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Liebe auf Zeit
Claudia Atts
LESEPROBE:
Abdruck und Veröffentlichung verboten
Oncken-Verlag Kassel
Coverdesign: Isabell Schmitt-Egner
Fotorechte: Claudia Atts
www.OnckenVerlag.de
Kapitelübersicht
Part 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Der Anfang vom Ende
Ausgerechnet Mozart
Bayern gegen Hertha
Mutter wer?
Ein Freund bleibt
Untermieter
Wer ist Errig?
Part 2
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Neuanfang
Im Himmel?
Antworten
Ragna
Johnathan
Zu Pferd durch Ragna
Die Wildgänse kommen
Flucht
Zu Hause
Sara in Hochform
Beförderung
Vorbereitungen für den Rücksprung
Drei Tage Hauptquartier
Disziplinierte sechs Richtige
Part 3
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Alles ändert sich
Thomas mit einer Mission
Rettungsmission John
Nächtliche Versuchung
Schritte in der Dunkelheit
2073
Das Sara-Eisfuß-Forschungszentrum
Jungfrau
1791
Unendliche Möglichkeiten
Wie starb Daniel Köller?
Daniel ist eben Daniel
Herzblut
Part 1
Der Anfang vom Ende
Kapitel 1
Ausgerechnet Mozart?
Die Sonnenallee war eine vielbefahrene Straße. Diesen Umstand verdankte sie dem
Durchgangsverkehr, der sich seit der Wende durch die Häuserschluchten zwängte. Sie
bildete eine Achse zwischen Kreuzberg-Mitte und Treptow-Köpenick. Pendler verursachten den Straßenlärm, die Anwohner hatten den Ärger.
Die Parkplatzknappheit sorgte vor allem dafür, dass mancher keine Wahl hatte als in
zweiter Reihe zu halten oder auszuladen. Was regelmäßig zu Staus, Auffahrunfällen und
Hupkonzerten führte. Der Verkehr kümmerte Sara Eisfuß inzwischen wenig, denn schon
vor Monaten hatte sie sich von ihrem SUV mit Anhängerkupplung getrennt. Wenn sie
gegen halb zehn in die Klinik fuhr, war in der U-Bahn nicht mehr ganz so viel los. Die
meisten Fahrgäste fanden einen Sitzplatz. Die Schüler saßen längst in ihren Klassen und
die meisten Berufstätigen waren an ihrem Arbeitsplatz angekommen.
Sara war der dunkelhaarige Mann schon seit mehreren Wochen aufgefallen. Wenn sie in
ihr Abteil stieg, um ins Krankenhaus zu fahren, saß er bereits da. Wie sie selbst schien er
immer den ersten Wagen zu wählen, der in die Station einfuhr. Nie sah sie ihn ohne ein
Buch. Sara fielen zunächst seine wirren, schwarzen Haare auf und dann, dass er jedes
Buch, das er las, in Packpapier eingeschlagen hatte. Eine Angewohnheit, die sie offenbar
mit ihm teilte. Ihr waren ihre Bücher heilig. Bevor sie ihre Schätze in der Tasche mit sich
herumtrug, entfernte sie den Schutzumschlag und schlug die Bücher neu ein; meistens
in Geschenkpapier. Was auch den Vorteil hatte, dass niemand sah, welches Buch sie im
Augenblick gerade las. Bei ihrem unrasierten Mitfahrer empfand sie genau diesen
Umstand jetzt als Nachteil. Zu gerne hätte sie gewusst, worin er sich im Moment vertieft
hatte.
Er war ein aufmerksamer Beobachter. Er verfolgte schon einmal interessiert ein
Gespräch oder schaute fassungslos mit seinen dunklen Augen einer auffällig gekleideten
Person nach. So wie neulich dem Punk, der sich wirklich bilderbuchmäßig gestylt hatte.
So einen perfekten grünen Irokesenschopf sah man nicht mehr alle Tage, nicht einmal
am berüchtigten Hermannplatz in der Nähe. Selbst Sara schmunzelte amüsiert hinter
ihrem Klassiker. Mr. Cool hatte stets einen Drei-Tage-Bart und mit diesem Detail lag er
voll im Trend. Im Gegensatz zu vielen anderen Möchtegernpiraten sah es bei ihm
attraktiv aus. Er trug saubere, meist dunkle Kleidung, dennoch sah er immer irgendwie
zerknautscht aus, als hätte er unter der Brücke geschlafen.
Zum Glück roch er aber besser, wie sie feststellen konnte, als sie sich an diesem Montag
auf den einzigen freien Platz direkt neben ihn setzte. Die dunklen Haare blieben bei
seiner morgendlichen Toilette öfter mal etwas strubbelig. Offensichtlich hatte er keine
weibliche Person, die ihn noch einmal kritisch beäugte, bevor er das Haus verließ. Und
häufig trug er einen dunklen Trenchcoat, der ihm zwar gut stand, aber nun doch schon
ein paar Jahre richtig aus der Mode gekommen war. Er sah unverschämt gut aus. Sehr
groß, sicher einen Meter neunzig, und breitschultrig, aber nicht wie ein Bodybilder. Er
lächelte selten. Nicht gerade der Typ Mann von dem sich eine vernünftige Frau ansprechen ließe, wenn sie ihn kennen lernen würde. Er sah zu gut aus, um ernste
Absichten bei einer grauen Maus wie ihr zu haben und blickte mitunter so finster in die
Gegend, dass es Sara schon einmal kalt den Rücken runter gelaufen war. Normalerweise
genügte für sie ein Blick auf so einen Mann und er wurde schon allein wegen seiner
Größe von ihr gedanklich aussortiert. Ihrer Erfahrung nach suchten sehr große Männer
nicht nach einer Frau, die einen Meter fünfundfünfzig groß war. Und ihr selbst wäre ein
derart gewaltiger Größenunterschied auch nicht recht.
„Nicht, dass ich auf der Suche wäre!“, erinnerte sie sich selbst in Gedanken an ihre
Lebenssituation. Sara war sich nicht bewusst, dass sie sich trotz ihrer strengen Vorsätze
immer nach diesem Trenchcoatriesen umsah. Er stieg jeden Tag an der gleichen Station
aus wie sie, aber er nahm dann den Ausgang entgegen der Fahrtrichtung, während Sara
den kürzesten Weg in die Klinik wählte. Sie hatten noch nie ein Wort miteinander
gesprochen. Allerdings hatte sie ihn mehrmals dabei ertappt, dass er sie anstarrte,
während sie las. Das verwirrte sie. Vielleicht erinnerte sie ihn an jemanden. Wenn es so
war, schienen es keine erfreulichen Erinnerungen zu sein.
Wie immer hatte sie ihn nicht gegrüßt, als sie sich neben ihn gesetzt hatte. Stattdessen
nahm sie sogleich ihr Buch aus der Tasche. Sara hätte es nie gewagt, ihm auch nur durch
ein Kopfnicken zu verstehen zu geben, dass er ihr aufgefallen war und sie ihn
wiedererkannte. Wenn sie ehrlich mit sich gewesen wäre, hätte sie zugeben müssen, dass
sie jeden Tag nach ihm Ausschau hielt und enttäuscht war, wenn sie ihn nicht sah, was
bisher nur einmal vorkam. Seine Abwesenheit an jenem Tag hatte sie fast erschreckt. Als
ob in ihrer kleinen Welt etwas fehlte. Sie hatte es sogar in ihrem Tagebuch vermerkt, dass
er nicht da war. Als sie den Eintrag einige Tage später noch einmal las, wurde ihr klar,
dass sich dieser gut aussehende Mann mit den dunklen Augen in ihrem Denken schon
viel zu breit gemacht hatte. Sie hatte beschlossen, ihm keine weitere Aufmerksamkeit zu
schenken. Der gute Vorsatz des Tages!
Nach einer Weile klingelte ihr Handy leise. Sie hatte einen unverfänglichen und
unaufdringlichen Ton gewählt. Sie blickte auf die Nummer, bevor sie das Gespräch
annahm. Das musste diese Tiernärrin aus Pankow sein. Sie war dankbar für den Rückruf.
Sara suchte noch einen neuen Besitzer für die letzte ihrer vormals sechs Ratten. Von
Mozart konnte sie sich nur schwer trennen, weil er ein begabtes und musikalisches Tier
war. Dreimal stand er schon vor der Kamera. In einem Werbespot hatte er komplizierteste Aufgaben mit Bravur erledigt und sah wirklich zu niedlich aus; ein kluges
Kerlchen. So etwas wie Mozart hatte sie in ihrer Laufbahn als Tiertrainerin noch nicht
erlebt. Sie war sich sicher, dass sie ihm hätte das Tanzen beibringen können, wenn ihr
die Zeit vergönnt gewesen wäre.
„Nein, Mozart geht es hervorragend!“, beruhigte sie ihre Gesprächspartnerin.
„Er ist unkompliziert, aber es wäre schade, ihn zu unterfordern. Er ist so talentiert. Er
braucht seine Musik wie die Luft zum Atmen. Ohne Klaviersonaten oder Don Giovanni
geht gar nichts. Und wenn sie Mozarts Musik nicht wirklich gerne mögen, sollte er
vielleicht doch nicht bei Ihnen einziehen“, gab sie zu bedenken. Die Frau aus Pankow
interessierte sich jedoch wirklich ernsthaft dafür, Mozart aufzunehmen. Offenbar war sie
ein Klassikfan; sehr praktisch. Während Sara der Anruferin zuhörte, bemerkte sie, dass
Mr. Cool aufmerksam geworden war und dem Gespräch gespannt folgte. Er versuchte es
zu verbergen und hielt seine Augen, scheinbar gleichgültig, auf sein Buch gerichtet, aber
immer wenn sie im weiteren Verlauf des Gesprächs den Namen Mozart erwähnte, schien
er interessiert zu lauschen. Schließlich verabredete sie mit der Pankowerin, dass sie noch
am selben Abend Mozart kennen lernen sollte. Die Tierfreundin wollte sich vor Ort ein
Bild machen. Sara war froh, dass sie nicht abgesprungen war und hoffte inständig, dass
Mozart zu ihr passte. Sie hatte einfach nicht mehr genug Energie für viele weitere
Anläufe dieser Art. Als sie endlich die rote Beendentaste ihres Handys drückte, seufze sie
erleichtert auf.
„Entschuldigung, dass ich Sie anspreche!“ Sara blickte ihren Nachbarn überrascht an.
Er hatte noch nie auch nur einen Gruß mit ihr gewechselt. Seine Stimme war
sympathisch. „Es ist sicher sehr unhöflich, einem Handygespräch zu folgen, aber habe
ich eben richtig gehört? Mozart wohnt bei Ihnen?“, fragte er mit offenbar ehrlichem
Interesse. Sara war zunächst von der Frage überrascht. Sie überlegte schnell, ob sie denn
tatsächlich so von ihrer Ratte gesprochen hatte, als ob sie ein Mensch sei.
„Wirklich!“, dachte sie schnell. „Dieser Eindruck hätte entstehen können.“ Fragen über
Haltung und Ernährung hatte sie schon im Vorgespräch geklärt. Sie fragte sich, ob sie
dem fremden Mann vertrauen konnte. Aber was konnte schon passieren? Umgeben von
anderen Fahrgästen, ein unverfängliches Gespräch, jeden Tag ein kleiner Plausch in der
Bahn, das wäre nicht schlecht. Jetzt war sie plötzlich mit ihren Gedanken schon zu weit
voraus. „So gehen sie dahin, die guten Vorsätze!“, dachte sie, als sie sich an ihren
Entschluss erinnerte, den geheimnisvollen Mann nicht weiter zu beachten.
„Ja, Mozart! Meine Ratte!“, entgegnete sie schließlich.
„Ratte?“, fragte der Mann so entgeistert, als ob er gar nicht wüsste, was das ist. Nach
einer Weile hakte er nach. „Sie halten eine Ratte als Haustier?“, fragte er ungläubig.
„Mozart war immer ein Einzelgänger. Eigentlich soll man Ratten nicht einzeln halten.
Das bekommt ihnen nicht, dann nagen sie die Möbel ihrer Halter an“, erklärte Sara.
„Eine Ratte?“, fragte der Mann mit den dunklen Augen noch einmal.
„Das ist nicht ungewöhnlich. Besonders die Männchen sind sehr zutraulich, sie haben
Charakter und man kann ihnen eine Menge beibringen. Sie sind fast so gelehrig wie
Hunde oder meine Pferde. Natürlich sind sie kostengünstiger. Leider werden sie höchstens drei Jahre alt“, verteidigte Sara nun fast gekränkt die Wahl ihrer Tiere.
„Und das wissen Sie alles aus eigener Erfahrung?“, fragte der Fremde leicht sarkastisch.
Seine Augen lächelten vielleicht ein wenig dabei.
„Ich glaube, dass ich mir als Tiertrainerin da ein fachliches Urteil erlauben kann“,
konterte Sara leicht schnippisch, ganz gegen ihre Art. Sie fühlte sich von seiner
arroganten Art provoziert.
„Und das machen Sie beruflich?“, fragte er erstaunt und mit einem vorwurfsvollen
Unterton, den Sara nicht verstand.
„Jetzt leider nicht mehr!“, gab sie traurig zu.
„War ja auch eine völlig unsinnige Zeitverschwendung!“, murmelte er so leise vor sich
hin, dass sie nicht sicher sein konnte, ob sie das wirklich richtig verstanden hatte.
Trotzdem war sie ein bisschen beleidigt und sprach für den Rest der Fahrt kein Wort
mehr mit ihm, sondern starrte demonstrativ in ihr Buch. Sie blätterte zwar einmal die
Seite um, verstand aber kein Wort von dem, was sie da las. Sie ärgerte sich über ihn.
„Mist! Mist! Mist!“, dachte sie. So hatte sie sich ein erstes Gespräch mit Mr. Cool nicht
vorgestellt. Warum hatte er ihren Beruf madig gemacht?
„Aussehen ist eben doch nicht alles.“
Das war das erste Kapitel. Und hier noch drei weitere Kapitel zum Anfüttern:
Kapitel 6
Wer ist Errig?
Legolas hatte an ihren Bewegungen gemerkt, dass Sara wach war und erhob sich von
seinem angestammten Platz am Fußende. Er stolzierte zu ihrem Kopfkissen hinauf und
drückte seinen Kopf gegen ihre Wange, die er dann ableckte. Er maunzte leicht. Sie
kraulte ihm sein samtenes Fell direkt unter dem Maul, so wie er es gern hatte. Sie
drückte ihn an sich und streichelte ihm über den Rücken. Er kuschelte sich noch enger
an Sara und die beiden genossen einen innigen Moment lang die gegenseitigen
Streicheleinheiten.
„Guten Morgen, mein Süßer“, flüsterte Sara ihm zu. Als Legolas sie erneut ableckte und
fordernder maunzte und mit seiner Nase anstupste, verstand Sara seine Botschaft. „So
einen großen Hunger hast du? Ich glaube, Errig braucht etwas Nachhilfe in Katzenpflege. Wenn er sich hier einnisten will, dann muss er sich um dich genauso gut
kümmern, wie er es bei mir schon tut!“
„Das will ich gerne versuchen. Aber in der Tat brauche ich da eine Einweisung!“,
sagte Errigs ruhige Stimme. Erschrocken blickte sie auf. Sara hatte Errig nicht eintreten
hören. Er stand an ihrem Bett und lächelte. Er war frisch rasiert. So hatte sie ihn noch nie
gesehen. Sein Dreitagebart war verschwunden. Allerdings sah er unausgeschlafen und
müde aus. Er setzte sich auf ihre Bettkante. Dafür roch er heute ungeheuer gut. Er hatte
mehr von „was auch immer es war“ benutzt als sonst. Und auch die Haare waren nach
dem Waschen noch etwas feucht und zurückgekämmt. Seine schwarzen Locken klebten
eng an seinem Kopf.
„Guten Morgen, Sara“, sagte er und nahm ihre Hand. Er küsste sie ein paar Mal leicht.
„Wie geht es dir heute? Lust auf Frühstück?“
Sara hatte von ihrem augenblicklichen Zustand noch keine klare Vorstellung. Sie holte
tief Luft und machte einen kurzen Check. Dank der Pumpe fühlte sie keine Schmerzen,
aber auch keine Kraft zum Bäumeausreißen.
„Beides beantworte ich dir, nachdem ich im Bad war“, erwiderte sie schließlich. „Hilfst
du mir auf?“ Diesmal schaffte sie den Weg auf ihren eigenen Füßen, zwar langsam aber
immerhin. Die Zeit im Bad brauchte sie dringend zum Nachdenken. Am liebsten hätte
sie sich Badewasser einlaufen lassen. Aber sie fürchtete, dass die Wärme ihren Kreislauf
belastete und das Pflaster des Verbandes am Hals nass würde. So entschied sie, nur ganz
kurz und vorsichtig zu duschen. Als das warme Wasser an ihr herabfloss, merkte sie, wie
sie sich entspannte. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie angespannt sie gewesen war.
Wie sollte sie mit Errig umgehen? Warum gab er so gar nichts von sich preis? Vertraute
er ihr nicht? Ihr war immer noch nicht klar, warum er sich ihr so anbot. Was hatte er
davon? Er kannte sie doch überhaupt nicht. Und sie kannte ihn noch weniger. Wer war
er eigentlich? Sie nahm sich vor, ihn noch einmal zur Rede zu stellen und auf Antworten
zu bestehen.
Sie stellte das Wasser ab und drehte sich um, um nach ihrem Handtuch zu greifen, das
sie immer über die durchsichtige Tür der Dusche hängte. So hatte sie es stets griffbereit.
Sie trocknete sich normalerweise in der Duschkabine vor, denn so tropfte sie nicht den
ganzen Fußboden nass, wenn sie heraustrat. Sie nahm die Pumpe vom Haken, aber das
Handtuch fehlte. Sie erschrak. Errig stand vor der Dusche und hielt ihr das ausgebreitete
Handtuch hin:
„Du hast so lange gebraucht, dass ich mir schon Sorgen gemacht habe. Ich wollte nach
dir sehen“, sagte er ganz unbekümmert. Ihr war es nicht recht, dass er einfach so ihren
nackten Körper sah:
„Gibt es kein Schamgefühl, da wo du herkommst?“, fragte sie kleinlaut und trat
schüchtern aus der Dusche. Sie hatte angenommen, dass er sie nun zügig in das
Handtuch wickeln würde. Als sie zu ihm aufsah - ein langer Weg bis zu seinem Gesicht erkannte sie, wie er sie entsetzt anschaute. Genauer, er starrte auf die beiden
halbmondförmigen Narben auf ihrem Brustkorb. Dort wo andere Frauen Brüste haben,
hatte sie nur noch ihre beiden Brustwarzen auf einer völlig glatten Haut, die sich über
die Rippen spannte, wie bei einem Mädchen vor der Pubertät. Dass sie so abgemagert
war, verstärkte diesen Eindruck sicherlich noch. Er hatte seine Fassung noch nicht
wiedergewonnen. Daher nahm sie ihm unwirsch das Handtuch ab und bedeckte sich:
„Ich dachte, Dr. Thorig hätte dich über mein Krankheitsbild aufgeklärt“, brachte Sara
schließlich hervor, um das peinliche Schweigen zu brechen. Errig war immer noch wie
im Schock. Er ließ sich auf seine Knie sinken. In dieser Haltung war er fast genau mit
Sara auf Augenhöhe. Sie sah Trauer und Schmerz in seinen Augen. Er schloss sie in
seine Arme und zog sie an sich:
„Oh, Sara, ich hatte ja keine Ahnung“, flüsterte er über ihre Schulter. „Es tut mir
so Leid für dich!“
Für Sara war es nie ein großes Ding gewesen. Sie hatte es als eines ihrer kleineren
Probleme gesehen. Da es zu Ende ging und die Hoffnung auf einen neuen, gesunden,
unversehrten Körper in der Ewigkeit in ihr lebendig war, hatte sie sich nicht allzu viele
Gedanken gemacht. Keine Tränen mehr, kein Leid und kein Geschrei, so sagte es die
Bibel. Da sie keinen Partner hatte, der etwas vermisste, war es ihr eigentlich egal
gewesen:
„Es ist okay. Es stört mich nicht“, konnte sie nun also wahrheitsgemäß mit Überzeugung sagen. „Im Himmel werde ich wieder einen neuen Körper haben. Da freue ich
mich schon drauf.“
„Im Himmel?“, fragte Errig und sah dabei ehrlich erstaunt aus.
„Du glaubst wohl nicht an ein Leben nach dem Tod?“
„Nein. Dieses Konzept von einem nahen Gott und einem lebendigen Glauben ist mir
fremd. Ich habe in deinem Tagebuch deine Gebete gelesen. Es war ... bewegend.“
Offenbar wollte Errig dieses Thema jetzt nicht vertiefen. „Aber der Himmel muss noch
warten. Ich lasse nicht zu, dass du stirbst“, sagte er mit verbissener Entschlossenheit.
„Errig! Mir kann kein Arzt mehr helfen. Es gibt keine Möglichkeiten mehr. Nicht, dass
ich deine Fähigkeiten in Frage stelle, aber es ist zu spät.“
„Du weißt nichts über meine Fähigkeiten!“, sagte Errig ungewohnt scharf und sah sie
fast kämpferisch an. „Und noch weniger von meinen Möglichkeiten!“
Da, jetzt hatte er es schon wieder getan. Warum haute er immer nur so kryptische
Anmerkungen heraus, ohne eine einzige davon zu erklären?
„Wenn es dir gut genug geht, kannst du dich ja anziehen. Ich habe Frühstück für dich
gemacht! Du brauchst Energie“, sagte er noch und ließ sie im Bad allein. Seufzend
wickelte sie sich aus dem Handtuch und trocknete sich ab. Ihr Haarflaum war noch so
kurz, sie konnte ihn mit dem Handtuch trocknen und kämmen. Viel Kraft hatte sie auch
heute nicht. Sie streifte sich also nur ein frisches Nachthemd über und griff ihren Morgenmantel vom Haken an der Tür und trat, sich anziehend, ins Wohnzimmer. Hinter
dem Küchencounter machte sich Errig eifrig zu schaffen. Es roch nach Kaffee, Rührei
und Speck. Ihr Magen revoltierte etwas, als sich die Gerüche in ihrer Nase mischten:
„Für mich bitte nur etwas Leichtes“, sagte sie matt, als sie zu ihm trat und die Mengen
an Nahrungsmitteln sah, die Errig vorbereitet hatte.
„Sehr gern, Sara, aber verzeih, wenn ich mir auch etwas mache.“
„Natürlich. Es tut mir Leid!“, sagte sie. Errig hatte ihr Unwohlsein bemerkt.
„Der Widerwillen könnte bald nachlassen. Dr. Thorig hat alle Medikamente abgesetzt.
Wenn der Spiegel in deinem Blut sinkt, könnte auch der Appetit wiederkommen“,
erklärte Errig.
„Leider habe ich trotzdem keinen großen Hunger“, bemerkte Sara. Sie sah, dass Errig
frisches Wasser für Legolas hingestellt hatte. Und ein leerer Fressnapf zeigte Spuren von
Resten von seinem Frischfutter, das er gern hatte. Errig musste eine der letzten Dosen
im Schrank gefunden haben. Sara lächelte dankbar und sah zu ihm hinüber. Er hatte ihr
den Rücken zugekehrt und werkelte geschäftig. Inzwischen hatte er sich wohl mit ihrem
Kücheninventar vertraut gemacht. Sie staunte über seine sicheren Handgriffe, wie er
Geschirr aus dem Schrank nahm und Besteck sogleich in der Schublade fand, ohne zu
suchen.
Sie nahm sich den Augenblick, um ihn bewusst anzuschauen. Seine engen Fade-Jeans
ließen seine kräftigen Beine noch länger erscheinen. Auch das marine-farbene T-Shirt
saß knapp. Es betonte seine Muskeln. Sara hatte Errig bisher nur in förmlicher Kleidung
gesehen: im Trenchcoat, im Anzug und im Arztkittel. Dieser Freizeitlook sah außerordentlich attraktiv an ihm aus. Er drehte sich zu ihr um.
„Fertig. Magst du dich setzen?“, fragte er.
Errig hatte verschiedene Speisen auf den Küchencounter zu den erhöhten Barhockern
gestellt. Dort hatte Sara schon länger nicht mehr gesessen. Es kostete sie Kraft
hinaufzuklettern und dann hatte sie auch Bedenken, sie könnte herunterstürzen, wenn
ihr schwindelig wurde. Ein Sturz aus einer größeren Höhe als von einem Stuhl. Daher
hatte sie sich in letzter Zeit ihr Essen mit auf das Sofa genommen. Errig sah ihr Zögern:
„Warte, ich helfe dir hinauf“, und damit hatte er sie auch schon leicht wie eine Puppe auf
einen der Barhocker gehoben. Immerhin gab es eine Rückenlehne. „Solltest du fallen,
bin ich schneller.“
„Danke!“, sagte Sara und schaute sich an, was Errig vorbereitet hatte. Er hatte schon
seine Gabel in der Hand und wollte sich über das Rührei auf seinem Teller hermachen.
Sara lächelte ihn an:
„Guten Appetit!“, ermutigte sie ihn. Sie hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet und
schloss ihre Augen für ein stilles Tischgebet.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte er besorgt.
„Alles in Ordnung. Ich spreche immer ein Dankgebet vor dem Essen. Und auch dir
vielen Dank für die Vorbereitungen“, erwiderte Sara.
„Ich würde mich freuen, wenn etwas dabei ist, was du magst. Ich wusste ja nicht, was du
normalerweise frühstückst“, sagte er und deutete über die Speisenauswahl. Es gab Obst,
Brot und Butter, Honig, Käse, Speck und Eier. Errig hatte alles aus den Verpackungen
genommen und auf ihren Holzbrettern angerichtet. Es sah natürlich und rustikal aus.
Offenbar hatte Errig ihren Biomarkt in der Nähe gefunden.
„Das sieht sehr gut aus“, lobte sie. Sie strich sich Butter auf ein Brot und nahm etwas
Honig.
„Ich freue mich, dass du versuchst zu essen“, sagte Errig. Die Gemeinschaft beim Essen
tat ihr gut. Ein Luxus, den sie schon sehr lange nicht mehr gehabt hatte. Errig aß
beherzt. Er musste für seine 190 Zentimeter Körpergröße sorgen. Zwischendurch schaute
Sara ihm zu. Er schien jeden Bissen zu genießen. Sie hatte eine halbe Scheibe Brot geschafft und fragte sich, ob sie die Säure im Apfel wohl vertragen würde. Errig war sehr
aufmerksam. Er hatte ihren Blick gesehen. Er nahm einen Apfel und schnitt ihn für sie
auf:
„Versuch einfach mal ein Stück. Vielleicht bekommt er dir ja.“ Sie schaute ihn an.
„Errig. Ich bin froh, dass du da bist. Ich danke dir!“ Er nahm ihre Hand und drückte sie
leicht:
„Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht“, sagte er und es klang wie ein Schwur,
der viel mehr einzuschließen schien, als das Frühstück und die Pflege, die er ihr bisher
gegeben hatte. Und wieder blitzte es kämpferisch in seinen Augen.
„Was soll ich nur von dir halten?“, seufzte sie und lächelte ihn an.
Nach dem Frühstück legte sich Sara wieder hin. Als sich Legolas wieder auf seinem
Stammplatz zu ihren Füßen niederließ, erinnerte sich Sara, dass Errig noch eine Einwei-
sung in Katzenhaltung brauchte. Er stellte so viele Rückfragen, dass ihr klar wurde, dass
er es noch nie mit Katzen zu tun gehabt hatte.
„Du bist wohl eher der Hundetyp?“, fragte sie unverfänglich.
„Auch nicht. Aber ich mag Pferde, so wie du“, sagte er. Damit hatte Errig ein Thema
erwischt, das für Sara zu schmerzlich war, um jetzt darüber zu reden.
Etwas später rief Errig in der Praxis von Dr. Thorig an und bat, die gesamte Akte von
Sara zu kopieren. Er wollte sie abholen, wenn sie fertig wäre, damit er nicht lange fort
sein musste. Errig holte den bequemen Sessel näher an ihr Bett und arbeitete am Laptop.
Sara war froh, einen Moment Ruhe zu haben. Er drängte ihr kein Gespräch auf. Sie nahm
sich ihre Bibel vom Nachtschrank, las ein paar Verse und betete. Legolas hatte sich
wieder auf seinem Lieblingsplatz an ihrem Fußende niedergelassen. Es war eine
behagliche Atmosphäre. Gelegentlich schaute Errig nachdenklich zu ihr hinüber. Wenn
sich ihre Blicke trafen, lächelten sie sich an. Dann wieder wirkte er sehr grüblerisch, als
ob er wichtige Pläne schmiedete. Er schien seine Gedanken zu ordnen und dann seine
Ergebnisse niederzuschreiben. Sara konnte den Bildschirm nicht sehen und als sie
fragte, was er mache, sagte er nur:
„Ich schreibe auch Tagebuch, weißt du.“
„Darf ich es dann auch mal lesen?“, fragte sie.
„Wohl eher nicht“, sagte er halb in Gedanken.
„Errig. Du hast meins doch auch gelesen. Hast du denn gar keine Manieren?“, sagte
Sara herausfordernd.
„Jetzt klingst du wie meine Mutter!“ Ah, eine neue Information. Er hatte eine Mutter.
„Wie heißt deine Mutter?“, fragte Sara so unschuldig wie möglich.
„Linda“, sagte Errig automatisch, immer noch in Gedanken. Merkte aber sofort, dass er
eine Information preisgegeben hatte und sah sie fast vorwurfsvoll an. „Du sollst mich
nicht aushorchen!“, sagte sein Blick ganz eindeutig, so eindringlich, dass Sara „Entschuldigung“ murmelte, obwohl die Frage eigentlich nicht schlimm war, oder? Ist es
nicht normal nach den Eltern zu fragen? Sein Zorn war schnell verraucht.
„Nein, ich entschuldige mich. Es ist ja ganz natürlich, dass du etwas über mich erfahren
willst. Vertraust du mir?“, fragte er. Sara dachte eine Weile nach. Eine interessante Frage.
„Ich vertraue darauf, dass du es gut mit mir meinst. Ich verstehe nicht, warum du dich
mit hoffnungsloser Idiotie an mich klammerst. Ich wünschte, du würdest mir das
erklären. Aber ich freue mich trotzdem, in dieser Situation nicht allein zu sein. Ich will
ehrlich mit dir sein. Es ist mir nicht mehr so wichtig, wer oder was du bist. Ich merke,
wie meine Lebenskraft schwindet. Es geht zu Ende. Ich habe nicht mehr viel Zeit.“
„Sara. Sag so etwas nicht. Du wirst nicht sterben. Ich lasse das nicht zu. Ich werde dir
helfen“, sagte Errig mit großer Entschlossenheit.
„Errig. Das hast du gestern auch schon gesagt, aber meine Zeit ist gekommen. Ich
werde meine Eltern wiedersehen, meine Schwester Maya, meinen Bruder. Ich werde bei
Gott sein, an den ich mein Leben lang geglaubt habe. Du musst mich gehen lassen! Es
ist in Ordnung.“
„Nein, Sara. Ich will dich nicht verlieren. Ich werde einen Weg finden.“
„Errig, es tut mir so Leid für dich“, sagte Sara traurig.
„Ich lasse es nicht zu!“, sagte er und klang wie ein bockiges Kind.
„Das ist sehr egoistisch von dir!“, sagte Sara, nicht böswillig, sondern um ihn
herauszufordern, um ihn herauszulocken, um seine Motive zu verstehen.
„Ja. - Ja, das ist sehr egoistisch von mir“, bestätigte Errig einfach nur. Dann schwiegen
sie eine ganze Weile. Sara hing ihren Gedanken nach. Sie hörte wie das Klappern der
Tastatur verstummte. Sie sah zu ihm hinüber. Errig sah sie unverwandt an. Woran auch
immer er gearbeitet hatte, schien beendet zu sein. Mit Entschlossenheit stand er auf:
„Geht es dir im Moment gut genug, dass ich kurz zur Praxis von Dr. Thorig rübergehen
könnte? Inzwischen sollte die Kopie vorliegen. Du wärst nicht lange allein“, fragte er sie.
Sara nickte:
„Ich glaube schon. Hier im Bett kann mir nicht viel passieren. Legolas passt auf mich
auf!“, sagte sie.
Tatsächlich kam Errig bald wieder. Er hatte einen dicken Ordner voller Fotokopien unter
den Arm geklemmt. Sara brauchte seine Hilfe, um auf die Toilette zu gehen, legte sich
aber gleich wieder hin. Ohne ihn hätte sie es nicht geschafft. Sie dämmerte vor sich hin
wie im Halbschlaf. Sie konnte es nicht fassen, wie sehr sie in nur wenigen Tagen
abgebaut hatte. Vor drei Tagen war sie um diese Uhrzeit noch in der Klinik gewesen und
hatte ihren Kindern vorgelesen. Wie es ihnen wohl ging? Einige waren alt genug, um zu
wissen, dass sie nur ausblieb, wenn sie selbst krank war. Sie bedauerte, zu ihrer
schlimmen Lage beitragen zu müssen.
Errig nahm seinen Platz an ihrer Seite wieder ein und studierte ihre Akte mit der
Professionalität seines Berufsstandes. Er wusste, wonach er zu suchen hatte. Eine halbe
Stunde hatte er nun schon gelesen. Er wurde bleicher, seine Augen besorgter, er hielt
sich eine Hand vor den Mund, ohne dass er diese Geste zu bemerken schien. Er war
hochkonzentriert und blätterte schließlich die letzte Seite um. Errig stöhnte leise auf:
„Oh, Sara!“, presste er heraus. „Ich habe keine Zeit mehr. Es ist schon fast zu spät.“
Sara ahnte, dass dies wohl der letzte Bericht aus der Charité war. Errig klappte die Akte
zu und legte sie zur Seite. Er kam zu ihr ans Bett und kniete sich neben sie. Er nahm ihre
Hand in seine beiden Hände und legte sein Gesicht darauf. Er weinte, viele Tränen
flossen. Sara hatte kaum jemals einen Mann so häufig weinen sehen wie Errig, und er
schämte sich seiner Tränen nicht. Ob das normal war, da wo er herkam?
„Es ist sehr schlimm“, stöhnte er.
„Das habe ich dir die ganze Zeit zu erklären versucht“, tröstete ihn Sara. Sie strich ihm
übers Haar, als wäre er ein kleiner Junge.
„Nein, du verstehst mich falsch. Es ist sehr schlimm, was ich jetzt tun muss.“ Er stand
abrupt auf und ging zu seiner Arzttasche. Er nahm eine Spritze und eine Ampulle heraus.
Mit versteinerter Miene zog er sie auf. Er kam zurück zu ihr ans Bett und legte die fertige
Spritze auf den Nachtschrank:
„Sara, bitte glaube mir: Ich liebe dich.“ Und wieder konnte sie sich nicht erwehren, als er
ihr Gesicht in seine Hände nahm und sie küsste. Als er nachließ, wollte sie wegen dieses
erneuten Übergriffs protestieren:
„Errig, … “, sagte sie entsetzt, aber weiter kam sie nicht als sie seinen Blick sah. Er sah
wild aus, entschlossen, verzweifelt; alles auf einmal. So einen Blick hatte sie noch bei
keinem Menschen gesehen.
„Wenn du das nächste Mal wach wirst, werde ich dich geheilt haben“, sagte er grimmig
und nahm die Spritze in die Hand, „und wenn du nicht mehr wach wirst, habe ich dich
getötet.“
Mit einer schnellen Handbewegung stöpselte er den Schlauch der Schmerzpumpe ab,
setzte die Spritze auf und drückte Sara ein Medikament über den Schlauch direkt in die
Halsvene.
Legolas sprang mit einem schnellen Satz vom Bett und machte einen Buckel. Er fauchte
Errig aggressiv an. Das war das Letzte, was Sara in diesem Leben hörte.
Part 2 Der Neuanfang
Kapitel 7 Im Himmel?
Ganz langsam fand Sara zu ihrem eigenen Bewusstsein zurück. Noch waren die
Gedanken verschwommen, die Sinne leicht benebelt. Hatte sie geschlafen? Sie erinnerte
sich nicht an Träume. Was war nur geschehen? Langsam stieg ihre letzte Erinnerung in
ihr hoch: Errig. Richtig, sie war in ihrer Wohnung und lag im Sterben. Als sie versuchte,
sich über Einzelheiten einen Weg an die Oberfläche zu bahnen, wurden ihre Sinneseindrücke ebenfalls klarer. Sie hörte Vogelstimmen, laute Vogelstimmen. Viel mehr und
viel lauter als sie sie jemals in ihrem Leben gehört hatte, einen ungeheuren Chor. Und als
sie genauer lauschte, konnte sie einzelne Stimmen unterscheiden. Sie hörte Kuckucksrufe, Tauben, Krähen, aber nicht nur von einzelnen Tieren, nein, es mussten gleich
mehrere Vögel einer Gattung sein. Und dann nahm sie die Luft war, die sie atmete. Ein
frischer, aromatischer Duft. Sie sog die Luft begierig ein. Die Vogelstimmen, diese Luft,
das muss wahrlich der Himmel sein. Sie war sich sicher: Nirgendwo in Berlin, nein, nirgendwo auf der Welt gab es solche Luft, so viele Vögel in bewohnten Gebieten. Ja! Dies
muss wahrlich der Himmel sein.
Der Himmel! Sie hatte es ihr ganzes Leben lang geglaubt, sie hatte es erwartet, sie hatte
bestimmte Vorstellungen. Sie würde Gott sehen, und Jesus und Engel und ihre Familie.
Es würde wunderbar sein. Irgendwie traute sie sich noch nicht, die Augen aufzuschlagen. Irgendetwas war merkwürdig. Ihr Unterbewusstsein hatte es bereits vor ihrem
Gehirn registriert.
Wenn dies der Himmel war, wieso hatte sie so einen abscheulichen, furchtbaren,
widerwärtigen Geschmack im Mund - wie alter Teppich? Wieso brannte es in ihrer
Kehle, wieso klebte ihre Zunge am Gaumen? Sie brauchte einen Moment, diesen
Schmerz zu identifizieren. Durst, sie hatte unglaublichen Durst. Und ein anderer, nicht
ganz so starker Schmerz machte sich noch bemerkbar, einer den sie schon sehr lange
nicht mehr verspürt hatte. Leichte Krämpfe im Magen deutete sie nach kurzem Nachdenken als Hunger. Schmerzen? Genau, sie hatte immer Schmerzen gehabt. Aber der
gewohnte, ziehende, stechende, mürbe machende Schmerz ihrer Krebskrankheit, den
spürte sie nirgends in sich. Aber dieser furchtbare Durst? Hatte man im Himmel quälenden Durst? Und sie lag auch nicht wirklich bequem. Sie spürte jetzt stärker die
Unterlage, auf der sie auf dem Rücken lag. Sie war rau, irgendwie kratzig an den
Händen, die neben ihrem Körper lagen.
Jetzt nahm sie zwischen den Vogelstimmen auch andere Geräusche wahr. Ein
regelmäßiges, aber weit entferntes Klopfen oder Hämmern und Rufen von menschlichen
Stimmen. Sie lauschte. Sie waren zu weit weg, um einzelne Worte auszumachen. Und
dann näherte sich ein Geräusch, das sie immer geliebt hatte. Sie hörte ein Pferd im
Schritt über Holz gehen. Eindeutig ein Pferd oder ein Esel, aber ohne Hufeisen. Auf
Holz, vielleicht eine Brücke? Mit dem Geräusch kam auch ein heftiger Gestank von
Exkrementen. Hatte Sara schon vorher Zweifel gehabt, ob sie sich wirklich im Himmel
befand, jetzt hatte sie Gewissheit, dass es nicht so war. Was für eine unglaubliche Enttäuschung. Sie spürte wie die Ernüchterung in ihr aufstieg. Ihre Wangen wurden heiß.
Normalerweise hätte sie vermutlich geweint, aber ihr Körper schien keine überschüssige
Flüssigkeit für Tränen mehr zu besitzen.
„Guten Morgen, Linda!“, rief eine männliche Stimme.
„Grüß dich, Hans!“, antwortete eine weibliche Stimme.
„Stell doch bitte deinen Eimer hoch, dann muss ich nicht absteigen. Ich bin schon spät
dran. Gibt es bei dir etwas Neues?“, fragte der Mann, der Hans hieß.
„Nein, alles unverändert“, antwortete Lindas Stimme gefolgt von einem metallischen
Klappern. „Grüße bitte Marla, wenn du sie bei ihrem Haus siehst. Und sage, dass ich
sobald wie möglich mal wieder komme. Ich hatte schon länger keine Zeit, sie zu
besuchen.“
„Mach ich! Na dann bis morgen, Linda!“
„Bis morgen!“
Die Geräusche der Hufe und eines Wagens, den sie jetzt auch hörte, entfernten sich. Und
allmählich wurde auch die Luft wieder besser, die durch ein offenes Fenster hereinzuströmen schien. Jetzt fühlte sie sich hellwach, wenn nur dieser Durst nicht wäre, der
sich jetzt wieder in den Vordergrund schob. Und wenn dies nicht der Himmel war, wo
war sie dann?
Inzwischen war Sara bereit, auch die Augen zu öffnen und noch mehr Sinneseindrücke
zuzulassen. Sie könnte ja mal rufen, vielleicht hörte sie jemand und sie könnte Wasser
bekommen. Als sie die Augen aufschlug, sah sie über sich eine Holzdecke aus groben,
breiten Brettern und Balken. Eine Deckenlampe gab es nicht. Sie versuchte zu rufen,
aber ihr Mund war so trocken, dass es nicht einmal für den kleinsten Laut ausreichte. Sie
versuchte, sich umzuschauen. Es fiel ihr erstaunlich schwer, den Kopf zu drehen. Die
Wände eines kleinen Zimmers waren aus großen Feldsteinen mit Mörtel errichtet und
nicht verputzt. Die wenigen Möbel waren aus Holz gebaut: Ein Tisch, vier Stühle, eine
Truhe, ein Schrank. Auf dem Tisch lagen zwei Bücher. Eines davon war aufgeschlagen.
Sie sah einen offenen Kamin, in dem aber gerade kein Feuer brannte und in einer Ecke
stand ein Spinnrad. Am Kamin stand eine Art Schaukelsessel. Er sah bequem aus. Das
Licht kam durch drei offene Fenster an zweien der Wände. An der dritten Wand, an der
sich auch ihr Lager befand, sah sie eine schlichte Holztür.
„Okay. Dies ist nicht der Himmel. Aber warum bin ich im Filmset von Unsere Kleine
Farm aufgewacht?“, fragte sich Sara erstaunt. Sie hörte entfernt eine Tür gehen.
Vielleicht war ja diese Linda ins Haus gekommen? Vielleicht war es ja ihr Haus? Es
frustrierte Sara, dass sie nicht rufen konnte. Dieser Zustand dauerte allerdings nicht
lange, da gleich darauf die Tür geöffnet wurde. Eine große, drahtige und sehr schlanke
Frau kam herein. Ihr offenbar langes graues Haar hatte sie zu einem festen Knoten
gedreht, der den Blick ungehindert auf ihr ernstes, faltiges Gesicht frei ließ. Sie ging ein
wenig gebeugt. Sie trug ein graues, gewebtes Leinenkleid, das nicht schlichter hätte sein
können. Ihre nackten Füße steckten in abgetragenen Lederpantoffeln. Die Frau schien
allerdings ein ganz klein wenig zu alt, um die Mistress Ingalls in „Unsere kleine Farm“
zu verkörpern. Das Kostüm jedoch war ein echter Volltreffer. Sara hätte gelächelt, wenn
sie nicht so durstig gewesen wäre. Stattdessen versuchte sie die Aufmerksamkeit der
Frau zu bekommen, indem sie ein Geräusch mit den Fingern machte. Dies wäre
allerdings gar nicht notwendig gewesen, denn die Frau hatte sich ihr bereits zugewandt
und musterte sie mit dem interessierten Blick, wie etwa eine Krankenschwester nach
einer Patientin schaut. Ihre Augen trafen sich. Und dies veränderte den Blick der Frau
sofort. Da gab es neben Wiedererkennen höchstes Erstaunen, fast Erschrecken.
„Joanna? Aber wie ist das möglich? Joanna? Du bist ja wach“, sprach die Frau sie an. Sie
wirkte plötzlich ganz aufgeregt. Sara erkannte die Stimme wieder, die sie eben von
draußen gehört hatte. Dies musste also Linda sein, die eben mit dem Mann Hans gesprochen hatte. Außerdem kam Sara diese Linda auch vom Aussehen irgendwie vertraut
vor. Obwohl sie sich sicher war, dass sie diese Frau noch nie vorher gesehen hatte. Es
musste an den Augen liegen, die sie so durchdringend angeschaut hatten. Linda hatte
sich jetzt zu Sara gekniet und kam mit dem Gesicht recht nahe an sie heran. Wieder
blickte sie ihr tief in die Augen. Und auf einmal erkannte sie Errigs Augen in diesem
Gesicht wieder.
„Joanna“, sagte Linda erneut. Jetzt klang es aber fast wie eine Frage. Zweifel hatte ich in
ihre Stimme gemischt. Aus der Nähe hatte sie wohl etwas gesehen, was sie nicht erwartet
hatte. Sara schüttelte den Kopf und wollte sprechen, aber ihre Lippen hingen aneinander
wie festgeklebt. Daher brachte sie ihre Hand zum Mund und sah die Frau an. Die
Bewegung fiel ihr erstaunlich schwer. Sie konnte den Kopf nur wenig anheben. Sie
machte dann eine Geste, als ob sie aus einem Glas trinken würde. Ihren Arm zu heben
machte ihr Mühe. Er fühlte sich bleischwer an und sie sackte, ermattet wie von großer
Anstrengung, zurück auf ihr Lager.
„Warte, ich hole dir zu trinken.“ Sie stand auf und verließ eilig das Zimmer.
Saras Gedanken rasten. Linda! So hieß doch Errigs Mutter. Dies war eines der wenigen
Details aus Errigs Leben, das sie jemals aus ihm herausgeholt hatte. Auch wenn er sich
nur aus Versehen verplappert hatte. Und dass er Pferde mochte. Errig musste es
tatsächlich gelungen sein, ihren Zustand zumindest zu verbessern. Nach diesen kleinen
Bewegungen fühlte sie sich total schlapp. Aber immerhin hatte sie außer dem Durst und
dem Hunger keine weiteren Schmerzen.
„Das ist erstaunlich! Einfach unglaublich!“, dachte Sara. „Ich lag im Sterben!“ Aber in
genau diesem Moment stieg ihre letzte Erinnerung auf. Errig hatte ihr ungefragt eine
Spritze verpasst. Sie war zwischendurch offenbar nicht aufgewacht. Und jetzt war sie
hier. Wo auch immer hier war. Eigentlich müsste sie wütend auf ihn sein. Aber jetzt ging
es ihr offenbar gut genug, dass er sie hatte transportieren können. Seit Monaten hatte sie
sich nicht mehr so gut gefühlt. Natürlich konnte sie sich nicht sicher sein, was Errig
erreicht hatte. Aber für den Moment fühlte es sich wunderbar an. Vielleicht war es nur
eine vorübergehende Verbesserung. Ein letztes Aufbäumen ihres Körpers vor dem Ende?
„Oder er hat mich irgendwo in ein Rehazentrum gebracht. Aber warum war dann Errigs
Mutter auch hier? Und der Luft und dem Ambiente nach zu urteilen bin ich nicht gerade
um die Ecke von der Sonnenallee“, dachte Sara und fragte sich angesichts ihrer Umgebung, wo man Häuser wohl so rustikal einrichtet. Und warum wurden die Toiletteneimer
mit dem Pferdewagen abgeholt?
Linda kam herein und dies beendete ihren Gedankengang. Sie trug einen Krug und
einen Becher. Sie stellte den Becher auf den Tisch und schenkte Wasser aus dem Krug
ein. Sie wandte sich Sara zu.
„Warte, ich helfe dir, dich aufzusetzen“, sagte Linda. „Dazu nehme ich deine Schultern.
Du kannst dich ja mit den Beinen ein wenig abstoßen.“
Ihre Stimme klang jetzt etwas härter und distanzierter. Aber mit Pflege hatte Linda
offenbar Erfahrung. Sara versuchte erfolglos, ihre Knie anzuziehen. Ihre Beine
gehorchten ihr nicht. Linda gab ihren Versuch auf, Sara hinzusetzen. Stattdessen setzte
sich Linda auf die Bettkante und stützte Saras Kopf und Oberkörper. Sara griff nach dem
Becher, brauchte zum Trinken allerdings Lindas Unterstützung. Sie konnte nicht einmal
den Becher allein halten. Zwar handelte es sich um einen schweren Tonbecher, aber so
schwer war er nun auch wieder nicht. Sie fühlte sich einfach unglaublich schwach. Ihr
Körper gierte nach der Flüssigkeit und sie hätte schneller getrunken, wenn sie gekonnt
hätte. Linda gab ihr immer nur einen kleinen Schluck auf einmal.
„Langsam“, mahnte sie. „Dein Körper kann das Wasser gar nicht so schnell aufnehmen.
Es ist genug da.“ Sie trank gleich noch einen zweiten Becher langsam aus. Das Wasser
tat so gut. Sara spürte sofort die Verbesserung.
„Vielen Dank!“, brachte sie endlich heraus, als sie auch diesen Becher ganz geleert hatte.
Linda legte Sara wieder ab und stand auf.
„Du kannst gleich noch mehr trinken.“ Sie schaute Sara noch einmal direkt an und
schüttelte für sich selbst den Kopf:
„Ich bin übrigens Linda“, stellte sie sich kurz vor. „Ich werde jetzt zum Spital rübergehen und dem Heiler mitteilen, dass du wach bist. Ich muss dann auch noch ein paar
Sachen holen. Wir kommen dann gleich wieder. Wir hatten, ehrlich gesagt, nicht damit
gerechnet, dass du je wieder aufwachst.“
„Und ich bin Sara“, sagte Sara und wollte noch etwas hinzufügen. Doch Linda fiel ihr ins
Wort:
„Ich weiß genau, wer du bist!“, sagte sie scharf, warf ihr noch einen eigenartigen Blick
zu und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
Sara wunderte sich über Lindas Schroffheit. War dieser Blick eben vorwurfsvoll gewesen?
Was hatte sie getan?
„Zuerst hatte sie gedacht, ich sei eine gewisse Joanna, wer auch immer das war. Und als
ich es offensichtlich nicht war, hat Linda mich plötzlich sehr schroff behandelt“, grübelte
Sara. Viele Fragen stiegen in ihr auf. Wo war Errig? Und was hatte er seiner Mutter über
sie erzählt, dass Linda so kühl zu ihr war? Sie hatten sie hier wohl schon abgeschrieben
gehabt. Sie lag in einem Privatquartier und nicht im Spital, das offenbar in der Nähe war.
Was hatte das alles zu bedeuten?
Das Wasser tat seine Wirkung. Sara fühlte sich besser. Wenn auch immer noch sehr
hungrig. Sie hoffte, sie würde auch bald etwas zu essen bekommen. Gerne wäre sie aufgestanden, um noch mehr zu trinken. Aber sie konnte sich kaum bewegen. Sara nutzte
die Gelegenheit, um eine kurze Inventur ihres Körpers zu machen. Alle ihre Sinne
funktionierten prima. Dass Augen, Ohren und Nase ihren Dienst taten, hatte sie ja bereits festgestellt. Ihre Hände tasteten die Unterlage ab, auf der sie lag. Sie hatte schon
vorher bemerkt, dass sie auf einer eher rauen Fläche lag. Ein grobes, gräuliches Leinentuch, ein flaches Kissen, ebenfalls mit Leinen bezogen und ein ebensolches Laken
bedeckte sie. Sie steckte in einer Art Nachthemd aus dem gleichen rauen Material. Unter
ihrem Gesäß fühlte sie eine Art Filzfließ, das wiederum auf einem Plastiktuch lag. Dies
waren wohl Vorkehrungen, falls sie sich hätte erleichtern müssen. Da sich alles trocken
anfühlte, kam sie zu dem Schluss, dass ihr wohl außerordentlich gute Pflege
zugekommen war. Das erfüllte sie mit Dankbarkeit gegenüber Linda, Errig und vielleicht anderen, von denen sie noch nichts wusste. Vielleicht wurde Linda die Pflege zu
viel und sie hatte sie deshalb so scharf behandelt?
„Da habe ich wohl etwas gutzumachen“, nahm sich Sara vor und beschloss, Linda zu
helfen, wo sie konnte, sobald sie wieder zu Kräften kam. Sie fror auch nicht. Ihr war
weder kalt noch warm. Diese wunderbare Luft, die durch das offene Fenster kam, nahm
Sara als herrlich würzige und leichte Brise wahr.
Mit den Kräften allerdings haperte es noch. Warum war sie so ungeheuer schwach? Sara
fühlte mit den Händen nach ihren Beinen. Sie waren nicht gelähmt, denn sie konnte ihre
Finger auf den Oberschenkeln spüren. Sie konnte auch ihre Zehen ein wenig bewegen.
Aber die Bewegungen strengten sie unsagbar an. Sie war so matt und schlapp. Wie lange
war sie wohl so außer Gefecht gesetzt gewesen? Sie besah sich ihre Arme, so gut es ging.
Sie waren immer noch so dünn wie vorher, ihre Finger lang und schmal. Ihre Fingernägel waren ziemlich lang. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben einen
so schönen Satz natürlicher Fingernägel gehabt zu haben. Früher hatte sie die Nägel für
ihre Arbeit kurz gehalten. Und während ihrer Krankheitsphase waren sie durch die
Chemotherapie so angegriffen gewesen, dass sie von allein abgefallen und ihre Hände
unansehnlich waren. Jetzt allerdings sahen sie perfekt aus. Das musste ein gutes Zeichen
sein. Zwar war ihre Haut sehr blass, aber dies war nichts Neues. Woher hätte sie auch
Farbe bekommen sollen? Sie betastete ihr Gesicht, alles fühlte sich normal an. Sie wollte
sich über den Kopf streichen, um zu sehen, ob ihre Haare wieder wuchsen und wurde
überrascht von dem dichten Haarschopf, den sie auf ihrem Kopf fühlte. Sie fuhr sich mit
den Fingern durch die Haare, die länger waren als ihre Finger, ja sogar als ihre Hand.
Wie war das möglich? Es dauerte doch bestimmt Monate, bis Haare so lang wachsen
konnten, oder? Und hatten ihr die Ärzte im Krankenhaus nicht gesagt, dass, falls sie je
wieder gesund werden würde, nach der Chemo die ersten Haare wie ein dünner Flaum
sein würden und so zart wie Babyhaare? Einen kleinen Ansatz davon hatte sie bereits
gehabt. Diese Haare, die sie nun fühlte, ja sie konnte sich sogar schon eine Strähne vor
die Nase halten und sehen, fühlten sich an wie ihre alten Haare, wenn auch im Moment
sehr fettig. Vielleicht waren sie sogar kräftiger und gesünder als zuvor. Wie konnte das
nur möglich sein?
Ihr kam ein Verdacht und so betastete sie auch ihren Oberkörper, um nach den
Operationsnarben auf ihrem Brustkorb zu fühlen. Sie konnte ihre Hand von oben unter
das weite Nachthemd fahren lassen. Aber sie zog ihre Hand sogleich überrascht zurück.
Wo sich früher ihre Haut spannte, fühlte sie nun einen festen, rundlichen Hügel und auf
der anderen Seite auch. Mehr Oberweite als sie jemals in gesunden Tagen gehabt hatte.
Das konnte doch nicht wahr sein. Wie um sich vom Gegenteil zu überzeugen, wiederholte sie die Untersuchung nun etwas mutiger. Natürlich konnte sie sich im Liegen nicht
sicher sein, aber das fühlte sich doch nach reichlich mehr als einer Handvoll an. „Errig!
Wenn ich dich in die Finger kriege!“, dachte sie verärgert. Ungefragt Spritzen zu verabreichen, das war eine Sache. Sie wollte ihm nichts Böses unterstellen und glaubte sicher,
dass er ihr hatte helfen wollen, Schmerzen zu verhindern. Und irgendetwas hatte er richtig gemacht, sonst würde ihr es jetzt nicht so gut gehen. Aber bei ihr, ohne ihre Zustimmung, eine Brustvergrößerung durchzuführen, war ein starkes Stück. So viel Silikon hätte
sie sich niemals selbst ausgesucht. Sie hätte so eine OP nie auch nur in Erwägung
gezogen. Das grenzte schon an Körperverletzung.
„Na warte!“, dachte sie. „So dankbar ich auch bin, dass ich keine Schmerzen mehr habe,
aber das geht zu weit. Da sind deine Männerfantasien aber kräftig mit dir durchgegangen!“
Geräusche und ein Poltern vor der Tür rissen Sara aus ihren Gedankengängen. Linda
und ein großer, grauhaariger Mann traten ein. Die wenigen Haare seines Haarkranzes
fielen ihm bis auf die Schulter, ihn schmückte ein langer, buschiger Bart, der sein hageres Gesicht umrahmte. Er trug eine Tunika und eine weite Hose, beide braun, aus grobem Leinen gewebt. Insgesamt wirkte er wie ein gütiger, alter Mönch. Sein Blick suchte
sofort den von Sara. Er lächelte sie breit an. Seine wachen Augen lächelten auch.
„Solche Momente sind doch Höhepunkte unserer Arbeit“, sagte er mit einer tiefen
Stimme, die gut zu ihm passte. „Dass ich erleben kann, in diese Augen zu sehen. Und du
hast Recht, Linda. Es sind Joannas Augen“, sagte er nun zu Linda gewandt. Diese
nickte, schluckte, schlug sich eine Hand vor den Mund und verließ fluchtartig das Zimmer. Der Mann wandte sich wieder an Sara.
„Ich bin Jaason, der Heiler. Und dass du lebst, Sara, ist unfassbar“, stellte er sich vor.
„Wer ist Joanna?“, fragte Sara etwas irritiert von Lindas Abgang.
„Entschuldige. Das muss alles sehr verwirrend für dich sein. Joanna war Errigs
verstorbene Ehefrau. Du hast ihre Augen und siehst ihr auch sonst sehr ähnlich. Du hast
sogar ihre Stimme. Ich kann jetzt verstehen, dass Errig dich retten wollte.“
„Wo ist Errig?“, fragte Sara. Jaason schürzte die Lippen.
„Später, Sara, erkläre ich dir alles“, wehrte Jaason ab.
„Kann ich bitte noch etwas Wasser haben?“, fragte Sara. „Und etwas zu essen? Ich habe
einen Riesenhunger. Ich könnte ein Pferd essen.“
„Bitte nicht, wie haben nur wenige Pferde. Und die brauchen wir alle zu dringend, als
dass wir sie essen sollten. Obwohl sie bestimmt sehr lecker wären. Ich war selbst schon
in der Versuchung.“ Sara wusste nicht recht, ob Jaason scherzte. Er hatte warme, heitere
Augen, und sicher den Schalk im Nacken. Andererseits war Jaason so hager, dass Sara
bereit gewesen wäre zu glauben, dass er jedes Wort buchstäblich so meinte, wie er es
sagte. Er stand auf und füllte den Becher erneut. Jaason half ihr, wie Linda, langsam zu
trinken.
„Ich werde dir etwas Brot und Suppe aus dem Spital kommen lassen. Linda kann dir
dann beim Essen helfen.“ Jaason hatte Sara wieder abgelegt und betastete ihre Hände
und Arme.
„Aber zuerst möchte ich wissen, wie es dir geht. Als du im Koma lagst, hatten wir den
Eindruck, du müsstest gelähmt sein. Du hattest überhaupt keinen Muskeltonus. Jetzt
habe ich eher den Eindruck von Schwäche, was nach den vielen Wochen allerdings auch
nicht verwunderlich ist.“
„Ich lag im Koma? Wochenlang?“, fragte sie erstaunt.
„Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen sollte. Als John dich fand, warst du an eine
Maschine angeschlossen, doch die hatte keine Energie mehr. Immerhin hast du selbstständig geatmet. Er hat entschieden, dich hierher mitzubringen, obwohl wir hier nur
wenige Möglichkeiten haben. Wir haben dir Infusionen gegeben, doch die sind seit zwei
Tagen restlos aufgebraucht. Es gab einfach nichts mehr, was wir für dich tun konnten.
Als dann viele Kinder Keuchhusten bekamen, brauchten wir drüben im Spital jedes
Bett...“ Er sah sie nachdenklich an.
„Ehrlich gesagt, ich hatte gedacht, du würdest sterben. Du warst nicht ansprechbar oder
erweckbar. Wir konnten weder Wasser noch Nahrung in dich hineinbekommen. Auf der
anderen Seite sehen wir seit Wochen dabei zu, wie deine Haare und Fingernägel
wachsen und deine Haut immer gesünder aussieht. Ich habe keine Erklärung dafür. Wir
wissen nicht genau, was diese Maschine in dir bewirkt hat. Und jetzt bist du einfach so
aufgewacht. Es ist unglaublich. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Wie fühlst du dich?“
„Hungrig! Schwach! Alle Sinne funktionieren normal. Ich kann zwar alle Körperteile
bewegen, aber jede Bewegung macht mir Mühe! Und ich habe überhaupt keine
Schmerzen mehr von meiner Krebserkrankung. Errig hat es tatsächlich geschafft, meine
Situation zu verbessern. Und ich habe ihm nicht geglaubt. Allerdings: Meine Muskeln
müssen völlig zurückgebildet sein. Nichts, was ich mit Gymnastikübungen nicht wieder
hin bekäme.“ Jason nickte.
„Wenn du das allein wieder hinbekommst. Wir haben hier nur wenig praktische
Erfahrung damit. Errig hatte mit Schulungen begonnen.“ Sara fuhr ungeduldig fort:
„Jetzt habe ich erst mal ein paar Fragen. Wer ist dieser John, der mich gefunden hat?
Und wo ist Errig? Ich muss ihn unbedingt sprechen. Und wo bin ich überhaupt?
Welches Datum haben wir? Und warum ist Linda so abweisend?“, sprudelte es aus Sara
heraus. Jaason sah sie nachdenklich an:
„Das sind aber viele Fragen auf einmal“, sagte er, stand auf, ging zur Tür und öffnete sie.
„Linda!“, rief er und fuhr fort, nachdem Sara Schritte vor der Tür hörte. „Würdest du
bitte Brot und Suppe aus dem Spital holen?“ Dann schloss er die Tür wieder. Er nahm
sich einen Stuhl und stellte ihn zu Sara ans Bett. Er setzte sich. Das alles tat er langsam.
Als ob er Zeit zu gewinnen versuchte, um seine Gedanken zu ordnen. Er sah sie einen
Moment an. Dann holte er tief Luft und sagte:
„Und nun zu deinen Fragen. Manche sind leichter zu beantworten als andere.“
Wieder machte er eine Pause und schloss kurz die Augen, wie um sich zu konzentrieren.
„Das Einfachste zuerst. John, eigentlich heißt er Johnathan, ist Lindas jüngerer Sohn. Er
hatte nach Errig gesucht, nachdem der sich mehrere Wochen nicht zurückgemeldet
hatte. John konnte ihn in Berlin nicht aufspüren. Errig hatte überraschend seine Arbeit
im Krankenhaus abgebrochen und weder dort noch bei uns eine Nachricht hinterlassen.
John suchte eine Nadel im Heuhaufen bis er an einem Ort, der Hermannplatz heißt, von
einem Fremden als Errig angesprochen wurde. Das kann leicht geschehen, denn die
Brüder sehen sich sehr ähnlich. John folgte dem Fremden zu seinem Haus. Es stellte
sich heraus, dass es dein Nachbar Peter war. Er zeigte John die Wohnung, in der er Errig
gesehen haben wollte. Es war deine Wohnung, Sara. Wenn dein Nachbar John nicht
angesprochen hätte, dann hätte er euch nie gefunden.“
„Du sagtest etwas von einer Maschine, an die ich angeschlossen war. Hat Errig versucht,
mich damit zu heilen?“, fragte Sara.
„So muss es wohl gewesen sein. John fand dich und Errig in der Wohnung. Ihr wart
gemeinsam an diese Maschine angeschlossen. Aber nur du hast normal geatmet...“
Jaason biss sich auf die Lippen. Leise fügte er hinzu. „Für Errig kam jede Hilfe zu spät.
Er ist zwar noch nicht tot, aber so gut wie. Er ist nur Haut und Knochen. Wir können ihn
nicht erwecken. Errigs Pulsschlag war kaum noch existent. Seine Atemfrequenz bei fünf.
Alles was John tun konnte, war ihn im Hauptquartier in eine Kryogenkammer zu legen.
Das mag zwar noch Monate lang funktionieren, aber wir haben keine Kenntnisse, um
seinen Zustand zu verändern. Es ist so, als sei er lebendig tot. Eingefroren in der Zeit.“
Sara brauchte einige Atemzüge lang, bis sie diese Nachricht richtig in ihrem Gehirn
zusammengesetzt hatte.
„Errig ist wie tot in einer Art Koma? Eingefroren? Ohne Hoffnung je zu erwachen?“,
fragte Sara entsetzt.
„Es tut mir Leid, Sara, dir das sagen zu müssen. Für uns hier ist sein Zustand ein so
schmerzlicher Verlust, dass ich kaum weiß, wie es weitergehen kann.“
Sie konnte es nicht fassen. Errig im Koma. Eigentlich müsste es anders sein. Sie hätte
sterben sollen. So war es abzusehen gewesen. Es wäre in Ordnung gegangen, ihr Weg,
der Lauf der Dinge. Das wäre der Wille Gottes, oder? Wenn Gott gewollt hätte, dass sie
lebt, dann hätte er sie geheilt. Das hätte er getan. Gott hätte das gekonnt. Davon war Sara
überzeugt. Und dann hatte Errig sich eingemischt und Gott ins Handwerk gepfuscht. Und jetzt war er weg. Das war so unlogisch, so unvorhergesehen, so falsch. Das
kann doch unmöglich der Wille Gottes sein:
„Er hat sich an eine Maschine angeschlossen, um mir das Leben zu retten? Er hat sich
für mich geopfert?“, fragte Sara, um sich zu vergewissern.
„Ich glaube nicht, dass Errig gedacht hat, dass er dabei sterben oder ins Koma fallen
würde. Er wollte dich bestimmt heilen und hat dann die Maschine falsch eingestellt.
Vielleicht war sie auch kaputt. Die Maschine hat Errig seine gesamte Lebensenergie
entzogen. Es war wohl eher ein Unfall. Er war unser einziger, gut ausgebildeter Arzt. Er
war sehr verantwortungsbewusst. Er wusste, dass er hier gebraucht wurde. Er war immer
für seine Mutter und seinen Sohn da.“
„Seinen Sohn?“, fragte Sara.
„Ja. Du wirst Tim sicher noch kennen lernen. Er wird hier im Haus von Linda gepflegt.“
„Gepflegt?“
„Ja, Tim ist sehr behindert. Er ist jetzt acht Jahre alt, aber er kann weder laufen noch
sprechen. Er benötigt bei allem Hilfe. Die zusätzliche Belastung kostet Linda viel Kraft.
Errig hatte sich in die Aufgabe gestürzt, nach einer Heilung für Tim zu suchen. Und er
wollte, dass so etwas nicht mehr passiert“, erklärte Jaason. Aber eine Erklärung war das
nicht.
„Was soll das bedeuten“, dachte Sara. „so etwas?“
Als ob Jaason erraten konnte, dass Sara weitere Informationen brauchte, fuhr er fort und
beantwortete ihre unausgesprochene Frage.
„Joanna, Errigs Frau, ist bei Tims Geburt gestorben. Ein furchtbarer Verlust. Unsere
einzige begabte Musikerin hier. Errig konnte weder ihren Tod noch Tims Fehlbildungen
verhindern. Er konnte sich das nie verzeihen. Errig hat Joannas Tod nie verkraftet. Er
gab sich selbst die Schuld daran. Er hielt sich für einen schlechten Heiler. Er hätte sie
retten müssen, sagte er sich immer wieder. Errig stürzte sich in Arbeit, in Bücher, in
Forschung, aber nichts brachte ihn so sehr voran wie die Entdeckung des Apparates vor
zwei Jahren. Seitdem ist es bei uns in der Medizin wirklich vorangegangen. Er brachte
hilfreiche Bücher zu uns, er lernte unglaublich viel in eurem Krankenhaus. Er führte hier
sogar Operationen durch. Es war ein wirklicher Durchbruch. In den letzten zwei Jahren
ist weder eine Mutter noch ein Kind bei einer Geburt gestorben. Es ist überhaupt keiner
mehr gestorben. Wir, nein, vor allem er, konnte jedem helfen. Und jetzt ist er weg. Für
Tim war es auch ganz schrecklich. Er hat das schon verstanden, dass sein Vater nicht
mehr da ist. Er weinte tagelang. Er hatte sehr an ihm gehangen.“ Es sprudelte nur so aus
Jaason heraus. Aber das war zu viel für ihn. Der Schmerz übermannte ihn und er schlug
sich die Hände vors Gesicht. Nach einer Weile flossen Tränen durch seine Finger.
Sara hatte nicht alles verstanden, aber genug, um sich mit ihm zu sorgen. Sie hatte nicht
erfasst, was er mit „uns“ und „euch“ meinte oder von welchem Apparat er sprach, aber
sie sagte nichts. Sie gab ihm Zeit, erneut um Errig zu bangen. Und auch sie musste diese
Nachricht erst einmal hören und verstehen. Sie schloss die Augen und rief sich Errigs
Gesicht in Erinnerung. „Errig, was hast du nur getan?“, dachte sie traurig. „Warum hast
du dich eingemischt? Damit konntest du dir deine Joanna auch nicht wieder lebendig
machen. Und jetzt hat Tim keinen Vater mehr.“ Auch in ihr stiegen Tränen auf. Ihr
Flüssigkeitshaushalt funktionierte wohl wieder, denn bald darauf liefen auch ihr Tränen
über das Gesicht.
Die Tür ging auf und Linda trat mit einem Tablett ein. Ein Blick und sie hatte die
Situation erfasst. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und legte Jaason mitfühlend die
Hand auf die Schulter. Die Geste rührte Sara in der Tiefe an. Denn eigentlich war es die
Mutter, die um ihren Sohn trauerte, die seine und ihre Anteilnahme brauchte. Die
Großmutter, die ihr krankes Enkelkind jahrelang gepflegt hatte, wenn ihr Sohn arbeitete
und die jetzt wahrscheinlich in den kommenden Jahren allein vor dieser Aufgabe stand.
Linda hatte Tim sicher viel trösten müssen in den letzten Tagen. Vielleicht hatte sie
ihren eigenen Schmerz auch vor ihrem Enkel verborgen. Linda schien die Art von Frau
zu sein, die ihre Gefühle nicht zur Schau stellte, die nach außen stark erschien. Aber
machte sie das nicht auch hart und verbittert?
„Linda, es schmerzt mich, vom Zustand Ihres Sohnes zu hören. Ich spreche Ihnen mein
Mitgefühl aus. Errig ist bestimmt ein Sohn, auf den Sie immer stolz sein konnten. Ich
hoffe, dass in der Zukunft ein Weg gefunden wird, Errig ins Leben zurückzuholen.“
Linda sah Sara überrascht an. Einen Moment lang brach die Trauer in ihren Augen
durch. Doch dann sagte sie: „Ihnen und Sie, das gibt es bei uns nicht. Hier gibt es nur
du und dich. Und Errig hast du gar nicht richtig gekannt oder geliebt. Du hättest ihm
niemals die Frau, wie Joanna es war, ersetzen können.“
Sara hatte mit so einer Reaktion nicht gerechnet. Zunächst war sie schockiert, verletzt
und wollte verbal zurückschlagen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann
machte sie ihn gleich wieder zu. Sie wollte nicht etwas ebenso Verletzendes sagen. Sie
hätte gerne auf die Vorwürfe reagiert, sich verteidigt. Sie wollte sagen, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatte, Errig besser kennen zu lernen. Ihr erklären, wie sie sich Gefühle
für Errig versagt hatte. Doch am Ende sagte sie gar nichts. Stattdessen machte sie sich
Lindas Situation klar. Sie hatte viel durchgemacht. Und wahrscheinlich noch mehr, als
sie bisher wusste. Und jetzt hatte Linda auch noch Sara am Hals und damit einen
weiteren Pflegefall, zumindest für einige Tage. Sicher war später noch Gelegenheit, die
Dinge richtig zu stellen. Vielleicht tat es Linda gut, all das herauszulassen.
„Linda“, sagte Jaason mit sanftem Tadel in der Stimme. „Mach‘ es Sara nicht so schwer.
Sie weiß noch nicht einmal, wo sie hier gelandet ist.“ Er stand auf und kam zu Sara
herüber. „Ich sehe heute Nachmittag noch einmal nach dir. Jetzt muss ich mich wieder
um meine anderen Patienten kümmern. Linda, wenn Sara gegessen hat, sollte sie die
Chronik von Ragna lesen. Das wird viele ihrer Fragen beantworten. Konrad soll sie dir
geben.“
Und damit verließ er das Zimmer. Linda schaute ihm einen Augenblick lang nach. Dann
stellte sie das Tablett auf den Stuhl, den Jaason gerade frei gemacht hatte. Sie setzte sich
wie zuvor an Saras Bettkante und half ihr beim Essen. Sara war ausgehungert wie nie
zuvor. Für ihren Geschmack kam der Löffel mit der Suppe nicht schnell genug zu ihrem
Mund. Die Gemüsesuppe war salzlos, doch frische Kräuter machten sie schmackhaft. Sie
bestand aus Möhren und einer anderen Wurzelsorte, die Sara nicht kannte. Die Portion
war nicht groß. Aber Jaason wusste sicher, was er tat. Selbst Sara hatte gehört, dass ein
Magen, der lange keine Nahrung bekommen hatte, sich gegen zu viel Nahrung wehrte.
Auch das kleine Stück Brot war wohl vor allem mit Kräutern gewürzt. Es war köstlich,
aber so hungrig wie Sara war, hätte sie vermutlich sogar Stroh für einen Leckerbissen
gehalten. Linda hatte sie ohne ein weiteres Wort zu verlieren gefüttert und antwortete
auch nicht, als Sara sich bedankte. Sie stellte Sara noch einen Becher Wasser auf den
Stuhl direkt neben das Bett, nahm das Tablett und verließ das Zimmer. In der Tür sagte
sie noch kühl:
„Das Buch bringe ich dir später. Jetzt habe ich erst einmal andere Pflichten.“ Und
damit schloss sie hinter sich die Tür.
Kapitel 8
Antworten
Zunächst hatte Sara ihre Zeit allein für Krankengymnastik genutzt. Sie hatte damit begonnen, ihre verschiedenen Muskelgruppen anzuspannen und wieder zu entspannen.
Anspannen, entspannen: Immer wieder zwang sie sich dazu. Sie zählte und atmete,
spannte an und ließ wieder locker. Langsam kam sie auch innerlich zur Ruhe nach so
viel seelischer Aufregung. Sie lebte. Sie war völlig unerwartet nicht gestorben, sondern
scheinbar gesund. Auf jeden Fall fühlte sie sich großartig, jetzt, nachdem sie getrunken
und gegessen hatte. Einzig ihre Muskeln brauchten dringend Training, denn sie wollte
nicht lange an dieses Bett gefesselt sein, nun, wo sie sich gesund fühlte. Verbissen
kämpfte sie sich durch eine dritte Runde aller Muskelgruppen. Schnell bekam sie wieder
Hunger. Die Suppe und das Brot hatten ihr nicht viel Energie bereitgestellt. Sie verbrannte viele Kalorien bei den Übungen. Sie hoffte, dass das Mittagessen reichhaltiger
ausfallen würde. Sich selbstständig auf die Seite zu drehen und nach dem Wasserbecher
zu greifen, kostete Sara eine enorme Kraftanstrengung und viele Minuten Zeit. Sie war
stolz auf sich, dass sie es schaffte, allein aus dem Becher zu trinken.
Inzwischen konnte sie bei den Übungen sogar nachdenken. Und nachzudenken hatte sie
viel. Sie ließ die Ereignisse an ihrem inneren Auge vorüberziehen. Errig, den sie kaum
kannte, war bei dem erfolgreichen Versuch sie zu heilen, in eine Art Koma gefallen einfach so. Ein Schock, den sie noch längst nicht verwunden hatte. Errig hatte seine Frau
Joanna verloren und diese sah Sara zum Verwechseln ähnlich. Das erklärte Sara endlich,
was sie vorher nie verstanden hatte. Deshalb also hatte Errig sie angesprochen und als er
von ihrer Krankheit erfuhr, sich für sie eingesetzt. Für ihn war es wie eine zweite Chance
gewesen, Joanna zu retten. Es gab ihr einen Stich durchs Herz, dass Errig sich wahrscheinlich gar nicht für sie interessiert hätte, wenn sie Joanna nicht so ähnlich gesehen
hätte. Das gab ihr schon zu knabbern. Errig hatte nur Joanna in ihr gesehen. Und was
Sara ja auch immer betont hatte, nämlich die Tatsache, dass sie sich gar nicht richtig
kannten, trat jetzt umso deutlicher hervor.
„Liebe! Pah! Das nennt man Projektion, Errig!“, dachte Sara mit ein wenig Selbstmitleid.
Und jetzt hatte dieser John sie ungefragt hierher geschleift. Allerdings muss man ihm
zugutehalten, dass er sie nicht hatte fragen können, aber das Neuköllner Krankenhaus
oder die Charité hätten es auch getan. Warum musste es dieser rustikale Ort sein, der
möglicherweise Ragna hieß und von dem sie noch nie gehört hatte. Ihr fiel eine weitere
Bemerkung wieder ein, die Errig einmal gemacht hatte:
„Meine Eltern sind sehr konservativ und leben sehr zurückgezogen.“ Errig kannte
Spiderman nicht und sprach auch sonst manchmal merkwürdig. Sie hatte ihn eher nach
Osteuropa eingeordnet, aber weder Linda noch Jaason hatten einen Akzent. Jaason
sprach von Infusionen, Apparaten und Maschinen, aber in diesem Raum gab es nicht
einmal eine Lampe. War sie unter „Zurück-zum-Leben-wie-im-Mittelalter-Fanatiker“
geraten? Oder zu einem deutschen Ableger der Amisch People, von denen sie aus Amerika gehört hatte, die moderne Technik ablehnten? Jene christliche Gruppe, die noch so
lebte wie im 19. Jahrhundert? Sicher würde schon bald jemand kommen, den sie fragen
konnte.
Sie sollte sich auch bei Vera und Peter melden. Ob Peter wohl wusste, dass sie noch
lebte? Dachte er, sie sei gestorben? Was hatte John ihm erzählt? Oder Vera? Und was hat
Errig mit Legolas gemacht?
„Ich muss Linda so schnell wie möglich um ein Handy bitten. So etwas haben die hier
doch sicher, wenn auch vielleicht nur für den Notfall, oder? Hoffentlich haben die hier
Empfang“, dachte Sara.
Etwas später betete sie. Tatsächlich konnte sie auf ihrem Lager gut beten. Es half ihr,
sich ihrer Gefühle bewusst zu werden. Ihre Situation anzuschauen und sich für ihr unerwartet neues Leben zu bedanken. Sie wusste allerdings nicht, ob sie es Gott oder Errig zu
verdanken hatte, dass sie noch lebte. Sie betete auch für Linda, Tim und Jaason um
Trost. Später, Sara wusste nicht wie viel später, - Waren mehrere Stunden vergangen? jedenfalls war es als ihr Hunger begann, wirklich unangenehm zu werden, kam Linda
mit einem dampfenden Tablett, das sie auf den Tisch stellte und sagte:
„Mittagessen!“
Wortkarg war sie immer noch. Ein Blick genügte und Sara wusste, dass es im Moment
keine gute Idee war, sie mit ihren Fragen zu bestürmen. Stattdessen bedankte sie sich
noch einmal herzlich für ihre Pflege und ihre Geduld. Als sie erzählte, dass sie allein
getrunken hatte, bemerkte Linda nur knapp:
„Na immerhin etwas.“
Das Essen bestand aus einem handflächengroßem Klacks warmen Hirsebreis, gekochten
Steckrüben und einem wirklich sehr kleinen Stück Ziegenkäse. Und wahrscheinlich Bio
durch und durch, vegetarisch, und auch dies passend zu der „Zurück-zu-den-WurzelnTheorie“, die Sara aufgestellt hatte und sich immer mehr zu verfestigen schien. Steckrüben hatte Sara immer gemocht, auch wenn sie ein bisschen aus der Mode gekommen
waren. Ihre Mutter hatte ein wunderbares Eintopfrezept. Manche Bauern allerdings
verfütterten Steckrüben nur noch an Tiere. Auf den ersten Blick hielt Sara das Essen für
ein sehr frugales Mahl, aber es schmeckte sehr viel besser als es aussah. Linda half ihr
wieder beim Essen und Sara genoss jeden Löffelvoll. Die Wärme der Mahlzeit ging ihr
schon nach wenigen Augenblicken durch und durch und sie hatte das Gefühl, als würden
ihre Wangen glühen. Es tat ihr einfach richtig gut. Die Portion hätte für ihr Gefühl zwar
etwas größer sein können, aber sie wusste, dass es für ihren Magen besser war, mit
kleinen Portionen zu beginnen. Sicher hatte Jaason für sie mehrere kleinere Mahlzeiten
pro Tag angeordnet. Sie seufzte zufrieden.
„Vielen Dank, Linda! Das war köstlich! Ich wusste gar nicht, dass Hirsebrei so gut
schmecken kann. Und der Käse erinnert mich an meine Kindheit. Genauso hat ihn mein
Vater auch immer gemacht. Wir hatten damals eine kleine Herde Ziegen“, schwärmte
Sara. Linda stand auf und sah Sara nachdenklich an. Dieser kleine Vortrag hatte sie
offenbar überrascht.
„Und John hatte uns so gewarnt, dass, solltest du jemals aufwachen, du dich als Erstes
über das Essen beschweren würdest.“ Linda räumte das Tongeschirr zurück auf das
Tablett. „Und wenn du etwas von Ziegen verstehst, könnte das eine große Hilfe sein.
Unsere Ziegen machen uns Sorgen. Sie sind nicht gut über den Winter gekommen.“
„Ich helfe gerne, wenn ich kann“, versprach Sara. „Ich hoffe, ich komme bald wieder auf
die Beine. Es ist mir unangenehm, dir eine weitere Belastung zu sein. Linda, und ich
muss dringend telefonieren.“
Linda blickte sie einen Moment lang scharf an, überlegte und sah aus, als wolle sie etwas
erklären, sagte dann aber doch nichts, außer:
„Hier ist das Buch, von dem Jaason gesprochen hat. Es wird deine Fragen beantworten.
Es tut mir Leid, Sara.“
Sie legte Sara ein kleines, ledergebundenes Buch auf den Stuhl neben sie und verließ
ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
Sara konnte das Buch nur unter größter Anstrengung zu sich herüberziehen. Beinahe
wäre es ihr heruntergefallen. Sie hätte es nicht vom Boden aufheben können, ohne aus
dem Bett zu fallen. Sie betastete das Leder des Einbandes. Das Buch sah handgemacht
aus. Als sie es an einer beliebigen Stelle öffnete, sah sie die feinen Striche und Linien
einer klaren Handschrift. Die Seiten waren dicht beschrieben. Wie es aussah mit der
Feder. Eine schöne Arbeit. Klare Buchstaben auf schwerem Papier. Saras Interesse war
sofort geweckt. Sie schlug das Buch vorn auf.
„Die Chronik von Ragna“
niedergeschrieben von Halsar, dem Weisen
Mögen meine Leser zahlreich
und wissbegierig sein
und in besseren Zeiten leben
Das war alles, was auf der ersten Seite stand.
„Ein merkwürdiger Einstieg“, dachte Sara. „Klingt eher wie der Anfang eines FantasyRomans.“ Sie schlug die nächste Seite auf und las die gleichmäßigen Zeilen der schönen
Handschrift.
Ich beginne meinen Bericht im fünften Jahr der Regierung von Miras Sonorida, dem ersten
gewählten und obersten Wächter von Ragna. Er gab mir, Halsar, dem ersten Archivar und
Schriftkundigen, den Auftrag, alle Ereignisse niederzuschreiben, die vor der Gründung von
Ragna geschehen sind. Und auch die Chronik von Ragna wird hier zu lesen sein. Alle
unsere Errungenschaften seit der Entstehung unserer Dorfgemeinschaft. Nichts soll in
Vergessenheit geraten. Ich bringe nun zum ersten Male alle Geschichten zu Papier, die wir
seit Generationen von den Erzählern am Feuer hören.
Es ist Sommer im Jahr 2219 im Monat August. Wir haben eine gute Ernte eingebracht und
endlich finde ich die Zeit und die Ruhe, meinen Auftrag als Chronist zu erfüllen.
In diesem Jahr wurde mit Schulunterricht begonnen. Bringar, der Ältere, ist der Lehrer der
Kinder und aller, die die Kunst des Lesens erlernen wollen. Nun, da wieder viele von uns das
Lesen erlernen, ist es notwendig, unsere Geschichte niederzuschreiben und für die nächsten
Generationen zu bewahren.
Sara ließ das Buch nach dieser Einleitung sinken.
„Also kein Fantasy-Roman, sondern eher ein Science Fiction. Warum hat mir Jaason
ausgerechnet dieses Buch ans Herz gelegt?“, dachte sie. Welche Antworten sollte sie in
einer fiktiven, handgeschriebenen Geschichte finden? Da Sara im Moment nichts Besseres zu tun hatte und kein weiterer Gesprächspartner zur Verfügung stand, las sie erst
einmal weiter. Sie blätterte um. Die nächste Seite trug die Überschrift:
„Die globale Katastrophe oder das Ende der Welt“
Bei einer globalen Katastrophe im Jahre 2076 und in den Jahren danach wurde fast die
gesamte Menschheit eliminiert. Bei magnetischen Sonnenstürmen und Eruptionen wurden
alle elektronischen Datenträger gelöscht, das Internet, Tonträger, Sicherungskopien, alles
vernichtet, elektrische Geräte schmorten durch, Strom war nicht mehr vorhanden und
konnte auch über viele Jahre nicht mehr erzeugt werden. Die Mehrheit der Menschen
erblindete durch die Helligkeit der Sonneneruptionen, die immer wieder ohne Vorwarnung
auftraten. Viele kamen in der Katastrophe um oder starben in den Jahren danach an
Krankheiten oder verloren ihr Leben bei Unruhen im Überlebenskampf. Technologie und
Wissen gingen im Machtkampf um die letzten Ressourcen der Menschen verloren. Die
meisten Bücher und Musikinstrumente wurden verbrannt, als Heizmaterial in den Wintern
und zum Kochen nach der Katastrophe.
In der Anarchie, die mehrere Generationen herrschte, wurden die Errungenschaften der
Zivilisation vergessen. Erst langsam, nachdem die Überlebenden die wichtigsten Fragen
geklärt hatten, setzte ein Nachdenken über Ursprung von Kultur und Wissen der
Menschheit ein. Das meiste war unwiderruflich verloren, das Wissen vage, die
Erinnerungen nur noch schwach. Neuere Bücher unbekannt, daher kennen die
Zeitreisenden sich im späten 20sten und frühen 21sten Jahrhundert nicht so gut aus. Man
hat nur Geschichtsbücher bis in die 1960er Jahre gefunden.
Die wenigen Bücher, die erhalten blieben, geben nur einen unzureichenden Einblick in den
Reichtum früherer Kulturen. Erst nachdem eine einigermaßen stabile Zivilisation
entstanden ist, mit einer Regierung, geregelter Arbeit und Aufgabenverteilung, wird über
eine solide Schulbildung neu nachgedacht.
Die letzten Überlebenden haben sich zu einer Dorfgemeinschaft namens Ragna
zusammengefunden. Alle etwa 350 Personen in Ragna leben, arbeiten und essen gemeinsam. Das Leben ist mühsam und es herrscht viel Unzufriedenheit. Allerdings gibt es kaum
Ressourcen und Alternativen. Die Suchtrupps, die regelmäßig ausgesandt werden, erforschen das nahe, jedoch verfallene Berlin. Sie bringen zwar nützliche Gegenstände zurück,
jedoch nichts, was die Gesellschaft wirklich voranbringt. Erst die Entdeckung eines
geheimen Forschungsprojektes am Hermannplatz in Berlin, einer Zeitmaschine, gibt der
Gesellschaft einen Lichtblick und Erleichterungen.
Die Anlage war autark und weit genug unter der Erde, dass hier die Elektronik und die
Energiequelle erhalten blieben. Mit der Anlage können sich Personen durch die Zeit bewegen. Errig und John haben bereits erste Bücher, Werkzeuge und Gegenstände aus der
Vergangenheit zurückgebracht, die die Situation in Ragna verbessert haben. Jetzt steht
ihnen eine neue Ressource offen: die Vergangenheit kann besucht und erforscht
werden.......
Im Jahre 2012 errichteten John und Errig Sonorida in Neukölln am Hermannplatz ein
kleines Hauptquartier der Lernenden. Lehrer in ihrer Zeit, Schüler in dieser Zeit.
Ende der Leseprobe:
Ich hoffe, Sie hatten Spaß und Ihr Interesse ist geweckt.
Möchten Sie jetzt wissen, wie es weitergeht? Bald hat das Warten
ein Ende:
„Liebe auf Zeit“
erscheint Anfang Juni als Taschenbuch und E-Book
Oncken-Verlag Kassel, 320 Seiten, 9,95 €, und als E-Book 3,99 €
Im Buchhandel und als E-Book bei allen Anbietern.