2 - Universität Wien

Hermann Reichert
Walther von der Vogelweide
Zusammenfassung
24.11.2015
Inhaltsverzeichnis
II. Einleitung: Walther und der Zeitgeist……………………………………….S 122
III. Walthers Heimat als Forschungsproblem…………………….…………...S
11
IV. „Rollendichtung“ und „Autobiografische Dichtung“……………………..S
15
V. „(Sang-)Spruch“ und „Lied“………………………………………………….…S
17
VI. Die Überlieferung………………………………………………………………..S
22
VII. Lyrik in Wien um 1190………………………………………………………..S
24
VIII. MF 214,34 – Walther oder Hartmann?...........................................S
28
IX. Walthers Tagelied (L 88,9)…………………………………………………….S
31
X. Die Fehde mit Reinmar…………………………………………………………S
33
XI. „Mädchenlieder“…………………………………………………………………S
37
XII. Zerstörtes Traumglück……………………………………………………….S
40
XIII. ‚Hohe Minne‘ oder ‚Neue Hohe Minne?..........................................S
41
2. Späte niedere oder neue hohe Minne?.....................................S
52
XIV. Walthers politische Sprüche……………………………………………….S
56
1. Walther und das Reich unter Philipp und Otto……………….…S
56
2. Walther und die Fürsten………………………………………………S
70
3. Walther und Wolfger von Erla……………………………………….S
74
4. Ringen um den Hof zu Wien…………………………………………..S
75
XV. Walther und Neidhart………………………………………………………..S
79
XVI. Fünf gute Jahre (1220 – 1224)……………………………………………S
82
XVII. Didaktik und Gebete……………………………………………………….S
86
XVIII. Der Leich…………………………………………………………………….S
88
XIX. Walthers „Alterston“………………………………………………………..S
92
XX. Widerruf (L 100,24) und Aufruf (L 124,1)………………………………S
94
XXI. Das Palästinalied……………………………………………………………S
99
XXII. Gute Nähseide………………………………………………………………S 101
1
II. Einleitung: Walther und der Zeitgeist
Die erste moderne Ausgabe seiner Werke stammt von Karl Lachmann (1827).
Verweise auf Walthers Gedichte erfolgen immer auf Seite und Zeile dieser Ausgabe;
neuere Ausgaben beziehen sich darauf.
L 56,14 (L = Seite und Zeile der Erstausgabe von Karl LACHMANN, 1827.)
Wenn jemand die Seitenzahlen der 14. Auflage angibt, findet ein Leser, der die 15.
hat, das Zitat nicht.
Man zitiert deshalb den Text der neuesten Auflage und gibt dazu die Seitenzahl der
1. Auflage an. In allen Neuauflagen sind am Rand auch die Seitenzahlen der 1.
Auflage
vermerkt.
Rüdiger Manesse (Zürich um 1300)
= Auftraggeber der größten deutschen Liedersammlung des Mittelalters
Sammlungen:
Die bei weitem umfangreichste Sammlung von Walthers Gedichten befindet sich in
der
so
genannten
„Großen
Heidelberger
Liederhandschrift“,
einer
Prachthandschrift, die um 1300 (von manchen etwas später datiert) verfertigt wurde.
(Weitere große Sammlung „Weingartner Liederhandschrift“)
Leithandschriftenprinzip
= das Geschriebene basiert auf dem Überlieferungszeugen, der als der am besten
geeignete erkannt wurde. (wenn ein Lied in zwei oder drei Handschriften geschrieben
wurde, suchte man eine aus, die am besten (fehlerlos und am ähnlich wie Walthers)
war.
Das Preislied
-
War eines seiner ersten Lieder
-
Die Menschen hatten nach seiner
dementsprechend stolz ist Walthers Gruß
Walther feierte in Österreich bereits erste Erfolge, war für mindestens 2 Jahre
abwesend und tauchte dann mit diesem Lied auf
Rückkehr
hohe
Erwartungen,
Was könnte der Anlass zu diesem Lied gewesen sein?
Viele hatten den Eindruck, das Preislied sei für diesen Anlass als „Begrüßungslied“
entstanden, es gibt jedoch 2 nähere Theorien:
1. Man denkt bei dem festlichen Anlass, der den Rahmen für das Preislied
gebildet haben könnte, gern an Herzog Leopolds VI. „Schwertleite“
2. Andere dachten an ein Fest, anlässlich der Hochzeit Leopolds mit der
byzantinischen Prinzessin Theodora, was aber weniger wahrscheinlich ist. (Es
ist nicht bekannt, ob dieses Fest so groß war, dass auch Gäste aus der Ferne
eingeladen waren und das „Lob der deutschen Frau“ anlässlich der Hochzeit
einer byzantinischen Prinzessin wäre ein Fauxpas gewesen)
Interpretation des Preisliedes:
2
-
-
In der 2. Strophe sagt Walther, dass er den deutschen Frauen Neuigkeiten
überbringen möchte, ohne dass sie ihm einen Lohn dafür geben. Das einzige
was er möchte, ist dass sie ihn schön grüßen.
Damit zeigt Walther seine „bescheidene“ Seite, die wir ihm allerdings nicht
abkaufen können: kein Minnesänger möchte für das, das er einer Dame ein
Lied widmet, einen schönen Gruß, statt Lohn, als Dank erhalten.
In der 4. Strophe spricht Walther davon, dass von der Elbe bis an den Rhein
und wieder zurück bis an Ungarn die besten sind, die er je kennen gelernt hat.
Die Nationalisten wünschten sich allerdings, dass Walther andere Grenzen
genannt hätte (Rhein und Elbe als Grenzen statt Maas und Memel).
Früher haben die großen deutschen Dichter sich im Sinne der Tagespolitik
interpretieren lassen und den Geschehnissen jener Tage so etwas wie eine
siebenhundertjährige Weihe gegeben. Allerdings nicht immer:
-
Mit Walther wurde um 1938 viel Schindluder getrieben
Gerade zum Preislied hatte Hugo Kuhn eine heute noch wichtige Arbeit
geliefert, die ohne jede tagespolitisch nützliche Bemerkung war.
Das Standardwerk über Walther, die „Untersuchung“ von Carl von Kraus
erschien ohne eine einzige politische Bemerkung.
Dagegen haben die Nazis bei ihrer nationalen Vereinnahmung Walthers auf das
Preislied anscheinend vergessen. Warum wurde es nicht zitiert?
-
Walther wurde nicht nur von Leuten im Sinne des Nationalismus interpretiert,
die sich dachten, sich nicht an das Recht halten zu müssen, sobald sie an der
Macht standen, sondern schon lange zuvor von naiven Nationalisten, wie
Heinrich Hoffmann von Fallersleben (Autor von „Kuckuck, Kuckuck ruft aus
dem Wald“ und „Ein Männlein steht im Walde“), der in Anlehnung an Walther
und zu einem Zeitpunkt, als es kein Deutsches Reich gab, das „Lied der
Deutschen“ dichtete.
Kommentare zum „Lied der Deutschen“:
-
-
Von „deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang“
ist nur der Wein Hoffmanns Gewächs“ (Hugo Kuhn).
Den Rest hat Hoffmann von: „Österreich über alles, wenn es nur will“ (Wilhelm
v.Hörnigk, 1684) und
Walthers Preislied: die geographischen Angaben Maas, Memel, Etsch, Belt
verstand Hoffmann als Weiterführung von Elbe, Rhein, Ungarn.
WILMANNS – MICHELS 1924 „Das stolze Lied auf deutsche Zucht und Sitte
ist das erste Lied in deutscher Zunge zum Preis des großen Vaterlands.“
Hans NAUMANN 1930 „sogenannte Nationalhymne“
1933-1945: in nationalsozialistischer Literatur wird Walther oft erwähnt, aber
nicht sein ‚Preislied‘:
1. zu wenig heldisch (Wein, Frauen)
2. Rhein und Elbe als Grenzen statt Maas und Memel!
3
Zitate von Hugo Kuhn (Germanist der Nachkriegszeit) über das Preislied:
-
Das Preislied ist „ein Politikum aus der Frühgeschichte der Nationalgefühle in
Europa“
„Die Auseinandersetzung aber geht auch hier nicht um nationale Vorurteile,
sondern nur um die Leitbilder einer höfischen Minne-Ideologie, die rein
französischen Ursprungs ist“.
Hugo Kuhns Formulierung kann man hingehen lassen. Aber dass die folgenden naivnationalistischen Sätze von Helmut de Boor, der ähnliche Gedanken wie Hugo Kuhn
hatte, lange nach 1945 (1958!) geschrieben wurden, ist erstaunlich:
Helmut de Boor (1958!!):
-
-
„Das erste Lied, in dem das Wort ‚deutsch‘ den bewussten Klang nationalen
Stolzes hat, das stammhaft Gegliederte zur Einheit zusammenfasst und es
zugleich gegen das Fremde abgrenzt. Das ist zunächst die Abwehr
romanischer Überheblichkeit... Zugleich aber ist es das eingeborene
kulturelle Überlegenheitsgefühl des Ostmarkdeutschen gegenüber den
jüngeren Völkern des außerdeutschen Ostens.“
„Es ist aber zugleich auch bestimmt durch sein staufisches Denken, das die
Deutschen als den tragenden Teil des Imperiums erkannt hat und das den
weltweiten Gegensatz zwischen Kaisertum und Papsttum zugleich als den
nationalen zwischen Deutschen und Wälschen auffasste.“
Walthers „Nationalismus“ sehen einige der letzten Jahrzehnte nicht als Walthers
eigene Schöpfung, sondern als ein Konter auf scharfe Angriffe gegen die Deutschen
vor allem in der provenzalischer Sprache, ikn der der berühmte Lyriker Peire Vidal
„nationale“ und „antideutsche“ Lieder gesungen hatte. Man hat in Peire Vidals Spott
meist den Hauptanlass für Walthers Angreiff gesehen, insbesondere weil Walther wie
Peire Vidal sich die geographische Eingrenzung durch Gewässer findet: Von der
Rhone bis nach Vence und vom Meer bis zur Durance“ reicht für ihn das höfischeste
und herrlichste Land – die Provence.
Zitat aus Peire Vidals Lied 37:
- „Meiner Meinung nach sind die Deutschen ungebildet und grob; wenn einer
von ihnen kommt und sich einbildet, er sei höfisch, fühlt man sich zu Tode
bestraft und heftig bekümmert. Ihre Sprache klingt wie Hundegebell. Aus
diesem Grund möchte ich auch nicht bei den Friesen König sein. Immer das
Quäken dieser aufdringlichen Kerle anhören! Da bin ich doch lieber bei den
lustigen Lombarden, an der Seite meiner munteren Herrin mit ihrer weichen,
weißen Haut.“
Walthers Preislied als Antwort auf Peire Vidal:
- „Von der Rhone bis nach Vence und vom Meer bis zur Durance“ reicht für
Peire Vidal das höfischeste und herrlichste Land – die Provence.
- Die Eingrenzung des gepriesenen Landes durch Gewässer übernimmt Walther
von Peire.
Peire Vidal war Parteigänger von Richard Löwenherz, den Leopold VI.
gefangengenommen und an Kaiser Heinrich VI. ausgeliefert hatte. Dass er den
4
Deutschen gegenüber unfreundlich gesinnt war, muss nicht als Nationalismus
ausgelegt werden.
Peire Vidal, Provenzale, dichtete damals in Mailand. Er war ein erbitterter Feind der
Franzosen wie der Deutschen. Die Provence war damals noch unabhängig vom
französischen Königtum; unter Franzosen verstand man nur die Nordfranzosen. Die
Deutschen, mit denen er schlechte Erfahrungen gemacht hatte, waren nicht die
Bewohner Deutschlands, sondern die hohen Ministerialen Heinrichs VI., die hatten
bei der Verwaltung Siziliens kein politisches Fingerspitzengefühl.
Übrigens weilte Peire Vidal auch eine Zeit am ungarischen Königshof; die Erwähnung
Ungarns bei Walther stimmt aber eher nur zufällig zu Peires Aufenthalt.
Der Nationalkonflikt im Reich:
Der Nationenkonflikt im Reich war nicht territorial; Heinrich VI. war römischer
Kaiser, deutscher König und König von Sizilien. Die unterschiedlichen
Nationalcharaktere, wie die Dichter sie herauszuarbeiten suchten, begründeten
keinen Gebietsanspruch eines Herrschers.
Es gab einen Nationenkonflikt, aber er war nicht territorial. Die Herabsetzung der
deutschen Sprache als ‚Hundegebell‘ beleidigt und fordert Reaktionen auf derselben
Ebene heraus.
Umgekehrt schrieb schon im 9. Jh. ein Bayer (‚Kasseler Glossen‘):
Übersetzt: „Dumm sind die Welschen, klug sind die Bayern. Wenig Klugheit ist bei
Welschen, sie haben mehr Dummheit als Klugheit.“
Das Latein des Bayern war nicht so gut, dass es seinen Stolz rechtfertigt (falsche
Endungen!).
Hochmut gegen den anderssprachigen Nachbarn ist sicher noch älter; die
Beschimpfungen waren wechselseitig, soweit wir zurückblicken.
Der Nationenkonflikt im 19. und 20. Jh. war dagegen territorial. Er zielte auf die
Veränderung bestehender Grenzen und auf die Schaffung von Nationalstaaten.
Walthers Reichsidee, die er in anderen Gedichten ausdrückt (nicht im Preislied; in
diesem geht es um Kunst, nicht Politik) ist übernational; zum Imperium Romanum
gehören wesentlich auch die Teile mit französischer und italienischer
Gerichtssprache.
Wen attackiert Walter im Preislied wirklich?
- vremeder site:
Da ist weniger ein Provenzale betroffen, der die Provence verherrlicht, als ein
Deutscher, der in deutscher Sprache im Stil der romanischen Kollegen dichtet.
Das Preislied ist Programm des Neuerers Walther, im Wettstreit mit seinen
Konkurrenten um den Ruhm des größten Lyrikers in deutscher Sprache.
Wenn auch kein Konkurrent namentlich genannt wird, ist klar, dass es sich
um einen ernsthaften Gegner handelt: Reinmar von Hagenau, der das aus
Frankreich übernommene Ideal der Hohen Minne pflegt. Walthers Konzept ist
nicht der Preis seiner eigenen Dame, sondern der Preis aller Frauen. Wenn
Walther seine eigene Dame preist, preist er in ihr alle Frauen, während
Reinmar die über alle anderen Frauen strahlenden Vorzüge seiner Dame
preist.
5
Walther geht es um die Wiederaufnahme in die Wiener Hofgesellschaft. Zu diesem Zweck
wählt er ein dort wirkungsvolles Thema, nämlich gleichzeitig Reinmar von Hagenau zu
übertrumpfen und die Angriffe provenzalischer Trobadors zurückzuweisen. Reinmar von
Hagenau übernimmt in vielen Liedern den amor fin (lat. amor purus, die ‚reine Liebe‘ ohne
körperliche Kontakte), ein Motiv der Dichtung der provenzalischen Trobadors, die keine
Erfüllungsmöglichkeit kennt, nur ewige Hoffnung. Reinmars Lyrik wertet Walther damit als
eine Nachschöpfung von Importware ab. Die Diskussion um die richtige Form des
literarischen Minnedienstes spielte sich vermutlich in Form eines Kampfes zwischen
Walther und Reinmar um ein die materielle Existenz sicherndes Engagement ab.
Reinmars Preislied:
(MF: Des Minnesangs Frühling. Zitate geben immer die Seite und Zeile der
Erstauflage von 1857 an (von Karl LACHMANN und Moriz HAUPT); zitiert wird jetzt
nach der 38. Auflage (von Hugo MOSER und Helmut TERVOOREN).
Grund: derselbe wie bei Walther-Zitaten.)
Übersetzung:
1. Niemand darf mich nun nach Neuigkeiten fragen, denn ich bin nicht froh.
Meine Freunde verdrießt meine Klage. So geht es mit allem, wovon man viel
hört. Jetzt habe ich den Schaden und den Spott zugleich. Gott möge sich daran
erinnern, wie viel Leid mir unverdient und schuldlos geschieht! Wenn mich
meine Herzliebste nicht bei sich liegen lässt, so kann ich niemandem Freude
zuteilwerden lassen.
2. Die Hochgemuten werfen mir vor, ich liebe eine Frau nicht so sehr, wie ich
vorgebe. Sie lügen und tun sich selbst damit Unehre an. Sie war mir immer
gleich viel wert wie mein Leben. Trotzdem hat sie mir die ganze Zeit hindurch
nie Trost gespendet. Unter dieser Ungnade, und was sie mir sonst noch alles
antut muss ich warten, so gut ich es kann. Es gab eine Zeit, als mir wohl zu
Mute war: werde ich aber nun jemals wieder einen angenehmen Tag erleben?
3. Wohl dir, Frau, was für ein reiner „Name“! Wie angenehm er sich doch anhört
und ausspricht! Nie gab es etwas so Rühmenswertes wie dich, wenn du dich
in richtiger Güte zeigst. Niemand ist bereit genug, dich hinreichend zu
rühmen. Wenn du jemandem richtig treu bist, so ist der glücklich und kann
fröhlich leben. Du machst alle Welt hochgemut: gib doch auch mir ein wenig
Freude
4. Zwei Alternativen habe ich mir überlegt, die bekämpfen sich in meinem
Herzen: Ob ich ihre Würdigkeit absichtlich herabmindern wollte, oder ob ich
sie als noch würdiger erscheinen lasse und sie gesegnete Frau von mir und
von allen anderen Männern frei bleibe. Beide Möglichkeiten schmerzen mich.
Ich werde ihrer Unehre niemals froh; wenn sie mich meidet, beklage ich es
immerzu.
Hintergrund zum Preislied Reinmars:
Reinmar liebt eine Dame, die als verheiratet zu denken ist, von der er sexuelle
Erfüllung wünscht, und die er andererseits als in jeder Hinsicht beste, also auch
tugendhateste, Frau preisen möchte. Nun hat er, wie die 4. Strophe seines Preislieds
zeigt, das Problem: entweder er bekommt von seiner Dame einen Korb und hat dafür
die Gewissheit, dass sie moralisch vorbildlich ist, weil sie den Pfad weiblicher
Tugenden nicht verlässt, oder sie erhört ihn, dann mach sie ihn zwar glücklich, aber
er kann seine Dame nicht mehr als moralisch vorbildlich loben. Reinmar weiß nicht,
was ihm lieber ist: seine Dame als vorbildlich besingen zu können oder ihre Liebe zu
genießen.
6
Walthers Nachruf:
Walther schlägt nun ein neues Thema an: Er preist in seiner Dame alle Damen, oder
jedenfalls alle deutschen Frauen; die Damen im Publikum können sich von ihm
direkt angesprochen fühlen. Trotzdem ist Walthers Preislied nicht nur als
künstlerischer Angriff gegen Reinmar zu werten, denn er versagt dem berühmtesten
Werk Reinmars, seine Bewunderung nicht, wie wir aus Walthers Nachruf ersehen:
Dort zitiert Walther Reinmars Preislied, und zwar nicht den Beginn, sondern die 3.
Strophe: „Und hättest du nur ein einziges Lied gedichtet, nämlich „Sowohl dir, Frau,
wie rein dein Name“, so hättest du in ihrem Dienst so gut gekämpft, dass alle Frauen
für deine Seele beten sollten.“
Das Lied hat allerdings noch eine 6. Strophe, also eine mehr, die erst von einem
späteren Bearbeiter hinzugefügt wurde, weil der Bearbeiter C oft von der Originalform
abweicht. Die Strophe enthält aber nichts, was nicht auch Walther geschrieben
haben könnte, und man ist sich schon lange einig, dass sie auch wohn von ihm selbst
stammt.
6. Strophe (Übersetzung):
„Die, der ich lange gedient habe und der ich allzeit gerne dienen werde, die gebe ich
nicht auf. Sie tut mir aber so viel Leid an. Sie verletzt mich an Herz und Gemüt. Gott
vergebe ihr, dass sich an mir versündigt. Vielleicht bekehrt sie sich dann noch.“
Hintergrund der 6. Strophe:
Die 6. Strophe von Walthers Preislied nimmt Reinmars Klagehaltung auf; aber in
anderer Bedeutung: soll man glauben, dass Walther in längerer Abwesenheit
derselben Dame treu geblieben ist, und dass er erwartet, dass sie jetzt wieder seinen
Dienst annehmen wird, als sei er nie fort gewesen? Er bezeichnet es als Missetat der
Dame, dass sie ihn weiterhin nicht erhört! Das glauben wir nicht, und so wird auch
um 1200 niemand diese Strophe aufgefasst haben. Einer realen Geliebten mutet man
das nicht zu. Die Dame muss hier Metapher für etwas sein.
Aber wofür?
Dafür gibt es 2 Deutungen:
1. Die einleuchtendste Antwort ist:
für den Herzogshof zu Wien, dem Walther als Dichter diente wie als Sänger
seiner Dame.
Der Scherz ist:
der Herzogshof zeige sich spröde wie eine Dame – und wie der Sänger auf
Erhörung, hofft der Dichter auf ein Engagement.
2. Eine andere mögliche Deutung wäre:
die vrouwe dieser Strophe steht als Metapher für die Gattung ‚Minnesang‘.
Dann sagt sie, dass Walther zwar eine neue Form des Minnesangs
eingeführt hat, und er nicht bereit ist, den provenzalischen
und französischen Dichtern alles nachzumachen, aber
dass das nicht bedeutet, dass er deshalb keine klagenden Liebeslieder
mehr dichten wird.
Andere Äußerungen Walthers legen aber nahe, dass Wolfgang
MOHR mit seiner Deutung, die Dame der 6. Strophe des
Preisliedes stehe für den Wiener Hof, das Richtige traf.
Walther will nicht in vremedem site dichten. Er ist Neuerer, aber er achtet die
einheimische ‚Sitte‘.
7
Wie war die einheimische Lyrik?
Ein Gedicht von einem Mädchen, das davon spricht, dass es einen Geliebten hat und
hofft, dass er wiederkommt und sie nicht sitzen lässt, erklärt, dass es auch vor
Reinmar und vor Walther andere Themen im Minnesang als den schüchternen
Liebhaber, der ewig dieselbe Frau verehrt und nie von ihr erhört wird, gibt.
Preislied: Zusammenfassung
Das sogenannte ‚nationale Element’ ist nicht eines im Dienste eines National- oder
Territorialstaates wie im 19. oder 20. Jahrhundert. Ein Bewusstsein für einheimische
gegen fremdländische Kultur gab es aber auch um 1200: Wenn Walther sich als
Vertreter der alteingesessenen Dichtungsart profilieren will, tut er das wohl auch,
weil sein Konkurrent Reinmar die französische Mode pflegt. Wenn Walther als Sänger
seine Dame preist, drückt er aus, wie sehr er in sie verliebt ist, während Reinmar die
Dame des Sängers über alle anderen Damen stellt und meint, seine Dame sei besser
als alle anderen Damen.
Die 6. Strophe lässt drei Deutungsmöglichkeiten zu, eigentlich nur zwei, denn die
wörtliche Ausdeutung ist unwahrscheinlich, nämlich dass Walther seine persönliche
frühere Minnedame nach langer Abwesenheit begrüßt und ihr gleich zur Begrüßung
vorwirft, dass sie ihn nie erhört.
Die akzeptablen Deutungen sind:
1. Möglichkeit:
die Dame steht als Metapher für einen Hof, an den Walther zurückkehrt, und
von dem er geschieden ist, weil es keine Aussicht auf ein fixes Engagement
gab. Dafür kommt nur der Wiener Hof in Frage.
2. Möglichkeit:
die Dame steht als Metapher für die Dichtungsgattung ‚Hohe Minne‘, der er
weiter dienen will, auch wenn sie ihn nicht erhört, das heißt, auch wenn
Walther nicht der verdiente Ruhm zuteilwird.
Waren alle Zeitgenossen, so wie wir, überzeugt, dass Walther der beste Lyriker
ist?
Wolfram von Eschenbach war mit uns einer Meinung. Nicht aber Gottfried von
Straßburg. Gottfried hielt Walther für sehr gut, aber Reinmar für noch besser, was
er in einem Gedicht beschrieb.
Was ist für Walther „unser lant“? „lange müeze ich leben dar inne!“ Wo will er
leben?
Bindungen sind im Mittelalter personenbezogen, weniger territorial.
Liute unde lant, dannen ich von kinde bin [geborn]
<erzogen>,
die sint mir vremde worden, reht als ob ez sî gelogen
Konjektur: conicere ‚vermuten‘.
[Handschrift] sicher falsch, weil ein Reimwort nötig ist.
<Konjektur> wahrscheinlich richtig.
„lange müez ich leben dar inne“
dar inne = in diesem Land. Bezieht sich das wirklich auf ‚Land und Leute‘ oder ist
damit ein bestimmter Hof angesprochen?
8
Das Gelingen eines Preisliedes, das besser ankommt als das des Konkurrenten, kann
auch eine Existenzsicherung bringen. Aber das muss nicht direkt Thema des Liedes
sein.
Ich hân gemerket von der Seine unz an die Muore,
von dem Pfâde unz an die Traben erkenne ich al ir fuore.
Übersetzung:
„Ich habe von der Seine bis an die Mur überall genau aufgepasst und vom Po bis an
die Trave kenne ich alles Benehmen der Leute.“
Walthers Wanderwege scheinen bis Paris und Graz geführt zu haben; Seine, Mur, Po
und Trave als begrenzende Flüsse sind weiter als Rhein und Elbe im Preislied.
Walther kannte viel vremden site, doch wünscht er nicht, dort zu leben. Ob er aber
meint, mit einem Engagement in einem beliebigen Land zwischen Rhein und Elbe
zufrieden zu sein, oder konkret auf ein Engagement in Wien abzielt, geht aus den
Texten nicht hervor. Seine wiederholten Bitten an den Wiener Herzog und den Bischof
von Passau (in dessen Diözese Wien lag) legen aber nahe, dass er hier Heimatrecht
hatte (also auch geboren war).
tiusche zunge und vremeder site sind Rechtstermini:
tiusche zunge ist der Rechtsterminus für den Herrschaftsbereich, in dem nach
deutschem Recht gerichtet wird, das ist der des deutschen Königs.
Sprachen gab es im Imperium viele, zungen aber nur drei: deutsch, französisch und
italienisch. Nach den Rechten dieser drei Reichsteile wurde im Reichsgericht Recht
gesprochen.
Nicht nur nach diesen Strophen, sondern bereits beim Preislied hört man heraus,
dass Walther fremde Länder kennt. Fremde Länder sind für Walther solche, in denen
nicht in „tiuscher zunge“ (deutscher Sprache“, Recht gesprochen wird und in denen
„vremeder site“ herrscht.
Walthers Bindungen waren nicht territorialstaatlich. Aus welchem Denken
entstanden aber dann seine tatsächlichen Bindungen?
Personenbezogene Bindungen:
Herzog Friedrich I. von Österreich
König Philipp
Herzog Leopold VI. von Österreich
Heinrich von Mödling (Onkel Leopolds)
Wolfger v. Erla: Bischof v. Passau, Patriarch v. Aquileia
Landgraf Hermann von Thüringen
Graf Dieter II. von Katzenellenbogen
Markgraf Dietrich von Meißen
Herzog Bernhard von Kärnten
Kaiser Otto IV.
Kaiser Friedrich II.
Erzbischof Engelbert von Köln
Herzog Ludwig von Bayern?
Graf von Bogen?
der wünneclîche hof ze Wiene (einzige nicht-Einzelperson)
Was artikuliert Walther, wenn er diese Personen anspricht?
Meist geht es um ein Thema wie im Folgenden:
9
Übersetzung der Strophe:
„Ich habe das Treueversprechen Herrn Ottos, dass er mich noch reich machen wolle.
Wieso nahm er aber meinen Dienst in so trügerischer Absicht an?“
 Die 3 Zentralbegriffe, die in diesen zwei Zeilen vereint sind, sind Treue, Dienst
und Lohn. Alle drei kennzeichnen ein persönliches Verhältnis, das durch
Rechte und Pflichten beider Partner bestimmt ist.
Die „triuwe“ ist der gegenseitige Treueeid. Der Gefolgsmann leistet Dienst, der
Herr bietet dafür Lohn und Schutz gegen feindliche Dritte.
10
III. Walthers Heimat als Forschungsproblem
Woher kommt Walther?
Walthers Biografie lässt sich fast nur aus seinen Gedichten erschließen, da zu
kommen einige Äußerungen von Dichterkollegen in ihren Werken. Das Fehlen
biographischer Daten behindert das Interpretieren seiner Gedichte. Am deutlichsten
wird das an der Diskussion um Walthers Geburtsort: diesem Thema sind viele Seiten
gewidmet, trotzdem wird die Frage, von wo er kommt, nicht gelöst, wenn überhaupt,
dann jedenfalls nur bei der Interpretation eines einzigen Spruches bzw. eigentlich
nur bei der Anspielung Wolframs von Eschenbach auf diesen Spruch:
Übersetzung:
„Man sagte mir immer, wie ehrenwert es um das Kloster Tegernsee bestellt sei.
Deshalb machte ich einen Umweg von mehr als einer Meile, um dorthin zu kommen.
Ich bin ein seltsamer Mensch, dass ich mich nicht auf mein eigenes Urteil, sondern
mich so sehr auf fremde Leute verlasse. Ich schelte sie nicht, denn wir alle können
uns irren. Ich erhielt dort Wasser. Solcherart musste ich als Nasser von der Tafel des
Mönchs scheiden.“
Wolfram von Eschenbach (er zitiert Walther gerne schätzte Walther, machte sich aber
über ihn lustig, weil er sich darüber beschwert, Wasser statt Bozner Wein bekommen
zu haben.
Wolfram von Eschenbach spottete in Willehalm über Walther:
Übersetzung:
„Der Gastgeber erkannte wohl, dass er (Marktgraf Wilhelm) wegen eines erlittenen
Leides trauerte. Deshalb wollte er ihn nicht überreden, bessere Speise zu sich zu
nehmen. Er reichte ihm harte Brote und das zu trinken, wovon die Nachtigall lebt,
und wovon ihr süßer Klang noch edler wird, als ob sie all den Wein trünke, der bei
Bozen wachsen mag.“
Interpretation:
Wolframs Wasser statt Wein trinkende Nachtigall ist kein Vogel, sondern musste ein
Dichterkollege sein, und zwar Gottfried von Straßburg, der die Lyriker ironisch
„Nachtigallen“ nannte. Dann muss der Wasser statt Wein trinkende Lyriker Walther
sein, den Wolfram öfters hänselte und es wird speziell auf den Tegernsee-Spruch
angespielt.
Unklar ist:
Warum gerade Bozner Wein? Kommt Walther aus Bozen, dass er den dortigen
Wein kennt?
- Wäre Walther in Bozen daheim, müsste man Wolfram so versehen, dass er
Walther unterstellte, sich über die Bewirtung in Tegernsee beschwert zu
haben, weil er von zu Hause Besseres gewohnt sei.
- Das „wachsen mag“ könnte ironisch gemeint sein, falls er sagen wollte, dass
Walther sich auch zu Hause nicht immer Wein leisten konnte.
- Es gibt aber auch eine ganz andere Möglichkeit, Bozen mit dem in Tegernsee
nicht getrunkenen Wein in Verbindung zu bringen: Konrad Burdach nahm an,
Walther habe nicht wirklich in Tegernsee gedürstet und dass niemand im Erst
erwarten hätte können, dass die Tegernseer den berühmten Walther hätten
dursten lassen und das Publikum hätte sofort durchschauen müssen, dass
etwas ganz anderes hinter dem Spruch steckte.
11
Konrad Burdach:
entdeckte ein Schriftstück in einem Tegernseer Sammelband, in dem Kaiser Otto
einem Grafen Otto aufträgt, das Kloster Tegernsee wieder in den Besitz der ihm
gewaltsam weggenommenen Weinberge bei Bozen zu setzen. Das Kloster Tegernsee
hatte seine Weingärten in Bozen und Walther hatte sich darauf gefreut, in Tegernsee
Bozner Wein angeboten zu bekommen.
Seit dem Jahr 1900 weiß man, dass nicht Walther aus Südtirol stammt und zu Hause
Bozner Wein trank, sondern der dortige Wein in Bayern getrunken wurde: bei
Tegernsee wächst kein Wein, dort ist das Klima zu kalt. Walther hat mit Südtirol
nichts zu tun.
In der Forschung wird diskutiert:
Spiegelt
Walthers
Tegernsee-Spruch
ein
persönliches
Erlebnis
(‚Autobiographische Dichtung‘) oder ist es eine ‚Rollendichtung‘: persönlicher
Rachespruch oder politischer Spruch im Interesse des Klosters?
Burdach meinte, das ‚Ich‘ sei eine literarische Figur. Walther habe mit seinem
spaßhaften Schein-Vorwurf den Anwalt des Klosters gespielt, wo es nach der
Wegnahme der Bozner Weingärten nicht einmal mehr etwas zu trinken gäbe.
Der ‚Sänger‘ schlüpft oft in eine ‚Rolle‘. Doch hier passt es zum Dichter Walther, der
beleidigt war, wenn man ihn nicht ehrte und gut bezahlte. Walther als Verteidiger
eines Klosters ist unwahrscheinlich; „Solcherart musste ich als Nasser von der Tafel
des Mönches scheiden“ klingt abfällig.
Burdach hat zwar Recht, dass das Kloster in die Reichspolitik verwickelt war.
Wolframs Spott über Walther klingt aber, als sei Walther (wieder einmal) persönlich
beleidigt gewesen.
Sicher ist nur: die Weingärten des Klosters Tegernsee waren bei Bozen.
Am wahrscheinlichsten ist ein ‚privater‘ Anlass, dass Walther die Mönche geizig
nannte. Durch die Publikation wurde aber auch ein zunächst privater Konflikt um
den Dichterlohn öffentlich – sie ist das einzige Druckmittel des Dichters bei
Honorarforderungen; rein ‚private‘ Aussagen gibt es in publizierter und damit uns
erhaltener Dichtung nicht.
Da Walther nie Tiroler Orte oder Herren erwähnt, hat Burdach auf jeden Fall in dem
Punkt Recht, dass Walther sicher nicht aus Tirol stammt und ‚Bozen‘ sich nur auf
den Herkunftsort des nicht getrunkenen Weins bezieht.
Was an Walther wurde „nass“?
„Ich erhielt dort Wasser. Solcherart musste ich als Nasser von der Tafel des Mönchs
scheiden.“
 Von getrunkenem Wasser wird man nicht nass. Es könnte auch das Wasser
gemeint sein, das vor der Mahlzeit bei Tisch zum Händewaschen
herumgereicht wird. Das gehörte zu den mittelalterlichen Tischsitten: Wenn
der Hausherr ‚Wasser nahm‘ und sich die Hände wusch, war die Tafel eröffnet.
Dann hieße der Spruch, dass Walther nichts außer Wasser zum
Händewaschen bekommen hätte. Falls Walther vom getrunkenen Wasser nass
wurde, fühlte er sich durch das reine Getränk innerlich gewaschen.
Der Tegernseespruch hatte also ernste (man schätzt Walther nicht genug) und lustige
(Wasser) Aspekte!
Vogelweide?
Bedeutung des Namens könnte sein:
- Eine Vogelweide ist ein Jagdrevier auf Vögel, die mit Jagdvögeln gejagt werden.
12
-
Solche ‚Falkenhöfe‘ entstanden damals in der Nähe vieler herrschaftlicher
Sitze (z.B. in Tirol oder Würzburg)
Reiserechnungen existieren, die zeigen, dass Walther z.B. in Zeiselmauser
einen Pelzmantel bezahlte.
Welche Vogelweide ist gemeint?
Wo immer eine Vogelweide urkundlich fassbar wird, fühlen die Einwohner
desnächstliegenden Ortes sich mit Walther verwandt. Die Niederösterreicher führen
für die Vogelweide des österreichischen Herzogshofes gleich 2 Gedichte Walthers an,
die für Verwirrung sorgen:
1. „ze Ôsterrîche lernte ich singen unde sagen“ in einer Bitte an Herzog Leopold
VI.
 Manche meinen, das spreche dagegen, dass er in Österreich auch geboren
wurde.
Das ist falsch: Walther verteidigt sich in diesem Spruch als der richtige
Vertreter des Wiener Dichtungsstils gegen Neuerer (jetzt nicht gegen Reinmar,
der schon tot ist, sondern gegen den jüngeren Neidhart, der Walther
entthronen will). Da ist der Geburtsort unwichtig.
2. Walthers „Elegie“
 In den Versen seiner Elegie (Klagelied), die nur auf eine gemeinsame Vorlage
zurückgehenden Handschriften C und E erhalten haben, reimt aber „geborn“
auf „gelegen“ (C) bzw. „gelogen“ (E).
 Die Entscheidung zwischen den Lesearten „gelegen“ und „gelogen“ zu Gunsten
von „gelogen“ ist leicht - „geborn“ reimt sich aber auf keines der beiden.
Es ist also nur sicher, dass die Überlieferung einen Fehler enthält, aber wie
man ihn korrigieren könnte, bleibt ungewiss. Am ehesten überzeugt der
Vorschlag, die beiden Reimwörter in „erzogen“ und „gelogen“ zu verbessern,
damit ein reiner Reim und ein Sinn entsteht.
Archetypus:
(O)
|
*CE
/\
CE
* = verloren, aber rekonstruierbar
(O): das Original kann nur durch Vermutung, Konjektur, rekonstruiert werden;
durch Handschriftenvergleich kann nur die gemeinsame Quelle von C und E
rekonstruiert werden. Diese, offensichtlich nicht fehlerfreie, aber älteste durch
Vergleich rekonstruierbare verlorene Quelle nennt man Archetypus.
Walthers „Zuhause“:
Dass Walther immer wieder nach Österreich zurückkehrte, obwohl er sich mit
Leopold VI. nicht gut verstand, ist ein Indiz dafür, dass er hier wirklich ‚zu Hause‘
war.
Seine drei Hauptgönner nennt Walther (34,34ff.):
- Wolfger (zunächst Bischof von Passau, in dieser Diözese lag Wien; Wien bekam
erst einige Jahrhunderte später ein eigenes Bistum)
- Leopold VI. – trotz der vorangegangenen Konflikte
- Herzog Heinrich von Mödling, den Onkel Leopolds VI.
13
Diese Konzentration auf den geistlichen und die weltlichen Herren in Österreich lässt
als sicher annehmen, dass Walther hier das Geburtsrecht hatte; abgesehen davon,
dass er am Hof Friedrichs I., Leopolds älterem Bruder, in Wien seine Karriere
begonnen hatte.
Welcher ist nun Walthers Geburtsort?
Wir wissen nicht, wo Walther geboren wurde. Wenn man trotzdem eine Hypothese
aufstellen will, so ist die wahrscheinlichste die, dass er auf der
- Vogelweide der Babenberger zu Hause war. Wo die Babenberger ihre
Jagdfalken hatten, wissen wir nicht; unsinnig ist es aber, Walther könne nicht
in Österreich geboren sein, weil wir nicht wissen, wo die Babenberger ihre
Vogelweide hatten.
- Die Waldviertler sind davon überzeugt, dass sie in der Nähe von Zwettl lag,
weil es dort viel später tatsächlich eine Vogelweide gab (Erstbeleg: 1556). Das
ist nicht unmöglich, aber nicht besonders wahrscheinlich, weil Heinrich IV.,
in dessen Regierungszeit Walther vermutlich geboren wurde, in Wien
residierte, und nicht weit von dort (oder bei Klosterneuburg) wird der Herzog
wohl gejagt haben.
- Für die Interpretation von Walthers Dichtung ist gleichgültig, ob er bei Zwettl
oder Klosterneuburg oder Zeiselmauer oder Wien oder Mödling geboren ist.
Überraschen würde es, wenn man einen Beleg fände, dass er aus Würzburg
kam. Dort ist er vielleicht begraben, und dort gab es einen Vogelweidhof. Aber
der Sprache und den Gönnern nach ist Würzburg als Herkunftsort
unwahrscheinlich.
Unsinnig sind seit Budachs Publikation Versuche, die Südtirol-Theorie wieder
zu beleben. Walthers Sprache zeigt Eigenheiten des österreichischen
Donauraumes. So differenziert waren die Mundarten nicht, und lokalisierbare
schriftliche Zeugnisse haben wir nicht, dass man den Wortschatz eines
mittelalterlichen Zwettlers oder Wieners unterscheiden könnte. Lokalforscher
sind allerdings leicht beleidigt, wenn man sagt, dass es nicht interessiert, ob
Walther bei ihnen zu Hause war.
14
IV. „Rollendichtung“ und „Autobiografische Dichtung“
Im vorigen Abschnitt benutzten wir den Terminus „Rollendichtung“. Diesen Begriff
grenzen wir nun von „Autobiografischer Dichtung“ und ‚Erlebnisdichtung‘ ab:
Begriffserklärungen:
- Rollendichtung: Das ‚Ich‘ des Gedichtes ist eine literarische Figur (IchRoman; viele Gedichte), auch wenn der Autor diesem ‚Ich‘ Gefühle seines
eigenen Inneren unterlegt.
- Autobiographisch ist Dichtung, sofern man ihr die Biographie des Autors als
Grundgerüst unterlegen kann, auch, wenn der Autor nicht den Tatsachen
entsprechend berichtet.
- Mischformen: z. B. wenn der Autor Selbsterlebtes berichtet, sich aber hinter
einer literarischen Figur ‚versteckt‘ und in der 3. Person erzählt. Eine ‚IchDichtung‘ kann Rollendichtung sein und eine ‚Er-Dichtung‘ kann
Autobiographie sein.
Erlebnisdichtung:
Dieser Terminus passt für Dichtung der letzten zwei bis drei Jahrhunderte, die von
Erlebnissen bzw. Gefühlen des Autors beeinflusst wurde, aber nicht ‚Anlassdichtung‘
ist, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Wirkung erfüllen soll.
Walthers Begrüßungslied und der Tegernsee-Spruch sind für bestimmte Anlässe
konzipiert; Goethes ‚Willkommen und Abschied‘ gestaltet ein Lied nach der
Erlebnisrealität des Dichters.
„Lyrisches Ich“:
Die allgemeine Literaturwissenschaft benutzt den Ausdruck ‚Lyrisches Ich‘ für etwas,
das in Lyrik aller Zeiten vorkommen müsste. Das wäre das ‚Organisationszentrum‘
des Gedichts; es muss sich nicht in einem Personalpronomen niederschlagen.
Mittelalterliche Gattungen überschreiten oft unsere definitorischen Grenzen
zwischen Lyrik und Epik. Wann ein Gedicht der Lyrik angehört und wann der
Kurzepik, ist Definitionssache und manchmal Geschmackssache.
Anderseits ist das Rollen-Ich mittelalterlicher Lieder oft nicht mit dem
Organisationszentrum des Liedes identisch: in manchen Liedern kommen sogar zwei
und mehr ‚Ichs‘ vor, die sich in direkter Rede äußern.
In dem Lied „Under der linden“, gibt es nur ein Rollen-Ich, das Mädchen, aber das
Organisationszentrum des Liedes ist nach manchen Interpreten die Phantasie eines
Mannes, der von ihr träumt.
Daher benutzen wir ‚Erlebnisdichtung‘ und ‚Lyrisches Ich‘ für mittelalterliche
Dichtung am besten gar nicht. Das soll man nicht so missverstehen, dass einem
mittelalterlichen Dichter seine Gefühle nicht den Mund zu einem Lied öffnen konnten
wie in der ‚Geniezeit‘, aber das Verhältnis des Liedes zur Erlebnisrealität des Dichters
ist anders.
z.B. in Goethes ‚Willkommen und Abschied‘ heißt es „Schon stand im Nebelkleid die
Eiche, ein aufgetürmter Riese, da“.
Ein Germanist stellte einige Jahrzehnte später fest, dass auf dem Weg, den Goethe
von Straßburg zu seiner Friederike nach Sesenheim ritt, tatsächlich Eichen standen.
Das persönliche Erlebnis ist da direkt erkennbar. Im Minnelied ist kein persönliches
Erlebnis erkennbar.
15
Der mittelalterliche Ausdruck für „Erlebnisdichtung“:
Einen mittelalterlichen Ausdruck für ‚Erlebnisdichtung‘, haben wir nicht, nur den
für das Gegenteil:
Ulrich von Liechtenstein nennt die Lieder, in denen er die Liebe zu einer Dame
gestaltet, obwohl er zu dieser Zeit keine Minnedame hatte, wânwîsen
wân ‚ungewisse Hoffnung‘. - wîse ‚Melodie‘.
Da es für das Gegenteil von ‚Erlebnisdichtung‘ einen Ausdruck gab, scheint die
dichterische Fiktion davon auszugehen, dass im Normalfall das ‚Ich‘ der Lieder einen
Bezug zum Autor hat. Das heißt nicht, dass der Dichter öffentlich bekennt, dass er
mit der Dame des Hofes, für den er das betreffende Lied schreibt, ein heimliches
Liebesverhältnis beginnen möchte.
Die höfische Dichtung ist nie rein persönlich, sie schließt die
Gesellschaft mit ein, ist immer auch ‚Gesellschaftskunst‘.
Empathie:
„dass die Berufsschriftsteller etwas erfinden, während du, der du keiner bist, und
auch keiner zu sein verpflichtet bist, dich in deinem so genannten Roman damit
begnügt hast, dich selber und deine eigenen Gefühle und Ansichten zu Papier zu
bringen“
(Hugo von Hofmannsthal, Der Unbestechliche)
 Empathie:
Fähigkeit, Gefühle anderer nachzuempfinden.
Das Publikum schätzte zur Zeit Hoffmannsthals den Ausdruck eigener Gefühle
zu hoch an der Arbeit des Künstlers ein. Daher erteilt, wenn im Lustspiel eine
Figur der anderen eine Lehre erteilt, auch der Dichter Hoffmannsthal seinem
Publikum eine Lehre.
Unterschied: ‚Erlebnisdichtung‘ – ‚autobiographische Dichtung‘:
Bei Goethes ‚Willkommen und Abschied‘ hat man einen stärkeren Eindruck, wenn
man nicht daran denkt, dass die Gefühle auf einem tatsächlichen Ritt von Straßburg
nach Sesenheim auslösendes Moment waren.
Deshalb: ‚Erlebnisdichtung‘ statt ‚autobiographische Dichtung‘. Aber dass man den
direkten Bezug besser vergisst, bewirkt nicht, dass er nicht besteht.
‚Ideale Landschaft‘ in der Lyrik:
Dagegen ist die Linde aus Under der linden nicht der Baum, unter der Walther mit
seinem Mädchen lag oder gerne gelegen wäre, und soll auch keine ‚echte‘ Linde
vortäuschen. Sie ist ein literarisches Versatzstück.
- ‚Ideal‘ = ‚Darstellung einer Idee‘, nicht ‚besonders schön‘!
- ‚Versatzstück‘: Am Theater: bewegliche Kulisse, die man überall hinstellen
kann. Übertragen für Dichtung: Motiv, das in verschiedenen Gedichten als
Symbol gebraucht werden kann.
- Die Naturkulisse verweist auf Gefühle der Figuren; die Natur selbst ist nicht
von dichterischem Interesse. Wo eine literarische Figur lokalisiert wird, sagt
etwas über ihr Verhältnis zu sich selbst oder zur menschlichen Gesellschaft,
aber nicht über Natureindrücke des Dichters.
Das Rollen-Ich:
Das Rollen-Ich bezeichnen wir, je nachdem, als was es im Lied auftritt als „der
Sänger“, im Gegensatz zu Walther, wenn wir den historischen Walther meinen (bzw.
„die Dame“ im Gegensatz zu „Herzogin Helene“, „das Mädchen“, „der Bote“ usw.)
In manchen Minneliedern treten zwei „Ichs“ abwechselnd auf (z.B. eine Strophe
spricht der Sänger oder sein Bote, eine die Dame; bisweieln sind es sogar drei: Säger,
Bote und Dame) -> diese Form nennt man „Wechsel“.
16
V. „(Sang-)Spruch“ und „Lied“
‚Ton‘: nennt man, heute wie im Mittelalter,
- einerseits die Strophenform, in der einerseits alle Strophen eines Liedes stehen
(das dadurch als Einheit erkennbar ist),
- anderseits die Strophenform, in der eine Reihe von Sprüchen steht, die aber
alle als einzelne Gedichte zu verstehen sind.
Zwischen Spruchstrophen des selben Tones gibt es nur lose Anknüpfungen, z. B.
dass der Dichter zu einer Zeit eine bestimmte Form bevorzugt oder durch
Verwendung eines älteren Tones zeigt, dass es ein ähnliches Problem wie einst gibt.
Ein bekannter Spruchton ist der so genannte ‚Reichston‘, in dem die 3
‚Reichssprüche‘ gedichtet sind. Sowohl die Namen der Töne als auch der Gedichte
wurden erst im 19. Jh. geprägt. Im Mittelalter zitierte man nur nach Anfangszeilen.
Spruch: einstrophig – Lied: mehrstrophig.
Walthers ‚Alterston‘ bringt eine Auflösung dieses Gegensatzes: die Strophen sind
sowohl einzeln verständlich als auch als Lied anordenbar. Man kann aber nicht alle
Strophen jedes Spruchtones zu einem Lied vereinen. Man kann nicht einmal in allen
Fällen ähnliche Entstehungszeit wahrscheinlich machen. Wenn spätere Strophen
eines Tones ähnlichen Gegenständen gewidmet sind, soll ohne Zweifel das Publikum
eine Gedankenverbindung herstellen;
Hugo Moser prägte dafür den Terminus, ‚Strophenkreis‘.
Wir verwenden die Unterscheidung von ‚Lied‘ und ‚Spruch‘, beziehen sie aber auf ein
einziges, formales, Kriterium: die von uns angenommene Mehr- oder Einstrophigkeit.
Karl Simrock:
- „Lied nehme ich hier in dem heutigen Sinne, wo es ein lyrisches Gedicht
bedeutet“
- zu den Sprüchen: „Daß sie gesungen worden, ist allerdings wahrscheinlich ...
vielleicht wurden sie aber mehr recitativ oder parlando vorgetragen, so daß sie
wohl als Sprüche bezeichnet werden konnten.“
 Die Sprüche enthalten öfter unregelmäßig gefüllte Verse; das ist ein Indiz für
die Richtigkeit von Simrocks Meinung.
Lyrik – Kurzepik:
Nicht nur Simrock und seine Zeit behielten den Terminus ‚Lyrik‘ den Liedern vor.
Auch nach der Terminologie von Emil Staiger gehören Gedichte mit einer erzählenden
Handlung zur Kurzepik, nicht zur Lyrik.
Die mittelalterlichen Liedersammlungen mischen aber Lieder und Sprüche, so dass
die Mediävistik heute im Gegensatz zur allgemeinen Literaturwissenschaft den
Terminus ‚Lyrik‘ weiter fasst und alle sangbaren Texte, also auch die Sprüche ‚Lyrik‘
bezeichnet.
„sanc“ – Spruch:
An der Bedeutung der Unterscheidung in Lied und Spruch hat sich also viel geändert,
vor allem ist sie unwichtiger geworden. Manche glauben, diese Entwicklung auch in
einer Veränderung der Terminologie spiegeln zu sollen und ersetzen den Terminus
„Spruch“ durch „Sangspruch“, um dem Missverständnis vorzubeugen, die Sprüche
seien gesprochen worden.
Von Walther oder seinen Zeitgenossen besitzen wir keine auf große Unterschiede
hinweisende Terminologie: er scheint beides als „sanc“ (=Gesang) bezeichnet zu
haben.
17
Walther: „Wol vierzec jár hab ich gesungen oder mé von minnen und als imen sol“
(Wohl 40 Jahre oder mehr habe ich von Minne gesungen und davon, wie man sich
richtig verhalten soll)
 Ist hier und, in seiner Grundbedeutung, verbindende Konjunktion?
Dann sang Walther sowohl von Minne als auch als iemen sol wie jemand (sich
verhalten) soll‘; er teilt sein Schaffen rückblickend auf 2 Gattungen auf:
1. eine lyrische
2. eine lehrhafte.
‚Sanc‘ sind beide; das erkannte auch Simrock. Übersetzt man und mit ‚und
zwar‘, hieße es ‚ich habe von Minne gesungen, und zwar so, wie man soll (=
‚vorbildlich‘). Alle anerkannten Belege von und in der Bedeutung ‚und zwar‘
lassen syntaktisch nur diese Deutung zu: das Publikum muss erkennen, dass
nicht die Grundbedeutung des Wortes gemeint war. Jedes Wort, von dem der
Text kein Signal enthält, dass nicht die Grundbedeutung gemeint sei, ist in
der Grundbedeutung zu verstehen. Sprachliche Kommunikation wäre sonst
unmöglich. Daher ist die 1. Deutung wahrscheinlicher.
Leich:
=Lyrische Großform.
Walther dichtete nur einen Leich, wir werden seine Form erst bei der Besprechung
dieses Gedichtes behandeln.
Walthers Melodien:
Die ältesten Überlieferungen zum deutschen Minnesang sind ‚linienlose Neumen‘,
eine einfache Notenschrift, die jemandem zur Erinnerung des Melodieverlaufs dient,
der die Melodie kennt.
Zu einigen Texten Walthers sind in Handschriften späterer Jahrhunderte für uns
(halbwegs) lesbare Melodien überliefert, aber es sind kaum die originalen.
Es ist nur von einer ungefähr rekonstruierbaren Melodie eines Liedes Walthers
ziemlich sicher, dass sie original zu diesem gehört: vom Palästinalied. Gerade diese
scheint nicht von Walther komponiert zu sein, sondern ist wahrscheinlich eine
Melodie des provenzalischen Troubadours Jaufre Rudel, zu der Walther seinen Text
schrieb.
Das Verfassen eines neuen Textes zu einer Melodie eines anderen Autors nennt man
Kontrafaktur.
Da auch die Melodie Rudels erst 100 Jahre später schriftlich aufgezeichnet und bis
dahin nach Gehör überliefert wurde, ist nicht nachweisbar, ob die großen
Unterschiede der beiden Melodien darauf zurückgehen, dass Walther sich von der
älteren Melodie nur inspirieren ließ, oder dass Walther eine ‚zersungene‘ Fassung des
zu seiner Zeit 80 Jahre alten Liedes kennenlernte und sie genau übernahm.
Kanzonenform:
Die wichtigste von Walthers Strophenformen ist die Kanzone.
Der Aufbau ist dreiteilig:
- ‚Aufgesang‘ mit 2 ‚Stollen‘ (jeder Stollen enthält 2, selten 3 Verse)
- Abgesang (meist 2 – 5 Verse).
Beispiel für Kanzonenform: das Palästinalied (14,38)
a Nû alrêst lebe ich mir werde,
b sît mîn sündic ouge sihet
a daz hêre lant und ouch die erde
18
b
c
c
c
der man vil der êren gihet.
Nû ist geschehen des ich ie bat,
ich bin komen an die stat
dâ got mennischlîchen trat.
Aufgesang und Abgesang sind hier in mehrfacher Weise unterschieden:
1. Die beiden Stollen werden durch Reim, hier Kreuzreim (abab),
zusammengefasst, der Abgesang bringt einen neuen Reim, hier einen Dreireim
(ccc).
2. Der metrische Aufbau der Verszeilen ist unterschiedlich. Die beiden Stollen
sind mit folgender Betonung zu lesen:
19
Kadenz: Versschluss ab letztem Hauptton ( ´ ):
Kadenzen, in denen der letzte Hauptton im letzten Takt steht, sind die einsilbige
(‚männliche‘) und die zweisilbige (‚weibliche‘) Kadenz.
Kadenzen, in denen der letzte Hauptton schon im vorletzten Takt steht, nennt man
klingend.
20
Elision (Auslassung):
Nû lebe ich wird realisiert wie:
Nû leb‘ ich
Synalöphe (Verschmelzung):
sô ist – sôst
21
VI. Die Überlieferung
Sammlungen:
1. „Große Heidelberger Liederhandschrift“
o um/nach 1300 verfertigt
o Ist die umfangreichste Sammlung
o wurde möglicherweise für Rüdiger Manesse fertiggestellt
o wird in kritischen Ausgaben immer mit der Sigle C bezeichnet
o enthält 440 Strophen Walthers und den Leich.
o sie benutzte die heute verlorenen Sammlungen *AC *BC *CE.
2. „Kleine Heidelberger Liederhandschrift“
o stammt noch aus dem 13. Jahrhundert (1270-1280?)
o Sigle A
o enthält ca. 180 Strophen Walthers
3. „Weingartner Liederhandschrift“
o entstand um 1300
o Sigle B
o enthält ca. 112 Strophen Walthers
4. „Heidelberger Spruchdichter-Handschrift“ (um 1300)
o Sigle D
o Enthält nur 12 Sprüche und 6 Liedstrophen Walthers, dafür
o sehr sorgfältig und aus einer erstklassigen, alten Quelle abgeschrieben
(man hielt daher früher D für noch älter als A, aber D hat modernere
Buchstabenformen)
5. „Würzburger Liederhandschrift“
o entstand um ca. 1350
o ist das „Hausbuch“ des Würzburgers Michael de Leone
o Sigle E
o Enthält 212 Strophen Walthers, es fehlen jedoch leider viele Blätter
6. „Carmina Burana“
o Entstand wahrscheinlich um ca. 1230
o Sigle M
o Enthält lateinische Lieder, wenige gemischt lateinisch-deutsche; dazu
einige deutsche Strophen (darunter 3 Walthers) als Melodieinformation
zu lateinischen Kontrafakturen
7. „Münster’sches Fragment“
o Entstand in der Mitte des 14. Jahrhunderts
o Enthält nur ein Doppelblatt einer sonst verlorenen Handschrift
o Sigle Z
o Älteste Noten auf Notenlinien, aber ohne Rhythmusangabe, zu Walther
o Ausschnitt zeigt den Anfang des Palästinaliedes.
22
Beispiel für die verschiedenen Siglen:
Nû lebe ich mir alrêst werde M
Nû alrêst lebe ich mir werde A
Alrêst lebe ich mir vil werde B
Alrêrst lebe ich mir werde C
Nû alrêst leb ich mir werde Z
Alrêrst siche ich mir werde E
Außer dass E den Fehler siche für lebe enthält, könnte jede Fassung dieser Zeile die
originale Walthers sein. Die älteste Fassung, M, ist nicht zuverlässiger als die
jüngeren. Daher versucht man in modernen Ausgaben nicht, zeilenweise Walthers
Wortlaut zu rekonstruieren, sondern folgt jeweils für ein ganzes Lied einer
‚Leithandschrift (für das Palästinalied am besten A).
23
VII. Lyrik in Wien um 1190
Der Beginn von Walthers Wiener Zeit liegt für uns im Dunkeln; sicher Bescheid
wissen wir über ihr (vorläufiges) Ende. Walther dichtete 1198 seinen ersten exakt
datierbaren Spruch:
Walthers ältester datierbarer Spruch:
Übersetzung:
Als es Friedrich von Österreich so erging, dass er an der Seele gesund wurde und ihm
der Leib dahinstarb, da nahm er die Schritte meiner Kraniche ins Grab mit. Ich
schlich überall wie ein Pfau einher, das Haupt ließ ich bis an die Knie hinab hängen.
Nun richte ich es wieder stolz empor. Ich habe eine gastliche Feuerstatt gefunden,
denn das Reich und die Krone haben mich bei sich aufgenommen. Wohlauf, wenn
jetzt jemand nach meiner Geige tanzen will ich bin meinen Kummer los, jetzt erst will
ich gerade gehen und wieder zu einer hochgemuten Stimmung aufsteigen.
Interpretation:
Der Tod Herzog Friedrichs I. (April 1198, auf der Rückkehr vom Kreuzzug) ist somit
Thema des ersten datierbaren Walthergedichts.
Durch den allen Kreuzzugsteilnehmern garantierten vollständigen Ablass ist
Friedrichs Seele im Himmel. Davor lag anscheinend eine glückliche Zeit am
Herzogshof in Wien, dann erneuerte der Bruder und Nachfolger Friedrichs I., Leopold
VI., das Engagement offensichtlich nicht. Große Trauer um Friedrich ohne
Erwähnung des Nachfolgers muss bedeuten, dass Walther auf Leopold schlecht zu
sprechen war.
Walther scheint nicht lange umhergezogen zu sein, bis er wieder einen warmen Herd
(= ‚fixes Engagement‘), fand. Der Dienstgeberwechsel bedeutet einen Aufstieg: Reich
und Krone, also König Philipp, sind seine neuen Herren. Der Optimismus der
Sprüche der ersten Zeit in Philipps Dienst zeigt, dass Walther nicht ahnte, dass dem
Aufstieg wieder Rückschläge folgen und er bei Leopold VI. Zuflucht zu suchen
gezwungen sein würde, obwohl er anscheinend wusste, dass er bei diesem schwer
Zuneigung finden konnte.
Was an Dichtung Walthers könnte nun vor der großen Cäsur in seinem Leben, dem
Tod Friedrichs, entstanden sein? Der berühmteste Lyriker vor Walther war:
Reinmar von Hagenau:
In den Liedersammlungen heißt er Reinmar und auch Walther spricht ihn so an. „die
nahtegal ze Hagenouwe“ sagt Gottfreid von Straßburg zum besten Lyriker, nach
dessen Tod nun Walther der beste sei. Daraus konnte man seinen Namen
rekonstuieren: Reinmar von Hagenau. Aus Hagenau im Elsass (heute: Frankreich)
kommt also der Dichter, der nach Wien kam.
Reinmar war anscheinend um 1195 ‚offizieller‘ Wiener Hofdichter und sollte die
höfische Kultur aus dem romanisch beeinflussten Westen an den Wiener Hof bringen:
Zu Silvester 1194 starb Leopold V. in Graz (Unfall beim Weihnachtsturnier). Die
Leiche wurde nach Heiligenkreuz im Wienerwald überführt (wohl erst nach der
Schneeschmelze am Semmering). Anscheinend zur Beisetzung dort verfasste
Reinmar die der Witwe in den Mund gelegte ‚Witwenklage‘. Eine so ehrenvolle Aufgabe
übertrug man sicher nicht irgendeinem zufälligen Gast. Wo Reinmar sonst noch
gewirkt haben könnte, wissen wir nicht, da die „Witwenklage“ das einzige seiner
Lieder mit einem Ortsbezug ist.
24
Wenn Walther dichten lernte: was kann er von Reinmar gelernt haben?
Reinmar nennt seine größte (nicht einzige) Spezialität: das ‚schöne Trauern‘.
Eines seiner am häufigsten zitierten Strophen:
Übersetzung:
„Nur in dem einen und weiter nichts will ich Meister sein so lang ich lebe; von dem
einen Ruhm will ich, dass er mir bleiben möge; und dass mich alle wegen der Kunst
rühmen, dass niemand sein Leid so schön tragen kann (wie ich). Wenn eine Frau an
mir das vollbringt, dass ich weder Nacht noch Tag schweigen kann, so habe ich doch
eine so sanftmütige Gesinnung, dass ich weder Nacht noch Tag schweigen kann, so
habe ich doch eine so sanftmütige Gesinnung, dass ich ihren Hass in Freude für
mich verwandle. Oweh, wie schmerzvoll das doch für mich ist!“
Interpretation:
Dieses schöne Trauern drückt den Widerspruch aus zwischen dem Gefühl, das die
Gesellschaft fordert und dem Gefühl, das dem Fehlenden unöffentlich gehört.
Walther benutzt dazu die traditionellen Formen des Botenliedes und der
Minneklage.
Lieder Walthers in Reinmars Stil:
Sichere Fakten sind:
- Walther war vor 1198 am Wiener Hof, bei Friedrich, engagiert,
- das einzige Lied Reinmars, das einen Hinweis auf den Entstehungsort enthält,
ist die im Frühjahr 1195 verfasste ‚Witwenklage‘ auf den Tod Leopolds V.
- Walther schrieb einige Lieder im Stil Reinmars.
- Die Annahme liegt nahe, dass es Jugendlieder Walthers sind.
Beispiele:
Im ersten der beiden folgenden Lieder spricht ein Bote, der die Worte des Liebenden
der Dame überbringt. Die Figur des Boten dient im Minnesang dazu, die Distanz
zwischen den Liebenden zu symbolisieren – es besteht kein direkter Kontakt
zwischen Ritter und Dame.
Im zweiten reflektiert der Liebende über seine Trauer.
Übersetzung:
1. „Herrin, hört mir um Gottes willen folgende Nachricht an: ich bin ein Bote und
soll Euch berichten, dass Ihr einem Ritter seinen Liebesschmerz nehmen sollt,
der schon lange daran trägt. Das soll ich Euch mit folgenden Worten sagen:
wenn Ihr ihm Freude schenken wollt, werden davon sicher viele Menschen von
Herzen froh.“
2. „Herrin, entscheidet Euch doch dazu, und schenkt ihm frohe Stimmung.
Davon könnt Ihr selbst profitieren und alle, die auch gerne froh sind. Dadurch
kommt er in eine Stimmung, dass er, wenn Ihr ihn froh macht, Eure Ehre und
Euren Wert besingt.“
3. „Aber ich könnte mich nicht gut auf ihn verlassen, dass er auf sich aufpasst.
Neben allen Straßen gehen krumme Wege. Vor denen, Gott, mögest du mich
behüten. Ich werden den rechten Weg gehen, dem leide, der mich etwas
anderes einreden will. Wohin ich mich auch wende, möge Gott mich
beschützen“
4. „Herrin, schickt ihm eine frohe Stimmung, denn von Euch hängt seine Freude
ab. Er könnte aus Eurer Güte großen Nutzen ziehen, denn die ist mit Tugend
und Ehre verbunden. Herrin, gebt ihm freudige Gesinnung. Wenn Ihr wollt, so
schlägt seine Trauer ins Gegenteil um, sodass es erzieherischen Einfluss auf
ihn ausübt, das Beste gerne zu tun.“
25
Interpretation:
Das Lied handelt nur einen Gedanken ab: dass der Dichter die Liebe der Dame
braucht, um die Gesellschaft durch seine Kunst erfreuen zu können. Es gilt daher
für schwach, vielleicht für eines der ersten Walthers.
Doch beherrscht er schon rhetorische Kunstgriffe: zweimal setzt der Bote an und sagt
bei der Wiederholung nicht mehr als beim ersten Mal. Trotz oder wegen des
Persistierens gelingt die Überredung nicht: die Dame erteilt eine Abfuhr. Noch ein
drittes Mal versucht es der Bote. Ohne Antwort darauf schließt das Lied. Für
Publikum, das betrogen werden will, die vage Möglichkeit eines Happyends, für
wissendes Publikum der Eindruck: die letzte Strophe des Boten bleibt ungehört im
Raum.
Der Schlusseffekt funktioniert vielleicht noch nicht ganz. Der Grund, den der Bote
angibt, erscheint in Walthers späterem Minnesang: wenn die Dame den Sänger
erhört, wird er aus Freude Lieder schaffen, die sie und alle Mitglieder der Gesellschaft
erfreuen. Das kann nicht Grund für die Dame sein, eine Liebesbeziehung einzugehen
– sie ist im Recht, wenn sie sich nicht erpressen lässt.
Nicht nur Reinmar, auch Walthers Bote ist also Gegenstand von Wolframs Kritik, der
spottet:
Übersetzung: „Wenn mich eine wegen meines Sanges liebt, so dünkt sie mich
schwach von Verstand.“
Jugendlied Walters im Stile Reinmars:
Übersetzung:
1. „So mancher fragt mich, worüber ich klage, und sagt gleichzeitig, dass es nicht
vom Herzen kommt. Der verschwendet seine Zeit denn er hat noch nie von
richtigem Liede Freude oder Leid erfahren. Deswegen ist er unglücklich. Wenn
jemand bedenkt, was die Minne bewirken kann, der ließe mein Lied gelten.“
2. „Das Wort „Minne“ kennen alle, aber leider handeln nicht alle ihr gemäß. Das
ist ebenso. Minne ist ein Hort aller Tugenden: ohne Minne wird kein Herz je
richtig froh. Frau Minne, macht auch mich froh, weil ich daran glaube. Mich
schmerzt es, wenn meine Hoffnung getäuscht wurde.“
3. „Meine Hoffnung ist, dass die, der ich wirklich treu bin und die ich gern habe,
es mir auch ist. Wenn ich mich darin täuschen sollte, so habe ich nur
Hoffnung ohne Freude. Nein, lieber Gott“ Sie ist so gut, dass sie mir alles Gute
tun wird, wenn sie in ihrer Güte erkennt, was ich wirklich empfinde.“
4. „Wüsste sie meinen guten Willen, dann würde sie mir auch alles Liebe und
Gute gewähren. Wie könnte das aber jetzt wahr werden, wo es üblich ist, dass
man falsche Minne mit so süßen Worten begehrt, dass eine Frau nicht
erkennen kann, wer es ehrlich mit ihr meint. Dieser Jammer allein ist es, der
mir viele sorgenvolle Tage bereitet.“
5. „Da, der als erster eine Frau betrog, der hat sich an Männern und Frauen
gleicherweise versündigt. Ich weiß nicht, wozu die Liebe noch gut sein soll, seit
sich nicht einmal mehr ein Freund vor dem Betrug durch einen Freund
schützen kann. Herrin, ich wünsche Euch Glück! Schenkt mir huldvoll einen
Gruß, wie er einem Freund vom Herzen kommt.“
Dieses Lied nimmt Themen Reinmars, aber auch die von Heinrich von Morungen auf.
Heinrich von Morungen hatte gedichtet:
Übersetzung: „Mancher, der sagt: „Nun seht wie der singt, wenn er Leid hätte, würde
er anders handeln als so“, der weiß offensichtlich nicht, welche Art von Leich mich
(zu singen) zwingt.“
26
VIII. MF 214,34 – Walther oder Hartmann?
Die Überlieferung dieses Liedes (MF= Minnesang Frühling) ist kompliziert; eine
akzeptable Erklärung gab Hermann Paul. Es hat 5 Strophen und ist in 4
Handschriften (A, C, E, s) zum Teil unter 2 Namen überliefert: Hartmann und
Walther.
A Hartmann von Aue, Str. 1. – 3.
C Hartmann von Aue, Str. 1. – 3.
C Walther, Str. 4.
E Walther, Str. 1. 2. 3. 5. Einige Str. später Nachtrag: 4.
s Walther, nur Str. 5.
Rekonstruierbare Quellen: *AC, *Es *CE4
*AC Hartmann, *Es Walther, *CE4 Walther.
3 Deutungsmöglichkeiten:
- das Lied stammt als ganzes von Hartmann
- das Lied stammt als ganzes von Walther
- Strophe 1 - 3 stammen von Hartmann, 4 und 5 wurden von Walther
hinzugedichtet.
Es gibt kaum Textvarianten zwischen A und C in Str. 1-3. A und C gehen also hier
auf eine gemeinsame Quelle *AC zurück, die es Hartmann zuschrieb. Die anderen
Quellen schrieben es Walther zu.
Wenn man meint, dass die Strophen dieses Liedes so eng zusammengehören, dass
das ganze Lied (ein Wechsel) einem einzigen Autor zugeschrieben werden muss, ist
Walther der Vorzug zu geben.
Übersetzung:
1. „Dir hat, edle Herrin, ein Ritter seine Dienste anbieten lassen, der dir das wohl
gönnt und der von Herzen gerne sein Bestes gibt. Der wird um deinetwillen
ganz im Vertrauen auf deine Huld diesen ganzen Sommer lang hochgemut
sein. Nimm dieses Angebot liebenswürdig an, damit ich mit guter Nachricht
zurückkehre: dann werde ich dort willkommen sein.“
2. „Bote, du sollst ihm meine Ergebenheit ausdrücken, und dass alles Liebe, das
ihm widerfahren mag, niemanden mehr freuen könnte, der ihn so wenig kennt.
Und bitte ihn, dass er sich in seinem Stolz an jemanden wenden möge, der
bereit ist, ihn zu belohnen: ich bin eine Frau, die ihm viel zu fern steht, als
dass ich solchen Worten mein Ohr leihen dürfte. Wenn er aber sonst
irgendeinen Wunsch hat, so erfülle ich ihn ihm, denn er ist dessen wert.“
3. „Mein erstes Lied, das sie je vernommen hatte, hatte sie so aufgenommen, dass
es mich gut dünkte, so lange bis sie mich ganz an sich gefesselt hatte. Da aber
befiel sie sofort eine andere Gesinnung. Ich kann von ihr nicht loskommen,
wie gerne ich es auch möchte. Die große Liebe hat so sehr zugenommen, dass
sie mich nicht mehr freilässt. Ich werde immerdar ihr Eigentum bleiben. Was
auch geschehen mag: dazu bin ich entschlossen.“
4. „Nachdem ich nun mein Leben lang ihr Eigenmann sein soll und es in ihrer
Macht steht, mich für all den Kummer zu entschädigen, den ich um ihretwillen
erlitten habe und immerfort weiter erleiden werde, und weil mich niemand
trösten kann, wenn sie es nicht tut, so soll sie meinen Dienst annehmen und
dabei mir so ihren Schutz angedeihen lassen, dass sie ihre Verpflichtungen
mir gegenüber nicht vernachlässige.“
5. „Wer sagt, dass Minne Sünde sei, der soll sich das vorher gut überlegen. Sie
ist mit viel Ehre verbunden, in deren Genuss man mit Rechte kommen soll,
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und ihr folgt sehr beständiges Glück. Jedwede Missetat kränkt sie. Ich meine
nicht die falsche Minne, die man bessere Unminne nennen sollte, die werde
ich immer hassen.“
Walther kannte, wie aus Anspielungen in anderen Liedern hervorgeht, die Lieder
Hartmanns gut. Aber dieses ist mehr mit Reinmar verwandt: das Bestehen auf dem
Minnedienst, auch wenn er einseitig bleibt, und die Forderung an die Dame, den
Dienst anzunehmen, ist nicht Hartmann, sondern das, was der junge Walther von
Reinmar lernte.
- Die 3. Strophe lässt den Ritter als willenlosen Minnegefangenen erscheinen.
Eine so zwanghafte Liebe findet sich bei Hartmann nicht.
- Strophe 1, 3 und 4 sind durch gemeinsame Reime zusammengekettet.
- Strophe 2 und 5 beziehen sich auf das Reinmar-Lied MF178,1, in dem die
Dame zum Boten des Ritters spricht:
Übersetzung:
1. „Lieber Bote, tu nun folgendes: geh schnell zu ihm und sage ihm folgendes:
wenn es ihm gut geht und er froh ist, so macht es mir Freude. Sag ihm mir
zuliebe, dass er nie wieder etwas tun möge, weswegen ich ihm den Laufpass
geben müsste.“
2. „Wenn er fragt, wie es mir geht, so sag, dass ich in Freuden lebe. Wo immer
du kannst, bringe ihn von seinem Ziel ab, damit er mich mit seinen Worten
verschont. Ich bin ihm von Herzen zugetan und säge ihn noch lieber als das
Tageslicht. Das darfst du ihm aber ja nicht sagen.“
3. „Bevor du ihm jemals verrätst, dass ich ihm hold bin, so sieh zu, dass du ihn
zuerst genau auskundschaftest, und vernimm, was ich dir sage: wenn aber er
es ehrlich mit mir meint, dann sag all das, was ihm zur Freude verhelfen
könnte und für mich ehrenhaft ist.“
4. „Wenn er sagt, dass er zu mir her will, so bitt ihn – ich werde es dir immer
lohnen-, dass er die Worte zurücknehmen soll, die er jüngst sprach, ehe ich
ihn wieder ansehe. Weh warum will er mir das zumuten, das ich doch sicher
nie tun will?“
5. „Das, was er begehrt, das ist der Tod und bringt viele ins Verderben. Die
Frauen macht es abwechselnd bleich und lässt sie erröten. Minne nennen es
die Männer, obwohl es besser Unminne hieße. Weh dem, der als erster damit
begonnen hat.“
6. „Mir ist leid, dass ich darüber so viel reden musste, denn ich habe bisher noch
nie solchen Kummer erlitten wie den, den ich jetzt heimlich bei mir trage. Aber
du darfst ihm niemals nichts von dem verraten, was ich dir erzähle“
Interpretation:
Die Situation in Walthers Lied spiegelt die des Reinmar’schen; sie spielt es weiter.
Unminne setzt schon Reinmars Dame von richtiger Minne ab. Das vert er wol und
ist er vrô wird fast wörtlich wiederholt. Reinmars des er gert, daz ist der tôt meint,
die Liebe ist Todsünde und veranlasst Walthers Sänger zum Ausruf ‚kann denn Liebe
Sünde sein?‘
Innerhalb des ‚Walther‘-Liedes wird der Satz ‚die Liebe ist Todsünde‘ nicht
gesprochen. Wir müssen annehmen, dass das Publikum das Reinmar-Lied noch in
den Ohren hatte, wenn es die letzte Strophe von Walthers Lied als zu den ersten vier
gehörig erkennen sollte. Das kann von Hartmanns Publikum, der sich nie auf
Reinmar bezieht, nicht angenommen werden; das verweist auf Walthers Lehrjahre
am Wiener Hof.
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Hat Walther durch seine Fortsetzung eines Reinmar-Liedes hier eine
gegnerische Stellung bezogen?
Nein. Es beleuchtet dieselbe Szene aus dem Gesichtswinkel des Mannes, aber ein
programmatischer Gegensatz zwischen Walthers und Reinmars Lied besteht nicht.
Es ist ein Gegenstück – es zeigt die Argumente des Sängers, wie Reinmar die der
Dame –, keine Widerlegung. Der Zentralsatz ‚Kann denn Liebe Sünde sein?‘ ist schon
bei Reinmar vorbereitet. Genau wie bei Reinmar spricht die persönliche Dame des
Sängers. Es ist nicht in die Zeit einzureihen, da Walther seine eigene
Minnekonzeption entwickelt hatte und sich gegen den Lehrmeister richtete, sondern
in seine Lehrzeit.
Man muss zu Reinmars Ehre festhalten, dass die Gegenposition des Mannes schon
durch die abwehrenden Worte der Dame durchscheint. Dadurch und durch die
verzweifelten Widersprüche, in die die Dame sich hineinredet, gewinnt Reinmars Lied
Lebendigkeit. Es muss auf der Höhe seiner Schaffenskraft entstanden sein.
29
IX. Walthers Tagelied (L 88,9)
Die frühere Minnedichtung hatte oft die Erhörung des Liebhabers thematisiert. Eine
Gattung, in der dieses Erlebnis gestaltet wird, ist das Tageslied. Der provenzalische
Name dieser Gattung ist „alba“ (Morgendämmerung).
Inhalt:
- Es beschreibt den Schmerz der Liebenden, die sich nach einer heimlichen,
verbotenen Liebesnacht im Morgengrauen trennen müssen.
Figuren der Tagelieder:
- Das Liebespaar
- Der Wächter, wahtære, der im Interesse des Liebespaares wacht und mahnt,
das Stelldichein zu beenden
- Die Aufpasser, merkære, die verhindern sollen, dass die Frau unerlaubte
Besuche bekommt.
Meister des deutschen Tagelieds:
Wolfram von Eschenbach
Übernahme ins Drama:
Shakespeare, Romeo und Julia.
Übersetzung von Walthers Tagelied:
1. „Liebend lag ein stolzer Ritter am Arm einer Dame. Er erblickte den hellen
Morgen, als er ihn von fern durch die Wolken scheinen sah. Die Dame sprach
in ihrem Schmerz:
„Verflucht seist du, Tag, weil du mich nicht länger bei meinem Geliebten
bleiben lässt. Das, was man Liebe nennt, das ist nichts als Liebesschmerz.“
2. „Meine Freundin, du sollst dein Trauern lassen. Ich werde jetzt von dir
Abschied nehmen. Das ist gut für uns beide. Der Morgenstern hat herinnen
alles hell gemacht.“
„Mein Freund, nun tu das nicht, hör auf so zu reden, damit du mir nicht das
Gemüt schwer machst. Wohin hast du es so eilig? Das ist nicht schön von dir.“
3. „Meine Herrin, nun sei es, ich werde noch länger bleiben. Nun sag mir schnell
alles, was du willst, damit wir unsere Aufpasser wieder betrügen, wie bisher.“
„Mein Freund, das tut mir weh. Bis ich wiederum bei dir liegen kann, muss
ich leider allzu großen Kummer tragen. Nun bleib mir nicht allzu lange fern,
das wünsche ich mir.“
4. „Dieser dein Wunsch wird so in Erfüllung gehen, dass ich es nicht kann, wenn
ich dir, Herrin, einen Tag lang fernbleiben muss: dann kommt mein Herz
trotzdem nie von dir los.“
„Mein Freund, tu, was ich sage: du sollst mich bald wieder aufsuchen, wenn
du mir aufrichtig und beständig treu bist. Weh, was für ein Anblick! Jetzt
erblicke ich den Tag!“
5. „Was habe ich davon, dass jetzt Sommer ist, wenn ich nun fort soll? Liebste
Freundin, davon habe ich genau so wenig Freude wie die Vöglein von den
kalten Wintertagen.“
„Freund, das ist genau das, was auch ich beklage und was mir andauernde
Not bedeutet. Fürwahr, ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand andauern
wird, dass ich dich entbehren muss. Nun, bleib doch noch eine Weile liegen,
das wäre das beste, was du je tun könntest.“
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6. „Meine Herrin, es ist an der Zeit. Befiehl mir, dass ich fort darf. Ich mache es
wirklich nur um deiner Ehre willen, dass ich fortstrebe. Der Wächter hat schon
begonnen, laut Tagelieder zu singen. Freundin, was kann man dagegen tun?“
„Da muss ich dir nachgeben. O weh, dass ich dir erlaube, fortzugehen“ Der,
von dem ich die Seele habe, soll dich beschützen.“
7. Der Ritter schied von dannen. Da litt er an Liebesschmerz, und auch die
schöne Dame ließ er weinend zurück. Doch vergalt er ihr mit Treue, dass sie
so nahe bei ihm gelegen war.
Sie sprach: „Wer jemals die Gewohnheit hatte oder hat Tagelieder zu singen,
der will mich, wenn der Morgen kommt, traurig machen. Nun liege ich ohne
meinen Geliebten recht wie eine Frau da, die Liebesschmerz erleidet.“
Interpretation bzw. Datierung:
Die Thematik dieses Tagelieds entspricht der bei Wolfram von Eschenbach. Die
Situation und das Personeninventar des Tageliedes sind vorgegeben; Variation ist nur
durch das Eingehen auf verschiedene Facetten des Charakters der beiden Liebenden
möglich. Hier geschieht das dadurch, dass die sehnsuchtsvoll zurückbleibende Frau
allmählich in den Mittelpunkt rückt, wie es im donauländischen Minnesang eine
Generation vor Walther üblich war. Wolfram drückt im ‚Parzival‘ aus, sich nach einem
Misserfolg als Lyriker der Epik zugewandt zu haben; seine Tagelieder scheinen alle
noch vor dem Beginn der Arbeit am ‚Parzival‘ (ca. 1200?) entstanden zu sein. Den
möglichen Vorbildern nach könnte daher Walthers Tagelied ein Frühwerk sein. Die
komplizierten Reimentsprechungen erinnern anderseits an Walthers Spätwerk. Eine
eindeutige Datierung von Walthers Tagelied ist daher nicht möglich.
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X. Die Fehde mit Reinmar
Während über die frühesten Lieder Walthers ansonsten weitgehend Einigkeit besteht,
weil die Vorbilder klar zu erkennen sind, ist die weitere Chonologie schwer
herzustellen. Irgendwann muss es dazu gekommen sein, dass Walther mit seiner
eigenen, neuen Minnekonzeption gegen Reinmar auftrat, und der literarische Teil der
Walther-Reinmar-Fehde begann. Der menschliche Teil der Fehde ist uns nur durch
Walthers Nachruf auf Reinmar überliefert, der zeigte, dass Walther nicht einmal dem
Toten verzeihen konnte; inwieweit der menschliche Zwist die „Dichterfehde“ zur
Ursache hatte oder andere Gründe, wird uns immer verborgen bleiben. Walthers
Abschied von Wien scheint mehr durch die Abneigung des neuen Herzogs Leopold
VI. oder dem als durch die Reinmarfehde bedingt zu sein.
Am klarsten ist für uns die literarische Fehde Walthers gegen Reinmar, in der Walther
seine neue Dichtungskonzeption vorstellt und sich über Reinmars Fehltritte lustig
macht.
Übersetzung Reinmars Lied:
„Was auch immer in der Welt mir zu Liebe geschehen könnte, das hängt von ihr allein
ab. Denn niemand anderem will ich es verdanken. Sie ist mein Ostersonntag und ich
habe ie von Herzen lieb. Das weiß er wohl (Gott), dem ich nicht lügen kann.“
Der Vergleich mit dem Ostersonntag stammt von Heinrich von Morungen und
verändert das Lied entscheidend.
Übersetzung von Heinrich von Morungen:
„Ich habe so viel gesprochen und gesungen, dass ich von der Klage müde und heiser
bin.“
 Bei Morungen führt das Nichterhörtwerden dazu, dass die Dichtung des
Sängers schlechter wird:
Reinmar übertrumpft das durch Ästhetisierung dieser Klage mit seinem ‚schönen
Trauern‘. Im folgenden Lied tritt er aber in ein Fettnäpfchen:
Übersetzung:
1. „Ich werbe um das Höchste, das ein Mann für irdische Freude bedarf
entspricht. Wenn ich sie so lobbe, wie man die Damen anderer, dass sie nie
eine Fußbreit vom Pfad der weiblichen Tugenden abwich. Damit seid ihr (die
anderen Dichter) mattgesetzt.
2. Und wenn mir der Leib in seiner Schlechtigkeit und Unbeständigkeit rät, sie
zu verlassen und mir eine andere Frau zur Freundin zu nehmen, dann will
aber das Herz nirgendwohin anders als dorthin. Wohl ihm, dass es sich so gut
versteht, richtig zu wählen und dass es mir diesen süßen Schmerz gönnt! Ich
habe mir doch eine Frau auserkoren, der ich zum Dienst geboren sein will,
selbst wenn mir die ganze Welt dafür zürnte.
3. Und wenn mein Glück mir vergönnt, dass es mir gelingt, von ihrem
wohlredenden Mund ein Küsschen zu stehlen, und wenn Gott gibt, dass ich
es fortbringen kann, so will ich es heimlich bei mir tragen und immer
verheimlichen. Wenn es aber so kommt, dass sie das für eine große
Beleidigung hält und mich um meiner Missetat willen hasst, was tu ich
Unglückswurm dann? Dann nehme ich es doch und trage es dorthin zurück,
wo ich es hernahm. Darauf verstehe ich mich wohl.
4. Sie ist mir lieb, obwohl sie sich, wie ich vermute, überhaupt nicht für mich
interessiert. Was machts? Das erdulde ich: ich habe ihr immer aufrichtige
Treue gehalten. Was, ob vielleicht ein Wunder an ihr geschieht, und sie sieht
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mich noch einmal gern? Dann überlasse ich es jedem neidlos, zu behaupten,
er habe mehr Freuden erreicht. Der soll bei seiner Meinung bleiben.
5. Die Jahre, die ich noch zu leben habe, wie viel derer auch wäre, kein Tag davon
würde ihr weggenommen. So ganz und gar bin ich ihr Untertan, dass ich nicht
schmerzlos aus ihrer Gnade kommen könnte. Ich freue mich darüber, dass
ich ihr andauernd dienen werde. Vielleicht belohnt sie mich noch, glaubt mir
etwa, wenn ich ihr sage, welche Not ich andauernd im Herzen trage.“
Auf wen bezieht sich die letzte Zeile der ersten Strophe „damit seid ihr mattgesetzt“?
Reinmar meint wohl die Kritiker, die seine Dame verächtlich machen wollen.
Walthers Antwort ist das einzige Gedicht mit einer Überschrift. Diese kennzeichnet
es als Parodie: es ist in dem ‚Ton‘ (der Melodie) von Reinmars Lied zu singen: „In dem
dône ‚Ich wirbe um allez, daz ein man‘“
Übersetzung:
1. „In der Melodie von „ich wirbe um allez daz ein man“. Jemand steigert ohne
die Zustimmung des Schiedsrichters zu finden in einem Spiel, so hoch, dass
niemand mit ihm mithalten kann. Er sagt jedesmal, wenn er eine (bestimmte)
Frau sieht, sie sein Ostertag. Wie stünde es mir uns anderen, wenn wir ihm
alle zu stimmten? Ich bin derjenige, der dagegen Einspruch erheben muss:
besser wäre der freundliche Gruß meiner Dame. Damit ist das Matt abgewehrt.
2. Ich bin bis jetzt eine ehrenhafte, beständige und dabei auch wohlgemute Frau
gewesen. Deshalb traue ich mir auch weiterhin zu, gut davonkommen zu
können, ohne dass mir jemand mit einem solchen Diebstahl einen Schaden
antut. Wer aber hier ein Küsschen von mir erlangen will, der soll mit Anstand
auf andere unterhaltsame Weile um es werben. Wenn er sich aber vorher holt,
so soll er für immer ein Kussdieb an mir bleiben, und er soll es sich behalten
und es anderswo hinlegen.“
Ist „mîner vrouwen“ Genetiv oder Dativ?
In der Minnelyrik ist der Gruß der Dame wichtiger als der Gruß an die Dame. Wenn
die häufigere Konstruktion eines Verbs (hier der Genitiv) einen naheliegenden Sinn
gibt, ist nicht zu erwarten, dass das Publikum nach ferner liegenden
Verständnismöglichkeiten sucht.
Gegenübergestellt werden:
- die Dame Reinmars und ihre unmäßige Forderung,
- die Dame Walthers und ihr freundlicher Gruß.
Damit ist das Matt abgewehrt: Reinmars Sänger klagt, dass er von seiner Dame nie
einen freundlichen Gruß erhält; den zu erhalten wäre besser als zu behaupten, sie
würde so schlechte Gedichte wie die von Reinmars Gegnern nicht akzeptieren.
Wie kann das Publikum von Walthers Lied erkennen, dass „mates buoz“ (das
Matt ist abgewehrt) sich auf Reinmars Mattansage bezieht?
Nur, wenn es Reinmars Lied gut kennt. Die ‚Fehde‘ wurde bei literarisch
Interessierten sicher bald überregional bekannt, aber beim ersten Vortrag Walthers
funktionierte es wohl nur, wenn das Publikum erst vor Kurzem Reinmars Lied gehört
hatte. Das wäre am leichtesten möglich, wenn beide zugleich in Wien wirkten.
Übersetzung von Reinmars Antwort:
1. „Wieso soll das eine Anmaßung sein, wenn ich geschworen habe, dass sie mir
lieber sei als alle (anderen) Frauen? Von dem Eid lasse ich nie auch nur um
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Haaresbreite ab und dafür setze ich ihr mein Leben zum Pfand. Ich will so
leben, wie sie es mir befiehlt. Ich habe noch nie eine gesehen, die mich in eine
so hochgemute Stimmung versetzen kann.
2. Grober Spott trifft mich täglich: sie sagen, dass ich zu viel von ihr rede, und
dass die Liebe zu ihr, die ich besinge, eine Lüge sei. O weh, warum ist es nicht
genug, wenn ich schon den Schaden habe? Könnte doch mancher von ihnen
so handeln wie ich und hielte seine Geliebte hoch und ließe mich meine Dame
loben.
3. Was ich alles an bösen Handlungen von denen erlitten habe, die das mir besser
nicht angetan hätten, die mich fragen, wie es meinem Kummer gehe, und wie
meine Dame noch an mich denke. Bösen Hass erzeigen sie mir dadurch, die
ich noch einmal jämmerlich leben sehen werde, wenn ich selbst mich freue.
Damit wird Reinmar demagogisch: er hatte ja seine Dame sagen lassen, mit einem
Lob, wie es die anderen ihren Damen sprächen, sei sie nicht zufrieden, denn sie sei
etwas Besseres. Dafür hatte ihn Walther – überspitzt – getadelt, und jetzt tut Reinmar
so, als hätte er nur seine eigene Dame loben wollen.
Walther hat anscheinend noch das Bedürfnis besessen, abseits von der zugespitzten
Antwort noch einmal zu präzisieren, in welchem Fall einzig eine Mattansage erlaubt
wäre: innerhalb des Herzens eines oder einer Liebenden kann eine Person allen
anderen Matt ansagen. So lässt am Schluss des Liedes eine Dame nur einen von
mehreren Bewerbern um ihre Gunst in das Innere ihres Herzens gelangen:
Übersetzung des Schluss vom Lied Walters:
„Deshalb habe ich ihm ganz nahe meinem Herzen eine Stätte eingeräumt, die noch
nie jemand betreten hat. Alle anderen haben das Spiel verloren, er allein setzt sie alle
matt.“
 Nur in dieser Situation ist eine Mattansage erlaubt!
Walther 91,17:
Walther verspottet Reinmar in mehreren Liedern; in einem (L 91,17) führt der Sänger
einen jungen Mann in einer Melodie (für Publikum als Parodie ersichtlich) in das
Wesen des Minnesangs ein. „Du kannst nur hochgemut werden, wenn du deine
Freude von wiben erhältst, und sollst nach herzeliebe werben. Wenn dich die vrouwe
aber nicht erhört, sollst du dir auch nichts daraus machen, denn du wirst auch von
nicht belohntem Dienst so wol gemuot, dass du die anderen erfreuen kannst, wie si
dir tuot, egal, wie sie sich dir gegenüber verhält. Hei, die größte Freude wäre
allerdings, sie ließe dich halsen, triuten, bi glegen (umarmen, liebkosen, beiliegen).
Der Schluss gibt den Sänger der Lächerlichkeit preis: „Jetzt habe ich dich in etwas
unterrichtet, das ich selbst noch nie getan habe. Mir kommt immer ein Unglück
dazwischen. Aber ich erfreue mich trotzdem an der Hoffnung, dass es mir noch
einmal gelingen wird.“
Walther hatte zu dieser Zeit selbst noch keine Liebeserfüllung genossen. Irgendwie
hat Reinmar sich mit der Gleichsetzung lip (Leib) und base unstate auch diese
Parodie verdient (in einem seiner Lieder gesteht er, dass sein „Leib“ gerne mehr
bekäme): wie passt es zusammen, dass er jammert, noch nicht erhört worden zu sein,
wenn er selbst der Meinung ist, dass der lip böse ist? Will das Herz Reinmars nur
Liebe ohne Lust und sein Leib nur Lust ohne Liebe?
34
Walthers Nachruf auf Reinmar:
Reinmar verstarb nach den ersten Büchern von Wolframs ‚Parzival‘ und vor
Gottfrieds Tristan (also wohl zwischen 1203 und 1212).
Walther dichtete folgenden Nachruf (82,24):
1. „O weh, dass weder jemandes Weisheit noch seine Jugend, noch seine
Schönheit noch seine Tugend sich weitervererben, wenn er stirbt! Das werden
alle Weisen beklagen, die wissen, was an guter Kunst mit dir, Reinmar,
verlorengeht. Du sollst mit Recht immer Dank dafür ernten, dass du keinen
Tag anders über die Frauen gesprochen hast. Dafür sollen sie deiner Zunge
immer dankbar sein, und wenn du auch nur den einzigen Text verfasst hättest:
„So wohl dir, Frau, was für ein reiner Name“, so hättest du so gut für ihren
Ruhm gekämpft, dass alle Frauen immer für dein Seelenheil beten sollten.
2. Fürwahr, Reinmar, du tust mir viel mehr leid als ich dir leid täte, wenn du
lebtest und ich gestorben wäre. Ich will es bei meiner Treu sagen: dich selbst
möchte ich nicht beklagen. Ich beklage deine edle Kunst, dass sie mit dir
gestorben ist. Du verstandest es, aller Welt die Freude zu vermehren, wenn du
mit deiner Dichtung gute Absichten verbandest. Mir ist leid um deinen
wohlredenden Mund und deinen so süßen Gesang, dass die noch zu meinen
Lebzeiten dahingegangen sind. Dass du nicht noch eine Weile warten
konntest! Dann hätte ich dir Gesellschaft gleistet: mein Singen wird auch nicht
mehr lange währen. Deine Seele möge das ewige Heil erlangen und deiner
Zunge sei gedankt.
Die Unterstellung, Reinmar hätte über Walthers Tod weniger geklagt, gegen die
Reinmar sich nun nicht mehr wehren kann, zusammen mit der scharfen Trennung
des Menschen Reinmar vom Künstler, geben dem Wunsch nach Seelenheil etwas
Scheinheiliges. Versuche, die Schärfe herunterzuspielen, weil der Großteil des
Nachrufes doch ein Lob sei, übersehen, dass der schwere Vorwurf an der Spitze der
2. Strophe steht, einem auffälligen Platz, und dem Grundsatz de mortuis nil nisi bene
widerspricht.
Besser als große Dichter von menschlichen Schwächen reinzuwaschen zu versuchen
ist, zu überlegen, was die Ursache für den Tod des Konkurrenten überdauernden
Hass sein könnte. Da fällt nur ein, dass Reimar bei Leopold 1198 gegen Walther
intrigiert haben und schuld an Walthers Scheiden aus Wien gewesen sein könnte. Es
gibt aber kein Indiz dafür. In keinem der Gedichte, in denen Walther sich über
Leopold beklagt oder Leopold um etwas bittet, findet sich etwas, das man als
Anspielung auf Reinmar auslegen könnte, und in seinen Spottliedern auf Reimar
bezieht er sich nur auf die Kunstauffassung, wie der Sänger der Dame
gegenübertreten soll. Selbst wenn man die Dame als Metapher für den Hof sähe,
könnte man keine Intrige hineinlesen. Eine so bedeutende Sache muss es aber
gewesen sein.
35
XI. „Mädchenlieder“
Walthers neue Konzepte der Minnedichtung:
Walther sagt in einer Strophe im sogenannten ‚Alterston‘, die in der Weltsicht den
vor den Aufbruch zum Kreuzzug von 1227 datierbaren Liedern nahesteht, Wol
vierzec jâr hab ich gesungen oder mê.
Wenn wir Walther 60 Jahre alt sein lassen, als er den ‚Alterston‘ dichtete, wurde er
ca. 1165 geboren und begann vor 1185 zu dichten.
Um von Philipp aufgenommen zu werden, musste Walther wohl schon berühmt sein
und nicht nur in der Art Reinmars gedichtet haben.
Walthers Neuerungen sind:
- Seine Art der politisch engagierten Spruchdichtung: erster datierbarer Spruch
1198.
- Lieder der ‚Hohen Minne‘, die Walther anders versteht als Reinmar
‚Mädchenlieder‘ oder ‚Niedere Minne‘ genannte Lieder.
Wenn wir überlegen, was Walther schon vor 1198 so berühmt gemacht haben könnte,
dass er an den Königshof berufen wurde, kann man an seine ‚Hohe Minne‘ und an
‚Mädchenlieder‘ denken.
Von den Liedern der ‚Hohen Minne‘ verweisen einige deutlich darauf, dass sie einer
2. Gruppe von Liedern dieser Art angehören. Walther hat Lieder der ‚Hohen Minne‘
in mindestens 2 Epochen seines Lebens gedichtet. Davon sind nur wenige klar als
nicht zur 1. Epoche gehörig erkennbar, die meisten sind undatierbar. Von wann bis
wann die 1. Epoche dauerte, wissen wir nicht; die späteren sind sicher alle erst nach
1198 entstanden.
Die Einteilung in ‚Hohe Minne‘ und ‚Neue Hohe Minne‘, die Carl VON KRAUS traf, ist
sehr subjektiv, vielleicht in Bezug auf viele Lieder richtig, aber als objektives
Gliederungsprinzip unbrauchbar.
Die Gruppe um das ‚Preislied‘ entstand jedenfalls erst nach 1198. Wir wollen die
Lieder der ‚Hohen Minne‘ nicht willkürlich in 2 oder 3 Gruppen zerreißen und
besprechen daher alle erst zur Epoche nach 1198.
Die ‚Mädchenlieder‘ sind zeitlich nicht zuordenbar. Carl VON KRAUS brachte sie
damit zusammen, dass Walther nach 1198 mehrmals zu Dienstwechseln gezwungen
war und an der strâze, nicht nur ze hove, singen musste, um seinen Lebensunterhalt
zu sichern.
Er teilte die Lieder Walthers in 4 Gruppen ein:
2.: ‚Hohe Minne‘, die sich schon klar von Reinmar gelöst hat,
3.: ‚Niedere Minne‘ (heute meist ‚Mädchenlieder‘ genannt),
4.: ‚Neue Hohe Minne‘.
Mädchenlieder schon vor 1198?
Walthers ‚Mädchenlieder‘ haben manche Motive mit der Dichtung der ‚Fahrenden‘
(varndes volc) gemeinsam. Vaganten: lat. vagari ‚umherstreifen; umherziehen‘.
Spielleute, Studenten und Kleriker waren oft unterwegs; Studenten von einer
Universität zur anderen; Spielleute von einem Fürstenhof zum anderen, um dort
während eines Festes größeres Publikum zu haben.
Es ist nicht nur eine Frage, ob man Walthers Mädchenlieder vor oder nach der Hohen
Minne besprechen soll, sondern wirkt sich auch darauf aus, wie man das Verhältnis
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Walthers zur ‚Vagantendichtung‘ (Vaganten= Fahrenden) sieht: Manches an
Vagantendichtung macht den Eindruck, schon vor oder um 1200 entstanden zu sein.
Wenn Walther erst später damit begonnen hätte, wäre er der Nehmende gewesen.
Wenn manche dieser Lieder Walthers schon früher entstanden, kann der Einfluss
wechselseitig gewesen sein; manches an Vagantenlyrik ist als Reaktion auf Lieder
Walthers verstehbar.
Walther gestaltet 2 Lieder als ‚Programmlieder‘ der ‚Mädchenlieder‘: eines als
Einführung in sie, ein zweites als Neuzuwendung zur ‚Hohen Minne‘. Das erste,
49,25, Herzeliebez vrouwelîn, tut so, als wäre es eine Entgegnung gegen Kritiker von
Walthers ‚Niederer Minne‘. Es gibt sich nicht den Status eines Eröffnungsliedes der
Gruppe, aber den eines Programmliedes. Es muss nicht zeitlich das erste sein, aber
man bespricht es am besten als erstes.
Ebenso programmatisch ist 46,32, Aller werdekeit ein füegerinne, die Absage an den
nidere gewandten sanc und die Neuzuwendung zur ‚Hohen Minne‘. Dieser Rahmen
ist kein Zeitrahmen, aber ein Verständnisrahmen.
Übersetzung von „Herzeliebez vrouwelin“:
1. „Herzliebste kleine Dame, Gott beschützt dich heute und immerdar! Wenn ich
dir noch etwas Besseres wünschen könnte, so täte ich es gerne. Was soll ich
dir mehr sagen, als dass dich niemand mehr lieb hat als ich? Die Liebe zu dir
bereitet mir Schmerzen.
2. Man tadelt mich, weil ich meinen Sang an jemanden so Niederen wende. Ich
kann sie nicht leiden, weil sie wissen nicht, was Liebe ist. Die da nach Besitz
und nach Schönheit lieben, die hat die Liebe nie getroffen. Weh, was ist das
für eine Liebe?
3. Schönheit ist oft mit Hartherzigkeit verbunden, daher soll sich niemand zu
schnell von der Schönheit anlocken lassen. Liebe tut dem Herzen besser: die
Schönheit ist weniger wert als die Liebe. Liebe macht Frauen schön. Das kann
die Schönheit nicht bewirken: sie kann jemanden lieb machen.
4. Ich verzeihe ihnen, wie ich ihnen verziehen habe und wie ich immer verzeihen
werde. Du bist schön und damit hast du genug. Was können sie mich darüber
belehren? Was immer sie auch sagen, ich bin dir hold und nehme dein
gläsernes Ringlein lieber als das Gold einer Königin.
5. Wenn du Treue und Beständigkeit besitzt, so habe ich gar keine Angst, dass
mir jemals Herzenleid von dir widerfahren könnte. Wenn du aber diese beiden
nicht besitzt, so wäre es besser, du würdest nie mein. O weh, falls das
geschieht!
War Walther in ein Mädchen niederen Standes verliebt, dem er diese Verse vortrug?
Die erste Hälfte dieses Satzes lässt sich nicht beweisen, die zweite lässt sich
widerlegen: Wäre es höflich, einem armen Mädchen vorzuhalten, dass ihr Ringlein
nur aus Glas ist usw., oder nicht eher ein Zeichen von Liebe, es im Lied als golden
darzustellen?
Was soll die kritische Hofgesellschaft im Lied? Das Mädchen daran erinnern, dass
Walther auch zu den Damen der Gesellschaft Zugang hatte?
Was sollen die Elemente der Hohen Minne (z. B. der Hinweis am Schluss, dass der
Sänger noch nicht erhört wurde)?
In einem Lied für die Geliebte wäre manches davon deplatziert; als Poetik in Form
eines Liebesliedes ist es vollendet.
Rückkehr zur Hohen Minne:
Übersetzung von „werdekeit ein füegerinne“:
37
1. „Frau Maze, ihr seid es fürwahr, die alles Edle zusammenfügt. Er glücklicher
Mensch, der Eure Lehre in sich trägt! Der braucht sich Euer nirgendwo, weder
bei Hof noch an der Straße zu schämen. Deshalb suche ich, Herrin, Euern
Rat, dass Ihr mich „eben“ zu werben lehrt. Werbe ich nieder oder werbe ich
hoch, werde ich gleicherweise verletzt. Ich starb beinahe aus Niederer Minne,
jetzt von ich abermals aus Hoher Minne krank: Maßlosigkeit hält mich
grundlos fest.
2. Niedere Minne heißt die, die einen so herabsetzt, dass der Leib nach niedriger
körperlicher Liebe begehrt. Diese Liebe tut weh, ohne rühmenswert zu sein.
Hohe Minne reizt auf und bewirkt, dass das Gemüt sich zu edlen Werten
aufschwingt. Die winkt mir nun, dass mit ihr gehen soll. Ich weiß nicht, worauf
die Maze wartet. Wenn die Herzensliebe kommt, werde ich trotz allem verleitet:
meine Augen haben eine Frau erblickt, von der ich wohl verwundet werden
kann, wenn sie auch noch so lieblich redet.
Walther lässt das ‚Definitionskapitel‘ unvollständig: das Verhältnis von herzeliebe zu
den verschiedenen Arten von minne erklärt er nicht. Wir erfahren nur: in diesem
Zustand kann er nicht klar denken.
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XII. Zerstörtes Traumglück
Die ‚Traumliebe‘ hatte das Traumbild in der Wirklichkeit gesucht, nicht die
Wirklichkeit in den Traum verlagert. Ausgangspunkt war kein wirkliches Mädchen
sondern das Traumbild. Doch war der Sänger nicht ohne Hoffnung, es im Leben
wiederzufinden und das Erwachen war schmerzvoll, aber nicht deprimierend.
Anders das Lied 94,11, das die Erinnerung an die Traumliebe herbeizitiert; es
schildert keinen erotischen Traum, sondern einen Machttraum des Sängers.
Nachdem das Traummotiv dem Publikum schon bekannt ist, braucht man es nicht
überraschend einzuführen; der Traum am lieblichen Ort wird offen als solcher
deklariert.
Der Baum ist kein frühlingshafter Blütenbaum, sondern eine sommerliche Linde, die
kühlen Schatten gegen die Hitze spendet. Quelle und Nachtigall (die anscheinend
beliebig abrufbar unabhängig von der Tageszeit singt) sind weitere Theaterkulissen
bzw. -requisiten.
Auf diese Bühne tritt der Sänger, nicht voll vröude, sondern mit sorgen. Das Glück
dieses Traumes ist Flucht vor realer Freudlosigkeit.
Wegen der Motivgemeinschaft mit der ‚Traumliebe‘ meinen viele Herausgeber, das
‚Zerstörte Traumglück‘ müsse bald danach entstanden sein. Ich halte das für falsch;
biographisch und inhaltlich:
1. scheinen in der Biographie Walthers die pessimistischen Lieder eher der
Altersdichtung anzugehörten
2. ist das fiktionale Zeitverhältnis in diesem Lied so, dass ein tiefer Graben zu liegen
scheint zwischen der freudlosen Gegenwart und der vergangenen Zeit, in der der
Sänger in Walthers Liedern Hoffnung auf (Liebes-)glück hatte.
Einst hatte ihm diese Hoffnung vröude ermöglicht, auch wenn er diese Hoffnung
manchmal selbst nicht ganz zu glauben schien.
Auch in seinen politischen Utopien von 1198 und knapp danach hielt Walther den
Wunsch nach Freude für erfüllbar.
Jetzt hat der Sänger Einsicht in die Unerfüllbarkeit irdischer Wünsche; vröude
gehört zu diesen unerfüllbaren Wünschen.
Wir behandeln das ‚Zerstörte Traumglück‘ trotzdem schon jetzt, weil wir im
unmittelbaren Kontrast zur ‚Traumliebe‘ die Unterschiede besser herausarbeiten
können:
Übersetzung:
1. Als der Sommer gekommen war, und die Blumen wonnig durch das Gras
hervorbrachen, wo die Vögel sangen, da kann ich über eine lange Wiese gegangen
auf der ein reiner Quell entsprang. Am Waldrand floss er dahin, wo die Nachtigall
sang.
2. Neben dem Quell stand ein Baum. Dort hatte ich ein Traumerlebnis. Ich war aus
der Sonne an den Quell geflohen, damit die prächtige Linde mir kühlen Schatten
bereite. Am Quell setzte ich mich, ich vergaß auf meine Sorgen und schlief
deswegen schnell ein.
3. Da dünkte mich sogleich, dass mir alle Lande dienten und dass meine Seele
schwerelos im Himmel sei, und der Leib dürfte tun was er wolle. Das war mir
höchst angenehm. Gott entscheide über die Zukunft, aber bisher hat es noch nie
einen schöneren Traum gegeben.
4. Gerne hätte ich da immer fort geschlafen, aber eine unselige Krähe begann zu
schreien. Dass es allen Krähen so ergehen möge, wie ich es ihnen gönne! Sie
39
nahm mir eine große Wonne. Durch ihr Schreien schrak ich auf. Nur weil da kein
Stein lag - sonst wäre es der jüngste Tag für sie gewesen.
5. Ein wundersam altes Weib tröstete mich daraufhin. Die vereidigte ich
umständlich. Nun hat sie mir erklärt, was der Traum bedeute. Nun passt auf,
liebe Leute: zwei und einer sind zusammen drei. Außerdem sagte sie mir noch
dazu, dass mein Daumen ein Finger sei.
Interpretation:
Sicher sah Walther, dass das Publikum sich fragen wird, ob hinter den
geheimnisvollen zwei mit dem dritten vielleicht eine gelehrte Erklärung der
Dreifaltigkeit versteckt sein soll.
Damit zusammenhängende Gelehrtendispute über den Begriff ‚Begriff‘ schwirren in
den mittelalterlichen Philosophien herum. Statt ‚Begriff‘ sagte man ‚Name‘; nicht nur
der ‚Name der Rose‘.
Das könnte man auch am Beispiel des Daumens abhandeln: ‚den Daumen nennen
wir im Gegensatz zu anderen Körperteilen wie Zehen usw. Finger, aber im Gegensatz
zu den vier anderen Fingern eben Daumen. Ist nun der Daumen ein Finger oder
nicht?‘
Ebenso sicher sollten alle solchen Nachdenkversuche über einen etwaigen Tiefsinn
der Worte der Wahrsagerin zu nichts außer zu Ärger über die nutzlos vertane Zeit
führen.
Auf die Ebene der lächerlichen Wahrsagerei durch alte Weiber werden nicht so sehr
Walthers Minnehoffnungen herabgeholt, obwohl sie in und der lîp hie solte gebâren
swie er wolte inbegriffen wären.
Als die trügerischen Träume kann man nur Walthers Hoffnungen verstehen, die er
in den Sprüchen im ‚Reichston‘ an König Philipp, später an Kaiser Otto IV. geknüpft
hatte (an Kaiser Friedrich II. knüpfte er, noch später, auch Hoffnungen; diese wurden
teilweise erfüllt; das ‚Zerstörte Traumglück‘ liegt vielleicht nach der Enttäuschung
über Philipp oder Otto und vor der Begeisterung für Friedrich).
Ironisch sieht Walther seine Wunschträume aus der Perspektive des Möchtegern:
sich selbst hätte er jedes Glück, alle Macht und unendlichen Lustgewinn gewünscht.
So ein Kaiser Walther hätte vor allem an sich, nicht ans Reich gedacht. Der Traum
von der vreude der Gesellschaft wird nicht mehr artikuliert, der Traum vom
persönlichen Glück ist lächerlich.
Mit dieser Interpretation springen wir in eine andere Epoche, deren Voraussetzungen
wir erst später besprechen.
Diese Epoche brachte Walthers Einsetzen des Spruches als politische Waffe. Keiner
davon fällt vor 1198 und von den kämpferisch-aggressiven keiner nach 1220. Auch
die Altersdichtung bezieht sich oft auf politische Ereignisse, ist aber eher
resignierend. Walther hatte mehr Erfolg als Dichter als mit seinen persönlichen und
gesellschaftlichen Träumen.
40
XIII. ‚Hohe Minne‘ oder ‚Neue Hohe Minne‘?
Der Abschluss des Rahmens um die Lieder der „Niederen Minne“, das Lied 46,32,
thematisiert eine neuerliche Hinwendung zur Hohen Minne, was wörtlich genommen,
diese in eine „alte“ und „neue“ teilt. Wenn man sich der späten Entstehung einiger
der Mädchenlieder sicher ist, aber nicht wahrhaben will, das Walther trotz der
gegenteiligen Aussage in 43,9 in zwei Stilen nebeneinander gedichtet haben kann,
müsste man das Preislied und andere, die nach 1198 gedichtet sein müssen, aber
noch nicht die Merkmale von Walthers Spätstil tragen, als „Hohe Minne der Reifezeit“
nicht nur von der Jugenauseinandersetzung mit Reinmar, sondern auch von der 43,9
angekündigten Neuen Hohen Minne scharf trennen können. Da die Zuweisung
einzelner Lieder nicht so sehr zwischen der ersten und zweiten, sondern vor allem
der zweiten und dritten Gruppe äußerst strittig ist, ist es günstiger, diese
hypothetische Trennung rückgängig zu machen, und alles, was sich schon klar von
Reinmar abgelöst hat, in einem Kapital zu behandeln; freilich in der Annahme, dass
der Inhalt dieses Kapitels zeitlich breit gestreut ist.
Wir interpretieren in Aller werdekeit ein füegerinne die Verse Ich was vil nâch ze nidere
tôt, – nû bin ich aber ze hôhe siech
als eine Abwendung von den ‚Mädchenliedern‘ und Rückwendung zur ‚Hohen Minne‘.
Die ‚Programmlieder‘ Walthers müssen aber nicht bedeuten, dass er von da ab nie
mehr in der früheren Gattung dichtete.
Das (in der 1. Stunde als Begrüßungslied besprochene) ‚Preislied‘ lässt sich
vermutungsweise datieren: es könnte 1200 entstanden sein, als Walther anlässlich
der Schwertleite Leopolds VI. wieder in Wien auftrat, das er 1198 verlassen hatte.
Einigen anderen Liedern der ‚Hohen Minne‘ spricht man das selbe hohe künstlerische
Niveau wie dem ‚Preislied‘ zu; das ist kein Datierungskriterium, aber ein Grund, diese
Lieder zur ‚Preisliedgruppe‘ zusammenzufassen.
Die Preisliedgruppe:
WILMANNS verstand die Lieder der Hohen Minne als symbolisches Werben um die
Gunst eines Hofes:
„Seine Herrin war die Gesellschaft.“
Wolfgang MOHR ging in der Deutung der Dame der 6. Strophe des Preisliedes, Der
ich vil gedienet hân, von WILMANNS aus.
Wir besprachen sie in der 1. Stunde:
Der ich vil gedienet hân
und iemer gerne dienen wil,
diust von mir vil unerlân.
Iedoch sô tuot si leides mir sô vil.
Si kan mir versêren
daz herze unde den muot.
Nû vergebez ir got, dazs an mir missetuot.
Her nâch mac si sichs bekêren.
Es ist naheliegend, dass Walther nicht nach zumindest zweijähriger Abwesenheit
nach Wien zurückkehren wird und dort einer persönlichen Dame und Geliebten
den Hof machen wird, als sei er nie fort gewesen. Die Dame wird da wohl
metaphorisch für die Hofgesellschaft stehen.
Auch andere Lieder gibt es, die nicht nur an eine persönliche Dame gerichtet eine
grobe Unhöflichkeit wären, sondern auch nicht an ‚die‘ Dame des Minnesangs
gerichtet sein könnten:
41
Eine Reihe von Liedern gibt es, nicht nur die 6. Strophe des Preisliedes, die wir nur
verstehen können, wenn die ‚Dame‘ Symbolfigur für einen bestimmten Fürstenhof
ist;
z. B. 52,23 - Übersetzung:
1. Meine Herrin ist eine ungnädige Frau, weil sie gegen mich so schlecht handelt.
Ja, ich habe doch meine Jugend in ihren Dienst gestellt und meinen hohen muot
dazu. O weh, damals war mir so wohl - wie ist meine Freude nun zerstört! Was
habe ich mir erwirtschaftet? Nie etwas anderes als Kummer, den ich erdulde
2. Ich habe noch nie ein schöner geschmücktes Haupt gesehen, aber in ihr Herz
konnte ich nie blicken. Dabei bin ich immer arg getäuscht und in meiner Treue
betrogen worden. Hätte ich gar für sie die Sterne, den Mond und die Sonne
erobert, das hätte sie so aufgenommen, dass sie mir dafür alles Gute für die
Zukunft gewünscht hätte.
3. O weh über meine wonnigen Tage! Wie viele von denen habe ich doch ihretwegen
versäumt! Das werde ich immer von Herzen beklagen, wenn meine Liebe solch
ein Ende nehmen soll. Wenn ich Not und Mühsal erleide, so würde ich das nicht
beklagen. Allein um meine Zeit ist mir leid, wenn ich die verloren habe.
4. Ich habe so ein Benehmen noch nie gesehen, nämlich dass sie ihren besten
Freunden gram ist. Mit all denen, die ihre Feinde sind, hält sie vertraulich
Zwiesprache. So etwas nahm noch nie ein gutes Ende. Ich weiß wohl, wie das
Ende kommen wird: von Feinden und Freunden gleicherweise verlassen wird sie
dastehen, wenn sie mich und jene betrügt.
5. Meine Herrin darf es nicht leid sein, wenn ich fortreite und in fremden Landen
mich nach den Frauen erkundige, die dort mit Anstand leben - deren kenne ich
viele - und die außerdem auch noch kleine, von der mir ein Korb jemals wehtäte.
Wenn man dieses Lied als
-
bittere Absage an den Wiener (?) Hof liest, ist es einleuchtender, als wenn es
eine
-
Auseinandersetzung mit dem Problem der Nichterhörbarkeit des Sängers im
Minnesang wäre, und nochmals weit verständlicher als wenn wir es als
-
Absage an eine persönliche Dame läsen. Die letze Ansicht ist unwahrscheinlich,
weil wegen einer persönlichen Dame in fremde Lande zu ziehen nicht nötig wäre;
freilich ist das im Liebesschmerz möglich, vor allem im literarischen Klischee; dann
hätte Walther aber anders argumentiert. Im Hinblick auf Walthers
Heimatbewusstsein (ein Korb von einer anderen Dame würde ihm nicht weh tun)
sinnvoll ist für dieses Lied die Deutung: ‚Dame‘ = ‚Hof zu Wien‘.
Wolfgang MOHR, der die 6. Strophe des Preislieds so deutete und damit allgemein
Zustimmung findet, erklärte später, dass ihm bei der konsequenten Anwendung des
Grundsatzes von WILMANNS, ‚Dame = Hof‘, nicht wohl sei, weil viele Lieder verlieren
würden, wenn man sie nur als symbolisches Lob einer Hofgesellschaft verstehe.
MOHR bekannte: „Man muss sich gegen einen Bergrutsch sichern und weiß doch
nicht recht, an welchen Stellen man die Verbauungen ansetzen soll.“
Ich glaube: Damit diese Lieder zum Tadel oder Preis eines Hofes unter dem
Deckmantel einer Dame entsprechend wirken konnten, ist es nötig, das
Grundmodell eines Liedes der Hohen Minne als Preis einer Dame zu fassen.
Das Lied ist, wenn man Minnesang als Gesellschaftskunst versteht, ein Mittel, dem
Publikum vröude und hôhen muot zu geben. Dann hat es nicht die Dame des
Dichters, sondern die Dame des Sängers so zu preisen, dass man sich mit Sänger
und Dame identifizieren bzw. auseinandersetzen kann.
42
Wohlgemeinte oder auch böse Späße setzen voraus, dass dieses Grundmodell ernst
genommen wird. Damit wären die Dämme gegen den Erdrutsch eng zu ziehen, in
dem Sinn, dass, was nicht klar als Allegorie zu erkennen ist, auch tatsächlich als
Minnelied zu gelten hat.
Für die 6. Strophe des Preisliedes und für Mîn vrouwe ist ein ungenædec wîp ist die
Gleichung ‚Dame = Hof‘ sicher richtig.
Nur ein Lied, bei dem wegen unserer Unkenntnis der Situation der Uraufführung
umstritten ist, ob es eine Schelte des Wiener Hofes sein soll, eine Schelte einer realen
Dame oder eine ‚Poetik‘.
Als ‚Poetik‘ würde es ein schon von Heinrich von Morungen artikuliertes Problem
fortführen, das Walther anders und im Gegensatz zu Reinmar lösen will, aber längere
Zeit nach der eigentlichen ‚Fehde‘ und auch wohl nach dem Preislied. Es ist Walthers
sumerlaten-Lied.
Zunächst das von Reinmar und Walther persiflierte Lied Morungens:
Heinrich von Morungen beschrieb in mehreren Liedern eine zwanghafte Minne: Der
Sänger ist gewiss, dass die Dame ihn nie erhören wird und er daran zugrunde geht,
aber die Minne zwingt ihn, ihr ergeben zu bleiben, obwohl er sie schon hasst.
Ausdruck dieses Hasses ist eine Negativvariation des Motives ‚Liebe bis über den Tod
hinaus‘: der Sänger wünscht der Dame, sie möge sich nach seinem Tod in seinen
Sohn verlieben. Sein Sohn solle dann alten Dame das Herz ebenso brechen wie sie
dem Sänger.
Die Hohe Minne wird unabhängig von einer Ehe der Beteiligten gedacht; trotzdem
wird die Ehebruchsproblematik in der deutschen Lyrik sonst nie thematisiert (in der
französischen sehr wohl).
Die letzte Strophe lautet (MF 125,10) - Übersetzung:
„Meinem Kind will ich diese Not und den Liebesschmerz, dass mein Sohn schön
werden und sie bezaubern möge, damit er mich räche und ihr das Herz vollends
breche, wenn sie ihn in seiner Schönheit erblickt.“
Das ist die Konsequenz der Hohen Minne, die nicht erhört wird und doch unverändert
treu bleibt. Morungen hat es bitter bis zum Ende und über dieses hinaus durchdacht.
Über ihn hinaus bleibt in der konventionellen Minneklage nichts zu sagen.
Reinmars Sänger besitzt die Gabe des Trauerns ohne Hass. Er erträgt den Spott der
anderen und bleibt seiner Dame treu; auch wenn er nicht erhört würde, würde er
sich nie beklagen, seine Zeit nutzlos vertan zu haben, im Gegenteil: ihren Tod könnte
er nicht überleben (wenn der ‚Sänger‘ eine literarische Figur ist, leuchtet uns ein,
dass er zugleich mit der Dame ‚stirbt‘ – wenn eine Reihe von Gedichten endet und
kein weiteres kommt, sind diese Dame und ihr Sänger ‚gestorben‘).
Reinmar sieht es so (MF 158,21; 3. Strophe eines Liedes) - Übersetzung:
„Ich will von ihr nicht frei sein, solange ich noch in der Welt bleiben möchte. Der
beste Lohn an Freude für mich und all meine Hoffnung auf Glück liegt an ihr . Wenn
ich das verliebe, so habe ich nichts, und von dem Tag an ist mir auch gleichgültig,
was mit mir geschieht. Ich mache mir mit Recht Sorgen um ihr Leben: wenn sie stirbt,
so bin auch ich tot. Wenn sie mir auch sonst nichts gegeben hat, dann wenigstens
das, dass ich kennengelernt habe, was Liebesscherz ist.“
Wo Morungens Sänger wahnsinnig wird oder verzweifelt, rettet Reinmars Sänger
sich in die Kunst. Walthers Kommentar zu Morungen zeigt durch die Parodie, dass
Morungens Position extrem ist, aber er bietet keine Alternative an wie Reinmar.
Walthers Reaktion sieht aus, als würde er Kritik an Morungen und Reinmar mit dem
Beginn eines Engagements verbinden. Wo könnte man sich beliebt machen, indem
43
man sich zur Begrüßung über ein Lied Morungens lustig macht? Es in der Nähe von
Morungens Heimat, in Meißen oder am Hof zu Thüringen, zu wagen, wäre mutig.
Anlässlich einer Rückkehr nach Wien wäre nur die Anti-Reinmar-Komponente
aktuell.
Wolfram von Eschenbach, der in Thüringen geschätzt wurde, meinte wahrscheinlich
auch die zwanghafte Minne der Lieder Morungens, als er (‚Parzival‘ 587,7f.) spottete:
Maneger hât von minnen sanc,
den
nie
diu
minne
alsô
getwanc.
So mancher dichtet Minnesang, den die Minne nie so zwang (wie Gawan, den Helden
dieser Episode im ‚Parzival‘).
Walther, sumerlaten-Lied (72,31):
1. Lange zu schweigen, das hatte ich beabsichtigt, jetzt will ich aber wieder singen
wie früher. Dazu haben mich gute Leute gebracht, denen ich noch mehr Wünsche
erfüllen würde. Ich werde singen und sagen, und was sie begehren, das werde ich
tun: dafür sollen sie meinen Kummer beklagen.
2. Hört, etwas Wunderliches habe ich mir selbst eingebrockt: eine Frau will mich
nicht ansehen, die habe ich so berühmt gemacht, dass sie jetzt davon so
hochmütig ist. Aber sie weiß nicht, dass ihr Ruhm zerrinnt, wenn ich mein Singen
sein lasse.
3. Herrgott, was sie an Flüchen erleiden soll, wenn ich nun zu singen aufhöre! Alle,
die sie jetzt loben, werden sie dann ohne meine Schuld schmähen; das weiß ich
genau. Tausend Herzen wurden ihretwegen froh; die büßen vielleicht dafür, wenn
ich mich so von ihr trenne.
4. Als mich dünkte, dass sie gut sein - wer war ihr damals besser gesonnen als ich?
Das hat jetzt ein Ende: was auch immer sie mir antut, sie kann damit rechnen:
wenn sie mich von dieser Not befreit, so lebe ich ihr zu Ehren: tötet sie mich, so
ist sie tot.
5. Wenn ich in ihrem Dienst alt werden soll, so wird sie inzwischen nicht viel jünger.
Dann sieht mein Haar vielleicht so aus, dass sei dann einen jungen will. So helfe
euch Gott, Herr junger Mann, so rächt mich und geht ihre alte Haut mit jungen
Ruten an!
Was
ist
die
Dame
in
diesem
Lied
Walthers?
Die Dame seiner Dichtung. Sonst stürbe sie nicht mit ihm. Die Dame seines Sanges
ist tot, wenn der Sänger stirbt, der Hof zu Wien hingegen wird Walther überdauern,
auch wenn er sich einen neuen Hofdichter suchen muss; auch eine reale Dame kann
Walther überleben, obwohl sie dann fürs literarische Publikum tot ist, wenn er ihr
keine Lieder mehr singt.
Ein Zornesausbruch über einen fürstlichen Treuebruch kann, vielleicht aber nur
wegen unserer fehlenden Faktenkenntnis, nicht widerspruchsfrei auf das
sumerlaten-Lied über- tragen werden, hingegen sehr wohl, dass Walther sich über
Reinmars bedingungsloses Dahinsterbenwollen empört:
Dem stirbet si, sô bin ich tôt Reinmars setzt Walther sein stirbe aber ich, sô ist si
tôt entgegen.
Dass Dame und Sänger älter werden, ruft hier nicht den Sohn herbei, wie bei
Morungen, aber einen jungen, ganz unhöfischen Mann mit bäurischderben Sitten.
Ewig lässt sich die Minneklage nicht als Gattung jung erhalten; auch Walthers Art
zu dichten wird zwar unaktuell werden, aber die derbe unadelige (‚Herr junger Mann‘)
Poesie der ganz jungen Generation wird die Dame des Minnesangs verspotten;
darüber empfindet Walther Genugtuung.
44
Ist der Junge Neidhart von Reuental? Dann könnte es sich nur um dessen allererste
Jugendversuche handeln.
Reinmar muss zur Zeit des sumerlaten-Liedes noch leben; um 1215 spielt Wolfram
im ‚Willehalm‘ (312,12ff.) auf Neidharts „Freunde“ an, die anscheinend nicht in
dessen ältesten Liedern vorkommen; ginge man mit Reinmars Tod bis 1210 herauf,
was die Erwähnung seines Todes im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg noch zuließe,
wäre es möglich, dass Walther noch vor Reinmars Tod das erste Neidhartlied hörte.
Wer versucht, die Reinmar-Lieder, auf die Walther im sumerlaten-Lied anspielt, zu
datieren, oder bei Reinmar Gegenantworten auf dieses zu lesen, hört das Gras
wachsen.
In die Gruppe des Preisliedes setzt man auch Lieder, in denen Walther die Rolle des
Minnesängers als Freudenbringer nicht gegen die Feinde verteidigt, sondern frei und
ohne Seitenhiebe auf die Konkurrenz darstellt: der Dichter will der Gesellschaft
Freude bringen und singt von Liebe.
Weil sie nicht nur Klagen bringt, ist die Minne als zentraler Wert gesichert.
Was
ist
Minne
nun
für
Walther?
Das Lied, das die Antwort auf diese Frage enthält (69,1), ist so in insgesamt 6
Handschriften, ACEFOs, überliefert:
-
In E und in F in der Reihenfolge, die ich hier biete.
-
A und C haben die Strophen 1-3 und 5, aber jede in einer anderen Reihenfolge.
In E, F und O steht zwischen Strophe 3 und 5 eine Strophe 4, die AC nicht haben,
die sicher nicht von Walther ist sondern von einem ungeschickten Nachahmer. Ich
drucke sie nicht ab.
In O fehlt die 1. Strophe; die Strophen 2-5 hat O in dieser Reihenfolge
Die 6. Handschrift, s, hat nur Strophe 1.
Antwort auf die Frage - Übersetzung:
1. Kann mir jemand sagen, was Minne ist? Wenn ich es auch ungefähr weiß, so
wüsste ich es gern genauer. Wer es besser als ich versteht, der möge weiß, so
wüsste ich es gern genauer. Wer es besser als ich versteht, der möge mir erklären,
warum sie so weh tut. Minne ist Minne, wenn sie wohltut. Wenn sie wehtut, so
heißt sie nicht richtige Minne. Wie sie dann heißen soll, weiß ich nicht.
2. Wenn ich richtig erraten habe, was die Minne ist, so antwortet „ja“: Minne ist die
Wonne zweier Herzen; wenn sie gleich mit einander teilen, so ist die Minne da.
wEnn sie aber nicht geteilt werden soll, so kann sie ein Herz allein nicht fassen.
O weh, wolltest du mir helfen, meine Herrin!
3. Herrin, ich trage allein etwas zu schwer daran. Wenn du mir helfen willst, so hilf
beizeiten. Wenn ich dir aber ganz gleichgültig bin, so sprich das endlich aus: dann
höre ich auf, mich um dich zu bemühen, und werde ein freier Mann. Du sollst
aber eines bedenken, Herrin, dass dich kaum jemand besser loben kann.
4. Kann meine Herrin Süßes bitter machen? Glaubt sie, dass ich ihr Liebe für Leid
geben würde? Soll ich sie dafür preisen, dass sie mich dafür als ihrer unwürdig
bezeichnet. Weh was spreche ich Ohrenloser ohne Augen? Wen die Liebe blendet,
wie kann der sehen?
Auch von dieser Dame können wir feststellen, wer sie ist: Dû solt aber einez rehte
wizzen,
daz dich lützel iemen baz geloben kan.
45
‚Du sollst bedenken, dass niemand dich besser loben kann‘ zeigt große Eitelkeit. Das
fordert, wenn man es auf eine reale Geliebte bezieht, Wolframs Spott heraus (‚Parzival‘
115,13f.):
Swelhiu mich minnet umbe sanc, sô dûhte (dünkte) mich ir witze (Verstand) kranc
(schwach).
Den diu minne blendet, wie mac der gesehen?
Auf einen Hof bezogen, wäre das unfreiwillig komisch. Blinde Liebe Walthers etwa zu
Leopold?
Dabei sagt das Lied doch deutlich, was es ist: ein Versuch, das Wesen der Liebe zu
ergründen, der nie gelingen kann, weil auch der Dichter nur ein teil darüber
Bescheid weiß, der Rest unergründlich ist.
Was bedeutet eine Frage an das Publikum?
Saget
mir
ieman,
waz
ist
Minne?
Weiz ich des ein teil, sô weste ichs gerne mê. Der sich baz denne ich versinne,
der berihte mich, durch waz si tuot sô wê.
Eine schlechte Antwort wäre: „Walther benutzt hier einen als rhetorische Frage
formulierten Bescheidenheitstopos.“
Topos: Gemeinplatz (griech. topos ‚Platz‘), stereotype Rede- wendung, vorgeprägtes
Bild oder Motiv. Bescheidenheitstopos: Beteuerung eines Autors im Prolog eines
Werkes, andere könnten das selbe Thema besser behan- deln als er.
Tatsächlich ist hier diese Frage schon ein Teil der Antwort und ein wichtiges
Element der Definition von ‚Liebe‘:
Liebe ist ein „Sammelbegriff einer Vielfalt menschlicher Gefühlsbindungen,
denen die rational nur unvollständig begründbare Wertbejahung eines Objektes
zugrunde liegt.“ (Brockhaus Enzyklopädie).
Das ‚rational nur unvollständig begründbar‘ der modernen Enzyklopädie sagt, was
Walther ausdrückt: ein teil wissen wir, was Liebe ist; wir wüssten es gern genauer,
aber zum Teil bleibt sie rätselhaft.
Im Wunschdenken aller, nicht nur Walthers, ist sie zweier herzen wünne.
Zu den Merkmalen der Liebe, die Walther unbegreiflich sind, gehört der
Sehnsuchtsschmerz, der oft statt dessen die Menschen erfüllt. Seine Leiden, weil
seine Wünsche nicht erfüllt werden, bewirken, dass sie ihm den Verstand raubt.
Die Frage nach der Dame des Dichters:
63,32 (1. Strophe eines 4-strophigen Liedes?)
Wenn das Rollen-Ich des Minnesangs verliebt ist, weil das Publikum es will, wird die
Frage laut, ob echte Gefühle von einem Dichter vermittelt werden können, der nicht
in der selben Situation ist: ob ein Liebeslied, in dem der Rezipient Gefühlsechtheit
verspürt, nicht zumindest teilweise autobiographisch sein müsste.
Der Sänger wehrt die Frage nach seiner Dame listig ab. Die Antwort macht sich über
die Frager lustig, eine klare Antwort, wie es sich mit der Dame nun wirklich verhalte,
ist sie nicht:
„Sie fragen und fragen mich allzu oft über meine Dame, wer sie sei. Das ärgert mich
so, dass ich sie ihnen allen nennen will, dann lassen sie mich wenigstens in Ruhe.
Gnade und Ungnade, diese beiden Namen hat meine Herrin. Die sind gegensätzlich:
der eine ist arm, der andere reich. Wer mir den reichen nicht zuteil werden lässt,
der sollte sich selbst schämen, wenn ich ihr den armen gebe.“
73,23:
Um den Sänger mit seiner Person zu verbinden und doch nicht zu verbinden, hat
Walther eine Möglichkeit: der Name ‚Walther‘ ist auch der einer literarischen Figur,
46
und zwar in der Heldensage von Walther und Hildegunde, die uns vor allem in einer
lateinischen Bearbeitung (aus dem 10. Jh.?) erhalten ist: dem Epos
Das folgende Lied (73,23) sagt aus, dass der Walther des Liedes eine literarische Figur
ist und seine Dame ebenfalls. Es ist 5 Strophen lang. Es beginnt mit einer
Verfluchung seiner Gegner, ohne dass man erfährt, warum er böse auf sie ist. In der
3. Strophe erfährt man, dass seine Dame ihn über das Leid hinwegtrösten könnte,
das ihm die Gegner antun; in der 5., letzten, Strophe erfährt man den Namen der
Dame. Anscheinend war das, was ihn ärgerte, dass ihn die anderen immer nach dem
Namen seiner Dame fragten.
Nun der Text - Übersetzung:
1. Die mir im Winter meine Freude genommen haben, seien es Männer, seien es
Frauen, die sollen in diesem Sommer etwas erleben! Schade, dass ich nicht
fluchen kann. Leider kann ich nicht mehr als das böse Wort „verflucht“. nein, das
wäre allzu arg.
2. Außerdem kann ich noch zwei herzhafte Flüche, die fluchen gerade so, wie ich es
will: Heuer dürfen sie nie frühstücken, ohne zuvor Esel und Kuckuck zu hören
bekommen zu haben. Weh ihnen denn, den Ärmsten! Wüsste ich, dass sie noch
bereuen, so wollte ich mich um Gottes willen ihrer erbarmen.
3. Man soll Ungeduldigen gegenüber geduldig sein, das ärgert die Schamlosen.
Wenn jemanden die Bösen ohne seine Schuld hassen, so kommt das davon, weil
er so tüchtig ist. Wenn mich nur die Gute tröstet, die mich wohl trösten könnte,
so würde ich mir aus deren Neid nichts machen.
4. Ich will der ganzen Welt bei ihrem Leben schwören, und den Eid soll sie sehr gut
hören: Wenn mir jemand lieber sei, Mädchen oder Frau, so möge ich zur Hölle
fahren. Wenn sie nun irgend Treue besitzt, so vertraut sie auf diesen Eid und
stillt den Schmerz meines Herzens.
5. Herren und Freunde, nun helft beizeiten, jetzt mache ich Schluss, und zwar so:
wenn ich in meinem Minnekampf nicht siege, werde ich nie mehr richtig froh.
Meines Herzens tiefe Wunde, die muss immer offen stehn, wenn sie mich nicht
mit Freundesmund küsst. Meines Herzens tiefe Wunde, die muss immer offen
stehn, wenn sie sie nicht von Grund auf heilt. Meines Herzens tiefe Wunde, die
muss immer offen stehn, wenn sie nicht von Hildegunde geheilt wird.
Mit Raffinesse ist Walther jetzt folgendes gelungen: sogar wir glauben plötzlich zu
fühlen, dass ein so ehrlich klingender Gefühlsausbruch nur daher rühren kann,
dass auch das Herz des Menschen Walther von der Vogelwiede eine tiefe Wunde
trug und Hildegunde eine Chiffre für ein real existierendes Mädchen ist. Solcherart
vom Dichter besiegt, lassen wir noch einige Meisterwerke folgen, und vergessen
dabei auf unserere „Pflicht“, die ausführliche Interpretation:
Hôhiu Minne
Im folgenden Lied werden ‚Die höfische Dame‘ und die Geliebte des Sängers
getrennt angesprochen, aber nicht scharf von einander kontrastiert:
-
Strophe 1 bringt einen Natureingang, wie die Liebeslyrik des
‚Donauländischen Minnesangs‘ vor Walther
Strophe 2 preist die höfischen Damen der ‚Hohen Minne‘
Strophe 3 bringt die Minnedame und gleichzeitig persönliche Geliebte des
Sängers.
Übersetzung Lied 45,37:
1. Wenn die Blumen aus dem Gras hervorbrechen, wie wenn sie der glänzenden
Sonne entgegenlachen würden, in einem Mai frühmorgens, und die kleinen
47
Vöglein schön singen in der besten Melodie, die sie können, welche Wonne
kann sich dem vergleichen? Es ist wohl ein halbes Himmelreich. Sollen wir
sagen, was dem gleichkomme, so sage ich, was mir oft besser gefallen hat und
noch gefallen würde, wenn ich es wieder sähe.
2. Wo eine edle schöne und reine Dame, gut gekleidet und mit sorgfältigem
Gebände, aus Kurzweil in Gesellschaft geht, höfisch hochgemut, nicht allein,
bisweilen ein wenig um sich blickend, so wie die Sonne gegen die Sterne
absticht, - der Mai bringe uns all seine Wunder, was ist unter denen so
wonniges wie ihr lieblicher Anblick? Wir lassen alle Blumen stehen und glotzen
die edle Frau an.
3. Nun wohlan, wenn ihr die Wahrheit sehen wollt! Gehen wir aufs Fest des Mai!
Der ist mit all seiner Macht gekommen. Seht ihn an und seht edle Frauen an,
welches von beiden da siegte: ob ich die Trümpfe in der Hand habe. O weh,
wenn mir da jemand zu wählen befehlen würde, dass ich auf eines um des
andern willen verzichten solle, wie schnell ich mich da entscheiden würde:
Herr Mai, Ihr müsst März sein, bevor ich da meine Herrin verlieren wollte.
Die Dame des ‚Minnesangs‘ hatte auch bei Heinrich von Morungen und Reinmar von
Hagenau zwei Funktionen: der Gesellschaft Freude zu bringen, und dem Sänger
Hoffnung auf Erhörung.
In Walthers Lied 45,37 sind die beiden Funktionen getrennt. Dadurch vermeidet er
das Standardmuster der Hohen Minne, dass die Geliebte des Sängers und die edle
Dame, die der Gesellschaft Freude bringen soll, die selbe Person ist.
Nun fünf Strophen, die keine geschlossene Liedfolge ergeben, auch in den Hss.
unterschiedlich gereiht sind, aber alle dasselbe Leitthema behandeln (47,36ff.).
Ich wähle die Reihenfolge der Handschrift C. LACHMANN war überzeugt, dass keine
der Handschriften die richtige Reihenfolge bietet, und ordnete sie nach seinem
persönlichen Empfinden. Seine Anordnung erkennen Sie an den abweichenden
Zeilenzahlen, die ich am Rand angebe.
Übersetzung:
1. Einst, als man so richtig der Minne gemäß handelte, da waren meine Sprüche
voll Freude. Als dann die liebliche Minnekultur so zugrundeging, sang auch
ich zum Teil lieblos. Man soll immer so singen, wie es geradebestellt ist. Wenn
das Unhöfische jetzt wieder vergeht, so singe ich wieder über höfische Themen.
Freude und Gelegenheit zu singen werden schon noch wiederkommen: wohl
dem, der das noch erleben wird! Wenn man es mir glauben wollte: ich
verstünde mich noch auf die Kunst, wann und wie man singen sollte.
2. Ich sage euch, was uns allen allgemein schadet: die Frauen schlagen uns zu
sehr über einen Leisten (machen uns zu sehr gleich). Dass wir ihnen gleich
lieb sind, ob wir schlecht oder gut sind, seht, das Gleichmachen nimmt uns
Freude und Ehre. Würden uns die Frauen wie einst unterscheiden und sich
auch unterscheiden lassen, das würde uns allen, Männer und Frauen, mehr
nützen. Was ist schlecht, was ist gut, wenn man uns nicht mehr einteilen soll?
Edle Frauen, denkt daran, dass auch die Männer sich auf etwas verstehen:
würden sie euch alle gleich behandeln, wärt ihr gekränkt.
3. „Frau“ muss immer die höchste Bezeichnung für die Frauen sein und adelt
mehr als „Dame“, meiner Meinung nach. Wo es nun eine gibt, die sich ihrer
Weiblichkeit schämt, die höre bei diesem Lied zu und entscheide sich nachher:
unter den Damen gibt es unweibliche; unter Weibern ist das unmöglich. Die
Begriffe „Weiblichkeit“ und „Frau“ sind sehr schätzenswert. Wie es nun mit
allen Damen stehen mag, Frauen sind alle Damen trotzdem. Ein zweifelhaftes
Lob verspottet, wie bisweilen „Dame“. „Frau“ ist ein Lob, das, sie alle krönt.
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4. Zwei Tugenden habe ich doch, wie ungehobelt ich auch sein mag, die habe ich
von Kindheit an in mir vereint: ich bin in Gelsellschaft der Frohen in
vernünftigem Maß froh und lache ungern, wenn man neben mir weint. Um der
Leute willen bin ich froh, um der Leute willen will ich mir Sorgen machen.
Wenn mir gerade anders als so zu Mute ist, was macht das? Dann borge ich
mir eben ihre Stimmung aus. Wie sie sind, so will ich sein, damit sie meine
nicht überdrüssig werden. Manchem ist gleichgültig, was einen anderen
bekümmert. Der möge auch in Gesellschaft schlecht gelitten sein.
Empathie, die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, wird hier durch borgen
ausgedrückt:
Der Dichter besitzt die Fähigkeit, sich die Gefühle anderer „auszuborgen“, in
besonderem Maß.
Von den modernen Ausdrücken entspricht Gesellschaftskunst: Das Publikum und
seine Empfindungen soll sich in der Dichtung spiegeln, nicht der Autor.
Übersetzung L 49,12:
Ich sang seinerzeit für die Frauen um ihren bloßen Gruß, den nahm ich als Lohn für
mein Lob. Wo ich nun vergebens auf den Lohn warten muss, da möge ein anderer
loben, den sie schön grüßen. Wo ich mit meinem Gesang keinen Gruß verdienen
kann, dort wende ich sehr herrischer Mann meinen Nacken oder eine Wange hin.
Das heißt „ich empfinde für dich genauso wie du für mich“. Ich werde mein Lob
Frauen zu kommen lassen, die danken können. Was habe ich von den
Übervornehmen?
Die Begriffe müssen wir in ihrem Kontext verstehen. Im vorigen Lied hatte wîp
Vorrang vor vrouwe.
In der folgenden Strophe scheint es anders auszusehen. Sie ist die 3. Strophe eines
Liedes, das ich nicht als Ganzes vorführe.
Sie lautet (63,20):
Vriundîn und vrouwen in einer wæte
wolte ich an iuch einer gerne sehen,
ob ez mir sô rehte sanfte tæte,
alse mir mîn herze hât verjehen.
Vriundinne, daz ist ein süezez wort,
doch sô tiuret vrouwe unz an daz ort.
Die unterschiedliche Konnotation von vrouwe, einmal im Gegensatz zu wîp, einmal
im Gegensatz zu vriundinne, versuchen wir durch die Übersetzung einmal mit ‚Dame‘
und einmal mit ‚Herrin‘ auszudrücken.
L 118,24:
Dieses Lied ist der einzige Versuch Walthers, seine Dame mit antiken Heroinen zu
vergleichen. Heinrich von Morungen ist der einzige Dichter, von dem Walther
Anregungen übernommen hat, der öfters antike Stoffe aufnimmt. Sollte Walther es
zu Morungens Ehren anlässlich einer Begegnung der beiden verfasst haben?
Übersetzung:
1. Ich bin nun so richtig froh, dass ich schon fast Wunder zu wirken beginne.
Vielleicht kommt es dazu höher auf als die Sonne. Gnade, einzige Königin!
2. Wie oft ich auch die Schöne gesehen habe, nie konnte ich verhindern, dass
mir dabei immer die Augen glänzten. Ob es kalter Winter war, war mir
49
gleichgültig. Anderen Leuten kam er beschwerlich vor, aber mich dünkte
währenddessen, als wäre ich mitten im Mai.
3. „Hör doch, Walther, wie es mir geht, mein lieber Kamerad von der Vogelweide.
Ich suche Hilfe und Rat: die Schöne tut mir großes Leid an. Singen wir doch
miteinander, dass ich mit ihr auf der blühenden Heide Blumen pflücken soll.“
4. Dieses liebliche Lied habe ich meiner persönlichen Dame zu Ehren gesunden.
Dafür soll sie mir dankbar sein: ihretwegen will ich meine Freude vergrößern.
Sie kann mich wohl im Herzen verwunden: was nun, wenn sie mich verletzt?
Es steht in ihrer Macht, das zu ändern.
5. Niemand konnte mich je dazu überreden, mich von dieser Hoffnung zu
trennen. Wenn ich von ihr abließe, wo fände ich denn eine so scöhne wieder,
die so ohne Falsch wäre? Sie ist schöner und wird noch mehr verherrlicht als
Helena und Diana.
Wenn die Rekonstruktion der Strophenfolge richtig ist, dann sagt Walther hier
Wesentliches über den Identitätstausch zwischen Dichter, Sänger und Figur und die
Spiegelung von Menschen in Figuren. Deckten die Interpreten des 20. Jh. von
Abschreibern nicht erkannten Tiefsinn Walthers auf oder machten sie Walther hier
tiefsinniger als er sein wollte? Die Anspielung auf Morungen wäre als Schlusspointe
effektvoll.
50
2. Späte niedere oder neue hohe Minne?
Nach Walthers Aussage, ohne mâze nach der Niederen wieder der Hohen Minne zu
verfallen, möchte man alle Lieder, die ‚später‘ als die ‚Preisliedgruppe‘ entstanden zu
sein scheinen, der ‚Neuen Hohen Minne‘ zurechnen.
Doch gibt es Lieder, die eine ‚Dame‘ nennen, ohne sie als ‚Mädchen‘ zu kennzeichnen,
die aber für sie Attribute aus dem Bereich des einfachen Volkes holen. Daher setzte
Carl VON KRAUS die ‚Niedere Minne‘ erst nach der ‚Preisliedgruppe‘ an. Wir rechnen
Lieder, die sich nicht direkt an ein einfaches Mädchen wenden, nicht den
Mädchenliedern zu, sondern lassen die Hohe Minne Walthers allmählich in eine nicht
standesbezogene Dichtung übergehen (‚Ebene Minne‘).
Hierher gehören die folgenden Lieder.
L 112,3 - Übersetzung:
1. Sollte ich noch erlebe, dass ich mit der Geliebten Rosen pflücke, so würde
ich mich mit ihr dabei so unterhalten, dass wir für immer Freunde sein
müssten. Würde mir einmal ein Kuss von ihrem roten Mund zuteil so wäre
meine Freude gesundet.
2. Wozu brauchen wir liebe Worte? Wozu brauchen wir Gesang? Wozu
brauchen wir Frauenschönheit? Wozu brauchen wir Reichtum? Weil man
niemanden sieht, der froh sein möchte, weil man ohne Angst Böses tut, weil
man so sehr gegen Treue, Freigebigkeit, Wohlerzogenheit und Ehre handelt,
verzagen viele, auf Freude zu hoffen.
L 39,1 – Übersetzung:
Auch der Pessimismus dieses Liedes erweckt den Eindruck, dass es erst in einer
späteren Epoche entstand. ‚Pessimistische Lieder‘ ist ein inhaltliches Kriterium der
Gruppenbildung, kein chronologisches, doch tragen alle datierbaren Gedichte
Walthers, die nach 1220 anzusetzen sind, einen pessimistischen Grundton.
Walthers Spruchdichtung, ab 1198, gab sich zunächst meist kämpferisch oder
verspottete einen Gegner. Wenn sie den Eindruck erweckt, von Kampfgeist allmählich
in Resignation überzugehen, bringt die Anwendung dieses Kriteriums auf die fiktive
Chronologie der Liebeslyrik wahrscheinlich oft zutreffende Resultate.
1. Uns hat der Winter allgemein geschadet. Heide und Wald sind jetzt fahl, in
denen früher viele Stimmen lieblich erklangen. Sähe ich die Mädchen an der
Straße den Ball werfen! Dann käme uns der Vogelgesang zurück.
2. Könnte ich doch den Winter verschlafen! Bleibe ich derweil wach, so hasse ich
ihn dafür, dass seine Macht so groß ist. Weiß Gott, er wird doch dem Mai
weichen, dann pflücke ich Blumen, wo nun Reif liegt.
Der humorvolle Tausch von Ursache und Wirkung: wenn die Mädchen wieder auf der
Straße spielten, würde es Frühling, statt umgekehrt, überspielt hier eine traurige
Grundstimmung.
Das Ballspiel der Mädchen an der Straße bringt Figuren auf die Bühne, die Neidhart
von Reuental übernehmen wird; doch der wird die Möglichkeit erotischer Darstellung,
die Walther höfisch weglässt, voll ausnützen.
L 62,6 – Übersetzung:
Dieses Lied bringt ein chronologisch sicher spätes Bekenntnis zur edlen, höfischen
Dame. Der Klausner, von dem hier die Rede ist, ist eine Anspielung auf den
berühmten jähzornigen Klausner aus dem 3. Reichsspruch. Der Klausner wird hier
wie eine altbekannte Figur behandelt, was den Eindruck erweckt, als liege die Zeit
der Reichssprüche schon etliche Jahre zurück. Auch das komplizierte Reimschema
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(Zeilen mit Anfangs- und Endreim) erinnert an Walthers Altersdichtung. Dass der
Klausner hier eine Chiffre für Walthers eigenes ungestümes Wesen ist, zeigt, dass
trotz aller methodisch notwendigen Trennung von ‚Autor‘ und ‚Ich‘ doch bisweilen
das ‚Ich‘ der Lieder auf den Autor Walther verweist.
1. Wenn ich mich selbst rühmen soll, so bin ich in der Hinsicht sehr höfisch,
dass ich so viel schlechtes Benehmen erdulde, obwohl ich es schelten könnte.
Ein Klausner, ob er es übergehen könnte? Ich glaube, nein. Hätte er dieselben
Möglichkeiten, die ich habe, und es überkäme ihn ein Zörnlein, so würde er
unsanft antworten, während ich es ganz sanft sein lasse. Das und noch mehr
übergehe ich aus einem bestimmten Grund.
2. Herrin, Ihr seid schön und edel zugleich, zu diesen beiden passt Gnade gut.
Was schadet es Euch, wenn jemand Euer begeht? Die Gedanken sind doch
frei. Hoffnung und Wunsch, auf die würde ich verzichten. Was kann ich
dagegen tun, wenn meine Sinne dort Hofdienst leisten? Was kann ich dafür,
wenn sie euch meine Lieder widmen? Das merkt Ihr vielleicht gar nicht, ich
ernte aber trotzdem großen Dank dafür. Wenn Euch mein Lob bei Hof preist,
so gereicht mir das zu Ansehen.
3. Herrin, Ihr habt mir gesagt, dass wenn jemand mich betrübt, ich den dagegen
froh machen soll: vielleicht schämt er sich dann und wird wieder gut. Ob diese
Lehre ehrlich gemeint war, das soll sich an Euch zeigen. Ich mache Euch
Freude, Ihr macht mir Kummer. Schämt Euch dafür, wenn ich es zu sagen
wage, lasst Euer Wort nicht unwahr werden und werdet gut: dann habt Ihr
wahr gesprochen. Ihr seid sehr gut, aber ich will von Gutem Gutes.
Scherzt Walther nur?
Unter Walthers Gedichten finden sich, außer ganz ernsten, viele, in denen Walther
Späße macht, aber in denen man durchhört, dass es traurige oder böse Witze sind.
Es gibt auch ein paar Gedichte Walthers, in denen wir nur den Spaß merken und
nicht wissen: meint Walther einen bloßen Spaß, oder versteckt er hinter dem Spaß
Kritik, die nur Zeitgenossen merken konnten?
Das scherzhafte „Vokalspiel“ (L 75,25) – Übersetzung:
1. Die Welt war gelb, rot und blau; grün im Wald und anderswo. Da sangen die
kleinen Vöglein. Jetzt schreit wieder die Nebelkrähe. Trägt die etwa eine andere
Farbe? Ja. Sie ist bleich und übergrau geworden. Deswegen rümpfen viele die
Brauen.
2. Ich saß auf einem grünen Hügel, da wuchsen zwischen mir und einem See
liebliche Blumen und Klee. Diese Augenweide gibt es dort nicht mehr. Wo wir
einst Kränze brachen, da liegt nun Reif und Schnee. Das tut den Vöglein weh.
3. Die Toten sprechen: „Schnei doch, schnei!“, die armen Leue: „O weh, o weh“.
Ich bin deswegen bleischwer. Ich habe drei Wintersorgen. Von denen und den
anderen würde ich schnell frei, wenn uns der Sommer ins Haus stünde.
4. Bevor ich lange so leben wollte, würde ich lieber den Krebs roh essen. Sommer,
mach uns wieder froh, du zierst Wiese und Wald. Damals spielte ich mit den
Blumen, mein Herz stieg empor zur Sonne; das verjagt der Winter auf ein
Strohlager.
5. Ich bin vergammelt wie eine Sau, mein glattes Haar ist struppig geworden.
Lieber Sommer, wo bist du? Fürwahr, ich würde lieber Ackerbau sehen! Bevor
ich lange in einer solchen Klemme sitze wie nun, würde ich lieber Mönch in
Dobirlugk.
Das Kloster Dobrilugk ist wenig bekannt und wäre auch Walther wohl kaum bekannt
geworden, wenn er nicht zeitweilig im Dienst des Markgrafen von Meißen gestanden
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wäre. Walthers politische Sprüche von 1212 zeigen das. Meißen wäre auch ein guter
Ort gewesen, Heinrich von Morungen zu treffen, und es gibt kein Hindernis, den
Hinweis auf Helena und Diana dort entstanden sein zu lassen. Dann müssen wir
aber davon ausgehen, dass nicht nur Lieder und Sprüche nebeneinander entstanden,
sondern neben ernsten Liedern gleichzeitig auch scherzhafte.
Das Halmorakel (L 65,33):
Im ‚Halmorakel‘ ist die Stellung zur Dame wie in der Hohen Minne. Das Mittel, das
dem Sänger zum Glauben an die Geliebte verhilft, ist so rührend wie allgemein;
Goethes Gretchen lässt sich durch ein Blumenwort Faustens Liebe bestätigen.
Walthers Sänger dagegen klammert sich an den letzten Strohhalm, den die Hoffnung
bietet:
1. In einer Stimmung voller Zweifel hatte ich mich niedergesetzt und dachte, dass
ich ihr den Dienst aufkündigen sollte; nur ein Trost brachte mich wieder
zurück. Trost kann man es nicht recht nennen, o weh darüber! Es ist
eigentlich kaum ein kleines Tröstlein, so klein, dass ihr mich ausspottet, wenn
ich es euch erzähle. Doch freut sich niemand ganz ohne Grund.
2. Mich hat ein Strohhalm froh gemacht. Er sagt, ich solle Gnade finden. Ich maß
das kleine Stroh ab, wie ich es früher bei den Kindern gesehen hatte. Nun hört
zu und passt auf, ob sie es tun wird: „Sie tut es, sie tut es nicht, sie tut es, sie
tut es nicht, sie tut es.“ Wie oft ich auch so maß, war immer das.
3. Wie lieb sie mir auch von Herzen ist, so kann ich es doch leicht ertragen, dass
man an ihrer Seite dient. Ich brauche ihnen nicht neidig zu sein, wenn sie um
sie werben. Denn ich kann, weil ich das weiß, nicht glauben, dass jemand sie
leicht in Zweifel bringen könnte. Mir ist lieb, dass die Betrogenen erfahren,
was sie täuscht, und es ist schon allzu lang, dass die Prahlhänse sie angaffen.
Die Steigerung wird vom Aberglauben bis zum vollständigen Realitätsverlust des
Sängers durchgeführt. Trotzdem glauben manche, ein anderer Scherzbold hätte
Walthers Halmorakel geschmäht, und Walther hätte mit einem anderen Spruch
seinen Halm gegen eine Bohne verteidigen müssen.
Die meisten lustigen Gedichte Walthers, wie das ‚Halmorakel‘, sehen aus, als hätten
sie keinen politischen Hintergrund. Der Bohnenspruch aber sieht aus, als sollte er
irgend einen politischen oder religiösen Hintergrund gehabt haben; der ist uns aber
unbekannt.
Es gibt drei vertretbare Meinungen:
- 1. Er hat einen politischen oder religionspolitischen Hintergrund, nur wissen
wir nicht, welchen.
- 2. Er hat gar keinen Hintergrund, er soll nur ein lustiger Fastnachtsscherz
sein.
- 3. Die realitätsbezogenen Deutungen haben Recht, die die Klage über eine
Hungersnot darin sehen wollen.
Mir scheint er das dritte am wenigsten zu sein; aber beweisen lässt sich nichts.
Gleichviel, er ist lustig:
L 17,25 – Übersetzung:
Wie ehrenvoll ist Frau Bohne, dass man so von ihr singen soll? Sie rechter
Fastenfraß! Sie ist zum Mittagessen und zum Abendessen gleicherweise faul und voll
von Maden, auch wenn sie noch jung ist. Ein Halm dagegen ist kräftig und gut: was
tut er uns nicht alles Liebes! Er erfreut viele, und wie erst sein Samen! Von Gras wird
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ein Halm zu Stroh, er erfreut viele Herzen, er ist nieder und hoch gleich gut. Frau
Bohne – „aber erlöse uns von dem Bösen, amen“.
Interpretation:
Unsere wohlschmeckenden Gartenbohnen wurden erst in der Neuzeit aus Amerika
importiert. Die in Europa früher ‚Bohnen‘ genannten Pflanzen heißen heute
„Ackerbohne“ oder, wegen ihres unangenehmen Geschmacks, „Saubohne“; sie essen
zu müssen, gilt seit der Antike als Zeichen von Hungersnot.
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XIV. Walthers politische Sprüche
1. Walther und das Reich unter Philipp und Otto
Am 28. 9. 1197 starb Heinrich VI., der ältere Sohn von Kaiser Friedrich I. Barbarossa.
Sein eigener Sohn, der spätere Kaiser Friedrich II., wurde am 26. 12. 1194 in Iesi bei
Ancona geboren. Das weihnachtliche Datum und der an Jesus erinnernde Ortsname
verhießen dem Kind Gottesgnade, aber zum Kaiser war der nicht einmal Dreijährige
zu jung. Das Imperium war ein Wahlreich. Die Fürsten waren bereit, dem jeweils
regierenden König zu schwören, seinen Sohn als Nachfolger zu wählen, aber das
funktionierte nur, wenn der Herrscher einen Sohn in regierungsfähigem Alter
hinterließ.
Die staufische Partei wollte zunächst dem Kleinkind den Thron sichern, indem sein
Onkel, der jüngere Bruder des verstorbenen Heinrich, der junge, aber doch schon
erwachsene Philipp von Schwaben (geb. ca. 1178), für ihn als Reichsverweser auftrat.
Als klar wurde, dass die Fürsten einen tatsächlichen König wollten, nicht einen
Reichsverweser für ein Kind, kandidierte Philipp selbst für das Herrscheramt und
wurde von der Mehrheit der bei der Wahl anwesenden Fürsten gewählt. Der
Erzbischof von Köln und andere nahmen an der Wahl nicht teil. Eine Minderheit der
Fürsten wollte keinen staufischen König, sondern den Welfen Otto, den Sohn
Heinrichs des Löwen. Heinrich der Löwe war der Todfeind der Staufers Friedrich I.
Barbarossa gewesen.
Zu Ottos Anhängern gehörte der Erzbischof von Köln, der die Königskrönung zu
vollziehen hatte, und in dessen Erzdiözese auch der Krönungsort, Aachen, lag.
Philipp besaß, außer der Stimmen der Mehrheit der Fürsten, die Reichsinsignien
(Reichskrone, Reichslanze und Reichskreuz), die schon von seinem Vater und seinem
Bruder her in den Händen der staufischen Familie waren. Der Erzbischof von Köln
als zur Krönung berechtigter Bischof krönte Otto IV. am richtigen Ort, in Aachen,
aber ohne die richtigen Insignien, während Philipp am falschen Ort (Mainz) und von
einem falschen Bischof (aus Burgund), aber mit den richtigen Insignien gekrönt
wurde.
Im Bewusstsein des Volkes hatte der mehr Recht auf die Königswürde, der die
richtige Krone trug, die seit Otto I. zum Symbol des Imperiums geworden war. Die
Mehrheit der Fürsten, die Philipp gewählt hatten, sicherte die politische
Durchsetzbarkeit; den Rang eines Mehrheitsbeschlusses im Sinne demokratischer
Gremien von heute besaß ein mittelalterlicher Mehrheitsbeschluss aber nicht. Dass
der Papst den vom richtigen Bischof gekrönten anerkennen würde, war zu erwarten.
Walther stand, wie wohl fast alle deutschen Laien und auch ein Teil des deutschen
Klerus auf der Seite dessen, den mehr Fürsten gewählt hatten und der die richtigen
Insignien trug. Wenn Walther um diese Zeit vom Wiener Hof scheiden musste und
sich an König Philipp wandte, verblieb er, da Leopold VI. durch Verwandtschaft und
durch gemeinsame politische Interessen dem staufischen Kaiserhaus verbunden
war, ideell im selben Lager. Schon dieser erste von Walthers Dienstwechseln, wie
auch die weiteren, scheint weniger durch Gesinnungswechsel als auf Unleidlichkeit
wegen zu herausfordernden Betragens gegen standesmäßig höhere Mitglieder der
Hofgesellschaft oder gar den Herrscher begründet zu sein.
Die Sprüche für Philipp: 2. und 1. ‚Reichsspruch‘
Walther dichtete 3 Sprüche im gleichen Spruchton, genannt ‚Reichston‘, die ähnlich
beginnen und dadurch den Charakter einer Dreiheit tragen:
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Ich saz
Ich hôrte
Ich sach.
Sie entstanden jedoch nicht gleichzeitig.
Nach der Proklamation Ottos im Juni 1198, vielleicht nach der Krönung Ottos im
Juli, aber noch vor der Krönung Philipps, die im September 1198 in Mainz erfolgte,
muss der ‚2. Reichsspruch‘ (8,28) entstanden sein. Der berühmte ‚1. Reichsspruch‘
Ich saz ûf eime steine ist durch seine allgemein gehaltenen Aussagen nicht exakt
datierbar, doch passt er auf die selbe Situation. Die ersten beiden Reichssprüche
können ungefähr gleich alt sein. Der ‚3. Reichsspruch‘ rekapituliert die Ereignisse bis
1201; er muss der jüngste sein.
Wir beginnen, wegen seiner guten Datierbarkeit, mit dem ‚2. Reichsspruch‘ (8,28):
Übersetzung:
Ich hörte die Wasser rauschen und sah die Fische dahinschwimmen, ich sah alles,
was in der Welt war: Wald, Feld, Laub, Rohr und Gras. Alles was schwimmt oder
fliegt oder Beine erdwärts biegt, das sah ich und sage euch folgendes: keines von
denen lebt ohne Hass. Das Wild und das Gewürm (Schlangen und Drachen) fechten
schwere Kämpfe aus, ebenso tun es die Vögel untereinander; nur in der Hinsicht
haben sie Verstand: sie wären verloren, wenn sie kein strenges Gerichtswesen
einsetzten. Sie wählen Könige und Rechtsordnung, sie bestimmen, wer Herr und wer
Knecht sein soll. Deshalb wehe dir, deutscher Teil des Imperiums! Wie steht es um
dine Ordnung! Wo doch sogar die Mücke ihren König hat, zerrinnt deine Ehre derart.
Bekehre dich, bekehre dich. Die Kronreifen sind zu präpotent und die armen Könige
bedrängen dich, Philipp, setz den Waisen auf und befiehl ihnen zurückzutreten.
Interpretation:
Welche Kronen sind zirkelförmig, und wen hätte Walther als ‚arme Könige‘titulieren
können?
Im 19. Jahrhundert dachte man an den Gegensatz zwischen König und Fürsten und
ließ Walther mit zirkel einen Herzogshut meinen.
Die ‚armen Könige‘ sollten die Gegenkandidaten sein, die nicht genug Geld besaßen,
durch entsprechende Wahlgeschenke die Gunst der einflussreichsten Fürsten zu
gewinnen. Dagegen wandte vor allem BURDACH ein, dass aus der Zeit um 1200 keine
Kronreife von Fürsten belegt sind.
Schmale Kronreife waren die Kronen der Könige von England und Frankreich, im
Gegensatz zur achteckigen deutschen Krone, die Otto der Große hatte anfertigen
lassen. Die ursprünglich im Wettkampf der Kronenhöhe unterlegenen französischen
Kronreifen wurden erst im Laufe der Zeit durch Hochziehen der Lilienornamente
ansehnlicher, hêre.
‚Arm‘ waren die Könige nicht; ausgenommen Richard Löwenherz, weil alle Schätze
Englands bezahlt wurden, um ihn aus der Gefangenschaft des Kaisers und Leopolds
V. auszulösen. Man vermutet, arme künege sei die deutsche Variante eines Terminus
der kaiserlichen Kanzlei, reguli provinciarum: ‚Kleinkönige der Provinzen‘ nannte
man die Könige der Länder, die Provinzen des römischen Reiches gewesen waren, vor
allem die von England (Britannien) und Frankreich (Gallien). Der Sitz des Imperiums
war von Rom auf Aachen, also den fränkischen König, übergegangen, der schon
durch die Königskrönung Anrecht auf die Kaiserkrone hatte. Dem Anspruch, Herr
über die ganze Christenheit zu sein, entsprach die Realität nicht. Es war sogar nicht
auszuschließen, dass die armen künege selbst Anspruch auf die Kaiserkrone
erhoben.
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Warum wird die Kaiserkrone als ‚Waise‘ bezeichnet?
So hieß der größte und schönste der Edelsteine, mit denen sie verziert war; ein rötlich
leuchtender Stein, den der Sage nach Herzog Ernst aus dem Morgenland mitgebracht
hatte. Dieser schönste Stein der Krone war nicht vorne, ober der Stirn des
Herrschers, eingelassen, sondern hinten, über dem Nacken. Wenn der Kaiser der
Christenheit voranschreitet, haben alle ihm nachzufolgen; wenn die Könige hinter
den Kaiser zurücktreten, sehen sie den schönsten Stein als ihren Führer.
Philippe wird von manchen als Vokativ, von anderen als Dativ aufgefasst. Mir ist die
Deutung als Vokativ lieber. Sie ist grammatikalisch korrekter (lat.: Vokativ -e, Dativ
-o). Die Deutung als Dativ geht davon aus, dass sich der König um 1200 bei der
Krönung nicht selbst die Krone aufsetzte, sondern sie vom Bischof aufgesetzt bekam.
Ein Streit, ob der König schon (von eigener Hand) gekrönt in der Kirche erscheinen
darf oder nur der Bischof das Recht zur Krönung besitzt, ist aus dem 12. Jh. zwischen
dem englischen König Heinrich I. und dem Erzbischof von Canterbury belegt:
Heinrich war zu seiner Hochzeit gekrönt in der Kirche erschienen, und der Erzbischof
verweigerte die Eheschließung, wenn er nicht dem König die Krone abnehmen und
wieder aufsetzen dürfe. Heinrich musste nachgeben. Obwohl sich im Laufe des 12.
Jh. durch solche Erpressungen das Recht der Bischöfe, dem König die Krone
aufzusetzen, durchsetzte, wird es sich wohl unter Laien gehalten haben, dass ‚der
König die Krone aufsetzt‘, als Zeichen für die anderen, ihm zu gehorchen.
Friedrich II. krönte sich 1229 eigenhändig zum König von Jerusalem. Diese Krönung
des vom Papst mit dem Bann belegten Friedrich wurde zwar nicht allgemein
anerkannt, doch zeigt sie die Bereitschaft der Laien, Selbstkrönung eines Herrschers
auch noch im 13. Jh. zu akzeptieren.
Diese Frage entscheidet die Datierung des 2. Reichsspruches, denn als Aufforderung
an die tiusche zunge, Philipp zum König zu machen, wäre er schon vor der Wahl
entstanden; als Aufforderung an Philipp, die Krone aufzusetzen, im zweiten erst
zwischen Wahl und Krönung. Die Aufforderung ans ‚Volk‘, den König zu krönen,
kommt aus Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Walther hätte kaum eine
Fürstenversammlung als tiuschiu zunge apostrophiert. Das ordenunge als Reimwort
auf zunge zeigt, was tiuschiu zunge bedeutet: der Herrschaftsbereich, in dem nach
deutschem Recht gerichtet wird, das ist der des deutschen (fränkischen) Königs. In
diesem Sinne ist der Vokativ ‚Philipp, setz die Krone auf!‘ zu bevorzugen. Dann ist die
Datierung zwischen Wahl und Krönung anzunehmen.
Der nächste Spruch (18,29) nimmt direkt auf die KrönungPhilipps Bezug:
Übersetzung:
Die Krone ist älter als der König, Philippus. Daran könnt ihr alle ein Wunder
erkennen, wie genau passend der Schmied sie für ihn gemacht hat. Sein kaiserliches
Haupt ziemt ihr so gut, dass niemand Guter sie mit Recht trennen darf. Keines von
beiden ist des anderen unwert. Sie strahlen beide einander an, das edle Gestein im
Wettstreit mit dem jungen liebenswerten Mann: eine solche Augenweide sehen die
Fürsten gern. Wenn nun jemand nicht weiß, wo das Reich ist, der schaue, wer den
Waisen über seinem Nacken trägt: dieser Stein ist der Leitstern aller Fürsten.
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Interpretation:
Ein Wunder zur Beglaubigung der göttlichen Gnade (Charisma) ist in
Krisensituationen von Hilfe. Hier besteht das Wunder darin, dass die Krone Philipp
genau passt, obwohl sie schon Jahrhunderte alt ist. Zeigte Gott durch ein Wunder,
dass die richtige Krone wichtiger ist als der richtige Krönungsort? Doch der Herrscher
soll nicht nur Gottes Gnade besitzen, er soll als sein Stellvertreter auch möglichst
viele Züge mit Gott gemeinsam haben.
Das zeigt ein Spruch Walthers (19,5), der auf Weihnachten 1199 zu datieren ist: nur
in diesem Jahr feierte Philipp Weihnachten in Magdeburg.
Übersetzung:
Es schritt, an einem Tag der Geburt unseres Herrn aus einer Jungfrau, die er sich
zur Mutter auserwählt hatte, der König Philipp in einer Prozession in Magdeburg
einher. Da ging ein Bruder eines Kaisers und der Sohn eines Kaisers in seiner einen
Person, wenn auch die Begriffe drei sind. Er trug das Zepter und die Krone des
Reiches. Er schritt ebenmäßig einher, er hatte es nicht eilig; hinter ihm schritt eine
hochgeborene Königin nach, eine Rose ohne Dorn, eine Taube ohne Galle. Der
Inbegriff höfischen Benehmens war hier versammelt: die Thüringer und die Sachsen
leisteten da so den Hofdienst, dass es den Weisen gefallen musste.
Philipp war ‚dreifaltig kaiserlich‘:
- Selbst schon gekrönt
- Sohn Kaiser Barbarossas
- Bruder Kaiser Heinrichs VI.
‚Die Weisen‘ sind ein Wortspiel auf: einerseits die in Magdeburg anwesenden weisen
Leute, die sich auf Zucht verstanden, anderseits die Weisen aus dem Morgenland =
die heiligen drei Könige. In dieser Weihnachtsprozession zog auch eine Tochter eines
Kaisers mit: Philipps Gattin Irene war die Tochter des oströmischen Kaisers Isaak
Angelos. In Deutschland nannte sie sich Maria. Die Mariensymbolik war bestellt. Den
kaiserlichen Rang Irenes deutet Walther durch das ‚hochgeboren‘ an.
Der ‚1. Reichsspruch‘ (8,4)
Der bekannteste Spruch im Reichston, der sogenannte ‚1. Reichsspruch‘, ist wegen
seiner allgemein gehaltenen Aussagen nicht so genau zu datieren wie die beiden
anderen; am ehesten passt er auf die Verhältnisse nach der Doppelwahl und vor
Philipps Krönung. Die Aussagen sind allgemein, haben aber konkreten politischen
Stellenwert: den allgemeinen Landfrieden, vride und reht, hat der König aufrecht zu
erhalten. Iustitia et pax hat der König bei der Krönung zu beschwören. In einer
königslosen Zeit ist das eine tagespolitische Aufforderung, die Königsherrschaft
herzustellen.
Die drei Güter, die Walther vereint haben möchte, sind nicht als geschlossenes
System zu verstehen, in dem Sinne, dass diese drei und keine anderen die höchsten
zu erstrebenden Güter seien, von denen eines mehr wert ist als die beiden anderen.
Walther sagt öfters erstens, zweitens, drittens; er kennt in anderem Zusammenhang
auch andere erstrebenswerte Güter (die Minne seiner Dame), die sich hier nicht
einordnen lassen.
Es verwundert, dass die Ehre auf derselben Ebene wie die bewegliche Habe steht.
Ehre ist ‚Ansehen des Menschen in der höfischen Gesellschaft‘, unabhängig davon,
ob man sich tatsächlich ehrenhaft verhält und zu Recht geehrt wird oder nicht.
58
Walther hat ein kontextabhängiges Begriffssystem: sein Mädchen, das êre hât (74,28)
ist ehrenhaft. Die Ehre als Ansehen bei Hof steht dagegen in Walthers
Wertehierarchie deutlich unter Gottes Huld, der zweier (Ehre und Güter) übergulde.
Wenn im Reich Friede und Recht garantiert wären, würden Besitz (des Einzelnen),
Ehre (die Relation zur Gesellschaft, zu den Mitmenschen) und die Beziehung zu Gott
einander nicht stören. Die Weltordnung wird durch einen sein Amt ausübenden
König garantiert.
Die markante Stellung Walthers, auf einem Steinsitz, die Beine übereinander
geschlagen, einen Ellbogen auf den Oberschenkel gestützt, das Kinn und eine Wange
in die Hand geschmiegt, war die Grundlage für seine Darstellung in der großen
Heidelberger und der Weingartner Liederhandschrift – mit Kaiserkrone und
Reichsschwert; mit einer Schriftrolle, die seine Dichtung symbolisiert. Zur Krone: Wie
die echte aussah, wussten die Zeichner anscheinend nicht genau. Zum Schwert:
Dieter MÜCK gelang es, auf dem Schwert in C das Wort pax zu lesen. Das spricht für
das Nachdenken des königlichen Richters.
Was bedeutet diese Körperhaltung?
Unbestritten ist sie die Symbolhaltung des Denkers. Doch Denkerhaltungen
begegnen auf mittelalterlichen Darstellungen in vielen Zusammenhängen, etwa der
Trauer, der Herrschaft und des Richtens.
Besonders von der Richterfunktion gehen die meisten Interpretationen des ersten
Reichsspruches aus. Jeder Richter ist verpflichtet, das zu sprechende Urteil zu
erwägen; dazu gehört nach formalem mittelalterlichem Denken auch, die
entsprechende Haltung bei der Urteilsfindung einzunehmen.
Beachtung gefunden hat auch der Stein, sicher nicht irgendein Felsbrocken, sondern
ein direkt der Erde entwachsener und damit die Verbindung zu ihr garantierender,
besondere Kräfte vermittelnder Platz. Es gibt umfangreiche Literatur über magische
Bedeutung solcher Steine in verschiedenen Gesellschaften; ein Relikt sind
Herrscherthrone aus Stein (wie der Thron Karls des Großen in Aachen),
Fürstensteine unter freiem Himmel und anderes. Walther als Weltenrichter? Damit
haben die drei Reichssprüche nicht nur entsprechende Anfänge (ich saz, ich hôrte,
ich sach) und das zentrale Thema der Sorge um das Reich, sondern auch die
gemeinsame Figur des mit übernatürlichen Kräften begabten Sängers:
Übersetzung:
Ich saß auf einem Stein und schlug ein Bein über das andere. Darauf setzte ich den
Ellbogen. Ich hatte mein Kinn und meine eine Wange in meine Hand geschmiegt. In
dieser Stellung dachte ich angestrengt darüber nach, wie man sich auf der Welt
verhalten solle. Ich konnte keinen Rat geben, wie man drei Dinge erwürbe, ohne dass
eines von ihnen zugrunde ginge: die ersten beiden sind Ehre und bewegliches Gut,
was einander oft schadet, das dritte ist die Huld Gottes, die noch mehr wert ist als
die beiden. Die alle hätte ich gerne in einem Schrein beisammen. Ja leider, das ist
unmöglich, dass Vermögen und Ehre bei den Menschen und dazu noch Gottes Huld
zusammen in ein Herz kommen könnten. Stege und Wege dazu sind ihnen
genommen, denn die Untreue lauert im Hinterhalt und die Gewalt zieht offen auf der
Straße einher. Friede und Recht sind schwer verletzt. Die drei haben keinen
Geleitschutz, bevor diese beiden gesunden.
Der ‚3. Reichsspruch‘ (9,19)
Walther rekapituliert im ‚3. Reichsspruch‘ die Ereignisse bis 1201, als Papst Innozenz
III. Philipp bannte.
59
Übersetzung:
Ich sah mit meinen eigenen Augen heimlich alle Menschen, so dass ich alles hören
und sehen konnte, was irgendjemand tat oder sprach. In Rom hörte ich, wie man log
und zwei Könige betrog. Dadurch entstand der größte Streit, den es jemals gegeben
hat, als sich Kleriker und Laien entzweiten. Das war ein Unglück, größer als alle
anderen, denn da verlor man Leib und Seele gleichzeitig. Die Kleriker kämpften heftig,
doch wurden die Laien immer mehr. Da legten sie die Schwerter nieder und griffen
wieder zur Stola. Sie bannten die, die sie wollten, und nicht den, den sie hätten
bannen sollen. Da störte man die Gotteshäuser. Ich hörte in einer entlegenen Klause
arges Gejammer: dort weinte ein Klausner, der klagte Gott sein Leid: „O weh, der
Papst ist zu jung; hilf, Herr, deiner Christenheit.“
Auch dieser Spruch beginnt, wie die anderen beiden Sprüche im Reichston, mit einer
Überschau, einem Machtwunsch, wie ihn Walther später im ‚Traumglück‘ (das wir
schon besprachen) als Machttraum entlarvt. Die beiden Könige sind wohl Philipp und
Otto, und das ‚betrügen‘ heißt so viel wie ‚gegeneinander ausspielen‘. Manche
glauben, Walther habe Otto zu Philipps Zeit nicht als König ansehen können,
hingegen den ‚König‘ von Sizilien, den mittlerweile sechsjährigen Friedrich II., das
‚Kind aus Apulien‘, neben Philipp gemeint: beide Staufer, der deutsche König und der
König von Sizilien, seien durch die päpstliche Entscheidung zu Gunsten Ottos
betrogen. Walther hätte Otto vollständig ignoriert. Bei einer solchen Auffassung
würde der spätere Dienst Walthers für Otto zu reinem Opportunismus.
Unmöglich ist es, den Spruch zirka zehn Jahre später zu datieren und die zwei Könige
als Otto und Friedrich anzusehen, weil die Klage des Klausners doch nur bald nach
der Papstwahl einen Sinn hat (auch Innozenz bestieg 1198 den Thron!). Verlust von
Leib und Seele: In einem Gott wohlgefälligen Krieg, in den Kreuzzügen, erwarb man
sich durch den Tod die ewige Seligkeit. In einem Gott nicht gefälligen Krieg innerhalb
der Christenheit Gefallene fuhren geradewegs zur Hölle.
Mit dem Klausner meint Walther kaum eine bestimmte Person. Nicht zu Priestern
geweihte Einsiedler, eine in dieser Zeit der Laienfrömmigkeit häufige Erscheinung,
wurden als heilige Leute verehrt und waren beim Volk angesehener als der Klerus.
Der Einsiedler Trevrizent in Wolframs ‚Parzival‘ wird von frommen Leuten am
Karfreitag aufgesucht; er erlässt Parzival seine Sünden, was nach klerikaler
Auffassung nur ein Priester dürfte.
Walthers unbärdig jammernder Klausner dürfte vor allem Chiffre für einen Teil von
Walthers Selbst sein, da er in zwei späteren Gedichten diese Figur zitiert, einmal als
Symbol für seine (Walthers) schwer aufrechterhaltene Selbstbeherrschung. Dass
Innozenz III. 1198 (also im selben Jahr wie Philipps Thronbesteigung!) mit 37 Jahren
auf den Stuhl Petri kam, ist für einen Papst ein niedriges Alter. Will Walther damit
kundtun, dass dem Papste Altersweisheit ziemt, dem Könige dagegen jugendlicher
Mut, wenn er auf die Jugend Philipps, der mit etwa 20 Jahren an die Macht kam, mit
begeisterten Worten hinweist, für den Papst dagegen 37 noch zu jung ist? Oder sagen
diese Worte, dass auch in vorgerückteren Jahren von diesem Mann keine
Altersweisheit zu erwarten sein werde, der sich noch mit 37 kindisch gebärdet?
Die ‚Konstantinische Schenkung‘ (25,11)
Fresko von 1246 in einer Kirche in Rom: Kaiser Konstantin überreicht Papst Silvester
die Tiara als Symbol päpstlicher Herrschergewalt und das Recht der militärischen
Garde. Konstantin führt das Pferd am Zügel.
60
Die sogenannte ‚Konstantinische Schenkung‘ ist eine Fälschung der päpstlichen
Kanzlei aus dem 8. Jahrhundert, welche besagte: Kaiser Konstantin (der im Jahre
313 nur das Christentum als eine Reichsreligion neben anderen anerkannt hatte)
hätte Papst Silvester mit Italien, dem weströmischen Reich und den Inseln des
angrenzenden Meeres beschenkt. Diese Fälschung hielten im Mittelalter die meisten
für echt; sogar England entrichtete als ‚Insel des Meeres‘ wohl oder übel den
‚Peterspfennig‘ als Zins an den Heiligen Petrus nach Rom. Die kaiserliche Partei war
über diese ‚Schenkung‘ unglücklich, und auch die im 12. Jh. zahlreichen
innerkirchlichen Befürworter einer ‚armen Kirche‘. Die Klage darüber legten sie einem
Engel in den Mund, der schon zur Zeit der Schenkung prophezeit hatte, der Kirche
werde daraus Unheil erwachsen.
Die prophetia ex eventu, ‚Prophezeiung nach dem Ereignis‘, ist im Mittelalter
beliebtes Mittel der Demagogie. Besondere Propheten wie Merlin haben ihr
literarisches Leben davon, dass sie angeblich schon zur Zeit von König Artus dies
oder jenes vorhergesagt haben sollen, was dann im 12. Jahrhundert eintrat. Wenn
Walther abschließend bewundernd feststellt, ‚der‘ Engel habe die Wahrheit
gesprochen, bedeutet das keine große prophetische Kunst des Engels, denn er war
nur zur Bestätigung dieser ‚Wahrheit‘ erfunden worden.
Übersetzung L 25,11:
König Konstantin, der schenkte so viel, wie ich es euch genau erzählen will, dem
Stuhl zu Rom: Speer, Kreuz und Krone. Sogleich schrie der Engel laut auf: „O weh, o
weh, zum dritten Male weh! Die Christenheit blühte, weil sie in Zucht lebte. Jetzt ist
sie vergiftet geworden, ihr Honig ist bitter geworden wie Galle. Davon wird der Welt
noch viel Leid entstehen.“ Alle Fürsten leben nun ehrenvoll, nur der höchste ist
geschwächt. Das hat die Wahl der Pfaffen verursacht. Das sei dir, lieber Gott, geklagt.
Die Pfaffen wollen das Laienrecht umstürzen. Der Engel hat uns die Wahrheit
prophezeit.
Walthers Hinweis auf das höchste Fürstenamt, das darniederliegt, könnte sich darauf
beziehen, dass die Kaiserwürde durch die 1201 erfolgte Entscheidung des Papstes
zugunsten des unwürdigen Kandidaten, Otto, in den Staub gezerrt sei. Tatsächlich
durch ein päpstliches Manifest angeregt wurde die Wahl Friedrichs II. gegen Otto,
1211/12, und Friedrich wurde daher auch ‚Pfaffenkaiser‘ genannt. Auch könnte bei
genauer Auslegung der hoehste verlangen, dass eine Kaiserkrönung schon
stattgefunden habe; Otto wurde aber erst nach Philipps Tod zum Kaiser gekrönt. An
der Interpretation der Worte wal und der hoehste hängt nicht nur die Datierung
dieses Spruches 10 Jahre früher oder später, sondern die Beurteilung der Einstellung
Walthers zum jeweiligen König und die Frage seines ‚Opportunismus‘.
Wenn man den Konstantin-Spruch so liest, dass er auf die Anerkennung Ottos gegen
Philipp passt, bleibt das differenzierte Verhalten Walthers gegen Philipp ein Rätsel,
das aus anderen Sprüchen hervorgeht. Es handelt sich bei Walthers Vorwürfen gegen
Philipp nicht, wie bei späteren Vorwürfen Walthers gegen Otto oder seine Invektiven
gegen Herzog Leopold VI., um den Vorwurf, Walther persönlich sei zu wenig belohnt
worden, sondern Walther scheint eher auf der Seite der Fürsten zu stehen, denen
Philipp mehr zukommen lassen soll.
In inhaltlich ähnlichen Strophen wird Philipp wird an den durch Freigebigkeit zu
großer Macht gelangten Alexander den Großen bzw. Sultan Saladin und an Richard
Löwenherz erinnert, der durch seine Freigebigkeit so populär war, dass ihn seine
Landsleute aus der Gefangenschaft auslösten. Dagegen steht das traurige Schicksal
von Philipps eigenem Schwiegervater: Der oströmische Kaiser Isaak II. Angelos war
61
1195 gestürzt worden. Darauf muss sich Walthers Bemerkung über Griechenland im
‚Spießbratenspruch‘ beziehen (nicht, wie vermutet wurde, auf den König von
Jerusalem). Der ‚Spießbratenspruch‘ muss wohl zur Zeit der Einführung des
Hofküchenmeisteramtes durch Philipp, ca. 1202, entstanden sein.
Der Spießbratenspruch L 17,11 (Übersetzung):
Wir sollen den Köchen raten, weil sie jetzt so hoch angesehen sind, dass sie nicht
darauf vergessen, dass sie die Bratenstücke der Fürsten viel dicker als früher
aufschneiden, zumindest mehr als daumendick. In Griechenland wurde ein
Spießbraten aufgeschnitten, das – wie hätte sie es auch anders tun sollen: der Braten
war zu dünn. Deswegen musste der Hausherr vor die Tür. Die Fürsten hielten eine
Neuwahl ab. Wenn nun jemand das Reich auf diese Weise verlöre, so wäre es besser
für ihn gewesen, wenn er nie einen Bratspieß in die Hand bekommen hätte.
König Philipp gelang es aber doch, sich allgemein durchzusetzen, und Friede für das
Reich stand in Aussicht. Da wurde Philipp 1208 in einer Privatfehde ermordet.
Pfalzgraf Otto von Wittelsbach erschlägt Philipp von Schwaben (Sächsische
Weltchronik, Erstes Viertel 14. Jh.)
Schon 1209 krönte Innozenz III. Otto in Rom zum Kaiser. Da Walther nach
anfänglicher Begeisterung sich Philipp gegenüber kritisch geäußert hatte
(Spießbratenspruch!), nahm man an, der Wechsel zu Otto als neuem Dienstherrn sei
ihm leicht gefallen. Zeugen dafür schienen die Sprüche zu sein, in denen Otto
geschmeichelt wird. Doch Arthur HATTO zeigte einen anderen Weg zum Verständnis
von Walthers Sprüchen aus Ottos Regierungszeit. Vor allem ein nach Ottos Rückkehr
nach Deutschland entstandener Spruch (11,30) bildet die Basis für HATTOs
Argumentation.
Übersetzung:
Herr Kaiser, seid willkommen. Der Name „König“ gilt nicht mehr für Euch, deshalb
erstrahlt Eure Krone über allen anderen Kronen. Eure Hand ist voll Macht und
Reichtum: je nachdem ob Ihr jemandem übel oder wohlwollt, so kann sie rächen oder
belohnen. Darüber hinaus überbringe ich Euch eine Nachricht: die Fürsten sind
Euch untertan und haben ehrerbietig auf Euch gewartet. Insbesondere der Meißner
ist ganz sicher immer der Eure: es wäre leichter, einen Engel zum Abfall von Gott zu
bringen.
HATTO: Warum wird die Treue des Meißners betont?
Ein Engel, Luzifer, fiel von Gott ab. Wie steht es mit dem Meißner? Unter der Führung
des Landgrafen Hermann von Thüringen bildete sich eine Verschwörung gegen Otto,
zugunsten von Philipps Neffen Friedrich. Zwei Chroniken geben an, dass Markgraf
Dietrich von Meißen, Hermanns Schwiegersohn, der Teilnahme an der Verschwörung
verdächtigt wurde. Otto kehrte wegen der Verschwörung von Sizilien nach
Deutschland zurück und stellte die Ordnung her. Ein Hinweis auf die Treue des
Meißners ist im Wahrheitsgehalt anzweifelbar und in dessen Interesse, weniger im
Interesse Ottos. Walther kann als ‚literarischer Bittsteller‘ der Fürsten aufgetreten
sein. Auch die umgekehrte Deutung ist möglich: wenn sogar uns auffällt, dass
Walthers Lob des Meißners zwîvellop ist, kann es Otto nicht entgangen sein.
Eindeutig zur Entlastung eines Fürsten dient der folgende Spruch (105,13) Übersetzung:
Nun soll der erhabene Kaiser um seiner Ehre willen das Vergehen des Landgrafen
entschuldigen. Denn der hatte sich wenigstens offen als sein Feind erklärt. Die
Feiglinge hatten dagegen heimlich Ränke geschmiedet: sie verschworen sich bald
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gegen den, bald gegen den anderen und brüteten schändliche Mordtaten aus. Ihre
Schmähungen wurden ihnen von Rom eingegeben. Ihr Diebstahl konnte nicht
verborgen bleiben, sie begannen einander zu bestehlen und verrieten alle einander.
Seht, ein Dieb bestahl den anderen, und Drohung tat Gutes.
Die Stoßrichtung dieses Spruches ist: um für Hermann von Thüringen Gnade zu
erwirken, muss der Zorn Ottos in andere Bahnen gelenkt werden. Der Landgraf hatte
offen gegen Otto Krieg geführt, andere, wie Dietrich von Meißen, blieben im
Hintergrund. Ehrlichkeit in der Feindschaft ist das einzige, was Walther zu Gunsten
Hermanns vorbringen kann. Lieber wäre uns, zu dieser Zeit Walther noch als Freund
des Meißners zu sehen und beide Sprüche im Interesse der Fürsten, den über den
Meißner im Interesse des Meißners, den über den Landgrafen für diesen verfasst zu
haben, als dass Walther den Schwiegervater gegen den Schwiegersohn ausgespielt
hätte.
Gemeinsamer Feind von Kaiser und Fürsten: der Papst
Innozenz hatte Otto IV. zum Kaiser gekrönt, weil er in ihm einen Feind der
Stauferherrschaft sah. Doch sofort nach der Krönung war der welfische Kaiser in
derselben Lage wie zuvor der staufische: er hatte die Interessen des Imperiums gegen
den Papst zu vertreten. Sizilien, das mütterliche Erbe des jungen Staufers Friedrich
II., war päpstliches Lehen. Wenn Otto versuchte, Sizilien seinem Herrschaftsbereich
einzuverleiben, wandte er sich gegen einen Lehensmann des Papstes.
Die italienische Stauferpartei hatte, weil sich die Herrschaft des Kindes in Sizilien
und Unteritalien gegen die Feindschaft des Papstes nicht würde behaupten können,
den Papst gebeten, die Vormundschaft über Friedrich anzunehmen. Da die
deutschen Fürsten nun alle bereit waren, Otto anzuerkennen, und Innozenz an
einem starken Kaiser nicht interessiert swar, musste er die schwächere Partei, derzeit
die staufische, unterstützen, worauf Friedrich als sein Lehensmann (als König von
Sizilien, das ja als ‚Insel des Meeres‘ gemäß der Konstantinischen Schenkung dem
Papst untertan war) und Mündel sogar Anrecht hatte. Schon 1210 traf daher Otto
der päpstliche Bannstrahl, und 1212 unterstützte der Papst zusammen mit
Frankreich den Herrschaftsanspruch des mittlerweile 17jährigen Friedrich.
Als Otto, noch an der Macht, im März 1212 in Frankfurt einen Reichstag abhielt,
hatte die Partei der Fürsten, der Walther anscheinend angehörte, nur Chancen, wenn
sie vom Trennenden ablenkte und den gemeinsamen Feind, den Papst, verteufelte
Übersetzung L 33,21:
Der Stuhl zu Rom ist jetzt genauso gut besetzt wie zur Zeit, als ihn der Zauberer
Gerbrecht innehatte. Der gab nur sein eigenes Leben dem Abgrund, dieser jetzt aber
hat sich und die ganze Christenheit dem Teufel verschrieben. Alle Zungen sollen zu
Gott „Hilfe“ schrieben und ihm zurufen, wie lange er noch schlafen wolle. Sie handeln
gegen seine Werke und fälschen seine Worte. Sein Kämmerer stiehlt ihm seinen
Himmelsschatz, sein Friedensstifter mordet und raubt überall, sein Hirte ist ihm ein
Wolf unter seinen Schafen geworden.
Der Papst als Nachfolger des heiligen Petrus ist Gottes Kämmerer. Das Zeichen der
Gewalt des Kämmerers ist der Schlüssel. Sein Kämmerer stiehlt Gott den
Himmelsschatz: die Seelen der Christen. Dafür sammelt er irdische Schätze. Der
‚Zauberer Gerbrecht‘ war Silvester II. (999 - 1003). Mit ihm wird Innozenz III.
verglichen.
63
Im nächsten Spruch wird das Teufelsbündnis des Papstes direkt ausgesprochen
– Übersetzung L 33,1:
Ihr Bischöfe und hoher Klerus seid verleitet. Seht, wie euch der Papst mit den
Stricken des Teufels umgarnt. Wenn ihr euch darauf beruft, dass er den Schlüssel
des heiligen Petrus besitzt, so sagt uns auch, warum er dessen Lehre aus der heiligen
Schrift ausradiert. Durch die Taufe wurde uns verboten, Gottes Gabe zu kaufen oder
zu verkaufen. Nun lehrt es ihn sein Buch der schwarzen Magie, das ihm der Schwarze
aus der Hölle gegeben hat, und aus dem er seine Sprachrohre wählt. Ihr Kardinäle,
ihr überdacht euer Chorgestühl, während unser heiliger Altar unter einer schlimmen
Regentraufe steht.
Die deutschen Bischöfe vor den bevorstehenden Beschlüssen der 4. Lateransynode
(1215) zu warnen, wäre nicht nötig gewesen. Sie misstrauten dem Papst und den
römischen Kardinälen genug. Walther tritt hier als Propagandist für sie auf. Die
Botschaft ist an die Gesellschaft an den Höfen gerichtet und lautet nicht ‚Warnung‘,
sondern ‚Aufforderung zur Unterstützung der antipäpstlichen Partei‘. Beabsichtigte
Wirkung: Zorn der deutschen Ritterschaft gegen die päpstliche Partei, um Ottos
Parteigänger durch die Notwendigkeit gemeinsamen Vorgehens gegen diese von der
Bestrafung seiner früheren Gegner abzuhalten.
Leicht hatte es die antipäpstliche Propaganda durch das Geldbedürfnis des heiligen
Stuhles. Man vergleicht deshalb die Zeit um 1212 oft mit der Reformationszeit und
zieht Parallelen zwischen Walther und Martin Luther. Die Problemlage war in den
beiden Epochen ganz verschieden, doch die Bezeichnung des Papstes als Antichrist
fand immer dann offene Ohren, wenn es ums Geld ging. Das finanzielle Problem ist
über Jahrhunderte hinweg eine Konstante im Verhältnis der deutschen zur
römischen Kirche. Innozenz beklagte, dass die mangelnde Ordnung im Reich den
Kreuzzug verhindere, gab also dem Kaiser Schuld daran, dass keiner zustande kam,
sammelte aber trotzdem dafür. Dass das Geld für andere Zwecke bestimmt war, lag
für die Deutschen auf der Hand, und dass der Zweck, für den es der Papst brauchte,
nicht die Unterstützung Ottos war, ebenfalls.
Die Repräsentativbauten in Rom zur Vorbereitung des ‚Konzils‘, die die Stadt wieder
zur Hauptstadt der Welt machen sollten, verschlangen große Summen, und auch für
die Unterstützung der Feinde des Kaisers brauchte man Geld. Obwohl für den
Augenblick keine Möglichkeit bestand, einen Kreuzzug zu verwirklichen (die meisten,
nicht alle, Historiker sind hierin mit Walther einer Meinung), erließ Innozenz III. ein
Sendschreiben, in jeder Kirche sei ein Opferstock, truncus concavus, aufzustellen,
um für den Kreuzzug zu sammeln. Diesen Opferstock personlisiert Walther als „Herr
Stock“ und begrüßt ihn so (34,14) - Übersetzung:
Sagt an, Herr Opferstock, hat Euch der Paps hergesandt, damit Ihr ihn reich macht
und uns Deutsche arm macht und auszehrt? Jedesmal wenn ihm die volle Länge in
den Lateran kommt, pflegt er ein arges Kunststück zu vollführen: er sagt uns dann,
dass die Ordnung im Reich darniederliegt, solange bis ihn alle Pfarren aufs Neue
füllen. Ich glaube, von dem Silber kommt wenig zur Hilfe ins heilige Land, denn
Kleriker pflegen keine großen Schütze, herzuschenken. Herr Stock, Ihr seid
hergesandt, um Schaden zu bringen und unter den Deutschen Törinnen und Narren
zu suchen.
Übersetzung L 34,4:
Ahi, wie christlich jetzt der Papst lacht, wenn er seinen Italienern sagt „So habe ich
es gemacht!“ – Das was er da sagt, das hätte er nie denken sollen! – Er sagt „Ich habe
zwei Alemanni unter eine Krone gebracht, damit sie das Reich zerstören und
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verwüsten. Inzwischen fülle ich die Kasten: ich habe sie an einen Opferstock
getrieben, ihr Gut gehört alles mir; ihr deutsches Silber fährt in meinen welchen
Schrein. Ihr Pfaffen, esst Hühner und trinkt Wein und lasst die deutschen Laien
fasten.“
Hatte Walthers Propaganda Erfolg?
Thomasin von Zerclære (Sekretär des Patriarchen von Aquileia; Anhänger der
päpstlichen Partei), ‚Der wälsche Gast‘ v. 11191 ff. (verfasst ca. 1215-1216) –
Übersetzung:
Na, wie hat der Brave Diner an ihm treulos gehandelt, als er hochmütig sprach, dass
der Papst mit deutschem Vermögen seinen welchen Schrein füllen wolle! Er hat
tausend Leute betört, sodass sie auf Gottes und des Papstes Gebot nicht hörten.
Tausend(-e?) bedeutet einfach ‚viele‘. Ist das von Thomasin über- oder
untertrieben?
Auch Thomasins Angabe ist tendenziös und nicht höher im Wahrheitsgehalt
einzuschätzen als Walthers Äußerungen. Literaten schätzen die Wirkung von
Literaten zu hoch ein; nicht nur die eigene, sondern auch die des Gegners. Thomasin
und Walther müssen ‚Intimfeinde‘ gewesen sein: Wolfger von Erla war seit 1204
Patriarch von Aquileia und damit Herr Thomasins; Walther zählte zu Wolfgers
Schützlingen. Wolfger ist nicht zu beneiden, wenn er, von Passau nach Aquileia
wechselnd, Walther als Propagandisten mitnahm und dort Thomasin als Sekretär
vorfand.
Otto wollte zwar nicht auf einen Kreuzzug aufbrechen, um seinen Feinden nicht
Gelegenheit zu geben, im Reich Unordnung zu stiften, doch lag ihm daran, seine
prinzipielle Bereitschaft zum Kreuzzug zu demonstrieren und zu betonen, dass er nur
durch die widrigen Umstände davon abgehalten wurde. Das hilft, den folgenden
Spruch zu verstehen (12,18) - Übersetzung:
Herr Kaiser, wenn Ihr den Deutschen bei Androhung des Stranges einen beständigen
Frieden gebracht habt, dann huldigen Euch die fremden Völker. Dies könnt Ihr ohne
Mühe erreichen, und damit versöhnt Ihr die ganze Christenheit. Das adelt Euch und
schadet den Heiden sehr. Ihr tragt zwei Kräft des Kaisers: die Tapferkeit des Adlers
und die Kraft des Löwen. Deses sind die Wappentiere des Herrn, die beiden
Kampfgefährten. Wollten sie doch gegen die Heidenschaft! Was könnte ihrer mit
Freigebigkeit gepaarten Tapferkeit widerstehen?
Walther als Freund von ‚Law and order‘: die wide ist der Strang aus Weidenruten, mit
dem Verbrecher gehenkt werden. Für seine Zeitgenossen hatte der Spruch eine
andere Dimension: Löwe und Adler sind die Wappentiere Ottos. Unter den
königlichen Funktionen hat die Rechtssprechung über Leben und Tod eine besondere
Rolle. Sie ist die höchste Form der Gerichtsbarkeit. Der Kaiser hat sie nach der
Krönung zunächst über die nach deutschem Recht zu richtenden Teile des
Imperiums auszuüben (dort hatte er sie als König schon vor der Kaiserkrönung),
dann über die anderen Reichsteile, in denen die Rechte der ‚fremden Zungen‘
(französisches bzw. italienisches Recht) gelten. Walther betont, dass die eigentliche
Aufgabe des Kaisers die Rechtssprechung ist, die noch vor dem Aufbruch zum
Kreuzzug im ganzen Reich erfolgen muss.
Der Sänger erscheint im nächsten Spruch wieder in einer lustvoll überhöhten
Position, im Gegensatz zum vermutlich rechtlosen Dichter, und zwar diesmal gleich
als Engel Gottes.
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Übersetzung – L 12,6:
Herr Kaiser, ich bin Bote des Herrn und bringe Euch Botschaft von Gott. Ihr habt die
Erde, er hat das Himmelreich. Er befahl mir, Euch zu klagen – denn Ihr seid der von
ihm eingesetzte Gerichtsherr -, dass im Land seines Sohnes die Heidenschaft sich
Euch beiden zu Schade übermütig erhebt. Ihr mögt so gut sein und ihm darüber
richten: sein Sohn, der heißt Christus, der befahl mir, Euch auszurichten, wie er
Euch dafür lohnen wolle: nun lasst ihn sich mit Euch verbünden: er richtet für Euch
dort, wo er Gerichtsherr ist, selbst wenn Ihr den Teufel aus der Hölle anklagen solltet.
Gottes Bote von der Vogelweide bringt Otto Charisma. Die weltliche Gewalt wird
überhöht, vor allem was das Richteramt des Kaisers betrifft: der (geplante) Kreuzzug
soll nicht den Papst als Herrn der Christenheit, sondern den Kaiser als ihren
höchsten Richter als Anführer haben. Gott behandelt den Kaiser wie seinen
Stellvertreter auf Erden, indem der richterlichen Gewalt Gottes über den Teufel die
des Kaisers über die Heiden entspricht.
Hêr keiser, sît ir willekomen. 11,30
Hêr keiser, swenne ir Tiuschen vride 12,18
Hêr keiser, ich bin vrônebote 12,6
Insgesamt haben wir 3 Strophen Walthers im selben Ton mit der Anrede Hêr keiser.
Man kann sie den drei Reichssprüchen für Philipp gegenüberstellen. Eine
Begründung des kaiserlichen Rechtes aus der Bibel bringt der Spruch 11,18 Übersetzung:
Als Gottes Sohn hier auf Erden wandelte, da versuchten ihn die Juden immer wieder.
So taten sie es eines Tages mit folgender Frage: sie fragten ihn, ob sie als freie Leute
dem König ZZins zahlen sollten. Da zerstörte er ihre Heimstücke und Hinterlist. Er
verlangte einen Münzstempel und sprach: „Wessen Bild ist hier eingraviert?“ „Des
Kaisers“, sprachen da die Aufpasser. A riet er den Törichten, sie mögen den Kaiser
sein Königsrecht haben lassen und Gott, was Gottes sei.
Hier werden in küneges reht die beiden Motive ‚Herrschaft‘ und ‚Geld‘ vereint. Die
Münze des Evangeliums ist hier ersetzt durch ein Münzeisen (den ‚Stempel‘, mit dem
die Münze geschlagen wird), also durch das Recht, Münzen auszugeben.
Otto der Undankbare?
Für treue Propagandadienste scheint Walther sich Dank erwartet zu haben,
anscheinend sogar direkter als von Philipp, den Walther ja nie im eigenen Namen
ansprach. Falls die Deutung richtig ist, dass sich der folgende Spruch (31,23) auf
Otto bezieht, als dieser schon vom Großteil seiner Anhänger verlassen war, verließ
Walther nicht bei erster Gelegenheit den Welfen Otto zugunsten des Staufers
Friedrich, sondern misstraute diesem als Günstling des Papstes. Ob Walther nur
wegen nicht erfüllter Honorarforderungen Otto (und auch andere Gönner; z. B. den
Meißner) verließ, oder der Geiz dieser Fürsten ein poetisches Symbol für politische
Machtwechsel war, wissen wir nicht. In vielen Fällen scheint der Bezug auf Walthers
Entlohnung sicher.
Übersetzung:
„Seid willkommen, Hausherr“, auf diesen Gruß darf ich nicht antworten. „Seid
willkommen, Herr Gast“, dann muss ich antworten oder mich verneigen. „Heim“ und
„Hausherr“ sind zwei Namen, für die man sich nicht zu schämen braucht. Fr „Gast“
und „Herberge“ muss man sich oft schämen. Ich möchte es noch einmal erleben, dass
ich einen Gast begrüßen kann, sodass er mir, dem Hausherrn, dafür Dank sagen
muss. „Seid heute Nacht hier, seid morgen dort“, was für ein Gauklerdasein ist das!“
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Ich bin zu Hause“ oder „Ich will nach Hause“, das tröstet besser. Im Schach stehen
und Gast sein ist immer verhasst. Nun helft mir gegen das Gastsein, damit Gott Euch
gegen das Schach helfe.
Wenn Walther Otto durch die Feinde gefährdet sieht und sich selbst durch die
Heimatlosigkeit, so stellt er sich durch den Vergleich mit Otto auf die selbe Stufe.
Das scheint dieser nicht goutiert zu haben. Wir wählen hier die Interpretation nach
dem wortwörtlichen Sinn, weil sie gut aufgeht; ein Beweis dafür, dass sie stimmt und
nicht nur ein Symbol für eine reichspolitische Aussage ist, ist das natürlich nicht.
Wenn Walthers politisches Engagement vor allem das eines Laienchristen ist, der den
deutschen König als seinen persönlichen Herrn versteht und stolz ist, dass dieser als
Kaiser gleichzeitig das Haupt der gesamten Christenheit ist, erhalten Walthers
Dienstwechsel eine klare Linie: jeder König ist für ihn vor allem dadurch rechtmäßig,
dass der Papst sich gegen ihn stellt. Walther scheint der Wirkung seiner
Propagandasprüche viel zugetraut zu haben, vielleicht mit Recht. Otto scheint vor
allem Gehorsam erwartet und Dienste für selbstverständlich gehalten zu haben; dass
er auch Walther Lohn schuldig sei, fiel ihm vielleicht nicht ein. Walther behandelt
das Thema im Zorn (26,23) und im Spott (26,33) - Übersetzung:
Ich habe den Treueschwur Herrn Ottos, er werde mich noch reich machen. Wieso
nahm er aber meinen Dienst in so trügerischer Absicht auf? Oder was verpflichtet
den König Friederich, mich dafür zu belohnen? Meine Forderung gegen den ist nicht
die Bohne wert, es sei denn, er hält sich an die alten Sprichwörter: Ein Vater lehrte
seinen Sohn: „Sohn, diene dem schlechtesten aller Männer, damit dich der beste aller
Männer dafür belohne.“ Herr Otto, ich bin es, der Sohn, Ihr seid der schlechteste
Mann, denn einen so schlechten Herren hatte ich noch nie: Herr König, Ihr dagegen
mögt nun der beste sein, weil Gott es Euch vergönnt, lohnen zu können.
Ich wollte Herrn Ottos Freigebigkeit nach seiner Länge messen. Doch hate ich einen
ziemlich falschen Maßstab genommen: wäre er so freigiebig wie lang, so hätte er viele
Tugenden besessen. Gleich darauf maß ich ihn aber im Verhältnis zu seiner Ehre: da
wurde er gar zu kurz, wie ein vom Schneider falsch zugeschnittenes Werkstück, an
Freigebigkeit viel kleiner als ein Zwerg, und er ist doch schon alt, dass er nicht mehr
weiterwächst. Als ich den Maßstab an den König anlegte, wie hoch schoss da der auf!
Er wurde trotz seiner Jugend stark und groß. Nun seht, wie viel er noch weite
wachsen mag: er ist jetzt schon im Vergleich zu ihm wie ein Riese.
Walthers Bitte wurde nicht erfüllt, und seine Propagandasprüche, die wohl die
vertraglich vereinbarten Dienste waren, blieben ohne Lohn. Mâze hat einen
Doppelsinn: einerseits ist es der Maßstab, mit dem man etwas misst, anderseits ist
es das Maßhalten als Tugend:jede Tugend hat im richtigen Ausmaß vorhanden zu
sein. Dass Gott Friedrich gönnt, belohnen zu können, kann man so verstehen, dass
Otto gar keine Mittel mehr zur Verfügung hatte, großzügig zu sein. Anscheinend
wechselte Walther deshalb noch vor Ottos endgültiger Niederlage bei Bouvines (1214)
in Friedrichs Lager.
Zuerst Preislieder, dann, bei ausbleibendem Lohn, kritische Lieder und schließlich
Spottlieder: die Abfolge denkt man sich bei Philipp und Otto ähnlich, wenn auch die
Interpretation der gegen Philipp gerichteten Lieder als persönliches Interesse
Walthers nicht gesichert ist.
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Eine Ausnahme machte Friedrich II.: er wusste, was ein guter Propagandist wert ist.
Bis zu den letzten datierbaren Liedern Walthers (1227) findet sich kein schlechtes
Wort über ihn.
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2. Walther und die Fürsten
Wo hielt Walther sich von 1198 bis 1214 auf, wenn Philipp und Otto keine bleibende
Anstellung boten? Walther hatte Kontakt mit Meißen, Thüringen, Wien, Passau, aber
auch St. Veit an der Glan und anderen kleinen Höfen. Vor allem in diese Zeit setzt
man daher die Sprüche, die ihn dort zeigen. Sie führen uns ein abwechslungsreiches
Bild vor Augen. Gemeinsam ist diesen Aufenthalten, dass sie eine persönliche
Bindung Walthers an die Fürsten zeigen, keine Bindung an den ganzen Hof, wie in
Wien.
Walther am Hof zu Thüringen
Dauerhaft war die Bindung an Landgraf Hermann von Thüringen: 1212 verteidigte
ihn Walther vor Otto; noch nach Hermanns Tod dichtete Walther einen Lobspruch
auf dessen Sohn Ludwig. Doch hatte Walther Probleme mit der Gesellschaft an
seinem Hof (in Eisenach, am Fuß der Wartburg). Wolfram macht sich über Walthers
Empfindlichkeit in einem Teil des ‚Parzival‘ lustig, den viele schon bald nach 1203
datieren; das ist nicht sicher, doch etliche Jahre vor 1212 muss er entstanden sein;
die in den folgenden Sprüchen Walthers vorgebrachten Klagen haben anscheinend
das Verhältnis zum Fürsten nicht dauerhaft gestört. Die Ritter am Landgrafenhof
hatten offensichtlich kein Interesse an Lyrik; das stört den Vortrag von Liedern (L
20,4):
Übersetzung:
Wer an einer schweren Ohrenkrankheit leidet, dem rate ich, er soll den Hof zu
Thüringen meiden. Denn wenn er dorthin kommt, wird er wirklich taub. Ich habe das
Gedränge mitgemacht, bis ich jetzt das Gedränge sat habe. Eine Schar zieht aus, die
andere ein, so geht es bei Nacht und Tag. Es ist ein großes Wunder, dass da noch
irgendjemand etwas hört. Der Landgraf ist so gesinnt, dass er mit stolzen Helden
seinen Besitz vertut, deren jeder wohl als Gladiator brauchbar wäre. Ich kenne seine
großzügige Lebensart wohl: und kostete ein Fuder guten Weines tausend Pfund, dort
stünde trotzdem nie der Becher eines Ritters leer.
Zweideutigkeit der Wörter:
Zweideutig sind die Wörter vertuon und kempfe. Vertuon der Habe kann Fürstenlob
sein, wenn es sich um das Beschenken der Fahrenden handelt. Die Nebenbedeutung
ist ‚Geld hinauswerfen‘.
Kempfe klingt heldisch. Kempfen nannte man aber die Zweikämpfer vor Gericht, die
gegen Entlohnung bereit waren Zweikämpfe auszufechten. Der gerichtliche
Zweikampf war als Gottesurteil anerkanntes Rechtsmittel; das Vertrauen darauf,
dass der Kämpfer für die Wahrheit siegen werde, war jedoch nicht so allgemein
verbreitet.
Wer nicht Waffen tragen durfte (z. B. Frauen) oder wer sich dem Gegner körperlich
unterlegen fühlte, mietete einen Kämpfer, der bereit war, für Geld seine Haut zu
Markte zu tragen – starke Kerle aus der großen Gruppe der Rechtlosen, die es an
Kraft und Tricks wohl mit einem Ritter aufnahmen. Ein Lob für die Rittergesellschaft
in Eisenach bedeutet es nicht, mit solchen Kerlen verglichen zu werden. Mit seiner
Kritik an dem lauten Treiben stand Walther nicht allein. Wolfram von Eschenbach
sah sich veranlasst, in den ‚Parzival‘ folgende aktuelle Verse einzubauen (297,16 ff.):
Übersetzung:
Fürst Hermann von Thüringen, ich beurteilte einige aus deinem „Ingesinde“
(Hofdienerschaft), die man besser „Ausgesindel“ nennen sollte. Du würdest auch
einen Kei brauchen, weil deine wahre Großmut dir befahl, so große Gefolgschaft um
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dich zu haben; zum Teil ein Gedränge von Verächtlichen, zum Teil ein Drängen von
Edlen. Deshalb muss Herr Walther singen: „Guten Tag, Böse und Gute“. Aber wenn
man heutzutage irgendwo so etwas singt, fühlen sich damit die Falschen geehrt.
Bezug auf verlorene Strophe Walthers:
Wolfram bezieht sich damit anscheinend auf eine uns verlorene Strophe Walthers
und auf die hier interpretierte. Auch von den Strophen Walthers, die den
Zeitgenossen genug ins Ohr gingen, um rezipiert zu werden, ist bis zur
Abfassungszeit der Sammelhandschriften, wie unter anderem das Zitat von „Guten
Tag, Böse und Gute“ zeigt, noch einiges verloren gegangen. Wie viel an Liedern
verloren ging, die nicht so populär waren, kann man aus dem Verhältnis von
identifizierbaren zu nicht identifizierbaren Waltherzitaten natürlich nicht erkennen.
Walther kam mit der grölenden Ritterschar offenbar noch schlechter zurecht als
Wolfram. Wir glauben, aus Wolframs Worten gutmütigen Spott nicht nur gegen die
Hofgesellschaft, sondern auch gegen Walther herauszuhören.
Einen konkreten Streitfall, mit einem Gerhart Atze (ein Mann dieses Namens tritt auf
einer Urkunde des Landgrafen als Zeuge auf), hat Walther in zwei Sprüchen verewigt
(104,7 und 82,11).
Die rechtliche Situation eines mittelalterlichen Menschen zeigt sich vor allem darin,
ob er als fähig galt, als Zeuge für ein Rechtsgeschäft zu fungieren. Es gibt Dienstleute
von Herren, die auf zahlreichen Urkunden als Zeugen erwähnt werden; Walther auf
keiner. Das sagt genug über seinen Stand aus. Gegen Gerhart Atze, der aus einer
ortsansässigen Familie stammte, hatte er bei Gericht sicher keine Chance.
Übersetzung – L 104,7:
Mir hat Herr Gerhart Atze in Eisenach ein Pferd erschossen. Das klage ich vor dem,
dem er dient: der ist unser beider Gerichtsherr. Es war wohl drei Mark wert. Nun
hört eine seltsame Geschichte, womit er mich hinhält, wo es nun an eine
Entschädigungszahlung geht: er redet von einem sehr erschwerenden Umstand,
nämlich, dass mein edles Pferd mi dem Gaul verwandt sei, der ihm den Finger abund zu Schanden gebissen hat. Ich schwöre mit beiden Händen, dass sie einander
nicht einmal kannten. Ist jemand da, der mir die Eidesformel vorspricht?
Interpretation:
War das Pferd, das Atze den Finger abgebissen hatte, nicht mit Walthers Pferd
verwandt? Sippenhaftung bei Tieren ist ironisch. Glaubte Atze, Walthers Pferd habe
ihm den Finger abgebissen, und Walther macht sich einen Scherz, indem er die
Möglichkeit gar nicht erwähnt, dass es sein Pferd gewesen sein könnte, und reduziert
Atzes Klage darauf, die beiden Pferde seien verwandt gewesen? Was tatsächlich
vorgefallen war, wissen wir nicht. Ansonsten ist der erste der beiden Sprüche
verständlich; erklären muss man nur, dass Atze ohne Schwurfinger nicht richtig
schwören kann und Walther sich darüber lustig macht. Dass Walther das körperliche
Gebrechen Atzes verspottet, ist für uns kein feiner Humor, selbst falls Walther in der
Sache im Recht war.
„Ist da jemand, der mir die Eidesformel vorspricht?“ bezieht BUMKE darauf, dass
Walther als Rechtloser nicht selbst vor dem landgräflichen Gericht hätte klagen
können und einen Eideshelfer dafür suchte. Der Gerichtsherr beider ist der Landgraf.
Übersetzung – L 82,11:
„Reit an den Hof, Dietrich!“
„Herr, ich kann nicht.“
„Was hindert dich daran?“
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„Ich habe kein Ross, dass ich dorthin reiten könnte.“
„Ich leihe dir eines, wenn du das willst.“
„Herr, wenn ich reite, dann umso besser.“
„Nun bleib noch eine Weile stehen und warte. Rittest du lieber eine goldene Katze
oder ein wunderlichen Gerhart Atze?“
„Bei Gott, selbst wenn es Heu fräße, es wäre ein seltsames Pferd. Ihm gehen die Augen
im Kreis herum wie einem Affen, er sieht aus wie ein Guggaldei. Genau diesen Atze
gebt mir, dann bin ich gut bedient.“
„Nun krümme deine Beine und reite auf dir selbst dorthin, weil du Atze begehrt hast.“
Schwieriger ist der zweite Spruch, aber auch er ist deutbar:
Dietrich ist offensichtlich der Laufbursche Walthers. Walther bietet ihm Atze als
Reittier an, weil der Schädiger für den Schaden aufkommen muss; wenn Atze nicht
zahlen will, konkretisiert Walther ‚Entschädigung‘, muss er als Reittier dienen.
Wieso ‚goldene Katze‘?
BIRKHAN: das thüringische Wappentier ein war Löwe; den kann man als ‚goldene
Katze‘ bezeichnen, wenn man einen Reim auf Atze braucht.
Der Spruch sagt: Es war dumm von Walther, sich an Atze schadlos halten zu wollen:
der Landgraf haftet persönlich für seine Untergebenen; wenn er vom Landgrafen das
Pferd gefordert hätte, wäre er leichter ans Ziel gekommen. Die despektierliche
Ausdrucksweise zeigt anscheinend, dass Walther keine Entschädigung bekam.
Wolfram spottet offensichtlich im ‚Willehalm‘ (417,22ff.) über Walther, wenn er über
Hermann von Thüringen schreibt:
Übersetzung:
Landgraf Hermann von Thüringen hätte ihnen vielleicht auch ein Ross gegeben. Das
war typisch für ihn sein ganzes Leben lang, besonders bei einem so großen Kampf,
immer wo der Bittende rechtzeitig kam.
Interpretation:
Wolfram scheint hier Walther vorzuwerfen, sich nicht rechtzeitig mit einer Bitte an
den Landgrafen gewandt zu haben, sondern in einem Prozess gegen Atze sein Recht
gesucht zu haben, und als er diesen verlor, mit Zorn gegen den Landgrafen reagiert
zu haben. Walther scheint seinen Gönnern gegenüber mehrfach mit
Rechtsansprüchen aufgetreten zu sein, wo eine Bitte mehr geholfen hätte.
‚Walther und Meißen‘:
Der Aufenthalt Walthers bei Markgraf Dietrich von Meißen ist interessant, weil
Walther hier vielleicht Kontakte zu Heinrich von Morungen knüpfte, und weil Walther
zu wenig bedankt von Meißen schied. Ob Walther für eine poetische Verteidigung des
Markgrafen vor Kaiser Otto Lohn erwartete oder ob Walther den Markgrafen beim
Kaiser als Luzifer anschwärzte, weil Dietrich zu wenig bezahlt hatte, ist nicht
entscheidbar.
Der Scheltspruch gegen den Meißner (105,27) zeigt mit der Formulierung „bei Hof
und an der Straße“, dass Walther zwischen wechselnden Engagements als
Spielmann über die Landstraße zog:
Übersetzung:
Der Meißner sollte mir Schadenersatz leisten, wenn er wollte. Meinen Dienst lasse
ich ganz unentgeltlich. Nur mein Lob allein, dass ich mit meinem Lob ihn meine,
davor werde ich mich in Zukunft hüten. Wenn ich ihn lobe, soll er mich auch loben;
alles andere erlasse ich ihm gerne. Sein Lob gebührt auch mir, oder ich werde meines
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zurücknehmen, bei Hof und an der Straße, wenn ich nun lang genug auf ein Zeichen
von Anstand von ihm gewartet habe.
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3. Walther und Wolfger von Erla
Besonders interessiert das Verhältnis Walthers zu Wolfger von Erla, der Bischof von
Passau, später (1204) Patriarch von Aquileia wurde. Wolfgers Reiserechnungen
verdanken wir Walthers einzige urkundliche Erwähnung (siehe Stunde 2). Anderseits
war Wolfger auch der Auftraggeber des Nibelungenliedes; Walther und der Dichter
des Nibelungenliedes müssen einander gut gekannt haben. Wolfgers Sekretär in
Aquileia war Thomasin von Zerclære, Walthers politischer Gegner. Walther reiht
Wolfger unter seinen Förderern an erster Stelle (34,14).
Übersetzung:
Solange ich drei Höfe von so rühmenswerten Männern weiß, ist mein Wein gelesen
und saust meine Pfanne lieblich. Der tüchtige Patriarch ohne Falsch, der ist einer
von ihnen; gleich danach kommt mein Rettungsanker bei Hof, Leopold ein zweifacher
Fürst: von Steier und Österreich. Niemand lebt jetzt, den ich mit ihm vergleichen
kann. Sein Ruhm ist kein Rühmlein: er kann, er hat, er tut. Daneben ist sein
Vaterbruder wie der freigebige Welf gesinnt: dessen Ruhm blühte, und blüht nach
seinem Tod immer noch. Ich habe es nicht notwendig, zum Lebensunterhalt weit
umherzustreifen.
Interpretation:
Datierbar ist dieser Spruch nur durch die Amtszeit Wolfgers als Patriarch von
Aquileia, von Herbst 1204 bis zu seinem Tod1218.Heinrich von Mödling, der Onkel
Leopolds VI., starb erst 1223. Ihn vergleicht Walther mit dem lang über seinen Tod
hinaus als freigebig gerühmten Welf VI. von Bayern (†1191).
Was wäre für Walther ‚weit wegziehen müssen‘?
Von Wien nach Aquileia wäre es ziemlich weit. Walther meint anscheinend nicht die
räumliche Entfernung, sondern dass er als Schützling des ehemaligen Bischofs
seiner Heimatdiözese an dessen Hof kein Fremder wäre.
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4. Ringen um den Hof zu Wien
An den Wiener Hof Leopolds VI. zog es Walther trotz häufiger Schwierigkeiten immer
wieder. Eine Strophe im ‚Wiener Hofton‘ (25,26) zeigt Walther als Verfasser des
offiziellen Huldigungsgedichts für ein Hoffest. In Frage kommt das chronikalisch
belegte Fest von 1200, zu Leopolds Schwertleite – dann wäre diese Strophe vielleicht
mit dem ‚Preislied‘ zugleich entstanden, wenn man auch dieses mit Leopolds
Schwertleite in Verbindung bringt –, oder, weniger wahrscheinlich, zu seiner
Hochzeit, die 1203 oder 1204 stattgefunden hat, die uns aber in den Quellen nicht
belegt ist (sie war sicher nicht im November 1203). Das nächste große Fest in Wien,
von dem wir wissen, fand erst 1222 statt, zur Hochzeit seiner Tochter; da war Leopold
kein junger fürste mehr.
Übersetzung – L 25,26:
Könnte jemand zu unseren Lebzeiten sprechen, er hätte je wertvollere Geschenke
gesehen, als wir sie in Wien zur Ehre des Fürsten empfangen haben? Man sah den
jungen Fürsten verschenken, als ob er nicht mehr länger leben wolle: da wurden mit
Verbmögen Wunder gewirkt. Man verschenkte da an die dreißig Pfund reines Silber,
als ob man es auf der Straße gefunden hätte, gab man es hin, und reiche Kleidung.
Auch befahl der Fürst, um die Dankbarkeit der Fahrenden zu erlangen, die Taschen
und die Ställe leerzuschenken. So mancher hat da Rosse hinweggeführt, als ob es
Lämmer wären. Wer alte Schulden hatte, dem wurden sie nachgelassen. Das war ein
liebenswürdiger Entschluss.
Schuldenerlass scheint zum höfischen Fest gehört zu haben; auch in Frankreich (im
Erec von Chrestien de Troyes) wird den Spielleuten alles ersetzt, was sie auf Kredit
gekauft hatten. Ebenso geht es im Nibelungenlied bei Siegfrieds Schwertleite zu (Str.
38 f.):
Übersetzung:
Das Fest dauerte sechs Tage lang. Königin Siglint verteilte, wie es alte Site war, ihrem
Sohn zuliebe rotes Gold. Sie verstand sich darauf dadurch zu erreichen, dass ihm die
Leute hold waren. Keinen der Fahrenden sah man da, der arm geblieben wäre. Rosse
und Kleider, da stob ihnen nur so von der Hand, als ob sie keinen Tag mehr zu leben
hätten. Nie sah ich, dass jemand durch seine Dienerschaft so viele Geschenke
verteilen ließ.
Nach den Sprüchen zu schließen, die Walther für Philipp, Otto und verschiedene
Fürsten erst lobend, dann auf Lohn drängend, dann scheltend verfasst hat, sieht
man in Strophen wie den folgenden, im ‚Wiener Hofton‘ verfassten, Zeichen eines
Bruches zwischen Walther und Leopold (20,31):
Übersetzung:
Mir ist das Tor zum Glück versperrt und ich stehe wie eine Waise davor. Nichts hilft
mir, wie sehr ich auch daran klopfe. Könnte es ein größeres Wunder geben? Es regnet
rechts und links von mir, ohne dass mich auch nur ein einziger Tropfen trifft. Die
Freigebigkeit des Fürsten aus Österreich erfreut wie ein freundlicher Regen Land und
Leute. Er ist wie eine wonnefreudetragende Heide, von der man prächtige Blumen
pflücken kann. Würde mir ein Blatt davon zuteil, und gäbe mir das seine freigebige
Hand, so würde ich diese strahlende Augenweide loben. Mit diesem Gedicht sei er an
mich erinnert.
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Pessimisten glauben, Leopold hätte Walthers Bitte nicht nur nicht erhört, sondern
seinen Wunsch nach einem Blatt von des Herzogs Gunst mit einer ironischen, aber
konkreten Verwünschung in den Wald beantwortet, aufzufassen als Hinauswurf.
Walthers Antwort darauf sei folgender Spruch (35,17):
Leopold von Österreich, lass mich bei den Leuten! Wünsche mich aufs Feld, nicht in
den Wald. Ich kann nicht roden. Sie sehen mich gerne bei sich und ich sie auch. Du
wünschst bisweilen einem Unschuldigen etwas, ohne zu wissen, was du ihm damit
antust. Wenn du mich von ihnen fortwünschst, so tust du mir ein Leid an. Gelobt sei
der Wald und die Heide! Die passen wohl ausgezeichnet zu dir. Wie hast dagegen du
gehandelt, dass du mir das wünschst, was mir unangenehm ist, wo ich dir wünsche,
was dir angenehm ist? Lass es bleiben: Geh du fort, lass mich bei ihnen, dann leben
wir beide angenehm.
Interpretation:
Leopold verwünschte anscheinend Walther in den Wald. Walther gibt ironisch an,
dass er nicht roden kann – er will lieber bei der Hofgesellschaft bleiben. Wieso es ihm
helfen würde, aufs Feld verbannt zu werden statt in den Wald, ist uns unklar.
Es gibt auch einen anderen Deutungsversuch für diesen Spruch:
Leopold begab sich vielleicht gern aufs Land, nach Klosterneuburg, und ließ dort
Land roden. Die ganze Hofgesellschaft, nicht nur Walther, wäre sich in den Wald
verbannt vorgekommen; Walther sei nicht vom Herzog verbannt worden, sondern
hätte sich zum Sprecher der Hofgesellschaft gemacht. Diese Interpretation ist
ziemlich spekulativ; man wird doch eher bei der Deutung als Hinauswurf Walthers
durch Leopold bleiben.
Durch seine Hartnäckigkeit hat Walther sich später doch die Huld Leopolds
erworben; das Ringen darum veranschaulicht der folgende Spruch (84,1):
Übersetzung:
Drei Probleme möchte ich lösen: wenn es mir mit einem gelänge, so wäre ich schon
glücklich. Aber, wie es mir auch ergeht, ich verzichte nicht auf eines um der anderen
willen: ich habe Hoffnung, noch alle drei erreichen. Die Gnade Gottes und die Minne
meiner Dame zu gewinnen, bemühe ich mich. Das dritte hat sich lange zu Unrecht
meiner erwehrt, das ist der wonnige Hof zu Wien. Ich lasse nicht davon ab, bis ich
den verdient habe, weil er sich so beständig an die Tugenden hält. Dort sah man
Leopold eigenhändig unerschrocken Geschenke verteilen.
Interpretation:
Es muss auch eine Zeit stabiler, wenn auch nicht spannungsfreier Beziehungen
zwischen Walther und Leopold gegeben haben. Am ehesten spiegeln eine solche Zeit
die Sprüche um Leopolds Kreuzzugteilnahme, insbesondere 28,11, eine Strophe, die
man am besten auf Leopolds Teilnahme am 5. Kreuzzug in den Jahren 1218/19
bezieht, wo Leopold vor Damiette (Ägypten) kämpfte (weniger wahrscheinlich auf
seine Teilnahme am Kreuzzug gegen die Sekte der Albigenser 1212). Dieser Spruch
scheint zu zeigen, dass nicht nur Walther mit Leopold Schwierigkeiten hatte – die
Schlusspointe zeigt, dass Walther sich große Frechheiten gegen Leopold erlauben
durfte:
Übersetzung:
Herzog von Österreich, es ist Euch gut ergangen, und so ehrenwert, dass wir schon
nach Euch Sehnsucht haben müssen. Seid gewiss, immer, wenn Ihr zu uns
zurückkommt, werdet Ihr ja empfangen. Ihr seid es wohl wert, dass wir bei Eurem
Einzug die Glocken läuten, uns drängen und schauen, als ob ein Wunder erschienen
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sei. Ihr kommt frei von Sünden und ohne Schande. Dafür sollen wir Männer Euch
räumen und die Frauen sollen Euch lieben. Dieses strahlende Lob vollendet zu Hause
und bringt es auf einen Höhepunkt: seid hier gerecht zu uns, damit nicht jemand
frech sage, Ihr hättet besser in Ehren dort fallen sollen.
Interpretation:
Der Gegensatz zwischen feierlicher Begrüßung und dem Hinweis darauf, dass
vielleicht manche dem Herzog einen ruhmvollen Tod gewünscht hätten, kennzeichnet
die Stimmung und auch, wie viel Walther sich gegenüber Leopold herausnahm. Die
möglicherweise letzten Äußerungen Walthers über Wien gehören zu einer
‚Dichterfehde‘, diesmal nicht mit der älteren, sondern mit der jüngeren Generation.
76
XV. Walther und Neidhart
Walther wechselt aus der ‚idealen Landschaft‘ der Pastorelle in die Dorflandschaft mit
Liedern wie 39,1 (Stunde 7), wo die auf der Straße, nicht am ‚lieblichen Ort‘ auf der
Blumenwiese unter schattigem Baum, Ball spielenden Mädchen den Übergang zur
höfischen ‚Dorf-poesie‘ markieren. Neidhart von Reuental dreht die Verhältnisse um
und macht in seinen ‚Winterliedern‘ den unglücklichen ritterlichen Helden bei seinem
vergeblichen Werben um eine Dorfschöne zum Hanswurst der Bauerntölpel.
Die früheste Bezeugung Neidharts, in Wolframs ‚Willehalm‘, um 1215, nimmt auf
Winterlieder Bezug. Am Wiener Hof hatte Neidhart mit seiner Persiflage des
Rittertums unter Leopold anscheinend kein Glück; seine Dankbezeigungen wenden
sich nur an dessen Nachfolger, Friedrich II. Leopold begünstigte vielleicht den jeweils
konservativeren Poeten, erst Reinmar gegen Walther, dann Walther gegen Neidhart.
Walther erwähnt Neidharts Namen nie, doch greift er wohl in den folgenden Sprüchen
Neidhart an:
Übersetzung – L 31,33:
Im Namen des Herrn beginne ich nun. Sprecht ihr „amen“ dazu – das ist gut gegen
Unglück und gegen die Saat des Teufels -, dass ich in einer solchen Weise singen soll,
dass jeder, der den höfischen Sang und die Freude störe, seine Freude verliere. Ich
habe bislang schön und höfisch gesungen. Zugleich mit der höfischen Art hat man
aber auch mich verdrängt, sodass, jetzt die Unhöfischen bei Hof angesehener sind
als ich. Was mich ehren sollte, das entehrt mich. Herzog aus Österreich, Fürst, sprich
nun: wenn nicht du allein mich davon abbringst, so ändere ich meinen Stil.
Übersetzung – L 32,7:
Nun will ich auch die aggressive Singweise annehmen: dort, wo ich immer ängstlich
bat, dort werde ich nun befehlerisch auftreten. Ich sehe wohl, dass man Honorar der
Herren und Frauengruß mit Gewalt und ungezogen erwerben muss. Wenn ich
meinen höfischen Sang singe, so beklagen sie sich bei Stolle. Fürwahr, ich kriege
vielleicht auch noch einmal Knollen. Wenn sie die Bosheit wollen, so stopfe ich ihnen
den Kragen damit. In Österreich habe ich Singen und Sagen gelernt, also will ich
mich dort zuerst beklagen: wenn ich bei Leopold höfischen Trost finde, dann schwillt
mein Zorn sofort ab.
Interpretation:
Was die ‚Knollen‘ sein sollen, ob ein vor Zorn geschwollener Kopf oder Knödel oder
eine Anspielung auf ein verlorenes Gedicht des Gegners, ist unklar. Die obszönste
Deutung, eine Anspielung auf das ‚Neidhartveilchen‘, lässtt sich nicht wahrscheinlich
machen, weil dieser Schwank erst viel später belegt ist: zu den Schwänken, die sich
im Laufe der Zeit um Neidhart von Reuental gerankt haben, gehört auch der, dass
Neidhart das erste Veilchen des Frühlings gefunden hatte, und seinen Hut drüber
stülpte, und an den Hof lief, die Herzogin zu verständigen. Inzwischen brach ein
boshafter Bauer das Veilchen und verrichtete seine Notdurft unter den Hut.
Der sich ständig über das Leid beklagt, das ihm angetan wird, ist für das
zeitgenössische Publikum Neidhart von Reuental. Wolfram von Eschenbach macht
sich über ihn lustig (‚Willehalm‘ 312,11ff.; das Schwert, von dem die Rede ist, gehört
dem riesenhaften Rennewart):
Man muoz des sînem swerte jehen (jemandem etwas zugestehen)
hete ez hêr Nîthart gesehen
über sînen geubühel (Hügel in einem Gau) tragen,
er begunde (hätte begonnen) ez sînen vriunden klagen.
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Ein typisches ‚Winterlied‘ Neidharts (Nr. 20), in dem er sein Leid beklagt Übersetzung:
1. O weh über diesen Sommer, o weh über Blumen und Klee! O weh über viele
Wonnen, die wir entbehren müssen! Der Feind unserer Freuden bringt Reif
und Schnee. Das glänzt alles anders als rote Rosen; ebenso ungleich sind
meine und Amelungs Sorgen. Er und Ulrich freuen sich darüber, dass ich kein
Glück hatte. Der sinnt allzeit auf meinen Schaden, er und Eberwald, ein
ungestümer Wüterich.
2. Eberwald und Amelung, Ulrich und Wendelhard haben sich gegen mich eidlich
verbündet. Viele dumme Freudensprünge sprangen sie, als sie sich rühmten,
sie würden mir ein Leid antun. Heimlich und auch offen haben sie diese
Prahlerei wahrgemacht; ich wünsche ihnen alles böse. Unter diesen Vieren hat
mich einer so betrübt, wie nicht einmal Ihr, Herr Engelmar, mich betrübt habt.
3. Wüsste ich, wem ich mein großes Leid klagen soll, das ich von ihnen
allzeit erleide! Was mir sonst noch mein Leben lang von ihnen widerfahren
ist, das ist nichts gegen das, was mir der eine jetzt angetan hat. O weh, dass
ich selbst meine eigene Schande ausposaunen soll! Der Wonne meiner Augen
griff er an die Scham. Dummer Geck, das wäre reichlich für den Kaiser
Friedrich! Bösartiger Spott gefällt guten Leuten nie.
(Neidhart parodiert hier Walther – Walther wäre eifersüchtig auf den König,
falls er Walthers Geliebter ein Ständchen darbrächte)
4. Meine Freunde, nun kommt her, gebt mir euern weisen Rat, wie ich in dieser
Angelegenheit zu Ehren kommen könnte! Ich mahne euch an all unsere
Treuebeziehungen, dass ihr mir nun beistehen möget. Meine Pirschgänge und
alle Freude sind mir genommen. Ich gebe aber nicht auf und bin unverzagt.
Wer ihnen um meinetwillen die Freundschaft aufkündigt, dem würde ich mich
für immer, das sage ich aufrichtig, mit Leib und Besitz eidlich verbünden, so
lange mein Steigbügel zum Hof wackelt.
5. Es ist Frauen schon öfters geschehen, gegen ihren Willen und ohne ihren
Dank, was der Lieben und Schönen damals geschah. Hätte sie den Griff
gesehen, sie ist körperlich nicht so schwach, so hätte er seinen Lohn nicht
erhalten, wie sie später erzählte. Schneller als ein Pfeil war ihm lieb, ihr leid
geschehen. Immer stolzer wurde der Bauernlümmel davon. Doch konnte er
damals nicht zu seinem letzten Ziel gelangen. Den Streit zwischen uns soll
Herr von Holzknüttel entscheiden!
Ein diesem ähnliches Lied lag Wolfram vor, als er über Neidhart spottete (siehe oben);
aber sicher nicht dieses, denn Friedrich wurde erst später zum Kaiser gekrönt, als
Wolfram Neidhart sînen vriunden klagen ließ – viele Winterlieder Neidharts folgen
dem Schema, dass er von Bauerntölpeln bei seiner bäuerlichen ‚Minnedame‘
ausgetrickst wird und sich deswegen bei seinen Freunden beklagt. Als ‚Richter‘
nominiert Neidhart hier den „Herrn von Holzknüttel“.
Im Winterlied 32, Str. 6, parodiert Neidhart Walthers ‚Preislied‘:
Übersetzung:
Von hier bis an den Rhein und von der Elbe bis an den Po kenne ich alle Lande.
In denen gibt es nicht so viele freche Dorfleute wie in einem einzigen kleinen Kreis in
Österreich; dort lernt man immer etwas Neues kennen. Seht, das versucht einer, der
mir nichts Gutes gönnt! Wankelbold heißt er, nie war er mir in Treue zugetan. Er ist
Scharmeister im Lügental. Das soll jenen Gauch noch ordentlich reuen. Wenn er mir
nahe an die Hut kommt, durchlöchere ich ihm die Hirnschale.
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Der solcherart als Wankelbold und Scharmeister im Lügental verunglimpfte Walther
nahm auf Neidharts Angriffe nur sehr indirekt Bezug, wenn er unter Benutzung einer
Neidhartstrophe klagte:
Übersetzung:
Was ich auch singe, das ist, wie wenn man in der Mühle Harfe spielt: sie versteht
kein Wort davon. Jener Willebort spricht nämlich: „Stellt euch vor ihre Ohren, damit
sie nichts davon hört.
Walther L 64,31 – Übersetzung:
1. O weh, höfischer Gesang, dass dich ungeziemende Töne je bei Hof verdrängen
sollten! Sogar Gott wirst du bald zum Spott werden! O weh, dass deine Würde
so darniederliegt! Darüber sind alle deine Freunde traurig. Das muss nun so
sein. Dagegen kann man nichts machen: Frau Unhöfischheit, Ihr habt gesiegt.
2. Wenn uns jemand richtige und anständige Freude zurückbrächte, hei, wie
man im Guten dessen gedächte, überall wo man von ihm erzählen würde! Da
wäre die höfische Gesinnung wiederhergestellt, wie ich sie immer wünschen
werde, denn Damen und Herren würde sie gut anstehen; o weh, dass niemand
danach handelt!
3. Die das richtige Singen stören sind ungleich mehr als die, die es gerne hören.
Doch ich folge der alten Schule: ich werde nicht bei der Mühle werben, wo der
Stein sich so rauschen dreht und das Rad so unmelodisch klappert. Passt auf,
wer dort die Harfe spielen wird!
4. Die so verbrecherischen Lärm machen, über die muss ich vor Zorn lachen,
dass sie sich selbst mit so ungehobelten Dingen gefallen. Die tun wie die
Frösche in einem See, denen ihr Schrien gefällt, dass die Nachtigall davon
verzagt, wenn sie auch gerne mehr singen wollte.
5. Wenn jemand den Unfug schweigen hieße, wie viel man dann noch von Freude
singen könnte! Und ihn von den Burgen verstieße, damit er dort nicht die
Frohen belästigt. Würden ihm die großen Höfe genommen, so wäre das ganz
nach meinem Willen. Bei den Bauern ließe ich ihn wohl sein, denn von dort
ist er auch hergekommen.
Datierungsmöglichkeiten?
Falls das Ich von L 57,23 Walthers eigenes Lebensalter trägt, könnten wir das
Verdrängtwerden durch den Jüngeren etwa in Walthers Vierzigern datieren:
Übersetzung – L 57,23:
1. Minne hat eine Gewohnheit, wenn sie die doch ließe! Das stünde ihr besser.
Damit quält sie so manchen, den sie nicht quälen sollte. Weh, wie steht ihr
das an? Ihr sind 24 Jahre viel lieber als ihr 40 sind, und sie stellt sich sehr
bös an, wenn sie irgendwo graues Haar sieht.
2. Minne war meine Herrin, so dass ich alle ihre Heimlichkeiten wusste. Nun ist
es mir geschehen, dass, wenn ein Junger jetzt daherkommt, ich mit
schielenden Augen komisch angesehen werde. Arme Frau, wozu müht sie sich
ab? Weißgott, wenn sie sich auf Künste versteht und Toren betrügt, sie ist
doch viel älter als ich.
Mit „sie ist doch viel älter als ich“ variiert Walther Wolfram (‚Parzival‘ 533,20), der
damit spielt, dass die Minne als bildliche Figur einerseits als junges Mädchen
dargestellt wird, anderseits aber schon so alt ist wie die Menschheit, also schon eine
uralte Frau sein müsste.
79
XVI. Fünf gute Jahre (1220 – 1224)
Die politische Dichtung Walthers um 1214 preist den Großmut des jungen Königs im
Gegensatz zu Ottos Geiz (siehe Stunde 9). Der junge König ist nun Friedrich II.; eine
Herrschergeneration nach Philipp. Vieles wiederholt sich, was zwischen Philipp und
Innozenz III. und Otto und Innozenz III. († 1216) vorgefallen war, zwischen Friedrich
II. und Honorius III.:
Die Verhältnisse im Reich erlaubten dem König nicht die Teilnahme am Kreuzzug.
Der ungarische König und der österreichische Herzog leiteten dafür eine
Unternehmung, die zunächst ins Heilige Land, nach Akkon, ging, dann aber nach
Ägypten abzog, wo Leopold ohne Erfolg vor Damiette kämpfte und 1219 vorzeitig
zurückkehrte. Der Papst verlangte aber von Friedrich ein Kreuzzugsgelübde als
Gegenleistung für die gewünschte Kaiserkrönung. In dieser Situation entstand wohl
L 29,15:
Übersetzung:
Ihr Fürsten, die ihr den König gerne los wäret, folgt meinem Rat, ich rate euch nicht
aufs Geratewohl: ich schicke ihn tausend Meilen und mehr über Trani (Hafen)
hinaus. Der Held will sich auf die Kreuzfahrt machen: wer ihn davon abhält, der hat
gegen Gott und die ganze Christenheit gehandelt. Ihr Feinde, ihr sollt ihn seine
Straße fahren lassen: vielleicht fällt er euch dann zu hause nicht mehr lästig? Wenn
er dort fällt, was Gott nicht gebe, so lacht ihr. Wenn er uns Freunden aber wieder
nach Hause kommt, so lachen wir. Warten wir beide Parteien auf die Nachrichten,
diesen Rat bekommt ihr von mir.
Vor der Kaiserkrönung vom November 1220 war das Kreuzzugsversprechen erneuert
worden, in dieses Jahr wird 25,19 daher gerne gesetzt. Die Bedrängnis, in der
Friedrich sich damals befand und zu der noch die Sorge kam, ob die Fürsten seinen
Sohn Heinrich (VII.)1 zum König wählen würden, kann auch die nôt von 28,1 sein,
dem Spruch, in dem Walther seine einst vor Otto vorgetragene Bitte um einen eigenen
Herd erneuert:
1: Im Historiker-Jargon „Heinrich der Klammersiebente“: Heinrich wurde dann zwar
gewählt, aber seine Krönung vom Papst nicht anerkannt. Zudem setzte ihn sein Vater
später ab. Er hat daher nicht vollen Anspruch auf die Zählung unter den deutschen
Königen.
Übersetzung – L 28,1:
Gerichtsherr in Rom, König von Apulien, erbarmt Euch, dass man mcih trotz meiner
reichen Kunst so arm lässt. Gerne würde ich, könnte es sein, mich an eigenem Herd
wärmen Zahü, wie ich dann von den Vöglein sänge, von der Heide und von den
Blumen, wie ich einst sang! Jeder Frau, die mir dafür dankte, würde ich Lilien und
Rosen aus ihrer Wange scheinen lassen. So aber komme ich spät und reite früh.
Gast, weh dir, weh! Da kann ein Hausherr besser vom grünen Klee singen. Denkt an
diese Not freigebiger König, damit Eure Not vergehe.
Ulrich von Singenberg, Truchsess von St. Gallen parodierte – Übersetzung:
Herr der Welt, König des Himmels, ich lobe Euch gern, weil Ihr mir erlassen habt,
lernen zu müssen, wie dieser und jeder an fremdem Ort an meinem Sang
herumkritisiert. Mein Meister von der Vogelweide klagt so sehr, dass ihn dieses und
jenes bedrückt, das mich noch nie bedrückte. Den lassen sie trotz seiner reichen
Kunst zu arm an Besitz. Daher kommt es, dass ich mich nicht von meinem Vermögen
trennen will. Deshalb heiße ich Hausherr und reichte ihm, da ist mir nicht weh. Da
80
singe ich von der Heide und von dem grünen Klee. Das mögest du auf Dauer erhalten,
gütiger Gott, damit es mir nicht zerrinne!
Diesmal hatte Walther zwar den Spott, aber nicht auch den Schaden. Noch vor
Friedrichs Kaiserkrönung, das zeigt die Anrede künec, konnte er jubeln –
Übersetzung L 28,31:
Ich habe mein Lehen, alle Welt, ich habe mein Lehen. Nun fürchte ich nicht mehr
den Februar an den Zehen und werde alle bösen Herren umso weniger anbetteln. Der
edle König, der freigebige König hat für mich gesorgt, so dass ich im Sommer Luft
und im Winter Hitze habe. Meine Nachbarn dünke ich weitaus besser gestellt: sie
sehen mich nicht mehr wie einen Kobold an, wie sie es früher taten. Ich bin zu lange
arm gewesen gegen meinen Willen. Ich war so voll von Fluchen, dass mein Atem
stank. Den, und außerdem meinen Gesang, hat der König rein gemacht.
Ob Walther sich an das Versprechen, nicht mehr zu fluchen, halten wird? Ein
merkwürdiger Spruch, von dem manche meinen, der König habe sich einen Scherz
mit Walther erlaubt, bevor er ihn belehnte, den andere aber auf eben das gepriesene
Lehen beziehen, lautet –
Übersetzung L 27,7:
Der König, mein Herr, belehnte mich mit einem Zinslehen mit Einkünften in der Höhe
von 30 Mark. Das kann ich weder in die Truhen einschließen noch in Schiffen über
das Meer verhandeln. Der Titel ist groß, aber der Nutzen ist so mäßig, dass ich ihn
weder angreifen noch hören noch sehen kann: was soll ich dann angeben, dass ich
an beweglichem Gut besitze? Ein jeder Freund möge mir raten, ob ich es annehmen
oder sein lassen soll. Das Disputieren der Pfaffen interessiert mich nicht, die schauen
nicht in den Truhen nach, ob wirklich etwas drin ist, - nun kontrolliert da, nun
kontrolliert dort, jedenfalls habe ich nichts drinnen.
Hatte Walther jetzt mit den Problemen des Grundbesitzes zu kämpfen, dass er
zwar über einen theoretisch hohen Wert verfügte, der aber nur in Naturalien zur
Verfügung stand und nicht zu Geld zu machen war?
Oder lag das Lehen irgendwo, wo Walther nicht hinkam, also den Ertrag nicht richtig
nutzen konnte, vielleicht, wenn der König es in Italien vergab, dort? Da uns von einem
angeblichen Grab Walthers in Würzburg berichtet wird, könnte Würzburg der Ort
dieses Lehens gewesen sein.
Oder hatte Friedrich vielleicht ein ‚Zinslehen‘ ohne Belehnung mit Grund und Boden
ausgesprochen? Dreißig Mark Jahreszins (10 Pferde von der Qualität dessen, das
Gerhard Atze erschossen hatte) wäre, wenn Walther den Ertrag hätte nutzen können,
ein gehobenes Einkommen. Ob die Pfaffen nur als Beispiel für weltfremde Diskussion
dienen, ob jemand von dem, was er in der Truhe hat, Zins abliefern soll, nicht aber
nachsehen, ob tatsächlich etwas drin ist, oder es etwa darum ging, für einen
Kreuzzug zu spenden, und Walther beteuerte, nichts zu besitzen, wissen wir nicht.
Im letztgenannten Fall wäre der Spruch keine Anklage gegen den König sondern eine
Verteidigung gegen Leute, die von Walther eine Abgabe wollten.
Wie auch immer die Unzufriedenheit Walthers mit dem Lehen zu erklären ist, letztlich
kam alles ins Reine, da der nächste Spruch, weil in ihm Friedrich schon als Kaiser
angeredet wird, auf jeden Fall später liegt –
Übersetzung L 84,30:
Hehrer Kaiser von Rom, Ihr habt so zu meinen Angelegenheiten beigetragen, dass ich
euch Dank sagen lassen muss. Ich kann Euch nicht persönlich danken, wie ich
möchte. Ihr habt mir öffentlich Eure Kerze zugesendet. Die hat unser Haar an den
Augenbrauen stark versengt, und sie hat auch hier bei uns die Augen aller Neider
81
stark geblendet. Doch haben mir alle sehr das Weiße im Auge gezeigt; so hat das was
mir Nutzen und Euch Ehre bringt, ihrem Schielen (der Neider) Schande gebracht.
Bräuche, die Haare mit einer Kerze anzusengen, gab es zum Fest Mariä Lichtmess
(2. Februar). Gleichzeitig war Lichtmess der Termin, zu dem man neue Dienerschaft
aufnahm (in bäuerlichem Milieu bis ins 20. Jahrhundert). In welche Art von Dienst
Friedrich Walther aufnahm, ist unbekannt, doch nimmt man an, dass es eine
Aufgabe in Deutschland war, weil Walther dem Kaiser, der wohl in Italien weilte, nicht
persönlich danken konnte.
In der folgenden Strophe, 84,14, gehört Walther nicht mehr dem Stand der
Fahrenden an und ist nicht mehr von Geschenken abhängig; das ist sein Stolz.
Seine Aufgabe wäre nicht mehr, die Freigebigkeit der Fürsten zu beurteilen, sondern
die Beschlüsse des Reichsgerichts für die Öffentlichkeit zu kommentieren:
Übersetzung – L 84,14:
Man fragt mich sehr oft was ich gesehen habe, wenn ich vom Hof komme, und was
dort geschehen sei. Ich lüge nicht gern und will keine halbe Wahrheit sagen: in
Nürnberg wurde gut Recht gesprochen, das sage ich als Nachricht. Über ihre
Freigebigkeit befragt die Fahrenden, die können das gut beurteilen. Die sagten mir,
ihre Tragtaschen seien leer von dort geschieden, denn unsere heimischen Fürsten
sind so wohlerzogen, dass Leopold als einziger sie (die Fahrenden) hätte beschenken
müssen, wenn er nicht als Gast dort gewesen wäre.
Soll Leopold VI. für sein Verhalten auf dem Nürnberger Gerichtstag (1224?)
gelobt werden?
Vielleicht hat Walther jetzt, wo er durch das Geschenk Friedrichs sich keine „boesen
herren“ suchen müsste, einen besseren Draht zu Leopold als zuvor. Es wird aber
von manchen als Ironie angesehen: ‚die Babenberger sind so höfisch, dass Leopold
geschenkt hätte, wenn er nicht Gast gewesen wäre‘ heißt, dass Leopold nichts
schenkte, sondern das Beschenken der Fahrenden dem Gastgeber überließ.
Der Reichstag wurde von König Heinrich (VII.) einberufen; er war Gastgeber. Er ist in
1. Linie kritisiert. Wie Walther hier zu Leopold steht, ist unklar. Doch eine
Information gibt dieser Spruch: Wenn Leopold mit ‚unsere einheimischen Fürsten‘
gemeint ist, war Walther in Österreich einheimisch.
Die glücklichen Altersjahre Walthers dauerten anscheinend nur kurz. Da der Kaiser
meist in Süditalien weilte, lenkte die Geschicke in Deutschland Erzbischof Engelbert
von Köln, den Walther (85,1) als von Kölne werder bischof anredet und
überschwänglich als vom Kaiser eingesetzten ‚Pfleger‘ des jungen Königs preist; 84,28
spricht er ihn als edeler küniges rât als Vermittler in einer heiklen politischen
Situation an. Daraus schließt man, dass Friedrich II. Walther unter Engelberts
Patronanz stellte. Doch 1225 wurde Engelbert von Köln ermordet (85,9):
Übersetzung:
Des Leben ich lobe, dessen Tod werde ich immer beklagen. Also weh ihm, der den
edlen Fürsten von Köln erschlagen hat! O weh darüber, dass die Erde ihn tragen
kann! Ich kann keine seiner Schuld angemessene Marter finden: es wäre zu milde
für ihn, ihn mit einem Strick aus Eichenzweigen um den Hals zu erhängen, ich will
ihn auch nicht verbrennen noch zerreißen noch ihm die Haut abziehen, noch ihn mit
dem Rad zerteilen noch ihn aufs Rad binden: ich warte darauf, ob die Hölle ihn
lebendig verschlingen wolle.
82
Nach dem Tode Engelberts wurde es nicht nur für Walther schwierig, mit Heinrich
(VII.) auszukommen. Alle zeitgenössischen Zeugnisse beklagen seine Grausamkeit,
Ausschweifungen, das Verhalten seiner Gattin (Margarethe, Tochter Leopolds VI.)
gegenüber, die ihm auf Wunsch seines Vaters angetraut wurde, als er erst 14 Jahre
alt war und die um 13 Jahre älter war als er. Wir lasten heute Heinrich an
persönlicher Schuld wenig an, da ein so erzogenes Kind missraten muss. Doch war
die Situation für das Reich bedrohlich, als Heinrich ab 1225 die Fürsten aus dem
Kronrat auszuschalten begann bzw. sie sich freiwillig auf Kosten der Reichsrechte
selbständig machten.
83
XVII. Didaktik und Gebete
Walther in Diensten Erzbischof Engelberts?
Walther als „Lehrer“?
Walther dichtete einige erzieherische Strophen. Dass Walther von Engelbert von Köln
mit dem Unterricht Heinrichs beauftragt worden sei, kann man aus dem folgenden
Spruch nicht herauslesen. Es ist ein politischer Spruch; das „unerzogene Kind“ ist
sicher der junge König und Walther spielt den „Lehrer“. „Der ganze Spruch (101,23)
ist überreich an Metaphern, und diesen Ausdruck anders als metaphorisch zu
nehmen hat man „keinen Grund“ (WILMANNS).
Die Namen der Erzieher Heinrichs, aus schwäbischem Ministerialenadel, sind
überliefert; zwei davon sind aus Familien, aus denen Minnesänger kamen. Walther
könnte in untergeordneter Stellung als Lehrer beschäftigt gewesen sein. Aber wir
stimmen WILMANNS zu, dass es in diesem Spruch um kein reales Lehrer-SchülerVerhältnis geht.
Übersetzung - 101,23:
Selbstständig aufgewachsenes Kind, du bist zu krumm. Weil niemand dich
geraderichten kann – du bist für die Rute leider schon zu groß und für die Schwerter
noch zu klein-, schlaf nun und sei ruhig. Ich selbst halte mich für zu dumm, weil ich
dich immer so hoch eingeschätzt habe. Ich verbarg deine Ungezogenheit wie im Schoß
eines Freundes, mit deinem Leid beschwerte ich mich, meinen Rücken brach ich mir
deinetwegen. Nun sei deine Schule ohne Meister an meiner Stelle, ich kann nicht
gegen dich aufkommen. Kann es ein anderer, so ist es mir lieb, wenn dir davon etwas
Liebes geschieht. Doch weiß ich wohl, dass dort, wo seine Befehlsgewalt aufhört,
auch seine Kunst obdachlos ist.
Mit diesem Hinweis auf nötige Autorität des Lehrers und Rutengebrauch (auch 23,26
empfiehlt er die Rute; dort nennt er die Autorität König Salomons) stehen andere
lehrhafte Strophen Walthers in Widerspruch. Er baut kein geschlossenes
Erziehungssystem, sondern äußert sich manchmal zu politisch bedeutsamen Fragen,
wie (vermutlich) zu der Erziehung des jungen Königs, dann wieder wendet er sich
anscheinend ohne besondere politische Anspielungen an die Jugend am Hofe, wie
wir es für das Palindrom (in beide Richtungen lesbares Gedicht) 87,1 annehmen. In
diesem widerspricht er dem vorigen und nennt Rutengebrauch sinnlos:
Palindrom – L 87,1 – Übersetzung:
1. Niemand kann mit Ruten die Erziehung eines Kindes befestigen. Für einen,
den man zu Ehren bringen kann, ist ein Wort genauso wie ein Schlag.
2. Hütet eure Zunge, das steht den Jungen gut an. Schieb den Riegel vor die Tür,
lass kein böses Wort hervor
3. Hütet eure Augen in der Öffentlichkeit und heimlich, lasst sie gute Sitten
sehen und die schlechten übersehen.
4. Hütet eure Ohren, oder ihr seid Toren. Wenn ihr böse Worte hineinlasst, bringt
das eurem Geist Unehre.
5. Hütet alle diese drei gut, denn sie sind leider allzu frei. Zungen, Augen, Ohren
sind oft boshaft, dafür blind, was Ehre betrifft.
Walther schien auf die Wirkung seiner Tugendlehren nicht viel zu bauen, denn er
war anscheinend, wie die meisten älteren Leute, davon überzeugt, dass die Welt
immer schlechter wird – oder er spielte mit dieser Vorstellung:
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Übersetzung – L 23,11:
Es träumte, das ist viele Jahre her, in Babylon, das ist wahr, einem König, es würde
in den Landen (Reichen) immer schlimmer. Wenn nun die, die vollauf böse sind, noch
bösere Kinder bekommen, - ja Herrgott, womit soll man die vergleichen? Der Teufel
wäre mir nicht so verächtlich, wenn er mir leibhaftig erschiene, wie das noch bösere
Kind des Bösen. Von so einer Geburt kommt uns weder Nutzen noch Ehre. Die sich
selbst so schänden und ihre Bosheit noch ärger machen, sollten besser ohne Erben
zur Hölle fahren. Dass die tugendlosen Herren nicht mehr werden, da sei, Herrgott,
du vor.
Von Walthers Gebeten wähle ich 26,3, weil es bemerkenswert ehrlich klingt. Den
letzten Satz versucht man zu mildern. Manche meinen, es sei unmöglich gewesen,
ohne Sanktionen eine Haltung zu propagieren, die vorsätzlich in Sündhaftigkeit
verharrt. Dann muss man den letzten Satz gezwungen übersetzen ‚ich will noch die
Gesinnung haben (mich zu bessern)‘; so wird es aber kaum jemand verstanden
haben. Man sollte wohl nur lächeln und tat es vermutlich auch. Es lautet:
Übersetzung – L 26,3:
Hochgelobter Gott, wie selten ich dich preise! Wieso wage ich es, wo ich von dir doch
Wort und Weise habe, und du die Gewalt besitzt, mich zu strafen, so zu sündigen?
Ich tue nicht die richtigen Werke und ich habe die richtige Liebe weder zu meinem
Mitchristen noch zu dir, Herr: so sehr habe ich bis jetzt noch nie jemanden
liebgewonnen wie mich selbst. Herr Christus, Vater und Sohn, der Heilige Geist möge
meine Denkweise korrigieren. Wie sollte ich den lieben, der mir Böses tut? Mir muss
immer der lieber sein, der mir wohlgesinnt ist. Vergib mir meine sonstigen Sünden,
aber diese Einstellung werde ich behalten.
Interpretation:
Oder man nimmt an, dass die Einkleidung als Gebet als politische Satire
durchschaubar sein soll und es geschrieben wurde, als Walther von Otto zu Friedrich
überging, und es kein Gebet ist sondern eine selbstironische Stellungnahme, dass
Walther vom geizigen Otto zum spendierfreudigen Friedrich wechselte. Dann wäre
die letzte Zeile ein Witz. Dass diese Strophe im selben Ton steht wie die Sprüche, die
den Übergang zu Friedrich thematisieren, halte ich für ein nur schwaches Indiz für
die letztgenannte Ansicht. Sie ist aber immerhin möglich. Am wenigsten
Schwierigkeiten habe ich mit der Annahme, dass die Laienfrömmigkeit nicht
theologisch korrekte Aussagen verlangte, und dass die Strophe den Sinn der
wörtlichen Übersetzung hat.
85
XVIII. Der Leich
Walther schrieb nur einen Leich; er ist sein längstes Werk. Er ist in 2 Fassungen
erhalten; nach der, die wir für die Originalfassung halten, ist es ein
Dreifaltigkeitsleich; in der, von der wir annehmen, dass sie von einem Bearbeiter
stammt, ist es ein Marienleich; wenn man annimmt, dass Walthers originaler
Bauplan regelmäßiger war und einzelne Verse in den Handschriften entfielen, kann
man ihn zu einer Mariensequenz machen.
Leich und Sequenz gemeinsam ist, im Gegensatz zum Lied:
In einem Lied ist jede Strophe gleich gebaut wie die andere. In einem Leich oder einer
Sequenz werden verschieden gebaute Formteile, sogenannte Versikel, angewandt,
und zwar meist in paariger Wiederholung.
Das ganze Werk zerfällt jeweils in mehrere Großteile, die einander entsprechen,
(‚höhere Responsion‘), und innerhalb der Großteile werden jeweils die einzelnen
Versikel wiederholt (‚niedere Responsion‘); außerdem finden sich Responsionen in
den Reimen und auch inhaltliche Responsionen.
Vor allem in der niederen Responsion ist die Sequenz streng gebaut; wenn die
einzelnen Hauptteile einer Sequenz in der ‚niederen‘ Versikelfolge nicht identisch
sind, ist anzunehmen, dass Verse verlorengegangen sind oder später hinzugedichtet
wurden. Zumindest Paarigkeit der Versikel ist anzunehmen, auch dreimal dasselbe
Formgebilde hintereinander ist möglich; wo einzelne Versikel stehen, nimmt man
Störung der Überlieferung an.
Im Leich sind jedoch auch die niederen Responsionen freier; ungleicher Bau der Teile
zwingt uns nicht, Lücken anzunehmen oder Verse zu streichen.
Die Sequenz ist eine geistliche Gattung; sie ist aus den Verzierungen entstanden, die
dem Alleluja angehängt wurden. Der Leich war ursprünglich eine weltliche Gattung;
das Wort ist im Deutschen Erbwort aus dem Germanischen (got. laikan ‚springen‘)
und er war, wie die Etymologie lehrt, ursprünglich ein Springtanz.
In Form und Melodie beeinflussten die geistliche und die weltliche Musik einander;
zu Melodien geistlicher Gesänge wurden weltliche Lieder gedichtet und umgekehrt
(‚Kontrafaktur‘). Dabei büßte die Sequenz von ihrer ursprünglichen formalen Strenge
ein; die Tanzleichs des Tannhäuser (eine Generation nach Walther) zeigen keine
genaue Responsion.
Walthers Leich ist in zwei Fassungen erhalten. Der Text ist in beiden Versionen bis
auf Kleinigkeiten gleich und scheint keine Bearbeitung durch einen Späteren,
sondern der Originaltext Walthers zu sein.
Doch in der Abfolge der Teile ist ein großer Unterschied zwischen der Großen
Heidelberger Liederhandschrift (C) und den 3 anderen, der sogenannten ‚k-Gruppe‘.
C scheint die originale Anordnung Walthers zu bringen und beginnt mit dem Lob der
Trinität (=Dreifaltigkeitsleich). Es ist also ein Dreifaltigkeitsleich. Die ‚k-Gruppe‘
stellt das Marienlob an den Anfang.
Der Text enthält einige formale Freiheiten; es ist also ein Leich, keine Sequenz. Da er
in beiden Versionen fast gleich ist, sieht man ihn als Walthers Original nahestehend
an, nicht als Werk eines späteren Bearbeiters. Daher versucht man heute nicht mehr,
ihn so zu verändern, dass eine Sequenz daraus wird. Dann gehen die formalen
Freiheiten auf Walther selbst zurück. Die Gliederung wird auch davon beeinflusst,
ob wir Folgen vier- und dreihebiger Verse als Kurzzeilen oder als Teile von Langzeilen
nach Art der Nibelungenstrophe auffassen.
86
Inhaltliche Deutung:
Walthers Leich kann man als Zeugnis für die ethisch-religiöse Krise seiner Zeit
auffassen, oder als politische Hetze gegen den Papst. Im 12. und 13. Jh. stellt die
höfische Literatur die Verehrung der Dame in den Vordergrund, und die religiöse
Erbauungsliteratur hat einen Schwerpunkt in der Marienverehrung. Auf dem 4.
Lateran‚konzil‘ (oder ‚-synode‘) 1215 wurde auch die Marienverehrung dogmatisch
geregelt. Die theologischen Anschauungen in Walthers Leich sind aber für die ganze
Epoche kennzeichnend und können daher nicht mit einem bestimmten Anlass in
Verbindung gebracht werden; der Leich ist daher nicht datierbar.
Theologisch Wichtiges:
Theologisch wichtig ist, dass Walther nur die contritio cordis, die Reue, als
Voraussetzung für die Vergebung der Sünden nennt (6,13: nû ist uns riuwe tiure),
confessio ‚Bekenntnis‘ und satisfactio ‚Buße‘ fehlen. Die beiden letzten bedürfen des
Priesters; wenn man auf sie verzichten kann, liegt darin antiklerikale Tendenz. Diese
ist für Walther während seines ganzen Lebens anzunehmen, und auch eine kräftige
Beleidigung gegen Rom hilft nicht zur Datierung. Mit der Ablehnung der
Notwendigkeit des Priesters für die Vergebung der Sünden entspricht Walther dem
Nibelungenlied und Wolfram von Eschenbach. Der ritterliche Laienstand empfand es
als Erpressung, wenn die Vergebung der Sünden nur unter Auflage bestimmter
finanzieller oder rechtlicher Handlungen gewährt wurde.
Wir bringen nur einige Ausschnitte. Der 1. Vers jedes Kleinabschnittes wird zur
Kennzeichnung eingerückt. Die Einleitung (3,1 - 3,12) besteht aus einem Preis der
Hetze und einem Gebet – Übersetzung:
1. Gott, von deiner Dreifaltigkeit, die deine Vorsehung beschlossen hatte, sagen
wir: in der Dreiheit ist die Drei eine Einheit.
2. Der einzige hohe und höhere Gott, dessen immer aus sich selbst seiende Ehre
niemals endet, der sende uns seine Lehre. Der Fürst aus dem Abgrund der
Hölle hat unsere Sinne u vielen Sünden verleitet
Der Hauptteil I enthält in der 1. Hälfte ein Sündenbekenntnis, ein Gebet und
anschließendes Lob Gottes, die Verachtung des Teufels, wieder ein Lob Gottes, und
dann ein Lob der Jungfrau:
3. Sein Rat und die Begierde des schwachen Fleisches haben uns dir, o Herr,
entfremdet. Weil diese beiden ungehorsam gegen dich sind, und du Gewalt
über diese beiden hast, hilf uns deinem Namen zur Ehre, dass wir mit dir
siegen, und dass deine Kraft uns zu so dauerhaftem Widerstand stärkt,
4. dass davon dein Name geehrt sei und dein Ruhm gemehrt werde. Dadurch
wird er entehrt, der uns da Sündhaftigkeit lehrt (der Teufel)
5. und der uns zur Unkeuschheit verleitet. Seine Macht liegt durch deine Macht
darnieder Dafür seiest du immer gepriesen und auch die reine süße Jungfrau,
von der uns der Sohn ans Licht gebracht wurde, der ihr als Kind wohlgefällt.
Jetzt ist das Hauptthema des Leichs erreicht, das Marienlob. Theologische
Schwierigkeit: Wohlgefallen mit Jesus ausdrücken, ‚du bist mein geliebter Sohn, an
dem ich mein Wohlgefallen habe‘ (tu es filius dilectus, in te complacui mihi Luc
3,22) sagen kann nur Gott Vater; nicht Maria. behaget kann man nicht mit
‚zukommt‘ übersetzen. Eine solche Bedeutung von behagen ist nirgends belegt. Das
versuchte man, um Walther mit der katholischen Dogmatik (= Glaubenslehre) in
Einklang zu bringen: ‚der Maria gut zukommt‘ könnte man sagen, denn Maria war
nach katholischer Dogmatik von der Erbsünde frei; sie sei von ihrer Mutter
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unbefleckt empfangen worden, denn Gott habe sie von der Erbsünde ausgenommen,
damit Christus eine reine Wohnstätte besitze. Wer so interpretiert, korrigiert Walther,
nicht die Übersetzung.
Die nun folgende 2. Hälfte des 1. Hauptteils (4,2 - 5,18) bringt traditionelle Vergleiche
und Sinnbilder für Maria aus dem Alten Testament. Hier treten erstmals Versikel auf,
die man in Langzeilen fast wie die Nibelungenstrophe anschreiben kann.
Druckbild: die Nibelungenstrophe hat 4 Langzeilen, 3 zu je 7 Takten, die 4. hat 8
Takte. In den sechszeiligen Versikeln des Leichs sind 5 Langzeilen wie die ersten drei
der Nibelungenstrophe gebaut, die 6. wie die 4. der Nibelungenstrophe.
Metrik: im Nibelungenlied folgt auf zwei durch Reim gebundene 7-taktige Verse ein
ungleich langes Verspaar (7 und 8 Takte); in Walthers Leich ist das 1. Paar
verdoppelt, das ergibt einen Aufgesang mit 2 Stollen zu je 2 Versen und einen
Abgesang mit 2 Versen.
Hauptteil I, 2. Hälfte:
6. Jungfrau und Mutter, sieh die Not der Christenheit n, du blühender Stab
Arons, aufgehende Morgenröte, Pforte Ezechiels, die nie geöffnet wurde, durch
die der herrliche König aus- und eingelassen wurde. So wie die Sonne durch
in einem Stück gefertigtes Glas scheint, so gebar die Reine Christus als
Jungfrau und Mutter.
Hier ist Walther theologisch korrekt. Die Jungfrauenschaft Mariens wurde als
immerwährend angesehen, durfte auch durch die Geburt Christi nicht verletzt
worden sein. Für die unbefleckte Empfängnis behalf man sich so, dass sie, da nach
Lk. 1,28-35 Gabriel Maria das Wort Gottes überbrachte, durch das Ohr erfolgt sei;
für die Geburt half das Gleichnis vom Licht, das durch Glas hindurchdringt. Der Stab
Arons beginnt zum Zeichen der Auserwähltheit Arons und seines Stammes (Levi) zu
blühen: Numeri (4. Buch Moses) 17,16 ff.; die aufgehende Morgenröte entstammt
dem Hohen Lied 6,9; die Pforte, die nie geöffnet wurde, durch die der König Israels
trat, Ezechiel 44,1-3.
Es folgen die Gleichnisse vom brennenden Dornbusch und Thron Salomons;
dazwischen Verweise auf Christi Erlösungswerk und Evas Sünde. Auch in der
Betonung der Rolle Evas bei der Erbsünde ist Walther in der Gesellschaft seiner
Zeitgenossen; auch Wolframs ‚Parzival‘ ist voll von diesbezüglichen Anspielungen. Wir
kommen nun zum 2. Hauptteil (6,7 - 7,24), der sich von der klerikalen Lehre mehr
entfernt (Stichwort ‚Reue‘). Er ist dem 1. Hauptteil formale ähnlich, aber nicht
identisch 6,7 - 6,27:
Hauptteil II - Übersetzung:
7. Wie kann dem je geholfen werden, der seine Missetat nicht von Herzen betreut,
nachdem Gott keine Sünde vergibt,
8. die nicht jederzeit hinab bis auf den Grund des Herzens betreut wird. Ein
Weiser weiß genau, dass nie eine Seele gerettet wird, die vom Schwert der
Sünde verletzt ist, wenn sie nicht von Grund auf ihr Heil findet.
9. Nun fällt uns Reue schwer. Gott möge sie uns mit seinem Liebesfeuer zur Hilfe
senden. Sein liebevoller Geist,
10. der versteht sich wohl darauf, harten Herzen wahre Reue und ein erleichtertes
Leben zu schenken. Wo er weiß, dass die Reue danach begehrt, dort macht er
die Reue heiß. Selbst ein wildes Herz zähmt er so, dass er sich aller Sünden
schämt.
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Jetzt wäre, zu Beginn der zweiten Hälfte des Hauptteils II, wieder eine sechszeilige
‚verlängerte Nibelungenstrophe‘ fällig. Hier stehen aber nur ihre ersten vier Verse
(6,28 - 6,31), die beiden letzten hat Walther für die Schlussverse des Leichs
aufgespart.
Hauptteil II, 2. Hälfte - Übersetzung:
11. Nun sende uns, Vater und Sohn, den heiligen Geist herab, damit der mit
seinem süßen Trank ein ausgedörrtes Herz belebe. Die ganze Christenheit ist
so voll unchristlicher Dinge. Wo das Christentum im Siechenhaus liegt, dort
handelt man nicht gut an ihm.
Die nächsten beiden Versikel sprechen den Papst und die Simonie (Kauf geistlicher
Ämter) an; sie sind die einzigen im Leich, die direkte Angriffe enthalten. Die anderen
enthalten allgemeine Klagen.
12. Das Christentum dürstet sehr nach der richtigen Lehre, wie es gewohnt war,
sie von Rom zu bekommen. Wenn irgendjemand ihm die einschenkte und ihm
u trinken gäbe wie früher, so käme es davon wieder auf die Füße.
13. Alles, was ihm je an Lied zustieß, das kam nur von Simonie (Kauf geistlicher
Ämter). Nun hat es so wenige Freunde, dass es nicht wagt, seinen Schaden
einzuklagen. Der, der Christentum und Christenheit deckungsgleich
zugeschnitten hat, gleich lang, gleich breit, der wollte auch, dass wir
14. In Christus christlich leben sollten. Weil er uns zueinander gegeben hat, sollen
wir uns nicht trennen. Ein Christ, der sich mit Worten zum Christentum
bekennt und nicht mit Werken, der ist wohl halb ein Heide. Unsere größte Not
ist: keines der beiden kann ohne das andere Leben. Gott leite uns, was beide
(Christentum und Christenheit) betrifft,
15. und er gebe uns rat, wo er uns doch in der Offenbarung seine eigenhändig
Geschaffenen genannt hat. Nun besänftige uns, Herrin, auserwählte
barmherzige Mutter, seinen Zorn, du dornenfreie Rose, du Sonnenfarbene,
Helle.
Der Schlussteil des Leichs (7,25 – 8,3) bringt einen dogmatisch korrekten
Marienpreis und eine gerade noch korrekte Bitte an Maria um Fürbitte bei Gott (nach
katholischer Lehre darf nur Gott angebetet werden, aber Maria und die Heiligen
dürfen gebeten werden, für uns bei ihm Fürbitte einzulegen). Aber in der Schlusszeile
steht, dass Maria Sünden vergeben könnte, und das ist weder dogmatisch korrekt,
noch kann man die Übersetzung so drehen, dass eine andere Aussage herauskommt:
16. Dich preist die Schar der hohen Engel, doch gelang es ihnen in aller Zeit noch
nicht, dich vollständig zu preisen.
17. An alles, das man mit Engelsstimmen oder aus Menschenzungen aus allen
Ordnungen (gemeint sind die verschiedenen Chöre der Engel und der Seligen)
im Himmel und auf der Erde zu deinem Preis sang, erinnern wie dich Edle,
18. und bitten dich wegen unserer Schuld, dass du uns gnädig seist,
19. damit deine Fürbitte vor dem Quell des Erbarmens erklingen möge.
20. Dann haben wir die Hoffnung, dass die Schuld geringer werden möge, mit der
wir schwer beladen sind. Hilf uns, dass wir sie abwaschen
21. mit beständiger Reue über unsere Sünden, die außer Gott und außer dir
niemand geben kann.
89
XIX. Walthers „Alterston“
Thematik und Form der Werke Walthers gleichen sich im Alter so aneinander an,
dass eine Strophengruppe, die ursprünglich als eine Reihe thematisch
zusammenhängender Sprüche angesehen wurde, durch sinnvolle Reihung der
Strophen von Carl VON KRAUS als zusammenhängendes Lied gedeutet werden
konnte. Man nannte diesen vermeintlichen Spruchton den ‚Alterston‘.
Übersetzung – L 66,21:
1. Ihr reinen Frauen, ihr edlen Männer, es steht so, dass man mir nun Ehre und
liebenswürdigen Gruß noch reichlicher zuteil werden lassen muss als bisher.
Dazu seid ihr tatsächlich noch mehr verpflichtet als je zuvor. Wollt ihr es
hören, so sage ich euch, weshalb. Wohl vierzig Jahre oder noch länger habe
ich von Minne gesungen und davon, wie jeder handeln soll. Damals war ich
mit den anderen dessen froh; jetzt habe ich nichts mehr davon, es kommt nur
mehr euch zugute. Mein Minnesang möge euch dazu dienen, und eure Huld
soll mein Anteil sein.
2. Lasst mich an einem Stab gehen (Stab als Zeichen des Alters) und mich mit
unermüdlicher Arbeit um Ehre bemühen, wie ich es von Kind an getan habe,
so bin ich doch obwohl ich so niederen Standes bin, einer der Vornehmen,
nach dem Maß, das mir zukommt, hoch genug. Wenn das die Niederen ärgert:
setzt mich das herab? Nein. Die Würdigen schätzen mich dafür um so mehr.
Die andauernde Würde, hat einen so hohen Wert, dass man ihr den höchsten
Ruhm zollen soll. Nie hat jemand rühmenswerter gelebt, als wer in Hinblick
auf das Ende richtig handelt.
3. Welt, ich habe erkannt, was dein Lohn ist: Alles, was du mir gibst, das nimmst
du mir. Wir scheiden alle nackt aus dir. Schäme dich, wenn mir das auch
geschehen soll. Ich habe Leib und Seele – das war ein zu hoher Einsatz –
tausendmal um deinetwillen gewagt; jetzt bin ich alt und du hast mit mir dein
Narrenspiel. Und wenn ich darüber zürne, so lachst du. Nun, lache uns noch
eine Weile: dein Jammertag wird bald kommen und nimmt dir all das, was du
uns genommen hast, und brennt dich dafür noch.
4. Ich hatte ein schönes Bild auserwählt. O weh, dass ich es je sah und so viel
mit ihm redete! Es hat Schönheit und Sprache verloren. In ihm wohnte ein
Wunder: das fuhr, ich weiß nicht, wohin. Daraufhin verstummte das ild sofort.
Seine Lilienrosenfarbe wurde so kerkerfarben, dass es Duft und Glanz verlor.
Mein Bild, wenn ich in dir eingekerkert bin, so lass mich so aus dir heraus,
dass wir einander froh wiederfinden, denn ich werde noch einmal in dich
hineinmüssen (bei der Auferstehung.
5. Meine Seele möge das ewige Heil erlangen! Ich habe auf der Welt viele Leute
froh gemacht, Männer und Frauen; könnte ich dabei mich selbst retten! Lobe
ich die körperliche Minne, so ist das für das Heil der Seele schlecht: sie sagt,
es sei eine Lüge, und ich sei verrückt. Sie sagt, dass nur die wahre Liebe
wirklich beständig sei, wie gut diese sei und wie sie ewig andauere. Leib, lass
die Minne, die dich verlässt, und halte die andauernde Minne hoch. Mich
dünkt, die, die d begehrt hast, ist nicht bis an die Gräten Fisch.
Interpretation:
Fisch ist Gegensatz zu Fleisch. Wenn etwas nicht bis an die Gräte Fisch ist, haftet
ihm etwas Fleischliches an. Diesen ‚peinlichen Erdenrest‘ sieht Walther schon wie
vom Jenseits aus; er trennt sich schon von dem schönen Abbild, das der Leib ja nur
darstellt. Wenn Sprache, Schönheit, Lebenshauch entfliehen, wird die Seele auch
bald ins eigentliche Leben eingehen. Die Sichtweise des irdischen Daseins als nicht
wirklichem, nur ungenauem Abbild der viel schöneren eigentlichen Wirklichkeit im
90
Jenseits, hat die mittelalterliche Philosophie aus dem Neuplatonismus (=Gesamtheit
der philosophischen Richtungen in Fortführung der Philosophie Platons).
Es gibt aber keinen direkten Faden von Walther zu Goethe, dessen Alterswerk
ebenfalls von neuplatonischen Bezügen eingerahmt ist: Am Beginn von ‚Faust II‘
spricht Faust, über den Regenbogen nachsinnend, „am farbigen Abglanz haben wir
das Leben“; am Ende verkündet der Chorus mysticus mit „alles Vergängliche ist nur
ein Gleichnis“, dass die eigentliche Wirklichkeit nicht im Diesseits liegt, das nur ein
Gleichnis, ein Abbild, der höheren ist; der nächste Vers präzisiert, dass dieses Abbild
unzulänglich ist und ihm daher noch keine Wirklichkeit zukommt: es muss erst
„Ereignis“ werden. Das Mittel, den Menschen in die eigentliche Existenz
hinanzuziehen, ist der Begriff der Weiblichkeit (das ‚Ewig-Weibliche‘).
Doch der alte Goethe hatte seinen Neuplatonismus (indirekt) aus spätantiken
Quellen, Walther kanntet er nicht und wusste wenig von mittelalterlicher
Philosophie. Den ‚Doctor Marianus‘ und andere scholastischen Philosophen, die er
auftreten lässt, lernte er durch zeitgenössische Vermittlung kennen, nicht durch
mittelalterliche Literatur.
91
XX. Widerruf (L 100,24) und Aufruf (L 124,1)
Widerruf:
‚Frau Welt‘, eine bildliche Figur, will Walther zu irdischen Freuden verführen, doch
er bleibt bei seinem Entschluss zur Abkehr von irdischer Freude. Der Teufel, der
‚Fürst dieser Welt‘, ist als Besitzer eines Wirtshauses gedacht, in dem Frau Welt die
Menschen verlockt.
Übersetzung – L 100,24:
1. Frau Welt, Ihr sollt dem Wirt sagen, dass ich seine Rechnung vollständig
bezahlt habe. Meine große Schuld ist nachgelassen, er soll meinen Namen aus
dem Schuldbrief ausradieren. Wer ihm etwas schuldet, der kann wohl in Sorge
sein. Bevor ich ihm etwas lange schuldig bliebe, würde ich mir eher bei einem
Juden Geld borgen. Er verlangt nichts bis an einen Termin. An dem will er
dann ein Pfand haben, wenn jener nicht bezahlen kann.
2. Walther, du zürnst ohne Notwendigkeit; bleib doch hier bei mir. Denk daran,
wie ehrenvoll ich dich behandelt habe, und wie sehr ich dir deinen Willen ließ,
wo du mich oft sehr darum gebeten hast. Mir tat es von Herzen leid, dass du
das so selten getan hast. Bedenkt: du hast ein gutes Leben; wenn du mir
aufkündigst, so wirst du nie mehr froh.
3. Frau Welt, ich habe zu viel (an deinen Brüsten) gesogen. Ich will mich
entwöhnen, es ist an der Zeit. Deine Zärtlichkeit hat mich beinahe betrogen,
denn sie spendet viele angenehme Freuden. Als ich dir gerade ins Gesicht sah,
da warst du „wunderbar“ anzuschauen, man kann es nicht leugnen. Doch sah
ich so viel Schande, als ich deine Rückseite sah, dass ich dich dafür immer
schelten (verfluchen) werde.
4. Wenn ich dich schon nicht davon abhalten kann, so tu doch eines, worum ich
dich bitte: denk an die vielen schönen Tage und schau doch bisweilen vorbei
ei mir, wenigstens wenn dir sonst langweilig ist. Das täte ich mit wunderbarer
Freude, aber ich fürchte deinen Hinterhalt, vor dem sich niemand schützen
kann. Gott gebe Euch, gnädige Frau, eine gute Nacht; ich will mich zur
Herberge begeben.
Weltflucht:
Gast auf der Welt, nicht Hausherr, trotz Lehen, unterwegs in eine Herberge, die nicht
mehr auf der Welt ist: das ist nicht nur Walther. Auch die bildende Kunst kennt Frau
Welt, eine von vorne hübsch anzusehende Dame, deren Rücken aber von
Geschwüren zerfressen ist und deren hinten hinabhängende Haare in
Schlangenköpfe auslaufen. Weh dem, der sich mit ihr anfreundet, wenn sie sich ihm
von vorne zeigt; bald wird sie ihm den Rücken zukehren und ihre wahre Gestalt
verraten. Am Wormser Dom kriechen Kröten und Schlangen über ihren Rücken.
Aufruf:
Übersetzung – L 124,1 – Strophe 1:
O weh, wohin sind all meine Jahre verschwunden! Ist mir mein Leben geträumt, oder
ist es wahr? Das, wovon ich immer glaubte, es sei, war das überhaupt? Danach habe
ich geschlafen und weiß es nicht. Nun bin ich erwacht und mir ist all das unbekannt,
was mir hievor bekannt war wie meine andere Hand. Leute und Land, wo ich von
Kind an erzogen wurde, sind mir fremd geworden, als ob es eine Lüge wäre. Die meine
Gespielen waren, die sind fremd geworden, als ob es eine Lüge wäre. Die meine
Gespielen waren, die sind träg und alt. Das Feld ist bestellt, der Wald ist gerodet.
92
Wenn nicht wenigstens das Wasser noch so fließen würde, wie es einst floss, fürwahr,
mein Unglück würde wohl vollständig. Mancher grüßt mich nur unwillig, der mich
früher gut kannte. Die Welt ist allenthalben voll von Undank. Wenn ich an die vielen
wonnigen tage denke, die mir wie ein Schlag ins Meer entfallen sind: immerfort o weh!
Interpretation:
Ich weiß nicht, ob mein Leben wirklich war:
„Danach habe ich geschlafen und weiß es nicht.“
Möglichkeit 1:
Es war wirklich war und nicht geträumt. Ich habe danach (= nach dieser wirklich
gewesenen schönen Zeit) geschlafen.
Was heißt dann das es?
a) ohne es (= dass ich geschlafen habe) zu wissen.
b) und weiß es daher nicht (dass diese Zeit wirklich war).
Die Interpretation 1a entspräche der Sage von Epimenides:
Der Jüngling Epimenides legte sich für ein kurzes Schläfchen nieder, schlief 57 Jahre
lang ohne es zu wissen, und glaubte auch nach dem Erwachen zunächst nicht, lange
geschlafen zu haben, bis er merkte, dass alles sich verändert hatte und sein jüngerer
Bruder ein alter Mann war; danach wurde er ein bedeutender Seher.
Möglichkeit 2:
Ich habe mein ganzes früheres Leben nur geträumt. Dann also habe ich (mein ganzes
bisheriges Leben) schlafend verbracht, ohne es (dass alles nur ein Traum war) zu
wissen. Walthers fragende Zweifel scheinen zu sagen, dass er sich nicht sicher ist, ob
diese Zeit wirklich war, er also nicht zwischen Möglichkeit 1b und 2 entscheiden
kann.
„Nun bin ich erwacht und mir ist all das unbekannt, was mir hievor bekannt war wie
meine andere Hand“
Nach dem Aufwachen ist mir fremd, was mir hievor bekannt war
1. was mir vor dem Einschlafen bekannt war, wenn, wie bei Epimenides, das
Leben vorher wirklich war)
2. was mir im Traum, vor dem Aufwachen, bekannt war, wenn alles vor dem
Aufwachen Traum war und es die frühere, schöne Zeit nie gegeben hatte).
„Leute und Land, wo ich von Kind an erzogen wurde, sind mir fremd geworden,
als ob es eine Lüge wäre.“
(Liute unde lant, dannen ich von kinde bin [geborn] <erzogen>,
die sint mir vremde worden, reht als ob ez sî gelogen.)
Beide Handschriften (C und E) haben geborn. Das reimt weder noch kann man von
der Kindheit an geboren werden. Man muss diese Stelle durch Konjektur verbessern.
Das einzige passende Wort, das den Germanisten dazu einfiel, ist erzogen.
„Die meine Gespielen waren, die sind träg und alt. Das Feld ist bestellt, der
Wald ist gerodet.“
(Die mîne gespilen wâren, die sint træge unde alt.
Bereitet ist daz velt, verhouwen ist der walt)
Bereitet ist daz velt: Beklagt Walther, dass die Felder bestellt sind? Hier ist schon die
Lücke von E, wir haben nur den Text von C. Daher wollen manche diese Zeile durch
Konjekturen ändern. Das ist aber nicht nötig: Walther beklagt nicht den Ackerbau
93
an sich, sondern die Veränderung, dass alles anders aussieht als in seiner Jugend.
Unter Leopold VI. wurden große Teile Niederösterreichs von Waldland zu Ackerland.
Jetzt ist weniger als die Hälfte Niederösterreichs bewaldet. Bis ca. 1200 war es fast
ganz von Wald bedeckt. Damals begann die landwirtschaftliche Nutzung größerer
Flächen. Walther (35,18): ich enkan niht riuten.
„Wenn nicht wenigstens das Wasser noch so fließen würde, wie es einst floss,
fürwahr, mein Unglück würde wohl vollständig.“
Wien um 1830: Das Wasser fließt heute anders! Walthers Vertrauen, dass man das
nicht ändern kann, ist zerstört. Die Donau fließt seit ca. 1875 schneller. Ein Stau bei
Hainburg würde sie ungefähr auf die natürliche Geschwindigkeit verlangsamen. Man
hat nicht Angst vor Denaturierung, sondern vor Änderung.
Übersetzung – Strophe 2:
O weh, wie jämmerlich die jungen Leute handeln, die so zukunftsfroh waren! Die
verstehen sich auf nichts als auf Sorgen: o weh, warum tun sie das? Wohin auch
immer ich mich in der Welt wende, ist niemand Froher, Tanzen, Singen löst sich in
Sorgen auf: noch nie hat man so eine jämmerliche Epoche gesehen, so weit die
Christenheit reicht. Schaut doch, ob den Frauen ihr Kopfputz richtig steht! Die
stolzen Ritter kleiden sich wie die Bauern. Wir haben aus Rom unfreundliche
Sendschreiben (mit dem Bann gegen den Kaiser) erhalten. Deshalb dürfen wir
trauern, und die Freude hat man uns genommen. Es schmerzt mich im Innersten,
denn früher haben wir recht gut gelebt, dass ich nun mein Lachen gegen Weinen
eintauschen soll. Sogar die wilden Vögel betrübt unsere Klage: was Wunder, wenn
ich da auch verzage? Aber was spreche ich Dummkopf in meinem bösen Zorn? Wer
irdischer Wonne folgt, hat die im Jenseits verloren. Immerfort: o weh!
Übersetzung - Strophe 3:
O weh, wie wir mit Süßigkeiten vergiftet werden! Ich sehe die bittere Galle mitten im
Honig schwimmen. Die Welt ist außen schön, weiß, grün und rot, und innen schwarz,
finster wie der Tod. Wenn sie jemanden verführt hat, so möge der sehen, wie er sein
Heil finden kann: er wird mit einer leichten Buße von großen Sünden erlöst. Daran
denkt, Ritter: das geht euch an. Ihr tragt die glänzenden Helme und harten
Panzerringe, dazu die festen Schilde und die geweihten Schwerter. Wollte Gott, ich
wäre es wert, diesen Sieg davonzuzutragen! Dann wollte ich armer Kerl reichen Lohn
verdienen. Damit meine ich nicht den Grundbesitz noch das Gold des Herren. Ich
wollte selbst eine Krone auf ewig tragen: die könnte ein Söldner mit seinem Speer
erlagen. Könnte ich die seligmachende Reise übers Meer mitmachen, so würde ich
singen „gut“, und nie wieder „oweh“.
Interpretation:
„Daran denkt, Ritter: das geht euch an.“:
Der Kreuzzug ist Sache der Ritter. Der Anführer der Ritter ist der Kaiser; also sind
Terminentscheidungen seine Sache, nicht des Papstes. Dieser Kreuzzug wurde gegen
den Willen des Papstes durchgeführt: der Papst, seit 1227 Gregor IX., verstand sich
als allein berechtigt, den Termin festzusetzen. Friedrich erkrankte beim Aufbruch im
Sommer 1227 an einer Seuche, an der der auf dem selben Schiff wie er reisende
Landgraf Ludwig von Thüringen starb, und musste umkehren; dann setzte er den
Aufbruch für den Winter fest. Beides entschied Friedrich selbständig: Er wartete
nicht auf den Befehl des Papstes und gab den Befehl zuerst zum Aufschub, dann, im
Spätherbst, zum Aufbruch; das zog ihm den Bann (unfreundliche Sendeschreiben)
zu, der auch nach dem Aufbruch (1228) nicht aufgehoben wurde.
94
Ab der Mitte der zweiten Strophe ist ein Umschwenken zur Kreuzzugspropaganda
merkbar, die in der dritten Strophe klar hervortritt. Es gab auch Autoren, die
1228/29 das Unrecht der Kreuzfahrt beklagten und den Wunsch, wieder nach Hause
zu kommen, besangen: Neidhart, der Tannhäuser, Freidank und andere.
Ein Brief Papst Gregors IX. an Leopold VI. gibt sich als Antwort auf eine Bitte
Leopolds, der sich beim Papst beklagt hätte, dass die Ritter seiner Länder so reichlich
zum Kreuzzug strömten, dass das Land ganz von Rittern entblößt sei, und den Papst
gebeten habe, es für die Dauer seiner Abwesenheit unter seinen Schutz zu stellen.
Das darin vorausgesetzte Schreiben Leopolds ist uns nicht erhalten, nur die ‚Antwort‘
Gregors. Der Brief Leopolds wird eher anders gemeint gewesen sein. Leopold war
Parteigänger Friedrichs, der eine so weitreichende weltliche Gewalt des Papstes kaum
anerkannt hätte. Aber auch falls die Bitte um Schutz nur eine Interpretation der
päpstlichen Kanzlei ist, ist das päpstliche Schreiben nur denkbar, wenn es wirklich
viele Freiwillige gab.
Neidhart nahm Walther den Gesinnungswandel nicht ab; er parodiert Walthers
Alterslieder in seinem Winterlied Nr. 30.
Es lautet in Übersetzung:
1. Alles was im Sommer froh war ist jetzt, wo der lange, schwere Winter kommt,
traurig. Die Vögel schweigen, Blumen und Gras sind verdorben. Schaut, wie
viel Raureif im Wald liegt! Er ist daran schuld, dass die Wiese braungelb ist.
Darüber klage ich genau so wie alle anderen auch, und das wird bis zu meinem
Todestag so sein.
2. Deshalb wundert ihr euch vielleicht, warum ich meinen Freunden geklagt
habe, sie sollen sich bessern. Ich will es euch erklären, damit ihr mir Recht
gebt: in der Welt lebt niemand ohne Sünde. Je länger es andauert, desto
schlimmer wird es in der Christenheit. Meine Tage schwinden dahin und
verkürzen meine Jahre. Sollte ich mich da einer Freude hingeben, die nicht
von Herzen käme, und einen Dienst sein lassen, der mir Besseres brächte?
3. Wenn ich Sünder in Reue baden sollte, so will sie, meine Herrin [die Welt],
dass ich ihren Kindern neue Lieder singe. Dann muss ich sie mit Gewalt
fliehen. Sie darf mich nicht mehr zu sich einladen; ich will endgültig aus ihrem
Dienst scheiden. Ich will die Seele retten, die ich mit wollüstigem Gesang Gott
entfremdet habe. Der Engel stehe ihr bei und beschütze sie!
4. Meine Herrin ist älter als tausend Jahre und dümmer als ein siebenjähriges
Kind; eine so unwürdige Herrin habe ich sonst nirgends kennengelernt. Sie
hat mich ganz verlockt und hofft noch immer, dass ich ihr immerfort dienen
werde. Das sagte mir ein Bote, den sie mir ihre Dienste und ihre Minne
ausrichten ließ. Da sagte ich ihr endgültig auf, der Betrügerin. Ehrlose Dame,
weh, was wollt ihr von mir? Tausend Junge sollen Euch an meiner Stelle
dienen. Ich will einem Herren dienen, dessen Eigen ich bin, und will nicht
mehr Euer Sänger sein. Dass ich Euch zu Diensten so manchen geilen Tritt
getreten habe, das schadet meinem Seelenheil. Am meisten tut mir leid, dass
ich Euch da nicht floh, und mir nicht einen Herrn gesucht habe, der noch
besser lohnt.
5. Weil die Weisen sich alle Gotteskinder nennen - wäre ich weise, müsste ich
also am Kinderkreuzzug teilnehmen, aber der Versammlungsort dafür ist mir
zu weit weg -, und die, die Welt lieben, alle Dummköpfe sind, Herrgott im
Himmel, geleite mich also dorthin! (Der Kinderkreuzzug war 1212 für den
deutschen Teil von Köln ausgegangen; alle Kinder kamen elend um.) Kraft über
allen Kräften, stärke meine Geisteskraft, damit ich mein Seelenheil um
deinetwillen verdienen kann und um deiner Liebe willen Anteil an der ewigen
Wonne!
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6. Wenn ich zu trauern beginne, kommt einer und sagt: ‚Guter, sing etwas! Wir
wollen mit euch singen, verhelft uns zur Freude! Was man jetzt singt, taugt
nichts. Meine Freunde sagen, ‚Ihr habt einst viel besser gesungen!‘ Sie
wundern sich, wohin die Bauernlümmel aus den Gedichten entschwunden
sind, die früher am Tullnerfeld auftraten. Aber es wandelt noch einer auf ihren
Spuren, von dessen Schandtaten ich erzählen will: er heißt mit seinem
richtigen Namen ‚Knurr den Zaun an‘.
Darin
-
ist viel aus Walthers Altersdichtung verpackt:
die immer schlechter werdenden Zeiten
die Klage über das Älterwerden
die Abkehr vom Minnedienst, der ein Dienst an der ‚Frau Welt‘ ist
die vergeblichen Bitten der Welt
der Selbstvorwurf, die Minnedichtung sei nur mangelhaft sublimierte
Sexualität gewesen
die Minne als Allegorie (personifizierter abstrakter Begriff), die als solche uralt
ist, aber sich wie ein Kind benimmt – dieses einen Einfall Wolframs variierende
Lied Walthers besprachen wir in Stunde 10
der Kreuzzugsaufruf und die Alternative: ewige Freude ist besser als irdische
Freude
trotzdem der Jugend vorzuwerfen, nicht froh zu singen.
Vieles von dem hier Verspotteten ist den Klagen alternder Dichter seit der Antike
gemeinsam; einiges ist epochenbedingte Klage, nachdem das ‚kollektive ‚Freudegebot‘
der Blütezeit staufischer Kultur und der ersten Generation höfischer Dichtung sich
als unerfüllbar herausgestellt hatte. Aber in dieser Kombination ist es unverkennbar
gegen Walther, nicht gegen irgendeinen Älterwerdenden um 1227 gerichtet. Wir
dürfen in ‚Knurrdenzaunan‘ eine Chiffe für den nach eigenen Worten vollel Fluchen
(29,2) aus dem Mund stinkenden Walther sehen, möglicherweise sogar in der
geckenhaften Kleidung eine Anspielung auf Walther.
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XXI. Das Palästinalied
Das ‚Palästinalied‘ (14,38) wird gerne auf 1228 bezogen. Es ist in 5 Handschriften
überliefert; dazu noch in einer 6., den Carmina Burana, die 1. Strophe, um als
bekanntes Lied die Melodie zu einem lateinischen Studentenlied (Fress- und Sauflied)
anzugeben, das die selbe Taktzahl hat und daher auf die Melodie des Palästinaliedes
gesungen werden kann. Die ‚Carmina Burana‘ wurden vermutlich bald nach 1230
geschrieben; sicher machte der Kreuzzug von 1228/1230 das ‚Palästinalied‘ so
populär, dass man ein Studentenlied zu seiner Melodie dichtete. Das heißt nicht,
dass es erst für diesen gedichtet worden sein muss; es kann anlässlich für
irgendeinen der Kreuzzüge zu Walthers Lebenszeit entstanden sein. Das ‚Ich‘ des
Liedes ist der Kreuzfahrer, nicht Walther persönlich; es könnte daher 1228
entstanden sein, als Walther selbst schon zu alt zur Kreuzfahrt war.
Wir besitzen vom ‚Palästinalied‘ insgesamt 12 Strophen. Davon stehen in A (Kleine
Heidelberger Liederhandschrift) 7 Strophen, in den anderen Hss. bis zu 11, aber
unterschiedlich auswählend. Die abweichende Strophenzahl kann verschieden
erklärt werden. Die 7 A-Strophen sind die besten und sicher von Walther; sie
besprechen wir hier. Die anderen sind vermutlich dadurch entstanden, dass jemand
zu einem bekannten Lied etwas dazu dichtete. Die vermutlich unechten Strophen
sind zwischen die echten eingeschoben; die 7 Strophen aus A tragen in den Ausgaben
daher die Strophennummern 1, 2, 4, 6, 7, 9, 11.
Übersetzung:
1. Erst jetzt lebe ich so, wie ich es selbst für würdig halte, weil mein sündiges
Auge das hehre Land und die Erde sieht, die man so rühmt. Nun ist das
eingetreten, worum ich gebetet habe: ich bin an die Stätte gekommen, auf die
Gott als Mensch seinen Fuß setzte.
2. Schöne, reiche und mächtige Länder – was an denen ich sonst noch gesehen
habe, du übertriffst sie alle. Was für ein Wunder ist doch hier geschehen! Dass
eine Jungfrau ein Kind gebar, hoch erhaben über die Schar aller Engel, war
das etwa nicht ein Wunder?
3. Hier ließ er sich taufen, obwohl er schon rein war, damit der Mensch rein
werde. Dann ließ er sich hier verkaufen, damit wir Unfreie frei würden. Sonst
wären wir verloren. Wohl dir, Speer, Kreuz und Dornenkrone! Weh dir,
Heidenschaft! Das erregt deinen Zorn.
4. Von hier fuhr der Sohn aus dem Grab, in dem er gelegen war, zur Hölle hinab.
Dessen Gefährte waren immer der Vater gewesen und der Geist, den niemand
von ihnen abtrennen kann: sie sind ein Ganzes, glatter und gerader als ein
Pfeilschaft wie er Abraham erschienen war
5. Nachdem er damals dem Teufel eine schändliche Niederlage zugefügt hatte,
wie nie ein Kaiser besser kämpfte, kam er wieder in dieses Land zurück.
Damals begann das Leid der Juden, weil er, der Herr, ihren Wächtern
entkommen war, und man ihn später lebend sah, den sie eigenhändig
erschlagen und erstochen hatten.
6. In dieses Land hat er einen schrecklichen Gerichtstag angesetzt, an dem auch
die Klagen der Witwen gerächt werden und vor dem auch die Waisen und der
Armen Klagen vorbringen können über die Gewalttaten, die man ihnen
angetan hat. Wohl dem dort, der hier mit Gutem vergolten hat!
7. Christen, Juden und Heiden behaupten, dass dies ihr Erbe sei. Gott soll um
seiner Dreifaltigkeit willen darüber richten. Die ganze Welt kämpft um es. Wir
sind mit unserer Bitte im Recht, und daher ist es Recht, dass er sie uns
gewähre.
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Man liest das ‚Palästinalied‘ als Vision eines Kreuzzuges, auf dem der Dichter das
heilige Land persönlich schaut. Walther würde, falls die zeitliche Zuordnung zu 1228
richtig ist, behaupten, das heilige Land zu erblicken, nachdem er sich schon zuvor
so alt gefühlt hatte, dass der Konjunktiv möhte ich die lieben reise gevarn über sê
(125,9) uns annehmen lässt, er sei schon zu gebrechlich dazu.
Drei Wege zur Lösung des Widerspruches:
Drei Wege gibt es; akzeptiert wird üblicherweise nur der zweite. Aber jeder Versuch
einer klaren Antwort wirkt komisch; es ist besser, es als Kunstwerk zu nehmen und
nicht nach dem ‚Sitz im Leben‘ zu fragen:
1. Das Palästinalied ist älter, Walther war lange vor 1228 in Palästina, aber nicht
auf einem der großen Kreuzzüge und dichtete es in Anschauung der heiligen
Stätten. Dass er in der Elegie beklagt, nicht mehr mittun zu können, heißt
nicht, dass er noch nie dort war.
2. Walther schrieb das Palästinalied vor Kreuzzugsbeginn in der Heimat. Das ‚Ich‘
ist der Kreuzritter, der bei der Ankunft in Akkon singend gedacht wird. Der
‚Pilgerchor‘ hätte auf der Überfahrt einstudiert werden sollen.
3. Walther raffte sich trotz Rheumatismus noch auf, den Kreuzzug mitzumachen.
Das Palästinalied hätte er 1228 bei der Ankunft in Akkon gedichtet. Dass kein
später datierbares Lied von ihm belegt ist, würde bedeuten, dass er am
Kreuzzug gestorben wäre.
Später wird es nicht gewesen sein:
Wo auch immer Walther starb, viel später wird es nicht gewesen sein, denn der
Kreuzzug verlief zunächst so erfolgreich, dass Friedrich II. sich am 18. März 1229 in
Jerusalem zum König von Jerusalem krönen konnte. Als Gebannter zog er siegreich
in Jerusalem ein, während die Kreuzzüge, zu denen die Päpste aufriefen, dieses Ziel
nie erreichten. Hätte Walther nicht, wenn er von diesem Ereignis noch erfahren hätte,
einen Spruch darauf gedichtet?
Wenn Walther nicht am Kreuzzug teilnahm, kann man ihn zu Hause sterben lassen;
vielleicht in Würzburg, wo 1354 Michael de Leone behauptete, dass dort Verse mit
Walthers Grabinschrift gewesen seien (erant; also weiß man nicht, ob er sie selbst
noch gesehen hat; es ist kein sicheres Zeugnis).
Ein Würzburger Vogelweidhof ist 1323 bezeugt. Wir halten ihn, falls er mit Walther
zu tun hat, eher für den Wohnsitz des alten Walthers als für seine Geburtsstätte.
Unwahrscheinlich wäre Würzburg als Ort von Walthers Lehen und Alterswohnsitz,
wenn Friedrich II. nie durch Würzburg gekommen wäre, denn kleinere Lehen wurden
meist vor Ort vergeben. Friedrich kam tatsächlich mehrmals nach Würzburg. Es
besteht daher kein Hindernis, Michaels de Leone Bericht für wahr zu halten. Über
den Rang einer Vermutung kommt das aber nicht hinaus.
98
XXII. Gute Nähseide
Wir haben von Walther weniger als 80 Lieder erhalten. Dazu kommen gut 100
Spruchstrophen. Wenn Walther über 40 Jahre von Minne gesungen hat (66,27),
fallen auf jedes Jahr knapp zwei Lieder und dazu in die Zeit von 1198 bis 1228 je 3
1/2 Spruchstrophen. Wir nehmen daher an, dass es viele Jahre im Leben Walthers
gibt, aus denen wir nichts erhalten haben, nicht nur wegen der lückenhaften
Überlieferung, sondern weil er vielleicht nicht literarische Beschäftigungen im
Dienste eines Herrn ausübte. Man kann an Botendienste, Kriegsdienste,
Prinzenerziehung oder anderes denken; wer will, sogar an den Vortrag von
Heldenepik (Nibelungenlied). Seine Gedichte vermitteln nur einen beschränkten
Einblick in sein Leben.
Spezielle Persönlichkeit:
Trotzdem tritt uns eine Seite des Menschen Walther, nicht nur der literarischen
Figur, die ‚ich‘ sagt, entgegen, das ist sein ungestümer Charakter. Wenn er seinen
Klausner als Symbol eines unbeherrschten Menschen zweimal wieder auf den Plan
ruft, meint er wohl damit einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit, und auch den vor
Fluchen stinkenden Atem dürfen wir als zwar ehrende, aber nicht unberechtigte
Selbstkritik werten. Verspottet wurde Walther schon von Zeitgenossen: von Wolfram
von Eschenbach, Ulrich von Singenberg und Neidhart von Reuental.
Meinungskundgaben Walthers:
Bei Neidhart von Reuental erscheint der Gesinnungswechsel Walthers vom
Minnesänger zum Kreuzzugsprediger in schiefem Licht: War Walther ein
Opportunist, der, als die Gesellschaft um Kaiser Friedrich II. wollte, dass Weltabkehr
gepredigt wurde, aus dem Dienst von ‚Frau Welt‘ schied? Bis ca. 1950 durfte man
keine Zweifel an Walthers Lauterkeit wagen. Es war heilsam, dass Walther vom
Podest geholt wurde (Peter RÜHMKORF, ‚Walther von der Vogelweide, Reichssänger
und Hausierer‘; 1975). Doch verstehen wir nicht jede politische Meinungskundgabe
Walthers nur als die seiner jeweiligen reichen Kunden. Die häufigen Dienstwechsel
und die Selbstkritik des Scheltens (Fluchens) sind wohl so zu verstehen, dass er sich
durch seine deutliche Meinungsäußerung öfter schadete als nützte.
Wechsel von Philipp – Otto – Friedrich:
Der Wechsel von Philipp zu Otto und von Otto zu Friedrich ist nicht nur ein Wechsel
zum jeweils Mächtigsten, sondern auch aus der Kaiseridee zu begreifen. Vielleicht ist
schwerer zu rekonstruieren, warum er auf wessen Seite stand, als warum er auf einer
Seite nie stand: auf der des Papstes. Dass Walther immer für strenge Hierarche als
Voraussetzung von Ordnung eintrat, außer wenn er selbst ihr Opfer wurde, verleiht
unserem Waltherbild menschliche Schwächen, macht ihn vielleicht zu einer
aggressiven Mimose. Sein Lebenswerk charakterisiert er, dass er von Minnen unde
als iemen sol, ‚wie man (handeln) soll‘, gesungen hat; die Sprüche gehörten dann
zur Aufforderung zum richtigen Verhalten, als iemen sol, und wären nicht
Kampfmittel (was wir aber bezweifeln).
Der richtige Mann:
Viele Strophen behandelten wir, die das Ideal der Frau beschrieben. Zum Schluss
daher eine, wie er sich den rechten Mann vorstellt, und wenn es auch nur sein
Wunsch-Ich ist, das dem entspricht, lassen wir uns dessen Selbstbewusstsein gerne
gefallen (43,9); ein Wechsel. Die abschließende Strophe der Dame, (44,1) endet damit,
dass ihm keine Frau auch nur einen Zwirnsfaden (also: nichts) abschlagen würde.
Mit dieser Metapher aus dem dafür beliebten Bereich der Kleidung wollen wir
schließen. Die Scheltstrophen über geizige Gönner erwähnen mehrmals, dass sie mit
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Kleidergeschenken an ihn knauserten; es ist ein schöner Zufall, dass das einzige
nicht-literarische Zeugnis über Walther das Geschenk für den Kauf eines Pelzmantels
ist.
Übersetzung - L 44,1:
Ich sage euch (Männern), wer uns (Frauen) wohl gefällt: der, der Böse und Gut
unterschieden kann und uns immer lobt, dem sind wir hold, wenn er es ehrlich
meint. Wenn er sich darauf versteht, in richtiger art froh zu sein, und in richtiger
maze vor Damen hohen wie ach niederen Standes aufzutreten, der kann wohl alles
erhalten, was er begehrt. Welche Frau würde es dem abschlage, wenn er sie auch
nur um einen Zwirnsfaden bitten würde? Ein guter Mann ist eine gute Nähseide wert.
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