FOS⋅ BOS 12 Fachabiturprüfung 2015

Bayern – FOS ⋅ BOS 12
Fachabiturprüfung 2015 – Pädagogik / Psychologie
Aufgabe I: Fallbeschreibung
Fallbeschreibung „Lukas“
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Der sechsjährige Lukas lebt mit seinen Eltern in einer Kleinstadt in Bayern. Er kam neun
Wochen zu früh auf die Welt und hat sich von Anfang an etwas langsamer als seine Altersgenossen entwickelt. Seine Eltern können diese Tatsache nur schwer akzeptieren, zumal
sie ihn ständig mit dem fast gleichaltrigen Sohn der Nachbarn vergleichen.
Lukas besucht seit drei Jahren den Kindergarten und zeigt auch dort auffälliges Verhalten
sowie eine verzögerte Entwicklung. Dies äußert sich beispielsweise durch motorische
Probleme: Lukas kann die Schere noch nicht richtig benutzen und hat Schwierigkeiten
beim Ausmalen. Er braucht sehr lange für einfache Tätigkeiten wie das Aufräumen eines
Puzzles. Im sprachlichen Bereich hat Lukas ebenfalls Defizite: Seine Sätze sind kurz, sein
Wortschatz ist gering und er spricht bei verschiedenen Anlässen, wie beispielsweise im
Morgenkreis, nur äußerst ungern.
Die Erzieherin hat große Probleme im Umgang mit Lukas. Sie wird schnell ungeduldig,
empfindet Lukas und seine langsame Art als Belastung. In ihren Augen braucht das Kind
mehr Förderung, als sie es im Kindergartenalltag leisten kann. Sie sieht sich in diesem Zusammenhang einer zunehmenden Überforderung ausgesetzt.
Die Eltern von Lukas zeigen sich gegenüber den Schwierigkeiten ihres Sohnes zudem wenig verständnisvoll und tolerant. Sein Vater bezeichnet Lukas oft als „langsame Schnecke“. Während eines Wutanfalls gegenüber Lukas hat er schon davon gesprochen, dass er
kein Wunschkind gewesen sei und man Kinder ja leider nicht mehr umtauschen könne.
Lukas’ Eltern schämen sich vor ihren Nachbarn und auch vor den Erzieherinnen im Kindergarten für ihren Sohn. Sie schärfen Lukas immer wieder ein, wie wichtig es sei, nicht aufzufallen und keine Schwierigkeiten zu machen, einfach „ein lieber Junge zu sein“.
Seit Beginn des neuen Kindergartenjahres ist Lukas stolz darauf, ein Vorschulkind zu sein.
Er freut sich sehr auf die Schule und bemüht sich, die Übungen für die Vorschulkinder gut
zu erfüllen. Lukas merkt aber selbst, dass die anderen Kinder ihre Übungen viel schneller
abschließen, und wird zunehmend frustrierter, da er nicht mit ihnen mithalten kann. Die
Kinder bemerken dies und rufen ihm oft „lahme Ente“ hinterher. Zudem wird er immer
wieder von anderen Kindern im Kindergarten gehänselt, weil er angeblich noch „wie ein
Baby spricht“. Diese Hänseleien machen Lukas wütend. Wehren kann er sich aber nicht.
Von der Erzieherin fühlt er sich ungerecht behandelt, da sie den anderen Kindern viel mehr
zutraut. Er spricht weder mit seinen Eltern noch mit der Erzieherin über seine Gefühle, da
er ja „ein lieber Junge“ sein will. Lukas leidet sehr darunter und ist davon überzeugt, dass
alle ihn auch deshalb nicht mögen, weil er so langsam ist. Demzufolge zieht er sich sowohl
von den Kindern als auch von den erwachsenen Bezugspersonen immer mehr zurück.
Beim Elterngespräch empfiehlt die Erzieherin den Eltern, Lukas noch ein Jahr vom Schulbesuch zurückstellen zu lassen oder gleich über den Besuch einer Förderschule nachzudenken.
Die Eltern sind entsetzt über die Aussagen der Erzieherin. Der Vater poltert sofort los, sein
Kind gehe auf keinen Fall auf die „Sonderschule“. Lukas sei ja nicht behindert und außerdem seiner Ansicht nach nur zu faul. Man müsse den Jungen nur strenger erziehen und mit
etwas Bestrafung werde er es schon in der „normalen“ Schule schaffen!
Die Mutter dagegen erinnert sich sofort an eine Nachbarin, die ihr vor kurzem davon erzählte, dass man jetzt neuerdings immer häufiger alle Kinder in einer Klasse unterrichte,
egal, ob diese beeinträchtigt seien oder nicht. Man fördere dort jedes Kind individuell nach
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seinem Leistungsstand. Die Nachbarin meinte, das sei doch auch etwas für Lukas, da er
dann nicht von seinen Kindergartenfreunden getrennt wäre.
Lukas’ Eltern informieren sich am folgenden Tag über diese Möglichkeit an der örtlichen
Grundschule und melden ihn für eine solche Klasse an.
Aufgaben zur Fallbeschreibung „Lukas“
1. Erklären Sie die Entstehung von Lukas’ Selbstkonzept sowie sein aktuelles Verhalten
(Rückzug vor Kindern und Erwachsenen) mithilfe relevanter Annahmen der personenzentrierten Theorie nach C. Rogers.
2. Verdeutlichen Sie den Prozess des „Denkens als Entscheidungsfindung“ am Beispiel der
Entscheidung von Lukas’ Eltern bezüglich seines künftigen Schulbesuches.
3. a) Erläutern Sie ausgehend von Lukas bzw. seiner Familie zwei Aufgaben / Ziele einer
sozialpädagogischen Institution.
b) Zeigen Sie in diesem Zusammenhang zwei mögliche Probleme der erzieherischen Arbeit in dieser Institution auf.
Aufgabe II
Fachpraktische und berufliche Ausbildung haben an der Beruflichen Oberschule einen hohen
Stellenwert.
1. Erläutern Sie ein Gedächtnismodell (z. B. Mehrspeichermodell) am Beispiel des Wissenserwerbs einer Praktikantin /eines Auszubildenden in der fachpraktischen /beruflichen Ausbildung.
Verdeutlichen Sie dabei eine mögliche Gedächtnishemmung.
2. Erklären Sie eine mögliche Kommunikationsstörung in der fachpraktischen oder betrieblichen Ausbildung mithilfe relevanter Annahmen einer Kommunikationstheorie (nach P.
Watzlawick u. a. oder F. Schulz v. Thun).
Verdeutlichen Sie an diesem Beispiel ausgehend von der gewählten Theorie eine Möglichkeit gelungener Kommunikation.
3. Erklären Sie mithilfe der sozialkognitiven Theorie von A. Bandura, wie eine der in Teilaufgabe 2 beschriebenen Personen ein Kommunikationsverhalten erwerben kann, das zu
einer gelungenen Kommunikation beiträgt.
Beschränken Sie sich innerhalb dieser Theorie auf die Aufmerksamkeitsprozesse sowie die
Kompetenz- und Ergebniserwartungen.
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Lösungsvorschlag
Aufgabe I
r 1. Hinweise: Überlegen Sie, welche Annahmen der personenzentrierten Theorie nach Rogers
für die Analyse des Fallbeispiels relevant sind. Sie haben zwei unterschiedliche Möglichr
keiten, Ihre fachwissenschaftlichen Kenntnisse darzustellen und auf das Fallbeispiel zu ber
ziehen:
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– Sie legen einzelne Aspekte Ihrer fachwissenschaftlichen Kenntnisse dar und stellen
r
gleich, mit Zeilenbezug, den Zusammenhang zum Fallbeispiel her. Bei dieser Bearbeir
tung wird diese Variante gewählt.
r
– Sie zeigen erst vollständig Ihre fachwissenschaftlichen Kenntnisse auf. Im Anschluss
r
wenden Sie diese mit Zeilenbezug auf das Fallbeispiel an.
r
Die Anwendung der fachwissenschaftlichen Kenntnisse wird bei der Bewertung wesentlich
r
höher gewichtet als die Wiedergabe fachwissenschaftlicher Kenntnisse. Wichtig dabei ist
r
die zutreffende und vollständige Verknüpfung zwischen Fachwissen und Anwendung am
r
Fallbeispiel.
r
Einleitung
Der Begründer der personenzentrierten Theorie ist Carl Rogers. Er ist ein bedeutender
Vertreter der humanistischen Psychologie, die neben der Psychoanalyse und dem Behaviorismus eine Hauptrichtung der Psychologie darstellt. Die personenzentrierte Theorie ist
eine Persönlichkeitstheorie; sie versucht, die Struktur, die Dynamik und die Entwicklung
von Persönlichkeit zu beschreiben und zu erklären. Unter Persönlichkeit wird die individuelle Struktur von Merkmalen einer Person verstanden. Diese sind einerseits recht gleichbleibend, können sich aber andererseits im Laufe des Lebens verändern. Aufgrund dieser
Persönlichkeitsmerkmale erleben Menschen ihre Umwelt auf ihre individuelle Art und verhalten sich dementsprechend. In Rogers’ Menschenbild wird die humanistische Sicht des
Menschen deutlich. Diese geht davon aus, dass die Natur des Menschen im Wesentlichen
positiv ist. Er strebt danach, zu wachsen und sich zu einer gesunden Persönlichkeit zu entwickeln. Dennoch berücksichtigt Rogers, dass bei ungünstigen Entwicklungsbedingungen
auch irrationale und zerstörerische Kräfte im Menschen wirksam werden können.
Im vorliegenden Fallbeispiel werden bei Lukas solche ungünstigen Entwicklungsbedingungen beschrieben: Er ist 9 Wochen zu früh geboren und deshalb in seiner Entwicklung
verzögert (Z. 1– 3).
Relevante Annahmen und Begriffe der personenzentrierten Theorie und deren
Anwendung auf das Fallbeispiel
Im Zentrum von Rogers’ Theorie steht die Grundannahme des „angeborenen“ Strebens des
Menschen nach Aktualisierung und Selbstverwirklichung. Er nimmt an, dass der Mensch
nicht nur aus triebgesteuerter Spannungsreduktion heraus (wie z. B. bei Freud) handelt,
sondern dass das Streben zur Selbstverwirklichung sein Handeln bestimmt. Dieses Streben
ist die Tendenz zur Selbstaktualisierung. Der Mensch möchte Unabhängigkeit und
Selbstbestimmung erlangen. Rogers geht davon aus, dass diese Tendenz angeboren ist. Am
Fallbeispiel Lukas wird das Streben nach Selbstverwirklichung deutlich: Er ist stolz darauf, ein Vorschulkind zu sein, und freut sich auf die Schule. Er gibt sich große Mühe bei
den Übungen für die Vorschulkinder (Z. 23 – 25). Lukas bemüht sich aus eigener Motivation. Er strebt von sich aus nach mehr Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Selbstaktualisierung.
Dabei werden Erfahrungen, die dem positiven Wachstum der Persönlichkeit entgegenstehen, gemieden. Das bezeichnet Rogers als organismischen Bewertungsprozess. Hierbei
handelt es sich um die kognitiven Möglichkeiten des Menschen, Erfahrungen zu verarbei2015-3