Ja, Tim ist sehr behindert. Er ist jetzt acht Jahre alt, aber er kann weder laufen noch sprechen. Er benötigt bei allem Hilfe. Die zusätzliche Belastung kostet Linda viel Kraft. Errig hatte sich in die Aufgabe gestürzt, nach einer Heilung für Tim zu suchen. Und er wollte, dass so etwas nicht mehr passiert“, erklärte Jaason. Aber eine Erklärung war das nicht. „Was soll das bedeuten“, dachte Sara. „so etwas?“ Als ob Jaason erraten konnte, dass Sara weitere Informationen brauchte, fuhr er fort und beantwortete ihre unausgesprochene Frage. „Joanna, Errigs Frau, ist bei Tims Geburt gestorben. Ein furchtbarer Verlust. Unsere einzige begabte Musikerin hier. Errig konnte weder ihren Tod noch Tims Fehlbildungen verhindern. Er konnte sich das nie verzeihen. Errig hat Joannas Tod nie verkraftet. Er gab sich selbst die Schuld daran. Er hielt sich für einen schlechten Heiler. Er hätte sie retten müssen, sagte er sich immer wieder. Errig stürzte sich in Arbeit, in Bücher, in Forschung, aber nichts brachte ihn so sehr voran wie die Entdeckung des Apparates vor zwei Jahren. Seitdem ist es bei uns in der Medizin wirklich vorangegangen. Er brachte hilfreiche Bücher zu uns, er lernte unglaublich viel in eurem Krankenhaus. Er führte hier sogar Operationen durch. Es war ein wirklicher Durchbruch. In den letzten zwei Jahren ist weder eine Mutter noch ein Kind bei einer Geburt gestorben. Es ist überhaupt keiner mehr gestorben. Wir, nein, vor allem er, konnte jedem helfen. Und jetzt ist er weg. Für Tim war es auch ganz schrecklich. Er hat das schon verstanden, dass sein Vater nicht mehr da ist. Er weinte tagelang. Er hatte sehr an ihm gehangen.“ Es sprudelte nur so aus Jaason heraus. Aber das war zu viel für ihn. Der Schmerz übermannte ihn und er schlug sich die Hände vors Gesicht. Nach einer Weile flossen Tränen durch seine Finger. Sara hatte nicht alles verstanden, aber genug, um sich mit ihm zu sorgen. Sie hatte nicht erfasst, was er mit „uns“ und „euch“ meinte oder von welchem Apparat er sprach, aber sie sagte nichts. Sie gab ihm Zeit, erneut um Errig zu bangen. Und auch sie musste diese Nachricht erst einmal hören und verstehen. Sie schloss die Augen und rief sich Errigs Gesicht in Erinnerung. „Errig, was hast du nur getan?“, dachte sie traurig. „Warum hast du dich eingemischt? Damit konntest du dir deine Joanna auch nicht wieder lebendig machen. Und jetzt hat Tim keinen Vater mehr.“ Auch in ihr stiegen Tränen auf. Ihr Flüssigkeitshaushalt funktionierte wohl wieder, denn bald darauf liefen auch ihr Tränen über das Gesicht. Die Tür ging auf und Linda trat mit einem Tablett ein. Ein Blick und sie hatte die Situation erfasst. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und legte Jaason mitfühlend die Hand auf die Schulter. Die Geste rührte Sara in der Tiefe an. Denn eigentlich war es die Mutter, die um ihren Sohn trauerte, die seine und ihre Anteilnahme brauchte. Die Großmutter, die ihr krankes Enkelkind jahrelang gepflegt hatte, wenn ihr Sohn arbeitete und die jetzt wahrscheinlich in den kommenden Jahren allein vor dieser Aufgabe stand. Linda hatte Tim sicher viel trösten müssen in den letzten Tagen. Vielleicht hatte sie ihren eigenen Schmerz auch vor ihrem Enkel verborgen. Linda schien die Art von Frau zu sein, die ihre Gefühle nicht zur Schau stellte, die nach außen stark erschien. Aber machte sie das nicht auch hart und verbittert? „Linda, es schmerzt mich, vom Zustand Ihres Sohnes zu hören. Ich spreche Ihnen mein Mitgefühl aus. Errig ist bestimmt ein Sohn, auf den Sie immer stolz sein konnten. Ich hoffe, dass in der Zukunft ein Weg gefunden wird, Errig ins Leben zurückzuholen.“ Linda sah Sara überrascht an. Einen Moment lang brach die Trauer in ihren Augen durch. Doch dann sagte sie: „Ihnen und Sie, das gibt es bei uns nicht. Hier gibt es nur du und dich. Und Errig hast du gar nicht richtig gekannt oder geliebt. Du hättest ihm niemals die Frau, wie Joanna es war, ersetzen können.“ Sara hatte mit so einer Reaktion nicht gerechnet. Zunächst war sie schockiert, verletzt und wollte verbal zurückschlagen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann machte sie ihn gleich wieder zu. Sie wollte nicht etwas ebenso Verletzendes sagen. Sie hätte gerne auf die Vorwürfe reagiert, sich verteidigt. Sie wollte sagen, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatte, Errig besser kennen zu lernen. Ihr erklären, wie sie sich Gefühle für Errig versagt hatte. Doch am Ende sagte sie gar nichts. Stattdessen machte sie sich Lindas Situation klar. Sie hatte viel durchgemacht. Und wahrscheinlich noch mehr, als sie bisher wusste. Und jetzt hatte Linda auch noch Sara am Hals und damit einen weiteren Pflegefall, zumindest für einige Tage. Sicher war später noch Gelegenheit, die Dinge richtig zu stellen. Vielleicht tat es Linda gut, all das herauszulassen. „Linda“, sagte Jaason mit sanftem Tadel in der Stimme. „Mach‘ es Sara nicht so schwer. Sie weiß noch nicht einmal, wo sie hier gelandet ist.“ Er stand auf und kam zu Sara herüber. „Ich sehe heute Nachmittag noch einmal nach dir. Jetzt muss ich mich wieder um meine anderen Patienten kümmern. Linda, wenn Sara gegessen hat, sollte sie die Chronik von Ragna lesen. Das wird viele ihrer Fragen beantworten. Konrad soll sie dir geben.“ Und damit verließ er das Zimmer. Linda schaute ihm einen Augenblick lang nach. Dann stellte sie das Tablett auf den Stuhl, den Jaason gerade frei gemacht hatte. Sie setzte sich wie zuvor an Saras Bettkante und half ihr beim Essen. Sara war ausgehungert wie nie zuvor. Für ihren Geschmack kam der Löffel mit der Suppe nicht schnell genug zu ihrem Mund. Die Gemüsesuppe war salzlos, doch frische Kräuter machten sie schmackhaft. Sie bestand aus Möhren und einer anderen Wurzelsorte, die Sara nicht kannte. Die Portion war nicht groß. Aber Jaason wusste sicher, was er tat. Selbst Sara hatte gehört, dass ein Magen, der lange keine Nahrung bekommen hatte, sich gegen zu viel Nahrung wehrte. Auch das kleine Stück Brot war wohl vor allem mit Kräutern gewürzt. Es war köstlich, aber so hungrig wie Sara war, hätte sie vermutlich sogar Stroh für einen Leckerbissen gehalten. Linda hatte sie ohne ein weiteres Wort zu verlieren gefüttert und antwortete auch nicht, als Sara sich bedankte. Sie stellte Sara noch einen Becher Wasser auf den Stuhl direkt neben das Bett, nahm das Tablett und verließ das Zimmer. In der Tür sagte sie noch kühl: „Das Buch bringe ich dir später. Jetzt habe ich erst einmal andere Pflichten.“ Und damit schloss sie hinter sich die Tür. Kapitel 8 Antworten Zunächst hatte Sara ihre Zeit allein für Krankengymnastik genutzt. Sie hatte damit begonnen, ihre verschiedenen Muskelgruppen anzuspannen und wieder zu entspannen. Anspannen, entspannen: Immer wieder zwang sie sich dazu. Sie zählte und atmete, spannte an und ließ wieder locker. Langsam kam sie auch innerlich zur Ruhe nach so viel seelischer Aufregung. Sie lebte. Sie war völlig unerwartet nicht gestorben, sondern scheinbar gesund. Auf jeden Fall fühlte sie sich großartig, jetzt, nachdem sie getrunken und gegessen hatte. Einzig ihre Muskeln brauchten dringend Training, denn sie wollte nicht lange an dieses Bett gefesselt sein, nun, wo sie sich gesund fühlte. Verbissen kämpfte sie sich durch eine dritte Runde aller Muskelgruppen. Schnell bekam sie wieder Hunger. Die Suppe und das Brot hatten ihr nicht viel Energie bereitgestellt. Sie verbrannte viele Kalorien bei den Übungen. Sie hoffte, dass das Mittagessen reichhaltiger ausfallen würde. Sich selbstständig auf die Seite zu drehen und nach dem Wasserbecher zu greifen, kostete Sara eine enorme Kraftanstrengung und viele Minuten Zeit. Sie war stolz auf sich, dass sie es schaffte, allein aus dem Becher zu trinken. Inzwischen konnte sie bei den Übungen sogar nachdenken. Und nachzudenken hatte sie viel. Sie ließ die Ereignisse an ihrem inneren Auge vorüberziehen. Errig, den sie kaum kannte, war bei dem erfolgreichen Versuch sie zu heilen, in eine Art Koma gefallen einfach so. Ein Schock, den sie noch längst nicht verwunden hatte. Errig hatte seine Frau Joanna verloren und diese sah Sara zum Verwechseln ähnlich. Das erklärte Sara endlich, was sie vorher nie verstanden hatte. Deshalb also hatte Errig sie angesprochen und als er von ihrer Krankheit erfuhr, sich für sie eingesetzt. Für ihn war es wie eine zweite Chance gewesen, Joanna zu retten. Es gab ihr einen Stich durchs Herz, dass Errig sich wahrscheinlich gar nicht für sie interessiert hätte, wenn sie Joanna nicht so ähnlich gesehen hätte. Das gab ihr schon zu knabbern. Errig hatte nur Joanna in ihr gesehen. Und was Sara ja auch immer betont hatte, nämlich die Tatsache, dass sie sich gar nicht richtig kannten, trat jetzt umso deutlicher hervor. „Liebe! Pah! Das nennt man Projektion, Errig!“, dachte Sara mit ein wenig Selbstmitleid. Und jetzt hatte dieser John sie ungefragt hierher geschleift. Allerdings muss man ihm zugutehalten, dass er sie nicht hatte fragen können, aber das Neuköllner Krankenhaus oder die Charité hätten es auch getan. Warum musste es dieser rustikale Ort sein, der möglicherweise Ragna hieß und von dem sie noch nie gehört hatte. Ihr fiel eine weitere Bemerkung wieder ein, die Errig einmal gemacht hatte: „Meine Eltern sind sehr konservativ und leben sehr zurückgezogen.“ Errig kannte Spiderman nicht und sprach auch sonst manchmal merkwürdig. Sie hatte ihn eher nach Osteuropa eingeordnet, aber weder Linda noch Jaason hatten einen Akzent. Jaason sprach von Infusionen, Apparaten und Maschinen, aber in diesem Raum gab es nicht einmal eine Lampe. War sie unter „Zurück-zum-Leben-wie-im-Mittelalter-Fanatiker“ geraten? Oder zu einem deutschen Ableger der Amisch People, von denen sie aus Amerika gehört hatte, die moderne Technik ablehnten? Jene christliche Gruppe, die noch so lebte wie im 19. Jahrhundert? Sicher würde schon bald jemand kommen, den sie fragen konnte. Sie sollte sich auch bei Vera und Peter melden. Ob Peter wohl wusste, dass sie noch lebte? Dachte er, sie sei gestorben? Was hatte John ihm erzählt? Oder Vera? Und was hat Errig mit Legolas gemacht? „Ich muss Linda so schnell wie möglich um ein Handy bitten. So etwas haben die hier doch sicher, wenn auch vielleicht nur für den Notfall, oder? Hoffentlich haben die hier Empfang“, dachte Sara. Etwas später betete sie. Tatsächlich konnte sie auf ihrem Lager gut beten. Es half ihr, sich ihrer Gefühle bewusst zu werden. Ihre Situation anzuschauen und sich für ihr unerwartet neues Leben zu bedanken. Sie wusste allerdings nicht, ob sie es Gott oder Errig zu verdanken hatte, dass sie noch lebte. Sie betete auch für Linda, Tim und Jaason um Trost. Später, Sara wusste nicht wie viel später, - Waren mehrere Stunden vergangen? jedenfalls war es als ihr Hunger begann, wirklich unangenehm zu werden, kam Linda mit einem dampfenden Tablett, das sie auf den Tisch stellte und sagte: „Mittagessen!“ Wortkarg war sie immer noch. Ein Blick genügte und Sara wusste, dass es im Moment keine gute Idee war, sie mit ihren Fragen zu bestürmen. Stattdessen bedankte sie sich noch einmal herzlich für ihre Pflege und ihre Geduld. Als sie erzählte, dass sie allein getrunken hatte, bemerkte Linda nur knapp: „Na immerhin etwas.“ Das Essen bestand aus einem handflächengroßem Klacks warmen Hirsebreis, gekochten Steckrüben und einem wirklich sehr kleinen Stück Ziegenkäse. Und wahrscheinlich Bio durch und durch, vegetarisch, und auch dies passend zu der „Zurück-zu-den-WurzelnTheorie“, die Sara aufgestellt hatte und sich immer mehr zu verfestigen schien. Steckrüben hatte Sara immer gemocht, auch wenn sie ein bisschen aus der Mode gekommen waren. Ihre Mutter hatte ein wunderbares Eintopfrezept. Manche Bauern allerdings verfütterten Steckrüben nur noch an Tiere. Auf den ersten Blick hielt Sara das Essen für ein sehr frugales Mahl, aber es schmeckte sehr viel besser als es aussah. Linda half ihr wieder beim Essen und Sara genoss jeden Löffelvoll. Die Wärme der Mahlzeit ging ihr schon nach wenigen Augenblicken durch und durch und sie hatte das Gefühl, als würden ihre Wangen glühen. Es tat ihr einfach richtig gut. Die Portion hätte für ihr Gefühl zwar etwas größer sein können, aber sie wusste, dass es für ihren Magen besser war, mit kleinen Portionen zu beginnen. Sicher hatte Jaason für sie mehrere kleinere Mahlzeiten pro Tag angeordnet. Sie seufzte zufrieden. „Vielen Dank, Linda! Das war köstlich! Ich wusste gar nicht, dass Hirsebrei so gut schmecken kann. Und der Käse erinnert mich an meine Kindheit. Genauso hat ihn mein Vater auch immer gemacht. Wir hatten damals eine kleine Herde Ziegen“, schwärmte Sara. Linda stand auf und sah Sara nachdenklich an. Dieser kleine Vortrag hatte sie offenbar überrascht. „Und John hatte uns so gewarnt, dass, solltest du jemals aufwachen, du dich als Erstes über das Essen beschweren würdest.“ Linda räumte das Tongeschirr zurück auf das Tablett. „Und wenn du etwas von Ziegen verstehst, könnte das eine große Hilfe sein. Unsere Ziegen machen uns Sorgen. Sie sind nicht gut über den Winter gekommen.“ „Ich helfe gerne, wenn ich kann“, versprach Sara. „Ich hoffe, ich komme bald wieder auf die Beine. Es ist mir unangenehm, dir eine weitere Belastung zu sein. Linda, und ich muss dringend telefonieren.“ Linda blickte sie einen Moment lang scharf an, überlegte und sah aus, als wolle sie etwas erklären, sagte dann aber doch nichts, außer: „Hier ist das Buch, von dem Jaason gesprochen hat. Es wird deine Fragen beantworten. Es tut mir Leid, Sara.“ Sie legte Sara ein kleines, ledergebundenes Buch auf den Stuhl neben sie und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Sara konnte das Buch nur unter größter Anstrengung zu sich herüberziehen. Beinahe wäre es ihr heruntergefallen. Sie hätte es nicht vom Boden aufheben können, ohne aus dem Bett zu fallen. Sie betastete das Leder des Einbandes. Das Buch sah handgemacht aus. Als sie es an einer beliebigen Stelle öffnete, sah sie die feinen Striche und Linien einer klaren Handschrift. Die Seiten waren dicht beschrieben. Wie es aussah mit der Feder. Eine schöne Arbeit. Klare Buchstaben auf schwerem Papier. Saras Interesse war sofort geweckt. Sie schlug das Buch vorn auf. „Die Chronik von Ragna“ niedergeschrieben von Halsar, dem Weisen Mögen meine Leser zahlreich und wissbegierig sein und in besseren Zeiten leben Das war alles, was auf der ersten Seite stand. „Ein merkwürdiger Einstieg“, dachte Sara. „Klingt eher wie der Anfang eines FantasyRomans.“ Sie schlug die nächste Seite auf und las die gleichmäßigen Zeilen der schönen Handschrift. Ich beginne meinen Bericht im fünften Jahr der Regierung von Miras Sonorida, dem ersten gewählten und obersten Wächter von Ragna. Er gab mir, Halsar, dem ersten Archivar und Schriftkundigen, den Auftrag, alle Ereignisse niederzuschreiben, die vor der Gründung von Ragna geschehen sind. Und auch die Chronik von Ragna wird hier zu lesen sein. Alle unsere Errungenschaften seit der Entstehung unserer Dorfgemeinschaft. Nichts soll in Vergessenheit geraten. Ich bringe nun zum ersten Male alle Geschichten zu Papier, die wir seit Generationen von den Erzählern am Feuer hören. Es ist Sommer im Jahr 2219 im Monat August. Wir haben eine gute Ernte eingebracht und endlich finde ich die Zeit und die Ruhe, meinen Auftrag als Chronist zu erfüllen. In diesem Jahr wurde mit Schulunterricht begonnen. Bringar, der Ältere, ist der Lehrer der Kinder und aller, die die Kunst des Lesens erlernen wollen. Nun, da wieder viele von uns das Lesen erlernen, ist es notwendig, unsere Geschichte niederzuschreiben und für die nächsten Generationen zu bewahren. Sara ließ das Buch nach dieser Einleitung sinken. „Also kein Fantasy-Roman, sondern eher ein Science Fiction. Warum hat mir Jaason ausgerechnet dieses Buch ans Herz gelegt?“, dachte sie. Welche Antworten sollte sie in einer fiktiven, handgeschriebenen Geschichte finden? Da Sara im Moment nichts Besseres zu tun hatte und kein weiterer Gesprächspartner zur Verfügung stand, las sie erst einmal weiter. Sie blätterte um. Die nächste Seite trug die Überschrift: „Die globale Katastrophe oder das Ende der Welt“ Bei einer globalen Katastrophe im Jahre 2076 und in den Jahren danach wurde fast die gesamte Menschheit eliminiert. Bei magnetischen Sonnenstürmen und Eruptionen wurden alle elektronischen Datenträger gelöscht, das Internet, Tonträger, Sicherungskopien, alles vernichtet, elektrische Geräte schmorten durch, Strom war nicht mehr vorhanden und konnte auch über viele Jahre nicht mehr erzeugt werden. Die Mehrheit der Menschen erblindete durch die Helligkeit der Sonneneruptionen, die immer wieder ohne Vorwarnung auftraten. Viele kamen in der Katastrophe um oder starben in den Jahren danach an Krankheiten oder verloren ihr Leben bei Unruhen im Überlebenskampf. Technologie und Wissen gingen im Machtkampf um die letzten Ressourcen der Menschen verloren. Die meisten Bücher und Musikinstrumente wurden verbrannt, als Heizmaterial in den Wintern und zum Kochen nach der Katastrophe. In der Anarchie, die mehrere Generationen herrschte, wurden die Errungenschaften der Zivilisation vergessen. Erst langsam, nachdem die Überlebenden die wichtigsten Fragen geklärt hatten, setzte ein Nachdenken über Ursprung von Kultur und Wissen der Menschheit ein. Das meiste war unwiderruflich verloren, das Wissen vage, die Erinnerungen nur noch schwach. Neuere Bücher unbekannt, daher kennen die Zeitreisenden sich im späten 20sten und frühen 21sten Jahrhundert nicht so gut aus. Man hat nur Geschichtsbücher bis in die 1960er Jahre gefunden. Die wenigen Bücher, die erhalten blieben, geben nur einen unzureichenden Einblick in den Reichtum früherer Kulturen. Erst nachdem eine einigermaßen stabile Zivilisation entstanden ist, mit einer Regierung, geregelter Arbeit und Aufgabenverteilung, wird über eine solide Schulbildung neu nachgedacht. Die letzten Überlebenden haben sich zu einer Dorfgemeinschaft namens Ragna zusammengefunden. Alle etwa 350 Personen in Ragna leben, arbeiten und essen gemeinsam. Das Leben ist mühsam und es herrscht viel Unzufriedenheit. Allerdings gibt es kaum Ressourcen und Alternativen. Die Suchtrupps, die regelmäßig ausgesandt werden, erforschen das nahe, jedoch verfallene Berlin. Sie bringen zwar nützliche Gegenstände zurück, jedoch nichts, was die Gesellschaft wirklich voranbringt. Erst die Entdeckung eines geheimen Forschungsprojektes am Hermannplatz in Berlin, einer Zeitmaschine, gibt der Gesellschaft einen Lichtblick und Erleichterungen. Die Anlage war autark und weit genug unter der Erde, dass hier die Elektronik und die Energiequelle erhalten blieben. Mit der Anlage können sich Personen durch die Zeit bewegen. Errig und John haben bereits erste Bücher, Werkzeuge und Gegenstände aus der Vergangenheit zurückgebracht, die die Situation in Ragna verbessert haben. Jetzt steht ihnen eine neue Ressource offen: die Vergangenheit kann besucht und erforscht werden....... Im Jahre 2012 errichteten John und Errig Sonorida in Neukölln am Hermannplatz ein kleines Hauptquartier der Lernenden. Lehrer in ihrer Zeit, Schüler in dieser Zeit. Ende der Leseprobe: Ich hoffe, Sie hatten Spaß und Ihr Interesse ist geweckt. Möchten Sie jetzt wissen, wie es weitergeht? Bald hat das Warten ein Ende: „Liebe auf Zeit“ erscheint Anfang Juni als Taschenbuch und E-Book Oncken-Verlag Kassel, 320 Seiten, 9,95 €, und als E-Book 3,99 € Im Buchhandel und als E-Book bei allen Anbietern.
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