1 FU Berlin Fachbereich Politische Wissenschaften SO 1999 HS 15 169: Totalitarismustheorien - Geschichte und aktuelle Bedeutung Dozenten: Dr. Martin Jander / Dr. Klaus Schroeder Referent: Alexander Schminke Arbeitspapier Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Teil III: Totale Herrschaft (S. 627 - S. 979) 1. Die Konzeption zu „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ „Um ein Konzept zu verstehen, ist es notwendig, es in seinem Kontext zu betrachten. Aber man darf ein Konzept nicht einfach auf seinen Kontext reduzieren, wenn man seine Brauchbarkeit für eine Theorie beurteilen will.“1 So der Kritiker Bernard Crick zur negativen Kritik an Hannah Arendts unorthodoxer Methode. 1.1 Die Intention a) Ihr Bestreben, „die Hauptelemente des Nationalsozialismus aufzuspüren, sie zurückzuverfolgen und die zugrunde liegenden wirklichen politischen Probleme zu erforschen...Es ist nicht das Ziel des Buchs, Antworten zu geben, sondern eher, das Terrain zu sondieren.“2 b) Die mögliche Klärung des philosophischen Begriffs des radikal Bösen. c) Eine mögliche Neubegründung des Politischen. 1.2 Die Fragestellung a) Was macht den Totalitarismus totalitär und unterscheidet ihn deshalb von anderen Herrschaftsformen? b) Was ist das eigentliche Wesen totalitärer Herrschaft, das sich aufgrund der sich zu diesem Objekt kristallisierten ursprünglichen Phänomene zeigt? c) Wie ist es möglich, diesen „neuen Herrschaftsmethoden“ zu widerstehen, die sich der Menschen bemächtigen, ihre „Spontaneität als menschliche Verhaltungsweise abzuschaffen“ und sie „in ein Ding zu verwandeln“? d) Ist das Ereignis des Nationalsozialismus mit unseren tradierten Vorstellungen politischen Denkens und moralischen Urteilens überhaupt zu begreifen? 1 2 Zitiert in: Barley, Delbert: Hannah Arendt - Einführung in ihr Werk; Freiburg / München 1990, S. 28. Zitiert in: Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt - Leben, Werk und Zeit; Frankfurt am Main 1996, S. 287. 2 1.3 Die Thesen a) Hannah Arendts Grundthese lautet, dass Nationalsozialismus und Stalinismus strukturell gleich sind, worauf sie folgert, dass totalitäre Systeme aufgrund ihrer gleichbleibenden und insich-selbst ruhenden Eigentümlichkeiten prinzipiell verglichen werden können. b) „Nicht das Kriegsende, sondern Stalins Tod acht Jahre danach brachte den Umschlag. Rückblickend scheint es, als habe dieser Tod nicht bloß eine Nachfolgekrise und ein `Tauwetter´ nach sich gezogen..., sondern einen echten...Abbau totaler Herrschaft.“3 c) Das eigentliche Wesen totalitärer Herrschaft, das in jedem totalitären System faktisch existiert, sind die Konzentrations- und Vernichtungslager. „Denn diese Lager sind die eigentliche zentrale Institution des totalen Macht- und Organisationsapparats.“4 d) Die Kraft, die totalitäre Systeme zur Existenz bringt und nur so lange dasein läßt, wie sie faktisch andauert, ist die prozessuale Bewegung. e) Obwohl totalitäre Systeme wie auch das menschliche Handeln in Bewegung sind, können diese Prozesse durch es selbst beendet werden, sofern „Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“5 1.4 Die Methode Der Totalitarismus ist das Ereignis, das in das vom Historiker dargestellte Kontinuum der Geschichte einbricht. Wie der Augenblick selbst, der sich ganz vom Momentum unterscheidet, insofern er nichts mit einer kausalen Bewegung zu tun hat, sondern dem Menschen plötzlich und unerwartet geschieht, ereignet sich Geschichte nicht, sondern bricht aus. Der geschichtliche Ausbruch erschüttert, versetzt dem Denken, dem da etwas geschieht, einen Schock. Gelähmt ist es im Jetzt der Erkennbarkeit von der Vergangenheit und der Zukunft abgetrennt. Es versagt das analytische Denken, so dass der Strom der Zeit, das der Historiker zu einem Kontinuum von Geschichten subsumiert, still steht. Im Stillstand des Augenblicks erkennt das Denken nur noch die Aufeinanderfolge von Bildern, die ihn gleich einem cineastischen Erlebnis beeindrucken. Kommt das Denken zu sich, bleibt nur noch die Wiederholung des Augenblicks, um es in seiner für-sich-selbst aufzeigenden Epoche zu bedenken. Geschichte ist damit die Aktualisierung des Bruchs und nicht mehr „Gegenstand einer Konstruktion“. Für Walter Benjamin, der dem marxistischen Denken nahe stand, hieß das, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“, nicht im Triumphzug der Sieger, der Herrschenden, die die Kulturgüter als Beute mitführen, zu wandeln.6 In diesem Sinne bedeutet der Bruch mit dem Kontinuum zugleich den Bruch mit dem Prozess der traditionellen Überlieferung. Hannah Arendt folgte diesem Denken, doch begriff sie diesen Bruch - gerade was das Handeln selbst anbelangt - radikaler. Das menschliche Handeln kann ihrer Meinung nach überhaupt nicht kausal erklärt werden. Es bricht förmlich jeglichen Kontakt zum vorigen Zustand ab. Insofern Handlungen losgelöst von vergangenen Handlungen sind, muss jede Handlung für sich ein Novum sein. Eine beispiellose Dimension kommt dabei dem Totalitarismus zu: Dieser ist nicht nur ein Novum, sondern er vollzieht den Bruch mit einer Radikalität sondergleichen. Der Totalitarismus 3 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft;, 6. Aufl., München, Zürich 1998, S. 632. EU, a.a.O., S. 908. 5 Arendt, Hannah: Vita Activa - oder Vom tätigen Leben, 8. Aufl., München 1994, § 24, S. 166. 6 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Sprache und Geschichte, Stuttgart 1992, S. 145. 4 3 bricht mit allen tradierten politischen und kulturellen Wert- und Ordnungsmaßstäben, so dass das Verständnis, das sich bislang daran orientiert hatte, in eine tiefe Krise stürzte. Für Hannah Arendt hatte ihre Erkenntnis bedeutet, dass der Zugang zu dieser Erscheinung eine andere Methode voraussetzen musste. Sie wählte die beschreibende Phänomenologie, die „Untersuchung der `Phänomene´, das heißt dessen, was im Bewußtsein erscheint, dessen, was `gegeben´ ist. Es geht darum, dieses Gegebene zu erforschen, `die Sache selbst´, die man wahrnimmt, an die man denkt, von der man spricht, und keine Hypothesen zu bilden.“7 Diese Methode könnte man auch als phänomenologischen Bruch bezeichnen, weil beide das Ereignis einklammern (die Epoche) und gegenüber dem Außen abgrenzen, wobei der Phänomenologe sich seiner Grenzen bewusst ist. Die Phänomenologie ist eine meditative Einstellung und „so zeichnet sich im Herzen der phänomenologischen Meditation ein kritisches Moment ab, eine Absage an die Wissenschaft, die in der Weigerung besteht, zur Erklärung überzugehen.“8 2. Analyse und Argumentation zum Phänomen des Totalitarismus 2.1. Die soziale Basis totalitärer Systeme a) Entstehung und Struktur der Massen Der Entstehung der Massen liegt ein geschichtlicher Zersetzungsprozess zugrunde, der zuerst das klassische Ideal der bürgerlichen Familie zur Zeit der industriellen Revolution traf, in der sich die Frau aufgrund veränderter ökonomischer und folglich gesellschaftlicher Bedingungen schrittweise emanzipierte. Der Bruch der Familie wurde durch Gruppen, Parteien und Verbände aufgefangen, die klassenspezifische Interessen vertraten. Mit der Entdeckung, dass die Arbeiter nicht nur einen Kostenfaktor darstellen, sondern auch eine Konsumentenmasse, begann schließlich die Absorption der Gruppen durch die Massengesellschaft, die „schließlich die sozialen Klassen und Gruppierungen aufgesogen und nivelliert“ hat (VA, S. 41f). Die Struktur der Massen: Obzwar die Massen selbst aus Gruppen bestehen, sind sie indifferente Erscheinungen, „die sich, entweder weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemeinsam erfahrenen und verwalteten Welt beruht, also in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen. Potentiell existieren sie in jedem Lande und zu jeder Zeit.“ (EU, S.668) Das Kennzeichen atomisierter und folglich isolierter Menschen in der Masse ist das „uniformierte Sich-Verhalten“ (VA, S. 44), das dem spontanen, Welt konstituierenden Handeln entgegensteht. Die Folge ist, dass in der Massengesellschaft „die Welt die Kraft verloren hat, zu versammeln, daß heißt, zu trennen und zu verbinden“ (VA, S. 52). 7 Lyotard, Jean-Francois: Die Phänomenologie, 1. Aufl., Hamburg 1993, S. 9; „Als Bedeutung des Ausdrucks >Phänomen< ist daher festzuhalten: das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare. Die, die >Phänomene< sind dann die Gesamtheit dessen, was am Tage liegt oder ans Licht gebracht werden kann...Der läßt etwas sehen, nämlich das, worüber die Rede ist und zwar für den Redenden, bzw. für die miteinander Redenden. Die Rede >läßt sehen< ...von dem selbst her, wovon die Rede ist...Phänomenologie sagt dann: Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen...Was ist das, was die Phänomenolgie >sehen lassen< soll?...Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht“; Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 17. Aufl., Tübingen 1993, §7, S. 28, S. 32, S.34, S. 35. 8 Lyotard, a.a.O., S. 10. 4 b) Der Mob im Bündnis mit der Elite Wie die Massen, so sind auch der Mob und die Elite aus der ehemaligen Struktur der Klassengesellschaft herausgefallen. „Der Mob setzt sich zusammen aus allen Deklassierten“ (EU, S. 247). Er ist „nicht mit der Industriearbeiterschaft und gewiß nicht mit dem Volk in seinen unteren Schichten zu identifizieren“, sondern er setzt „sich von vornherein aus den Abfällen sämtlicher Klassen und Schichten“ zusammen. „Gerade darum konnte es scheinen, als seien in ihm die Klassenunterscheidungen aufgehoben und als sei er...das verlorengegangene Volk - die »Volksgemeinschaft« in der Sprache der Nazis. In Wahrheit ist er dessen genaues Wider- und Zerrbild.“ Der Mob ist „nicht nur der Abfall der Gesellschaft, sondern auch ihr Produkt, direkt von ihr erzeugt und daher nie ganz von ihr zu trennen“ (EU, S. 348). Zudem „schreit der Mob in allen Aufständen nach dem starken Mann, der ihn führen kann. Der Mob kann nicht wählen, er kann nur akklamieren oder steinigen.“ (EU, S. 247) „Alles, was der Mob haßte“, war in den Juden personifiziert: „die Gesellschaft, weil Juden in ihr nur geduldet waren, und der Staat, weil Juden seit Jahrhunderten von ihm direkt vor der Gesellschaft geschützt wurden und daher leicht mit staatlicher Macht identifiziert werden konnten“ (EU, S. 248). Die Elite differenziert sich einerseits in die bürgerliche Besitzelite und andererseits in die intellektuelle Elite. Die bürgerliche Besitzelite war wesentlich am Aufstieg und an der Durchsetzung der totalitären Herrschaft beteiligt. Die Faszination der intellektuellen Elite für den Mob gründete sich in ihre „Vorliebe für terroristische Aktionen.“ Im Verbund mit seinen intellektuellen Theorien schloss sich die Elite mit dem Mob zu „eine Art Bombenexpressionismus“ zusammen. „Terror war zum Stil politischen Handelns überhaupt geworden, ein Mittel, sich selbst, den eigenen Haß und ein blindes Ressentiment auf alles Bestehende auszudrücken.“ (EU, S. 711) Dieser Faszination lag ein „Mangel an wirklicher Urteilskraft“ zu Grunde, so dass sie selbst den eigentlichen Zustand der Gesellschaft nicht erkannten. Jedenfalls, „was die Elite ansprach, war Radikalismus als solcher“ (EU, S. 719). 2.2 Die Struktur der totalitären Bewegung 2.2.1 Agitation, Organisation und Bewegung der Massen Die Führer der totalitären Bewegung kamen aus dem Mob. Sie sahen die Chance gekommen, „nicht nur das Gesindel, sondern große Massen des Volkes zu organisieren.“ Denn die Massen, die orientierungslos in der Gesellschaft herumirrten, sehnten sich aus ihrem willkürlichen Leben in die Fiktion einer Ideologie zu entfliehen. So übten die Führer eine große Anziehungskraft auf die Massen aus, weil sie selbst gestrandete Existenzen waren, „Schiffbruch erlitten und als Sexualverbrecher, Rauschsüchtige oder Pervertierte sich in einem normalen Privatleben nicht hatten zurechtfinden können.“ Für die Massen schien ihre politische Laufbahn „zu beweisen, daß sich in ihnen das Massenschicksal der Zeit verkörperte“ (EU, S. 704). Das Mittel, die Massen zu organisieren, war Propaganda. Der dabei eingesetzte Terror, ausgeführt durch den von den Führern aufgehetzten Mob, sollte der Bevölkerung verdeutlichen, „daß die Macht der Nazis größer war als die der Regierung“ (EU, S. 732). „Die Massen, mit welchen es die totalitäre Propaganda zu hat, leiden...an einem radikalen Schwund des gesunden Menschenverstandes und seiner Urteilskraft sowie an einem nicht minder radikalen Versagen der elementarsten Selbsterhaltungstriebe.“ (EU, S. 737) Um die modernen Massen in die totalitäre Organisation einfassen zu können, werden sie zur Treue an diese Organisation mit permanenter Wiederholung eingeschworen. Denn „totalitäre Propaganda hat ihr Ziel nicht erreicht, wenn sie überzeugt, sondern wenn sie organisiert“ (EU, S. 763). Sobald die totalitäre Bewegung an die Macht kommt, werden die Sympathisanten und der treuelose Mob abgeschüttelt. „Geistige und künstlerische Initiative ist der totalen Herrschaft nicht weniger gefährlich als die Gangsterinitiative des Mobs.“ (EU, S. 723) 5 2.2.2 Die Organisationsform der totalitären Bewegung Die Organisationsform der totalitären Bewegung stellt sich im Modus einer „Zwiebelstruktur“ dar (EU, S. 856). a) Frontorganisation (Sympathisanten), Parteimitglieder, Eliteverbände Das Kennzeichen der totalitären Organisation ist es, „daß die Beziehung zwischen einer Fassade und einem Kern wie die Doppelfunktion der Fassade nach außen und innen sich durch die gesamte Organisation der Bewegungen hindurch wiederholt“, d.h. ihre „eigentliche Struktur ausmacht. So wie die Parteimitglieder durch die Sympathisierenden von der Außenwelt zugleich getrennt und mit ihr verbunden sind, so sind die Eliteformationen der Bewegungen durch die gewöhnliche Parteimitgliedschaft zugleich von der nichttotalitären Umgebung geschützt und ihr verbunden.“ (EU, S. 771f) b) Organisierte Gewalt „Während es Aufgabe der Frontorganisation war, der Bewegung den Anschein der Respektabilität zu geben und ihren Mitgliedern Vertrauen einzuflößen, ist es Aufgabe der Elitetruppen, die Umwelt von der Gefährlichkeit der Bewegung zu überzeugen, sie einzuschüchtern und ihre Mitglieder durch Komplizität absolut an die Bewegung zu binden.“ (EU, S. 783) c) Der Führer „Ein totales Verantwortungsmonopol ist nur zu erreichen, wenn es auf der Grundlage eines totalen Willensmonopols errichtet wird, wenn wirklich ein Wille sich in einer Pluralität von Menschen einheitlich manifestiert. Dies setzt voraus, daß die Grundlage der Willensbildung, nämlich das Wissen um das Hin und Her der Gründe, das aus der Vieldeutigkeit der Umstände entspringt, seinerseits monoploisiert ist.“ (EU, S. 789) d) Die Geheimgesellschaft „Das Prinzip der Geheimgesellschaften war immer, »daß ausgeschlossen ist, wer nicht ausdrücklich eingeschlossen ist«, daß jeder ein Feind ist, der nicht dazugehört, oder, in der Anwendung dieses Prinzips durch die Nazis, daß jeder einer minderwertigen Rasse zugehört, dessen Stammbaum nicht untersucht ist.“ (EU, S. 792) e) Mentalität „Ein Beisammensein von Zynismus und Leichtgläubigkeit durchherrscht alle Ränge totalitärer Bewegungen; je höher der Rang ist, desto mehr überwiegt in dieser Mischung der Zynismus. Alle Ränge, vom Sympathisierenden bis zum Führer, sind davon überzeugt, daß Politik als solche im hergebrachten Sinne wesentlich ein Spiel des Betrügens ist und daß demzufolge das »erste Gebot« der Bewegung: »Der Führer hat immer recht«, für den weltweiten Betrug der Weltpolitik so unerläßlich ist wie militärische Disziplin für die Kriegsführung.“ (EU, S. 802f) 2.3 Die Struktur des totalen Staates „Vergleicht man den totalen Herrschaftsapparat mit einem der vielen uns aus der Geschichte bekannten Staatsapparate, so kann man ihn nur als strukturlos bezeichnen.“ (EU, S. 832) 6 a) Verdoppelung und Machtverlegung von Instanzen und Institutionen Verdoppelung: „Zu Beginn des Dritten Reiches ließen die Nazis es sich angelegen sein, alle Ämter von irgendeiner Bedeutung so zu verdoppeln, daß die gleiche Funktion einmal von einem Staatsbeamten und zweitens von einem Parteimitglied erfüllt wurde.“ (EU, S. 828) Verschiebung: „Rein technisch bewegt sich die Bewegung innerhalb des totalen Herrschaftsapparats dadurch, daß die Führung das eigentliche Machtzentrum dauernd verschiebt, in andere Organisationen verlegt, ohne doch darum die so entmachteten Gruppen aufzulösen oder auch nur öffentlich an den Pranger zu stellen.“ (EU, S. 835) b) Die Bewegung „Das, was dem außenstehenden Beobachter wie ein »Stück aus dem Tollhaus« vorkommt, ist nichts als die Konsequenz des absoluten Primats der Bewegung nicht nur über den Staat, sondern auch über die Nation, das Volk und sogar die eigenen Machtpositionen.“ (EU, S. 855) c) Machtbegriff und Machtpolitik „Der Machtbegriff der totalen Herrschaft beruht ausschließlich auf der Kraft und Stärke, welche durch Organisation und reibungsloses Funktionieren zu erreichen sind.“ (EU, S. 864) Für ihre Machtpolitik ist entscheidend, „daß die totalitären Regime ihre Außenpolitik konsequent und systematisch unter der Voraussetzung einer schließlichen Weltherrschaft führen, und zwar indem sie ein Ausland im eigentlichen Sinne nicht anerkennen, sondern sich zu jedem fremden Land so stellen, als sei es potentiell zum mindesten ihr eigenes Herrschaftsgebiet“ (EU, S. 860). d) Geheimdienste „Die einzige Institution, in der Staatsmacht und Parteiapparatur zusammenzufallen scheinen und die gerade darum sich als das eigentliche Machtzentrum im totalitären Herrschaftsapparat entpuppt, ist die Geheimpolizei.“ (EU, S. 869) „Die einzige Auszeichnung, deren sie sich rühmen kann..., ist, daß nur sie weiß, was jeweils geplant und welche politische Linie beschlossen wurde. Dies gilt vor allem für hochpolitische Angelegenheiten wie die Liquidierung einer ganzen Klasse oder einer ganzen Volksgruppe.“ (EU, S. 882) e) Der Begriff des objektiven Gegners „Der Begriff vom »objektiven Gegner«, dessen Identität je nach der Lage wechselt - so daß, sobald eine Kategorie liquidiert ist, einer neuen der Krieg erklärt werden kann - entspricht aufs genaueste dem von totalitären Machthabern immer wieder proklamierten Tatbestand, daß ihr Regime nicht eine Regierung im althergebrachten Sinne sei, sondern eine Bewegung, deren Fortschreiten naturgemäß immer wieder auf Widerstände stößt, die aufs neue zu beseitigen sind.“ (EU, S. 879) 2.4 Die Ideologie „Die Idee der Ideologie ist weder das ewige Wesen vergänglicher Dinge noch die regulative Kraft der Vernunft, sie ist vielmehr ein Instrument, mit dessen Hilfe Prozesse und Ereignisse berechnet werden können.“ (EU, S. 963) 7 a) Ihr hermeneutischer Hintergrund „Ideologien in ihrem Anspruch auf totale Weltherrschaft haben es erstens an sich, nicht das, was ist, sondern nur das, was wird, was entsteht und vergeht, zu erklären. Sie haben ein Element der Bewegung von vornherein in sich, weil sie sich...mit Geschichte“ befassen. „Der Anspruch auf totale Welterklärung verspricht die totale Erklärung alles geschichtlich Ereignenden, und zwar totale Erklärung des Vergangenen, totales Sich-auskennen im Gegenwärtigen und verläßliches Vorhersagen des Zukünftigen.“ (EU, S. 964) b) Ihr Wesen als Fiktion „Als solches wird ideologisches Denken zweitens unabhängig von aller Erfahrung...Es emanzipiert sich also von der Wirklichkeit...und besteht ihr gegenüber auf einer »eigentlicheren« Realität, die sich hinter diesem Gegebenen verberge, es aus dem Verborgenen beherrsche und die wahrzunehmen wie einen sechsten Sinn benötigen.“ (EU, S. 964) c) Ihre suggestive Kraft „Die Ideologien...verließen sich drittens in ihrer Emanzipation des Denkens von Erfahrung und erfahrener Wirklichkeit auf das Verfahren ihrer Beweisführung selbst. Dem, was faktisch geschieht, kommt ideologisches Denken dadurch bei, daß es aus einer als sicher angenommenen Prämisse nun mit absoluter Folgerichtigkeit...alles weitere deduziert.“ (EU, S. 965) 2.5 Der Terror „Der Terror als der folgsame Vollstrecker natürlicher oder geschichtlicher Prozesse fabriziert dieses Einssein von Menschen, indem er den Lebensraum zwischen Menschen, der der Raum der Freiheit ist, radikal vernichtet. Das Wesentliche der totalitären Herrschaft liegt also...einzig darin, daß die Menschen...mit solcher Gewalt in das eiserne Band des Terrors schließt, daß der Raum des Handelns...verschwindet.“ (EU, S. 958) a) Der Terror als Instrument der Ideologie „Sofern Natur und Geschichte Kräfte sind, denen bis zu einem gewissen Grad Menschen immer unterworfen sind“ und „man auf sie einen politischen Körper“ gründet, „hat man...direkt das...Gezwungenwerden zur Grundlage des gesamten Lebens gemacht...Auf diesem Zwang beruht, diesen Zwang realisiert der totalitäre Terror, nicht indem er gerechte oder ungerechte positive Gesetze erläßt und anwendet, sondern indem er den Bewegungsprozeß dieser Kräfte vollstreckt im Sinne der Exekution. Der Terror ist nicht ein Mittel zu einem Zweck, sondern die ständig benötigte Exekution der Gesetze natürlicher oder geschichtlicher Prozesse.“ (EU, S. 955) b) Die Konzentrationslager als eigentliche Institution totaler Herrschaft „Diese Lager sind, so unwahrscheinlich dies klingen mag, die eigentliche zentrale Institution des totalen Macht- und Organisationsapparats.“ (EU, S. 908) „Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen dem totalen Herrschaftsapparat als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, daß Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist. Hier handelt es sich darum, festzustellen, was überhaupt möglich ist, und den Beweis dafür zu erbringen, daß schlechthin alles möglich ist.“ (EU, S. 907) 8 c) Das radikal Böse „Bis jetzt scheint der totalitäre Glaube, daß alles möglich ist, nur bewiesen zu haben, daß alles zerstörbar ist, auch das Wesen der Menschen. Aber in ihrem Bestreben, unter Beweis zu stellen, daß alles möglich ist, hat die totale Herrschaft, ohne es eigentlich zu wollen, entdeckt, daß es ein radikal Böses wirklich gibt und daß es in dem besteht, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können. Als das Unmögliche möglich wurde, stellte sich heraus, daß es identisch ist mit dem unbestrafbaren, unverzeihlichen radikal Bösen, das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag und demgegenüber daher alle menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind.“ (EU, S. 941) 3. Das Prinzip Hoffnung Laut Hannah Arendt ist totalitäre Herrschaft jederzeit wieder möglich, weil wir in einer Welt leben, die weiterhin von totalitären Prozessen durchherrscht ist. Es obliegt dem Menschen selbst, diese Prozesse zu durchbrechen, und die Möglichkeit, das in die Tat umzusetzen, ist ihm von Geburt an mit auf seinen endlichen Weg gegeben. Denn initium ut esset, creatus est homo - „damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen“, zitiert Hannah Arendt den Hl. Aurelius Augustinus (De Civitate Dei, 12/20). Mit anderen Worten: „Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.“ (VA, S. 165) 4. • • • • • • • Literatur Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 6. Aufl., Frankfurt/Main (Piper) 1998 Arendt, Hannah: Vita activa - oder Vom tätigen Leben, 8. Aufl., München (Piper) 1994 Barley, Delbert: Hannah Arendt - Einführung in ihr Werk, Freiburg/München (Alber) 1990 Ganzfried, Daniel / Hefti, Sebastian (Hrsg.): Hannah Arendt - Nach dem Totalitarismus, Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 1997 Kubes-Hofmann, Ursula (Hrsg.): Sagen, was ist - Zur Aktualität Hannah Arendts, Wien (Verl. für Gesellschaftskritik) 1994 Schindler, Roland W.: Geglückte Zeit - gestundete Zeit / Hannah Arendts Kritik der Moderne, Frankfurt/New York (Campus) 1996 Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt - Leben, Werk und Zeit, Frankfurt/Main (Fischer) 1996
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