Ticro Lutz | 14.05.2013 | kokos-und-zitrone.de R ob er t A l ex y und d er n ic h t-p o sit ivi st isc h e R ec h ts be griff Die von den Nichtpositivisten vertretene Verbindungsthese besagt, dass das Recht immer auch eine moralische Dimension besitzt. Die Radbruchsche Formel der auf einzelne Normen bezogenen nichtpositivistischen Verbindungsthese lautet: »Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat« [52]. Alexy interpretiert dies so: »Einzelne Normen eines Rechtssystems verlieren bei Überschreiten einer bestimmten Schwelle des Unrechts oder der Ungerechtigkeit ihren Rechtscharakter« [52]. Acht Argumente sind für Alexy hinsichtlich der Radbruchschen Formel zu diskutieren. I. Das Sprachargument Es lässt sich mit Hoerster das normative Argument vorbringen, dass die Verbindung von Recht und Moral sprachlich nicht zweckmäßig sei. Wenn zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 aus moralischen Gründen nicht als »Recht« anerkennt, geht die Möglichkeit verloren, die Norm allgemein auszuweisen: dazu müsste sie als »Recht« bezeichnet werden. Dieses Argument trifft jedoch nur auf die Beobachter-, nicht auf die Teilnehmerperspektive zu. Für den Beobachter stellt sowohl die 11. Verordnung als auch das richterliche Urteil das Ergebnis einer normerzeugenden bzw. normanwendenden Prozedur dar. Für den Richter ist die 11. Verordnung zugleich aber auch Ausgangspunkt einer normanwendenden Prozedur, die er selbst durchzuführen hat. Da das Urteil des Richters beansprucht, richtig zu sein, muss der Richter sein Urteil als »Recht« bezeichnen, auch dann, wenn er sich entscheidet, die 11. Verordnung nicht anzuwenden. Der Richter muss dann sagen, die 11. Verordnung sei nur dem Anschein nach Recht, die in der Anwendung aber ihren Rechtscharakter verliert. Sofern es für einen Richter rechtliche Gründe geben kann, gegen den Wortlaut eines Gesetzes zu entscheiden, ist Hoersters Einwand unzutreffend. II. Das Klarheitsargument Das Argument besagt, dass ein Rechtsbegriff, der keine moralische Dimension enhält, klarer, weil einfacher ist als ein Rechtsbegriff, der eine solche enthält. Begriffe sollten jedoch nicht nur klar, sondern auch adäquat sein. Nicht die Verbindung von Moral mit dem Rechtsbegriff schafft Unklarheit, sondern die Schwierigkeit, Normen, die extrem ungerecht sind, von solchen, die es nicht sind, richtig zu unterscheiden. Hart und Hoerster möchten die Fragen, die sich angesichts gesetzlichen Unrechts stellen, »unverschleiert als […] Fragen der Ethik« [59] behandeln. Sie behaupten, der Nichtpositivist stünde in der »Gefahr, ihren ethischen Charakter zu verdecken, indem er sie durch Definition in den Rechtsbegriff« [59] verlagert. Der Nichtpositivist bestreitet jedoch gar nicht, dass es sich in Fragen über gesetzliches Unrecht um moralische Fragen handelt: er behauptet lediglich, dass diese Fragen zugleich auch rechtliche Fragen darstellen und sich daher auf den Rechtsbegriff auswirken. Der Einwand, die Verbindung von Recht mit Moral stifte Verwirrung und verursache »eine ganze Fülle philosophischer Streitfragen« [59], kann letztlich gegen jede Rechtsphilosophie vorgebracht werden. III. Das Effektivitätsargument Hart und Hoerster wiesen darauf hin, dass eine nichtpositivistische Rechtsdefinition gesetzliches Unrecht nicht verhindere, denn ein »moralisch fragwürdiges, aber im Rahmen der geltenden Rechtsordnung erlassenes Gesetz besitzt nun einmal […] von seiner Unmoral abgesehen sämtliche Eigenschaften, die auch ein moralisch einwandfreies Gesetz besitzt: Es ist im Einklang mit der geltenden Verfassung zustandegekommen« [61]. Hans Kelsen behauptete sogar, dass ein moralbehafteter Rechtsbegriff die Beseitigung gesetzlichen Unrechts erschwere, da er dazu verführt, rechtliche Forderungen mit moralischen in eins zu setzen und auf diese Weise unkritisch zu legitimieren. Eine kritische Haltung gegenüber dem Recht würde vielmehr durch eine Trennung von Recht und Moral befördert. Der Einwand der unkritischen Legitimation beruht auf einem Missverständnis: er wendet sich gegen die Annahme, dass Recht und Moral inhaltlich identisch seien; dass also alles, was legal ist, moralisch adäquat sei. Die hier diskutierten Nichtpositivisten behaupten aber keine inhaltliche Recht-Moral-Äquivalenz. Es können auch rechtliche Normen unmoralisch sein und somit der moralischen Kritik ausgesetzt werden. Die Rechtsnorm verliert ihren Rechtscharakter erst dann, wenn sie hinsichtlich ihrer Ungerechtigkeit »unerträglich« wird. Diese Schwelle folgt moralischen Forderungen wie zum Beispiel dem Recht auf Leben. Die Gefahr einer unkritischen Legitimation besteht nicht, solange die moralischen Anforderungen für die Schwelle zur extremen Ungerechtigkeit rational begründet werden. Der Einwand der Wirkungslosigkeit nichtpositivistischen Rechts im Kampf gegen gesetzliches Unrecht ist berechtigt: ein Richter, der sich weigert, ein extrem ungerechtes Gesetz anzuwenden, tut dies nicht aufgrund von Definitionen. Jedoch besitzt der nichtpositivistische Rechtsbegriff einen relativen Vorteil, insofern die rechtliche Verankerung moralischer Minimalanforderungen eher dazu verleitet, sich gegen Unrecht zu wehren. Zusätzlich erzeugt ein verbreitetes nichtpositivistischen Rechtsverständnisses einen gewissen »Risikoeffekt« für die Unterstützer von Unrechtsregimen: ein Richter, der sich fragt, ob er ein vom Unrechtsregime gestattetes Strafurteil fällen soll, wird eher von diesem Urteil absehen, wenn er weiß, dass nach einem möglichen Zusammenbruch seines Regimes ein nichtpositivistischer Rechtsbegriff auf ihn angewendet wird. IV. Das Rechtssicherheitsargument Der hier diskutierte Nichtpositivismus besagt nicht, dass jedwede Ungerechtigkeit dem Recht dessen Rechtsqualität entzieht – dies würde auf einen Anarchismus hinauslaufen –, sondern, dass dies erst bei extremer Ungerechtigkeit der Fall ist. Die Gefährung der Rechtssicherheit durch den Nichtpositivismus ist daher minimal. Wenn sich gerechte Urteile rational begründen lassen, dann wird derjenige, der eine rationale Begründung versteht, eine ungerechte Handlung erkennen: »Je extremer die Ungerechtigkeit, desto sicherer die Erkenntnis« [66], auch wenn in bestimmten Fällen unklar ist, inwieweit die Ungerechtigkeit ein extremes Maß erreicht hat. Hinzu kommt, dass die Rechtssicherheit kein »absolutes Prinzip« [66] darstellt, sondern zur materiellen Gerechtigkeit in ein Verhältnis zu setzen ist. Die Radbruchsche Formel verteidigt die Rechtssicherheit und ist nur in extrem ungerechten Fällen bereit, der materiellen Gerechtigkeit den Vorrang zu geben. Ticro Lutz | 14.05.2013 | kokos-und-zitrone.de V. Das Relativismusargument Der Relativismus verdeutlicht das metaethische Problem des Positivismus, indem er klarmacht, dass moralische Gerechtigkeitsurteile subjektiven Vorlieben folgen und daher weder objektiv erkannt noch rational begründet werden können. Demgegenüber setzt der Nichtpositivismus die Existenz einer nichtrelativistischen Ethik voraus, die den Diskurs – die verschiedenen Perspektiven – transzendiert und Naturrecht voraussetzt. Radbruch begründete den Einschluss fundamentaler Menschen- und Bürgerrechte in den Rechtsbegriff mit der Behauptung, ein Kernbestand moralischer Anforderungen habe sich als historisch invariant erwiesen und sei daher nur noch durch »gewollte Skepsis« [68] anzweifelbar. Dem lässt sich entgegenhalten, dass auch historisch stabile Daten irrtumsbehaftet sein können und daher korrigiert werden müssen – auch dann, wenn sie von der Mehrheit getragen werden. Der Relativismus lässt sich nach Alexy nur dadurch entkräften, dass sich bestimmte Sätze darüber, was Unrecht sei und was nicht, rational begründen beziehungsweise rational widerlegen lassen. Der Verweis auf eine »weitreichende Übereinstimmung« fundamentaler Rechte durch die Jahrhunderte reicht nicht aus. Hoersters Einwand, es gäbe nicht nur Richter oder Bürger, die statt der Nazigesetze lieber eine humane Moral befolgen möchten, sondern auch Richter oder Bürger, die statt demokratischer Gesetze lieber eine Nazimoral befolgen möchten, lässt sich nur dann widerlegen, wenn wir annehmen, dass der Vorrang demokratischer gegenüber Nazigesetzen rational begründet, extremes Unrecht dagegen nicht rational begründet werden kann. VI. Das Demokrat ieargument Dieser Einwand besagt, dass ein nichtpositivistischer Rechtsbegriff den Richter dazu verführen könnte, sich aufgrund von moralischen oder Gerechtigkeitsüberlegungen gegen die legitimen Beschlüsse der Mehrheit zu stellen, was einem Eingriff der Judikative in die Legislative gleichkommt: die moralischen Argumente des Richters entkräften die Demokratie. Der Einwand ist jedoch verfehlt, insofern der hier diskutierte Nichtpositivismus nur bei extremer Ungerechtigkeit dem Recht dessen Rechtscharakter entzieht. VII. Das Unnötigkeitsa rgument Der Einwand besagt, dass es unnötig sei, gesetzlichem Unrecht die Rechtsqualität abzusprechen, da sich nach Zusammenbruch eines Unrechtsregimes das Unrecht auch rückwirkend aufheben ließe. Hier ist zu berücksichtigen, dass der Grundsatz »Nulla Poena sine lege [Keine Strafe ohne Gesetz]« ein Justizgrundrecht darstellt und rückwirkende Strafgesetze verbietet. Wollte man im Falle extremen Unrechts von diesem Grundrecht absehen, so wäre es dennoch fraglich, ob die Mehrheit einer solchen Verfassungsänderung zustimmen würde. Die Radbruchsche Formel ist daher keineswegs unnötig. Die Unnötigkeit betrifft also allenfalls Fälle außerhalb des Strafrechts. Da es jedoch möglich ist, dass der Gesetzgeber keine rückwirkenden Gesetze erlässt, kann zum Schutz der Grundrechte ein nichtpositivistischer Rechtsbegriff durchaus nötig sein. Wollte ein Richter den Gesetzgeber zwingen, rückwirkend Gesetze zu erlassen, müsste er dazu womöglich extrem ungerechte Urteile fällen, was wiederum die Rechte des Bürgers verletzen würde. Hinzu kommt, dass ein solches extrem ungerechtes Urteil seinen Anspruch auf Richtigkeit verfehlen würde. VIII. Das Redlichkeitsa rgument Dieser Einwand besagt, ein nichtpositivistischer Rechtsbegriff umgehe das Justizgrundrecht »Nulla Poena sine lege [Keine Strafe ohne Gesetz]«, was H. L. A. Hart an einem Beispiel darzulegen versucht: Eine Frau hatte 1944 ihren Ehemann an die Behörden verraten und behauptet, dieser habe sich abfällig über Hitler geäußert. Der Mann wurde vorschriftsgemäß zum Tode verurteilt. Das Oberlandesgericht Bamberg war der Ansicht, das Todesurteil selbst sei rechtmäßig gewesen, da es auf keinem naturrechtswidrigem Gesetz basierte, sondern nur ein Unterlassen forderte. Die Frau jedoch befand das Gericht aufgrund ihrer mittelbaren Täterschaft für schuldig. Man stelle sich jedoch den Fall vor, in dem eine Frau ihren Ehemann mit der Begründung anzeigt, dass er an gewisse gesetzesmäßig vorgeschriebene Morde nicht teilnimmt. Die Frau hätte – aus nichtpositivistischer Sicht – in einem solchen Fall vom Landesgericht Bamberg bereits deshalb schuldig gesprochen werden müssen, weil das über den Ehemann verhängte Strafurteil extrem ungerecht gewesen wäre. Nach Hart gab es jedoch noch zwei andere Möglichkeiten: »Eine war, die Frau straflos ausgehen zu lassen[.] […] Die andere war, sich mit der Tatsache abzufinden, daß, sollte die Frau bestraft werden, dies durch den Erlaß eines unverhüllt rückwirkenden Gesetzes hätte geschehen müssen, im vollen Bewußtsein dessen, was man aufgibt[.] […] Es hätte deutlich gemacht, daß man bei der Bestrafung der Frau zwischen zwei Übeln zu wählen hatte: dem, sie unbestraft zu lassen, und dem, ein wertvolles moralisches Prinzip preiszugeben« [73]. Der Nichtpositivist kann diesem Dilemma jedoch entgehen, indem er den Satz »Nulla Poena sine lege« auf alle Rechtsnormen, unabhängig von ihrem Unrechtsgehalt, bezieht und die Geltung der Radbruchschen Formel für ebendiesen Bereich einschränkt. Ein weiterer Ausweg bestünde darin, die Radbruchsche Formel nur auf Straftaten anzuwenden, deren Unrechtsgehalt so extrem ist, dass sie leichter zu erkennen sind, was jedoch voraussetzt, dass der nichtpositivistische Rechtsbegriff nicht zur Straf-begründung herangezogen wird, sondern zur Straf-verhinderung. Nach Alexy besitzt in extremen Fällen das Unrecht eine Evidenz, die jeden befähigt, das Unrecht zu erkennen, sodass bei einer rückwirkenden Bestrafung gesagt werden kann: die Norm war bereits zum Tatzeitpunkt ohne Rechtscharakter. Die Rechtslage wird dann rückwirkend lediglich festgestellt, nicht geändert. In der Gesamtschau der Argumente erachtet Alexy die Einwände gegen den Nichtpositivismus soweit entkräftet, dass sich ein Gleichstand ergibt, obschon er dazu tendiert, den Nichtpositivismus vorzuziehen. Literatur: Robert Alexy, »Zur Verteidigung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs«, in: B. Gesang, J. Schälike (Hg.), Die großen Kontroversen der Rechtsphilosophie, Paderborn 2011, 49–74.
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