Untitled - Stephan Günzel

Stephan Günzel
Landschaft als Medium:
Historische Formen
»Ich selbst betrachte eigentlich die Landschaft gar nie.«1
Kann die Landschaft Medium sein? – Eine Antwort auf diese Frage hängt davon
ab, was unter einem Medium verstanden wird. Richtig gestellt, müsste die
Frage also vielmehr lauten: Inwiefern kann Landschaft (ein) Medium sein?
Hierbei schließt sich ein Verständnis von selbst aus: Landschaft ist dann kein
Medium, wenn unter ›Medium‹ ein Mittel zur Übertragung von Information
verstanden wird. Im engeren Sinne kann also Landschaft kein Medium sein;
allenfalls können Landschaftsdarstellungen oder -beschreibungen mittels
technisch oder manuell reproduzierender Medien verbreitet werden. Die Frage, ob oder inwiefern Landschaft Medium sein kann, zielt jedoch nicht in
erster Linie auf Darstellungen von Landschaft – dies kann ein Aspekt sein –,
sondern selbst auf die Funktion der Landschaft als einem zugerichteten oder
wahrgenommenen Teil der Natur. Welches Verständnis erlaubt es also,
Landschaft in diesem Sinne als Medium aufzufassen? Eine Möglichkeit bietet
der Medienbegriff von Niklas Luhmann oder vielmehr: einer der Medienbegriffe Luhmanns. Diese liegen in mindestens drei Varianten vor: zunächst als
Massenkommunikationsmittel. Dieser Medienbegriff kommt aus dem eben
genannten Grund für diesen Kontext jedoch nicht in Frage. Sodann in der
strukturfunktionalistischen Variante, also dem Medienverständnis im Anschluss an Talcott Parsons, wonach Medien zur Stabilisierung sozialer Systeme
dienen. Diesen Medienbegriff vertritt etwa der Bildwissenschaftler William J.
T. Mitchell, wenn er Landschaft als das universelle Medium des Systems
›Kultur‹ begreift. Landschaft sei für dieses ebenso Medium wie Liebe für das
System der Familie, Macht für die Politik und Geld für die Ökonomie: »Landscape is […] a medium of exchange between the human and the natural, the
self and the other. As such, it is like money: good for nothing in itself, but
expressive of a potentially limitless reserve of value.«2 Vielleicht kann sich
Mitchells These in the long run bestätigen lassen, die Bringschuld ist jedoch
gewaltig; denn es ist weniger die Menge an Beispielen, die hierbei zu finden
wären, als vielmehr der Beleg der Ausschließlichkeit: Als stabilisierend für ein
System kann dem strukturfunktionalistischen Ansatz nach nur ein Leitmedium
sein. Gerade moderne Gesellschaften stabilisieren sich aber nicht ausschließlich durch das Medium Landschaft: Landschaft ist zwar eine Möglichkeit, mit
der die Trennung von Kultur und Natur aufrechterhalten werden kann, nicht
aber die einzige.
Landschaft kann in Absetzung von diesen beiden Ansätzen mit einem dritten Medienbegriff bestimmt werden, den Luhmann im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung um das Medium Kunst entwickelt und zu
welchem Zweck er auf die Theorie natürlicher Medien von Fritz Heider zurück(1) Martin Heidegger, »Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz? (1933)«,
in: ders., Aus der Erfahrung des Denkens. 1910 – 1976, Gesamtausgabe, Bd. 13, hg. v. Hermann
Heidegger, Frankfurt/Main 22002 [1983], S. 9 – 13 [1934], hier S. 9.
(2) William J. T. Mitchell, »Space, Place and Landscape«, in: Territories [Islands, Camps and Other
States of Utopia] (Ausstellungskatalog), Köln 2003, S. 170 – 175 [1994/2002], hier S. 170.
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greift: Nach Luhmann gibt es Medien überall dort, wo erkennbare Formen vorliegen. Medien diesen Typs lassen sich nach Heider als ›lose Kopplungen‹ beschreiben, gegenüber denen Dinge oder Gegenstände ›feste Kopplungen‹
sind.3 Luhmann ist in seinem Medienmodell dabei konsequenter als Heider:
Das Problem in Heiders Konzeption oder Beschreibung des Medienvorgangs
ist weniger, dass Heider von der Dinghaftigkeit des Übertragenen ausgeht
(seine Theorie damit also letztlich einer substantialistischen Auffassung verhaftet bleibt), als vielmehr, dass das Medium dabei als gegeben behandelt
wird. Statt dessen meint Luhmann, dass es die vermeintlich festen Kopplungen
sind, zu denen sich das Medium erst in »Differenz«4 bestimmen lässt, weshalb
Luhmann nicht mehr von Dingen spricht, die durch Medien übertragen werden, sondern mit George Spencer Brown von der spezifischen »Form« eines
Mediums, die dieses erst konstituiert.5 Differenzlogisch gesprochen übermittelt nicht das Medium (lose Kopplungen) eine Dinghaftigkeit (feste Kopplungen), sondern aufgrund fester Kopplungen (Formen) lassen sich lose Kopplungen identifizieren, denen eine Medienfunktion zukommt. Es ist nun dieses Medienverständnis von Luhmann, das es nicht nur erlaubt, Landschaft als
Medium zu begreifen, sondern darüber hinaus auch als ein historisch wandelbares Medium. Drei historische Formen werden im Folgenden exemplarisch
beschrieben:6
1. Für die frühe Neuzeit die Form des Selbst, womit Landschaft als
Immersionsraum zum Medium wird.
2. Für das klassische Zeitalter die Form des Theaters, womit Landschaft als Schauplatz der Geschichte zum Medium wird.
3. Für die Epoche der Nationalstaaten die Form des Gesichts, womit
Landschaft als physiognomische Gestalt zum Medium wird.
1. Emblematisch für die Landschaftsauffassung im Trecento ist Francesco Petrarcas Bericht von der Besteigung des Mont Ventoux in der französischen Provence. Über den Anlass der Besteigung, welche Petrarca nach eigenem Bekunden zusammen mit seinem Bruder unternahm, ist in dem Brief an
einen befreundeten Mönch zu lesen: »Es ergriff mich nun das ungestüme Verlangen, endlich einmal auszuführen, was ich täglich hatte ausführen wollen,
besonders nachdem mir am Vortag, als ich die römische Geschichte bei Livius
nachlas, zufällig jene Stelle begegnet war, wo Philip, der König von Makedonien […] den Haemus, einen Berg in Thessalien, bestieg. Er hatte nämlich dem
Gerücht Glauben geschenkt, man könne von seinem Gipfel zwei Meere sehen,
das Adriatische und das Schwarze Meer.«7 Der Grund für die Bergbesteigung
(3) Vgl. Fritz Heider, Ding und Medium, hg. und mit einem Vorwort von Dirk Baecker, Berlin
2005 [zuerst in: Symposion 1/2 (1926), S. 109 – 157].
(4) Niklas Luhmann, »Das Medium der Kunst«, in: ders., Aufsätze und Reden, hg. von Oliver
Jahraus, Stuttgart 2001, S. 198 – 217 [zuerst in: Delfin 4/1 (1986), S. 6 – 15], 201.
(5) Vgl. Niklas Luhmann, »Die Paradoxie der Form«, in: Kalkül der Form, hg. v. Dirk Baecker,
Frankfurt/Main 1993, S. 197 – 212.
(6) Außer Acht gelassen wird hierbei die Frage, wann diese Differenz das erste Mal auftrat und
was hierfür die Bedingungen waren. Mit Simmel kann jedoch angenommen werden, dass Landschaft erst in der Neuzeit eine Medienfunktion erhält: »Kein Wunder, dass die Antike und das
Mittelalter kein Gefühl für die Landschaft hatten; das Objekt selbst bestand eben noch nicht in
jener […] selbstständigen Umformtheit […].« (Georg Simmel, »Philosophie der Landschaft«, in:
ders., Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft,
hg. von Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 141 – 152 [1913], hier S. 143.)
(7) Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, Lateinisch/Deutsch, übersetzt und hg.
v. Kurt Steinmann, Stuttgart 1995, S. 5 [Abs. 2].)
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der Brüder unterscheidet sich damit von derjenigen Philips: Petrarca gibt an,
den Berg, welchen er seit seiner Kindheit kannte, schlicht deswegen erklimmen zu wollen, weil es ihn gibt. Für König Philip dagegen war der Grund feststellen zu wollen, ob den geografischen Quellen seiner Zeit Glauben geschenkt
werden könne. Für Petrarca gibt es keine geografische Besonderheit zu überprüfen: Der Ventoux ist für nichts bekannt, außer für seine Unwirtlichkeit. Die
Unbestimmtheit dessen, was Petrarca erwartet, ist medienhistorisch insofern
relevant, als sie eine Voraussetzung für die spezifische Formgebung und damit
zugleich einer Medienwerdung der Landschaft oder auch der Natur als Landschaft ist. Anders als für König Philip, der eine physisch-geografische Tatsache
verifizieren möchte und mit einem diesbezüglich eineindeutigen Ergebnis vom
Berg herbsteigen kann, ist der Ausgang der Petrarca’schen Unternehmung
offen; es gibt nichts, was durch den Blick vom Gipfel entschieden oder überprüft werden müsste. Zumeist wird dieser Umstand als Zivilisationsflucht interpretiert. So ist in Joachim Ritters kanonischer Deutung zu lesen: »Er [Petrarca]
geht aus seinem gewohnten Dasein heraus; er ›transzendiert‹ es. Er ersteigt,
alle praktischen Zwecke hinter sich lassend, den Berg, um auf dem Gipfel, getrieben allein von dem Verlangen zu schauen, in freier Betrachtung und Theorie an der ganzen Natur und an Gott teilzuhaben.«8 – Doch diese Deutung verfehlt eine Besonderheit der vorliegenden Konfiguration:9 Eine Überschreitung
des »gewohnten Daseins« ist nur dann möglich, wenn es ein solches Dasein
gibt, das transzendiert werden kann. Dem entgegen zeugt Petrarcas Brief vielmehr erst von der Bildung einer solchen Ich-Form. Es handelt sich damit weniger um eine Überschreitung als vielmehr erst um die Bildung dessen, was
sich transzendieren lassen kann. Anders gewendet: Petrarca beschreibt nicht
die Überschreitung des Ich, sondern die Medienwerdung der Landschaft im
Zuge der Ichbildung als der Form dieses Mediums: Selbsterkenntnis oder Reflexion ist mit Luhmann gesprochen daher nicht die Voraussetzung der Differenz zwischen Ich und Landschaft, sondern ein Effekt dieser Differenz: Die
Natur – eine Menge ›lose gekoppelter Einheiten‹ – wird hierbei als Landschaft
zum Medium der Innerlichkeitsform. Das lässt sich an zwei Aspekten in Petrarcas Brief festmachen: Zum einen daran, dass Petrarca seinen Bericht authentifiziert oder vielmehr über den räumlichen Index hinaus mit einem zeitlichen versieht. Entscheidend am Datum der Bergbesteigung ist nicht, ob sie
auch am Tag der Niederschrift des Briefes (26. April 1335) stattfand, sondern:
der Umstand der Datierung. Die Naturbetrachtung hat keine allegorische Funktion, sondern wird als Tatsache und als ein Ereignis in Petrarcas Leben ausgegeben. Zum anderen kann die Medienwerdung an folgender Schilderung abgelesen werden: Petrarca schreibt, dass er, auf dem Gipfel angekommen, das
zehnte Buch der Bekenntnisse des Augustinus, welche er bei sich trägt und die
er durch den Adressaten des Briefes kennengelernt hatte, aufschlägt und daraus dem Bruder – selbst den Gestus des augustinischen tolle-lege wiederholend – einen angeblichen Zufallsfund vorliest: Und es gehen die Menschen hin,
zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit
dahinfließenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und
vergessen darüber sich selbst. Petrarca schreibt zwar, der Passus mache ihn zunächst »zornig auf mich selber«10, weil er die Anmaßung seines planlosen
(8) Joachim Ritter, »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft«, in:
ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt/Main 1989 [1974], S. 141 – 190 [1962], hier
S. 146.
(9) Gegen diese Interpretation wendet sich auch Charlotte E. Haver, »Landschaft und Raum im
Quattrocento. Überlegungen zu Raumwahrnehmung und Epochenwandel«, in: Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter, hg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer, Berlin/New York 1998,
S. 739 – 762, hier S. 754.
(10) Petrarca, wie Anm. 7, S. 25 [Abs. 28].
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Unternehmens benennt. Entscheidend ist jedoch, dass diese Selbstreflexion an
die Landschaft gebunden bleibt und letztlich affirmiert wird.11 Petrarcas Resümee fällt daher gegenläufig zu Augustinus aus: »Dann aber wandte ich, zufrieden, vom Berg genug gesehen zu haben, die inneren Augen auf mich selbst
[…].«12 Für Augustinus ist die Immersion in die Natur schlichtweg Gotteslästerung, für Petrarca aber eine Erfahrung – nicht nur der Natur, sondern anhand
dieser einer Erfahrung seiner selbst. Der »Zwiespalt«13, der sich in Petrarcas Bericht manifestiert, ist also nicht allein derjenige zwischen Mittelalter und Neuzeit, sondern auch derjenige eines Form-Medium-Verhältnisses.
2. Die dominierende Form, aufgrund derer Landschaft in der Aufklärung, dem Barock und noch für die Romantik zum Medium wird, ist die
Form des Theaters – oder genauer: der Bühne. Bekannt wird sie mit Hegels
Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, in der er vom Gegenstand der Geografie als dem »Schauplatz des Welttheaters«14 spricht. Die
zugrunde liegende Form-Medium-Bestimmung lässt sich noch Anfang des vergangenen Jahrhunderts finden, so etwa in der Schilderung des ›pangermanischen‹ Völkerkundlers Ewald Banse: »Die Entschleierung der Erde steht vor uns
als Schauspiel in fünf Aufzügen: Im ersten erzählen die Normannen die Vorfabel; durch graue Nebel tönt das Schnalzen langer Ruder, und die Schatten gespenstischer Eisberge schieben sich vorüber. Im zweiten geschehen die ersten
großen Gesten, schon kühn über alle Maßen, aber noch ohne Erfolge; die
Millionenstädte Chinas tauchen im Hintergrunde auf. Im dritten erreicht die
Handlung äußerlich ihren Höhepunkt, und die Gestalten der Entdecker gehen
mit gewaltigen Schritten über die Bühne, um welche die Goldberge Amerikas
und die Tempelstätten Indiens emporwachsen. Mit dem vierten setzt eine
neue Zeit ein; in ahnungsvollem Schweigen des Meeres und der Wüste wandeln sich Entdecker zu Forschern. Und im fünften Aufzug tummelt sich vor
Hintergründen und zwischen Schiebewänden eine wachsende Menge von Reisenden und Forschern, deren Gebärden weitausholend beginnen und mit der
Zeit immer feiner, aber auch kleiner werden. Und im Zuschauerraum sitzt die
abendländische Menschheit.«15 – Die chor(e)ografische Auffassung der Universalgeschichte reicht jedoch weiter zurück: In einer heute kaum mehr bekann(11) Eine derartige Lesart im Blick auf Petrarca findet sich in Ansätzen bei Rudolf Wlassak, »Zur
Psychologie der Landschaft«, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie XVI/3
(1892), S. 333 – 354.
(12) Petrarca, wie Anm. 7, S. 25 [Abs. 29]; kursiv St. G.
(13) Gerhard Strohmeier, »Zur Wirklichkeit der Landschaft: Ästhetische Konstruktion und Erfahrungswelt«, in: Landschaft – Begriff und Wahrnehmung, hg. von Petra Schneider und dems.,
Wien, S. 14 – 39, hier S. 19.
(14) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (Berlin 1822/1823). Nachschriften von Karl Gustav Julius von Griesheim, Heinrich Gustav Hotho und
Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler, hg. v. Karl Heinz Ilting, Karl Brehmer und Hoo Nam
Seelmann, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 12, Hamburg 1996,
S. 92f.
(15) Ewald Banse, Landschaft und Seele. Neue Wege der Untersuchung und Gestaltung, München/Berlin 1928, S. 8. – Auch wenn Banses Publikation insgesamt der dritten Schicht der
physiognomischen Landschaftsauffassung zugehörig ist, so ist die hier verwendete Form doch einschlägig für die Medienfunktion der Landschaft als Schauplatz. Zur Zuschauerreihung im Theater schreibt er weiter: »Vornan sieht man die gelehrte und die sonstwie beteiligte Welt, die mit
glänzenden Augen dem Schauspiel folgt, einem der gewaltigsten, das je aus den Herzen und Fäusten von Männern sich aufgebaut hat. Dahinter und immer weiter nach hinten abgestuft folgen
die anderen, die bloße Öffentlichkeit, all jene, die nur gelegentlich einmal einen Blick auf die
Bühne werfen, und jene, die alles, auch das größte als gegeben hinnehmen, und jene, die gedankenlose und undankbare Genießer sind der Taten, die dort vor ihren Augen geschehen. Draußen
aber um das Schauhaus herum flutet das weite und breite Leben, das Leben der gelben und braunen und schwarzen Völker, deren Entdeckung drinnen gespielt wird. Sie kümmern sich um rein
gar nichts, sie ahnen nicht, dass sie ›entdeckt‹ worden sind, sie leben ihr dumpfes Dasein weiter
ohne Gedanken an Entwicklung und Erkenntnis.« (Ebenda, 8f.)
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ten, aber pädagogisch revolutionären Rede über die Vorzüge eines anschaulichen Geografieunterrichts verwendet beispielweise der kirchliche Oberaufseher und Prediger in Weimar, Johann Gottfried Herder, 1784 eine Formulierung,
deren Tragweite für diesen Kontext kaum überschätzt werden kann:16 Herder
vergleicht die Geschichte darin mit einem »Buch«, während er die Geografie als
einen »Schauplatz«17 bezeichnet. Beide gehören damit dem Theater an, aber in
unterschiedlicher Weise:18 Während auf der einen Seite das Textbuch oder die
Rollenverteilung die Form ist, in der die Geschichte zum Medium wird,19 ist der
Schauplatz oder die Bühne diejenige Form, in welcher der Landschaft eine Medienfunktion zukommt: Sie ist der Gegenstand einer Erdbeschreibung als
»wahrer Geographie«20. Damit wendet sich Herder bereits gegen einen Faktenunterricht, der Geschichte und Geografie als Datenkunde betreibt. Stattdessen geht es ihm um eine Verlebendigung des Unterrichts, eine Veranschaulichung von Zusammenhängen, die aus medienhistorischer Sicht allererst als
die Herstellung eines Zusammenhangs zu interpretieren ist: »Kurz, die Geographie ist die Basis der Geschichte und die Geschichte ist nichts als eine in Bewegung gesetzte Geographie der Zeiten und Völker.«21 Geografie und Geschichte sind für Herder »zwo Schwestern«22 und verhalten sich zueinander wie
kultureller Raum zu kultureller Zeit: »Durch die Geographie wird die Geschichte gleichsam zu einer illuminierten Charte für die Einbildungskraft, das
Gedächtniss, ja für die Beurtheilungskraft selbst, denn nur durch ihre Hülfe
wird es deutlich, warum diesen und keine andre Völker, solche und keine andere Rolle auf dem Schauplatz unserer Erde spielten?«23 Herders Kulturmodell,
das in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit schließlich
durchdekliniert werden wird, setzt sich zu gleichen Teilen aus deterministischen und emergenztheoretischen Vorstellungen zusammen, womit es absolutistisch wie auch relativistisch zugleich ist: Zum einen geht Herder davon aus,
dass sich Kulturen je nach den Naturbedingungen voneinander unterscheiden.
Darin stimmt sein Ansatz mit Gedanken überein, wie sie bereits in der Antike
bei Hippokrates und in der französischen Aufklärung bei Montesquieu zu
finden sind:24 Je nach klimatischer Lage gibt es andere Ausprägungen der individuellen und kollektiven Körper, sprich: einen anderen Körperbau und andere
Rechtsinstitutionen oder eine andere Form der Rechtssprechung. Dieser hieraus ableitbaren Hierarchisierung der ›Kulturkreise‹ zueinander tritt Herder aber
(16) Im geografischen Kontext war die Kennzeichnung der Welt als Theater spätestens mit Ortelius’ Atlas (Theatrum orbis terrarum) von 1589 geläufig. Auch Claderóns Theatrum mundi (1655)
gehört mit in den Vorlauf zur Theaterform ebenso wie geognostische Spekulationen über die Abfolge erdgeschichtlicher Revolutionen, die sich etwa in Ludwig Schlözers Universalhistorie von
1772/73 finden. – Doch noch in keinem dieser Fälle wird Landschaft zum Medium der Geschichte.
(17) Johann Gottfried Herder, »Von der Annehmlichkeit, Nützlichkeit und Nothwendigkeit der
Geographie (1784)«, Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. XXX, Hildesheim 1968
[Nachdruck der Ausgabe Berlin 1889], S. 96 – 103, hier S. 103.
(18) Die Theaterform ist daher gedoppelt. Zumeist wurde das Theater in Bezug auf die Geschichte
betrachtet. Dies betrifft jedoch den Aspekt des Rollenspiels der historischen Größen, also der Ereignisgeschichte. Die Landschaft ist dagegen auf den Bühnenhintergrund – die ›langwellige Geschichte‹ – bezogen. (Zum ersten Aspekt siehe ausführlich Helmar Schramm, Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996.)
(19) Zu den verschiedenen Formen, in denen Geschichte nach Herder eine Medienfunktion erfüllt, siehe Heinz Meyer, »Überlegungen zu Herders Metaphern für die Geschichte«, in: Archiv für
Begriffsgeschichte XXV/1 (1981), S. 88 – 114.
(20) Herder, wie Anm. 17, S. 97.
(21) Ebenda, S. 102.
(22) Aus dem erster Entwurf der Rede, ebenda, S. 103 – 110, hier S. 104.
(23) Ebenda, S. 102; kursiv St. G.
(24) Vgl. vom Verf., Geographie der Aufklärung. Klimapolitik von Montesquieu zu Kant (Teil 1),
in: Aufklärung und Kritik 22 (2/2004), S. 66 – 91
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zum anderen mit der Auffassung entgegen, dass aufgrund des geografischen
Standortes jede Kultur einen Ursprung in sich trage und sie deshalb einzigartig sei. Die Vermittlung zwischen diesen widerstreitenden Befunden soll die
Beschreibung der Entstehung und Entwicklung von Kulturen in Form des Theaters leisten, wobei Europa, wie er ebenfalls im Jahr der Schulrede schreibt, als
»großer Schauplatz«25 fungiert. Die Naturbedingungen werden für Herder als
Kulturlandschaften zum Medium durch die Form der Theaterbühne.26 Die nach
Heider und Luhmann ›lose gekoppelten Einheiten‹ entsprechen hier dem historischen Material, welches in der Dramatisierung eine Form erhält und worüber die Landschaft zum Medium der Geschichte wird.
3. Wie Alexandre Métraux schreibt, stößt man in der Lektüre »erdkundlicher Texte des 19. Jahrhunderts auf einen Landschaftsbegriff, dessen
Bestimmungen analytisches Kopfzerbrechen bereiten«, da er mit »diffusen ästhetischen Konnotationen versehen«27 sei. In der Tat ist in der Geografie und
Landschaftskunde ein erheblicher Bruch mit früheren Weisen der Erdbeschreibungen zu konstatieren. Der Bruch ist jedoch nicht allein typisch für die geografischen Fächer, sondern überhaupt paradigmatisch für die Humanwissenschaften nach der ›anthropologischen Wende‹ und dem Aufkommen der Physiologie; nur lässt sich der Umschlag am Wandel der Kartendarstellung besonders gut beobachten: Die Erstellung physiografischer Karten wird zwar erst
im frühen 20. Jahrhundert systematisiert, hat ihren Ursprung aber in der von
Métraux angesprochenen Landschaftsvorstellung des 19. Jahrhunderts, bei
welcher die Homogenität einer Kulturlandschaft im Hinblick auf die Bildung
der Nationalstaaten im Vordergrund stand. Obwohl auf den ersten Blick nicht
unähnlich, unterscheiden sich diese sogenannten ›Reliefkarten‹ von solchen
Karten, in welchen figürliche Repräsentanten zur Darstellung von Geländetypen und Vegetationsarten verwendet werden. Darstellungen dieser Art sind
bereits im frühen 16. Jahrhundert anzutreffen: Einschlägig hierfür sind die Bairischen Landtafeln des Kartografen Philipp Apian.
(25) Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Wiesbaden
1985, Erster Teil [1784], 1. Buch, VI., S. 58.
(26) Herder ist daher kein Vorläufer der »Historischen Landschaftskunden«, welche Landschaften in der Veränderung durch die Geschichte hindurch untersucht (etwa Josef Wimmer, Historische Landschaftskunde, Innsbruck: Wagner 1885), sondern der Untersuchung »historischer
Schauplätze«, welche versucht, die Geschichte entlang der Sukzession dominierender Kulturlandschaften und Metropolen zu thematisieren. (Siehe exemplarisch hierfür Julius Braun, Historische Landschaften, Stuttgart 1867.)
(27) Alexandre Métraux, »Ansichten der Natur und Aisthesis. Einige kritische Bemerkungen zum
Landschaftsbegriff«, in: Landschaft, hg. von Manfred Smuda, Frankfurt/Main 1986, S. 215 –
237, hier S. 215.
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Von den späteren physiografischen Karten unterscheiden sich Apians Landtafeln dadurch, dass sie aufgrund der heterogenen Zusammenschau
keine Einheit der Perspektive aufweisen: Es gibt keinen räumlichen Zusammenhang im Kartenbild. Dies verhindern die Symbole für Ortschaften und Vegetationsformen. Gleichwohl oder gerade weil versucht wurde, in den Karten
viele Informationen über die Orte und ihre Lage aufzunehmen, fehlt ihnen die
›gestalthafte‹ Einheit, die – wie sich der Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, der Architekt Paul Schultze-Naumburg in Anlehnung an Nietzsche
ausdrücken wird – »plastische Form«28, welche einer Landschaft eigen sei: Apians Karte gibt den Ortssymbolen und Toponymen einen Vorrang vor dem einheitlichen Erscheinen der Landschaft im Kartenbild.29 In den Landschaftstafeln
sind die losen Einheiten noch nicht zu einer Form versammelt. Wie dagegen
eine Formgebung und Medienwerdung der Landschaft im Kartenbild aussehen
kann, zeigen die Resultate der Standardisierung physiografischer Karten im 20.
Jahrhundert. Zum Teil auf Luftbildaufnahmen beruhend, sollen etwa die
»Landform Maps«30 nach Edward Raisz ein »portrait of the face of the earth«31
sein. Die Formgebung erfolgt hierbei durch die plastische Gestalt der physiografischen Ansicht, in welcher die disparaten und heterogenen Elemente der
Natur zu einem Erscheinungsganzen zusammengeführt sind. Die Erde hat
durch die Karte ein ›Gesicht‹ bekommen: Die Landschaft wird hier zum Medium aufgrund der fazialen Form.
Der Anspruch einer gestalthaften Wiedergabe der Natur ist jedoch
schon vor deren Standardisierung durch Raisz vorhanden: Physiografische Karten sollen letztlich das leisten, was bereits Alexander von Humboldt von der
(28) Paul Schulze Naumburg, Vom Verstehen und Genießen der Landschaft, Rudolstadt 1924,
S. 110.
(29) Die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks »Landschaft« als Gegend und Darstellung bestand jedoch bereits, wie das Deutsche Wörterbuch bezeugt. (Siehe zu diesem Spannungsverhältnis auch
Rainer Gruenter, »Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift III/2 (1953), S. 110 – 120.) – Für eine kritische Studie zum Terminus siehe das Standardwerk von Gerhard Hard, Die ›Landschaft‹ der Sprache und die ›Landschaft‹ der Geographie. Semantische und forschungslogische Studien zu einigen zentralen
Denkfiguren in der deutschen geographischen Literatur, Bonn 1970.
(30) Vgl. Edward Casey, Ortsbeschreibungen. Landschaftsmalerei und Kartographie, a. d. Engl.
von Simone Neuber, München 2006 [2002], S. 212 – 215.
(31) Vgl. Erwin Raisz, »The Physiographic Method of Representing Scenery on Maps«, in: Geographical Review 21 (1931), S. 297 – 304.
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Geografie als einer beschreibenden Disziplin verlangte, nämlich ein »Naturgemälde«32 zu erschaffen und »Ansichten der Natur«33 zur Darstellung zu bringen.
In Humboldts Sinne einschlägig physiografische Erdbeschreibungen finden sich
etwa 1882 in dem zweiten Band der Geographischen Bildertafel aus dem Verlag von Ferdinand Hirt in Breslau, die unter dem Titel Typische Landschaften
veröffentlicht sind.34 Hirts Bildertafeln zielen auf das nationale »Gepräge«, das
heißt, auf den nationalen Charakter einer Landschaft ab. Medienhistorisch gesprochen erfolgt auch hier eine Medienwerdung der Landschaft: Durch die
Form der Gesichtlichkeit werden die lose gekoppelten Einheiten der Natur als
Landschaft zum Medium des Nationalstaates.35
Eine Verschiebung und ›Tieferlegung‹ erfährt diese Medienform
schließlich im 20. Jahrhundert: An die Stelle der Form ›Gesicht‹ tritt dort die
Form ›Seele‹, die in doppelter Hinsicht bestimmt ist: Sie ist zum einen nicht
mehr wie für die Renaissance im Individuum lokalisiert, sondern kollektiv verankert. Die Kollektivierung wird zum anderen aber erst dadurch möglich, dass
das »Leben«, wie bei dem Geografen Bommersheim zu lesen ist, »in die Landschaft«36 verlegt wird. Landschaft ist demnach nicht mehr wie für Petrarca ein
Immersionsraum, in dem sich das Ich verliert, sondern das Medium der »rassenmäßig innewohnenden Gemütsgrundstimmung« eines Volkes, welches diese, wie der Völkerpsychologe Willy Hellpach konstatiert, allererst »auf die
Landschaft überträgt«37. Es kommt also zu einer bewussten Anerkennung der
Formgebung und mit ihr zur Anerkennung der Medienfunktion von Landschaft: Landschaft wird damit auch nicht mehr, wie noch zur Zeit Herders, mittels der Form des Schauplatzes zum Medium, welcher kontingentermaßen als
ein Hintergrund der Kulturentwicklung fungiert, sondern ist nun ein »Schicksal«38, weshalb Völker sich die Natur laut Hellpach ›anverwandeln‹.39 Die Natur
gilt in dieser Konstellation nurmehr als das »Vorlebendige«, gegenüber dem die
Landschaft das »Wirkliche«40 ist. – Die Landschaft vermittelt nicht mehr nur
eine Gestalt des Nationalen, sondern ist zum eigentlichen Sitz der Volksseele
geworden: die Landschaft ist Heimat.41
Stephan Günzel lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
(32) So der Titel des Hauptteils des ersten Bandes von Humboldts Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, dem Kosmos, veröffentlicht 1845.
(33) Alexander von Humboldt, Ansichten der Natur, Halle an der Saale 1807.
(34) Siehe dazu den Kommentarband von Alwin Oppel, Landschaftskunde. Versuch einer Physiognomie der gesamten Erdoberfläche in Skizzen, Charakteristiken und Schilderungen, Breslau
1884.
(35) Exemplarisch für die Schaffung einer Nation durch die Einheit der Landschaft im Kartenbild
siehe die Studie zur Schweiz von David Gugerli und Daniel Speich, Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich: Chronos 2002.
(36) Paul Bommersheim, Von der Einheit der Wirklichkeit in der Heimat. Untersuchung zur Philosophie der Länderkunde, Erfurtr 1940, S. 35.
(37) Willy Hellpach, Die geopsychischen Erscheinungen. Wetter, Klima und Landschaft in ihrem
Einfluß auf das Seelenleben, zweite, vermehrte und durchgesehene Auflage, mit zwei Tafeln,
Leipzig 21917 [1911], S. 408.
(38) Hans Spethmann, Das Schicksal in der Landschaft, Berlin 1932, S. 8.
(39) »[D]ie Fähigkeit, Völker zu bilden und völkisch zu existieren, ist der Maßstab für die Standorteignung einer Rasse.« (Willy Hellpach, Einführung in die Völkerpsychologie, dritte neubearbeitete Auflage, Stuttgart 31954 [1938], S. 45.) – In einem weiteren Schritt wendet Hellpach
dann den Rassengedanken wieder auf das Gesicht. (Siehe ders., Deutsche Physiognomik. Grundlegung einer Naturgeschichte der Nationalgesichter, zweite, an Abbildungen vermehrte Auflage,
Berlin 21949 [1942].)
(40) Bommersheim, wie Anm. 36, S. 52.
(41) In dem Nachwort zu seiner Rede über den ›Bildungswert der Heimatkunde‹ spricht der Pädagoge Eduard Spranger in diesem Sinne vom »Gewebe des Volkstum« als dem »geistigen Medium«: »Wir erziehen nicht eigentlich zum Volkstum, sondern wir erziehen im Volkstum, […] in
der Heimat.« (Eduard Spranger, »Über Volkstum und Erziehung«, in: ders., Der Bildungswert der
Heimatkunde, Leipzig 1943 (1923), S. 46 – 64, hier S. 51.
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