Splitterfasernackt

Thomas Ettl
Hilferuf aus dem Reich der toten Seelen∗
Lilly Lindner: Splitterfasernackt. Droemer, München 2011. 400S., br.
Prolog
Als ich in einer großen Buchhandlung nach Splitterfasernackt suchte, schaute ich zunächst im Bereich
Belletristik, denn ich hatte Rezensionen gelesen und war sicher, es dort zu finden. Nicht fündig geworden, ging
ich in die Sachbuchabteilung. Aber auch dort blieb meine Suche erfolglos, so dass ich einen Verkäufer zu Rate
zog, der auch gleich wusste, wonach ich verlangte, schnurstracks in eine entlegene Ecke des Ladens steuerte,
dort in die Abteilung Erotik, wo es vorne im Regal zu finden war. Ich war einigermaßen überrascht, nachdem,
was ich über das Buch gelesen hatte. Hatte ich etwas falsch verstanden?
Man kann diese kleine Begebenheit getrost als „Rezension“ verstehen. Mir schien es ein Missbrauch des
Buches und der Autorin zu sein, denn spätestens Seite 64 ist klar: es geht nicht um aufreizende Körpererotik,
sondern um eine Seele, die sich splitterfasernackt fühlt.
Die Autorin und Ich-Erzählerin ist sechs Jahre alt, als sie von einem Nachbarn vergewaltigt wird. Damit ist ihre
Kindheit zu Ende, ihr Leben ein Trümmerhaufen. Sie „beschließt“ den Eltern nichts zu sagen. Fortan ist sie
gezwungen, das Verbrechen irgendwie zu bewältigen. Mit 17, inzwischen magersüchtig, zieht sie in eine eigene
Wohnung, wird wieder vergewaltigt, und beginnt schließlich in einem Bordell zu arbeiten, denn ihr Körper, so
ihr Resumé, gehört schon lange nicht mehr ihr. Also kann sie damit wenigstens Geld verdienen und wird zur
begehrten Prostituierten.
Wortgewandt, intelligent und mit sensiblem Introspektionsvermögen beziffert die Autorin in dichter
Beschreibung und ergreifend ihr Erleben von den Ereignissen. Darüber gibt sie dem Leser eine Ahnung davon,
wie ungeheuer ihre Seelennot ist. Nicht umsonst spricht die Psychoanalyse bei solchen Verbrechen von
„Soulmurder“. Aber klar ist auch: die Wucht ihrer Erlebnisse ist bisweilen kaum sprachlich zu fassen, denn:
„Wortgewalt ist nichts. Gegen nackte Sexgewalt“ (108). Aber man spürt, wie nahe am Erleben die Autorin
schreibt und das macht das Buch in vielerlei Hinsicht wertvoll, denn es gibt Einblicke, die man in dieser
Intensität selten erhält.
Psychoanalytiker sind dankbar für Fallgeschichten, die sprachbegabt, mit Lust am Spiel mit Sprache und
metaphernreich abgefasst sind. Wir erhalten ab statu nascendi Einblick in den Vorgang traumabedingter
Abspaltung des Körpers, in die Bildung eines frühreifen falschen Selbst, in verschiedene Modi einer
Traumaverarbeitung und in die Wirkweise von Ana/Mia bei Essgestörten, Einblicke, die für denjenigen, der sich
berufsmäßig mit diesen Dingen zu beschäftigen hat, unschätzbar sind. Publizierte autobiographische
Fallgeschichten haben überdies den Vorzug, den Analytiker von dem Verdacht zu entheben, Angaben
suggeriert zu haben, was manche der Psychoanalyse vorwerfen, um deren Theorie und Praxis vom Tisch fegen
zu können. Ich bin der Autorin nie begegnet und sie war wohl auch nie beim Analytiker, zumindest erwähnt sie
es nicht. In der vorliegenden Interpretation ist jede Annahme für jeden nachprüfbar und gegebenenfalls am
Text zu widerlegen.
Natürlich ist nicht neu, was in Splitterfasernackt beschrieben wird und auch nicht provozierend, wie der
Klappentext behauptet. Es ist erschütternd und lässt den Atem anhalten. So wissen wir, dass der Mensch sich
unter dem Eindruck starker Affekte oder unter Extrembedingungen von seinem Körper trennen kann. Wir
wissen auch, dass Prostituierte häufig Missbrauchserfahrungen in ihrer Kindheit machen mussten. Eben solches
gilt für essgestörte Patienten. Aber in Lindners Buch bekommen wir Metaphern und detailreiche
Beschreibungen an die Hand gereicht, wie wir uns das Erleben von den Ereignissen vorzustellen haben und die
wir wiederum Patienten anbieten können, um sich selbst besser zu verstehen. Die Literatur ist uns Analytikern
diesbezüglich stets hilfreich gewesen und um solche handelt sich bei Splitterfasernackt. Natürlich wird gemotzt.
Manche haben Zweifel an der Darstellung, insbesondere bei Details. Aber das ist das Recht der Autorin,
zugleich auch die Gefahr, in die sie sich begibt, schreibt sie einen Roman über ihr Leid. Der Leser geht gerade
bei einem solchen Thema schnell in die Abwehrposition und sucht nach Anlässen für Zweifel. Wir Leser haben
es nie mit faktischer Realität zu tun, auch nicht bei scheinbar noch so sachlichen Darstellungen, sondern mit
dem Erleben von Fakten. Faktische Realität ist nur in erlebnisverformten Überarbeitung zu haben. So ist auch
die Kindheit und alles weitere, das in Splitterfasernackt erzählt wird, nie reale Kindheit, sondern nachträgliche
Rekonstruktion, nie faktische, sondern psychische Realität. Dies ist der Grund, warum wir Analytiker dem
Patienten alles glauben und zugleich nichts. Erleben kann nicht in Frage gestellt werden, in Frage gestellt
∗
Erschienen in: Psychosozial, Jahrgang 35, Nr.130, 2012, Heft IV
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werden kann die behauptete faktische Realität. Das Erleben, die Phantasie und die Überzeugungen sind aber
mitunter kränker machend als die faktische Realität. Ideologien sind das beste Beispiel hierfür.
Trotz aller berichteten Schrecklichkeiten dürfen dem Analytiker nicht die Tränen in den Augen stehen. Sie
würden seinen Blick verschwimmen lassen. Das Interpretieren erfordert den klaren Blick. Die Sorge der Autorin
jedoch, „dass jemand auf mich zukommt und sagt: »Ich weiß alles über dich. Denn ich habe deine Geschichte
gelesen. Du bist für mich wie ein offenes Buch« (368) ist unbegründet. Nie offenbart sich in einem Text die
ganze Person, so wie sich eine Person auch nie in einem Text ganz wiederfindet. Und beim psychoanalytischen
Interpretieren geht es auch nie darum, Geschriebenes oder Gesagtes auszulöschen, sondern darum, eine
weitere Bedeutung hinzuzufügen. Andernfalls würde eine Traumdeutung z.B. keinen Sinn machen. Das
Unbewusste steht nicht unter, auch nicht hinter oder zwischen, sondern im manifesten Text. Im Übrigen
funktioniert Seele so auch nicht. Alles, was sie macht, hat mehrfache Bedeutung. Und schließlich verändert der
Leser auch nicht den Text oder den Autor, sondern der Text verändert den Leser, z.B. in dem dieser etwas
dazulernt. Das ist bei Splitterfasernackt der Fall.
Der Abschied vom Körper
Ich wende mich als erstes dem Prozess der Abspaltung des Körpers zu. Die Schilderung des Verbrechens, wie
die Autorin es als 6-Jährige erlebt hat, beinhaltet bereits alle Details, die im weiteren Verlauf ihres Lebens von
Bedeutung sein werden. Es geht um den Tag, an dem sie „zum ersten Mal gestorben“ ist“ (25). Sie schildert im
Präsenz, weil er ihr noch präsent ist: „Der erste Mann, mit dem ich Sex habe, riecht nach Alkohol und kaltem
Zigarettenrauch. Seine Hände sind rau und klebrig, seine Haare ungepflegt, und von seinem Atem wird mir
schlecht, dann schwindlig. Er wirft mich auf ein Sofa mit altmodischem Blumenmuster und hält mich mit seiner
einen Hand fest, während die andere an seinem Gürtel herumfummelt. Ich weine. Ich sage irgendwelche
bittenden Worte, ich stammle zusammenhanglose Sätze, ich flehe ihn an, ich flüstere nein, nein. Nein. Meine
Stimme fühlt sich fremd an, sie stolpert über meine viel zu trockenen Lippen. Ich versuche sie zu halten, denn
wenn ich sie verliere, dann verliere ich auch mich. Aber der Mann schlägt mir ins Gesicht, und ich sehe zu, wie
mein rechter Schneidezahn durch die Luft fliegt und unter dem Couchtisch verschwindet. Es ist ein Milchzahn.
Alles ist okay. Ich werde einen neuen bekommen. […] ich schreie. »Hör auf zu heulen! «, schnauzt der Mann
mich an und presst seine Hand auf meinen blutenden Mund. »Wenn du noch einmal schreist, dann schlitze ich
dich auf!« Also schreie ich nicht mehr. Ich bin ganz still. Aber er schlitzt mich trotzdem auf. Er bohrt sich in
mich, er liegt schwer und keuchend auf mir. Seine linke Hand schließt sich wie ein Schraubstock um meinen
Hals, die rechte reißt grob an meinen Haaren. »Schlampe«, raunt er mir ins Ohr, »du kleine dreckige
Schlampe!« Ich starre die gelbweiße Zimmerdecke an. Sie kommt mir blendend grell vor. Meine Arme liegen
schlaff neben mir, ich will sie bewegen, aber sie gehorchen mir nicht mehr. Mein Kopf ist leer und voll von
Rauschen. Ich erzähle mir eine Geschichte, die ein schönes Ende hat, aber ich höre kaum zu. »Komm«, wispert
mir da eine leise Stimme ins Ohr; die Stimme gehört mir, aber ich erkenne sie nicht. »Komm«, flüstert sie, »Ich
bringe dich weg von hier, vertrau mir« (15f).
Als Lilly zur Zimmerdecke starrt, beginnt die Abspaltung. Noch versucht sie, sich eine Geschichte mit gutem
Ende zu erzählen, also über eine Halluzination magisch Abstand vom Geschehen zu gewinnen. Es gelingt ihr
nicht. Das Rauschen im Kopf ist zu stark und sie fühlt sich völlig passiv, ausgeliefert, apathisch. Ein weiteres in
der traumatischen Situation bedeutendes Moment wird erwähnt: Ihr Vertrauen ist brüchig geworden, jedoch
noch nicht ganz zerstört: „Vertrauen. Ein Fehler, den ich nicht wieder begehe. […] Aber in einem Moment wie
diesem, wenn die Entscheidungen, die man trifft, nichts mehr verändern, ist es okay, nach Strohhalmen zu
greifen. Also vertraue ich der Stimme doch. Schweigend nehme ich ihre Hand an und lasse mich fortführen.
Weg von dem Sofa, weg von dem Mann, weg von meinem Körper. In der hintersten Zimmerecke bleibt das
kleine Mädchen schließlich stehen, seine kalte Berührung umschließt mein wimmerndes Herz. »Weiter weg
können wir nicht gehen«, flüstert es kaum hörbar. Ich drehe mich um und blicke auf meine hilflose Hülle. Ich
sehe in meine leeren Augen, betrachte die bleichen dünnen Beine, die merkwürdig verkrümmt zur Seite ragen.
Ich nehme Abschied von dem geschädigten Körper. Er gehört nicht mehr mir. Die Trennung ist leicht, alles
andere wäre schwerer. […] Ich blende ihn aus, meinen Körper, das tote Stück Fleisch; ich lasse ihn allein, ich
lasse ihn zurück. Ich gebe ihn auf.“ (16).
Der Mann lässt Lilly schließlich gehen, drückt ihr eine Tafel Schokolade in die Hand und sagt: »Das ist unser
kleines Geheimnis. Du wirst es niemals jemandem erzählen. Hörst du? Niemals! Wenn dir dein Leben lieb ist
…«“ (17). Der Todesdrohung wegen wagt Lilly nicht – sie sagt „beschließt“, obwohl alles eher dafür spricht, dass
die 6-Jährige paralysiert, nicht beschlussfähig war - ihren Eltern von dem Verbrechen zu erzählen. Natürlich hat
sie mehr Gründe:„Ich beschließe, kein Wort zu verlieren über meine Schande, die ich hinter dieser Tür besiegelt
habe. Dazu sind Türen da, um sie geschlossen zu halten, wenn man weiß, dass dahinter ein Mann mit einem
gewetzten Messer lauert. […] Geheimnisse müssen bewahrt werden, Dunkelheit sollte man nicht ans Tageslicht
ziehen. Der Schmutz, der an mir klebt, darf niemals zu sehen sein. Es ist ein Spiel. Verstecken. Wer hat Angst
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vorm Schwarzen Mann? Keiner. Und wenn er kommt? Dann kommt er halt. Und wenn er da war, was dann?
Wenn er drinnen war, was dann?“ (17). Noch versucht sie, die Wirklichkeit dieses schrecklichen Erlebnisses mit
Erfahrungen aus ihrer Kinderwelt, dem Spiel, dem ‚Schwarzen Mann’, das zwar ernst, aber nicht die
Wirklichkeit ist, einzuordnen und sich zu erklären, um sich das Unbekannte bekannt zu machen, um es ihrer
kindlichen Seele anzuvermitteln und sich so zu retten. Aber ihr Körper ist längst zum Objekt geworden, das
nicht mehr zu ihrem Selbst gehört: „Dem Körper ist das alles egal, er steht nur nutzlos herum. Ich verachte ihn
für seine Schwäche. Wie könnte er zu mir gehören? Das bin ich nicht. Lautlos trete ich einen weiteren Schritt
von der Tür zurück. Der Körper bewegt seine müden Beine und folgt mir. „Bleib stehen«, sage ich. Aber er
kommt näher. Da drehe ich mich um und renne fort“ (17f).
Nun ist die 6-Jährige gestorben, „ohne tot zu sein.“ (25). Dass sie sich der Schande, der Schwäche und des
Schmutzigsein bezichtigt, zeigt: sie gibt sich selbst die Schuld an dem Verbrechen, wie das bei Vergewaltigten
meist der Fall ist. Sie hat die Schuldgefühle des Verbrechers introjiziert (vgl. Ferenczi, 519). Dass dieser welche
hatte, deutet die Schokolade an. Es sind Schuldgefühle, von denen Lilly keiner entlastet. Bei Lindner liest sich
das so: „Trotz wirrer Stimmen im Kopf bin ich noch klar genug bei Verstand, um den Mund zu halten, denn wer
würde mir schon glauben?“ (34). Es kommt schlimmer, denn sie erinnert sich, „wie grausam der Schmerz auf
meiner Empfindung gewütet hat, damals, als ich sechs Jahre alt war und meine Mutter über den Mann, der
mich immer und immer wieder vergewaltigt hat, gesagt hat: »Er ist so höflich und aufmerksam! Jedes Mal,
wenn er mich mit Einkäufen im Treppenhaus trifft, trägt er mir die Tüten hoch. Ich hoffe wirklich, du wirst
irgendwann auch einmal so ein Mensch, Lilly«. „Ich erinnere mich an diese Worte, und sie schneiden so tief in
mein Innerstes, so gnadenlos bohrend, dass es noch heute wie Jahrhundertfeuer brennt. […] Ich sehe mich
dastehen, so sprachlos zur Seite geschoben und so verloren wie nie zuvor. Ich versuche immer noch, dieses
Gefühl zu begreifen, dieses absolute Nichts, dieses stumme Resignieren. Aber alles, was ich daraus gelernt
habe, ist zu schweigen. Wenn ich eigentlich um Hilfe rufen müsste.“ (66). „Aber ich nehme mir lieber eine
Rasierklinge von meinem Vater und zeichne Bilder auf meinen Unterarm.“ (34f). Es ist nicht zu fassen: Lillys
Mutter verlangt tatsächlich, sie solle diesen fiesen Typen mögen, ihn sogar zum Vorbild, also zum Ichideal
nehmen, sich mit ihm identifizieren. Damit treibt die Mutter ihr Kind in einen derartig spannungsgeladenen
Konflikt mit ihrem Gewissen, dass nur eine Selbstverletzung mit Rasierklingen die Spannung wegen der
entstandenen Schuldgefühle zu lösen vermag. Rasierklingen sind ihr „Notausgang“ (347).
Der empfundenen Schande, der Schwäche und des Schmutzes wegen, der an ihr klebt, glaubt sie, für ihre
Eltern perfekt sein zu müssen, um trotz allem geliebt zu werden. Ihr Ichideal tobt: In der Badewanne schrubbt
sie sich zwischen ihren Beinen blutig, um die Schande wegzuwischen, um sich sagen zu können: „Es ist doch
nichts passiert.“ (19), womit sie ihr Gewissen befrieden und ihr Selbstwertgefühl retten möchte. Die
Verleugnung funktioniert jedoch nicht: „Mit verkrampften Händen drehe ich den Wasserhahn wieder zu und
blicke auf. Mein Spiegelbild weicht einen Schritt zurück Und dann noch einen. Und noch einen. Da weiß ich
genau: Es gibt mich nicht mehr“ (19). Es sei merkwürdig, so Lilly, zu sterben, ohne danach tot zu sein. Man
fühle sich leer und verloren, wisse nicht so richtig, wohin man gehöre. Alles sei auf einmal weit entfernt, nichts
sei von Bedeutung, nichts ergebe einen vernünftigen Sinn (vgl. 25).
Bei Lillys Schilderung stockt der Atem: So ergreifend und konkret habe ich den Soulmurder noch nie geschildert
gefunden. Als die Autorin im Alter von 17 Jahren erneut vergewaltigt wird, begegnet sie der kleinen Lilly von
damals und flashbackartig ist alles präsent und bestimmt ihr Handeln. Sie will rennen oder schreien, aber ihre
Beine machen auf einmal nicht mehr das, was sie von ihnen möchte. Sie öffnet ihren Mund, bringt aber keinen
Ton raus. „Ein Goldfisch in einem ausgetrockneten Aquarium, das mitten im Meer treibt“, wäre nichts gegen
sie. Plötzlich steht das kleine Mädchen vor ihr, „zerbrechlich, mit langen braunen Haaren, zu Zöpfen geflochten,
in einem weißen Kleid mit Erdbeeren darauf.“ (106) Immer wieder erinnere sie sich genau an all die hässlichen
kleinen Details, an den Klang seiner Stimme, die Möbel in seiner Wohnung, den abgestandenen Geruch, als
wäre sie eben noch dort gewesen. (vgl. 25). Aber es gibt eine Veränderung: Nicht mehr nur die Mutter macht
Schuldgefühle, sondern jetzt auch das kleine Mädchen von damals: Lilly möchte, dass es lacht, aber es lacht
nicht. Es hätte sie nur mit riesigen traurigen Augen angesehen und gefragt: „»Was hast du getan, wie konnte
das passieren?«“ (106). Flashbacks suchen Lilly immer wieder heim: Standen in der Schule ihre
Klassenkameraden in Gruppen zusammen, sich über die coolsten Partys, die angesagtesten Läden, den geilsten
Alkohol und die Charts unterhaltend, sei sie neidisch geworden. Sie habe stumm daneben gestanden und
versucht, nicht ohnmächtig zu werden, weil ihr „plötzlich, wie aus dem Nichts, der Geruch des einen Mannes in
die Nase fährt: Alkohol und ein Gestank, der mich benebelt. Schwer und erdrückend liegt er auf mir.“ (44).
Die Angst vor Männern hat sich im Lauf der Jahre generalisiert. Vielleicht habe sie das Abitur einfach deshalb
verweigert, so Lilly, weil sie es nicht habe ertragen können, mit so vielen männlichen Lebewesen, die jede
Sekunde hätten über sie herfallen können, gemeinsam im Klassenzimmer zu sitzen. Die Weisheit, die sie als
Kind aus einem Schwanz gesogen habe, hätte sie gelehrt, jeder Mann, der ihr begegnet, wolle nur zwei Dinge
von ihr: „meinen Körper und meinen Tod.“ (67).
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Flucht in die Zukunft
Nach der Abspaltung des Körpers nimmt die 6-Jährige eine Entwicklung, die man als forcierte Progression
bezeichnet, d.h. sie wird frühreif und entwickelt ein „falsches Selbst“ (Winnicott), das sich zunehmend sozial
isoliert und nur noch damit beschäftigt ist, das erlittene Trauma irgendwie zu bewältigen. Sie begeht den Weg,
den Ferenczi in seiner Arbeit zum Einfluss der Leidenschaften der Erwachsenen auf Charakter- und
Sexualentwicklung der Kinder beschrieben hat. Die Arbeit von 1932 liest sich, als hätte er Lilly Lindners
Geschichte von 2011 gelesen. Dort vergleicht er eine traumabedingte forcierte (pathologische) Progression mit
dem schnellen Reif- oder Süsswerden von Früchten, die der Schnabel eines Vogels verletzt hat (vgl. 522).
Die Autorin schildert den Weg in die forcierte Progression. An dem Tag, an dem sie zum ersten Mal gestorben
sei, habe sie noch mit ihren drei Lieblingskuscheltieren »Sturmflut«- gespielt, ihr Bild für die schmerzhafte
körperliche, optische und emotionale Überschwemmung ihres kindlichen Selbst. Aber es sei kein wichtiger
Ausschnitt ihres Lebens, ein paar Stunden später habe sie sowieso alle Tiere in ihre Spielzeugkiste gestopft und
den Deckel geschlossen, weil sie wusste, diese Zeit sei vorbei. Kinderspiele würden sich nicht mit den Regeln
der Erwachsenenwelt vertragen, so ihre „bittere Erkenntnis.“ (25). Sie beschließt, den „widerlichen Körper so
bald wie möglich los zu sein und anschließend schnellstens erwachsen zu werden“, um in ein sicheres Haus, in
ein neues Leben ziehen zu können: „Hauptsache weg - weit, weit weg.“ (23). Sie spricht kaum noch, und wenn,
zu laut, zu aufgedreht, zu übermütig. Ritalin scheint ihr jedoch erspart geblieben zu sein. Sie streitet mit
anderen Kindern, will alleine sein, verkriecht sich in der Ecke des Sandkastens. Sie kneift in ihren Körper, streckt
ihrem Spiegelbild die Zunge raus, weint nachts, badet in eiskaltem Wasser, bis ihre Lippen violett anlaufen und
sie sich kaum noch bewegen kann. Immer sucht sie die Nähe ihrer Mutter. Die aber versteht Lilly nicht – sie ist
ihrer Mutter lästig, weil sie zu viel Raum für sich beansprucht (23). Wartete sie Stunden vor der Wohnungstür,
hinter der sich das Verbrechen ereignete, auf ihren Körper, dachten ihre Eltern, sie sei im Park spielen. Aber sie
hätte Klettergerüste und Ballplätze gehasst, hätte schon lange nicht mehr Fangen gespielt, sie sei „ schon viel
zu oft geschnappt“ worden, so Lilly.
Auch körperlich reift sie rasch. Mit elf Jahren hätte sie begonnen, die Tage zu zählen, bis sie endlich achtzehn
sei, die Schule hinter sich habe und ausziehen könne. Damals habe sie als Erste in der Klasse große weiche
Brüste und ihre Periode gehabt. Die Jungs hätten Witze gerissen, die Mädchen getuschelt und gefragt, wie sich
ein Tampon anfühle. Sie hätte das alles schrecklich gefunden (vgl. 26).
Älter geworden hätte sie neue Masken ausprobiert, was ihr nicht schwer falle. Sie sei „zum absoluten Vollprofi
darin geworden“ (63), immer die gewagtesten Grimassen aufzusetzen, das überzeugendste Lächeln zu tragen,
Aufmerksamkeit vorzutäuschen und im richtigen Augenblick loszuweinen. Über die forcierte Progression hat sie
ein „falsche Selbst“ ausgebildet, das sie idealisiert. Es gäbe tatsächlich Menschen, die sie für jemanden hielten,
der sie überhaupt nicht sei. Allmählich frage sie sich, ob sie, würde sie nur lange genug die gleichen Lügen
erzählen, irgendwann damit die Wahrheit verändere (vgl. 63). Sie fürchtet, die Lüge könnte zur Wahrheit, das
Falsche zum Echten werden – eine nicht ungefährliche Entwicklung für die Realitätsprüfung.
Die forcierte Progression zeigt sich auch textformal: Aus Angst davor, depressiv zu werden, habe sie in den
ersten Kapiteln des Buches alles aneinandergereiht und sich „schnell mal eben erwachsen werden lassen“
(100), d.h. sie erzählt im Zeitraffer. Später geraten der Autorin immer wieder die Zeitebenen beim Erzählen
durcheinander, was manche Leser als ärgerlich empfinden. Das kann man ihr aber nicht vorwerfen, denn die
Verwirrung ist traumabedingt, zum einen wegen der flashbacks, zum anderen weil bei der Abspaltung des
Körpers auch die Orientierung in Raum und Zeit verloren zu gehen droht. Immerhin ist es der Körper,
vornehmlich in der Kindheit, der die „continuity of being“ (Winnicott) sichert. Das Trauma wird zum Stilmittel,
wie übrigens auch die Fülle an Satzfragmenten, die bisweilen wie ein Stammeln wirken. Aber das ist eben die
Sprache des Schocks. Splitterfasernackt ist so gelungen, weil Inhalt und Form übereinstimmen.
Inzwischen nennt Lilly das „falsche Selbst“ Felia, ist magersüchtig und wird Prostituierte. Manchmal wundere
sie sich, warum so viele Männer sie trotzdem hübsch fänden und ihren Körper „mit vergötternden Blicken
betrachten“ würden. Sie vermutet zärtliche Knotenpunkte in ihrer Anatomie, die bei Berührung mit männlicher
Haut aktiviert würden, so dass sie sich in das Dasein einer Plastikpuppe einfühle, während als Nebenwirkung
zärtliche Funken aus ihren Poren jeden Mann in ihrer direkten Umgebung einnebelten. Welche
Körperphantasie! Der Sache näher dürfte freilich ihre Vermutung kommen, ihre Kunden seien „einfach alle
bekloppt oder abartig“ (142).
Der abgespaltene Körper, im Lauf der Jahre zum Objekt und der Prostituierten Felia fremd geworden, taucht
immer wieder auf und begegnet ihr auf Schritt und Tritt. Die Begegnung Felia-Lilly ist zwar flashbackverursacht,
aber auch literarisch ein geschickter Zug und überdies erhellend für den inneren Dialog, den die Autorin mit
ihren zersplitterten Selbstanteilen führt. Würden ihre Gedanken unendlich kreisen, lege sie sich im Bordell aufs
Bett, nehme ihren Laptop und schreibe einen Brief an das kleine Mädchen. Diesem Brief kann man entnehmen,
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dass der abgespaltene Teil „Lilly“ zu einer Instanz geworden ist, die moralisierend gegenüber Felia auftritt und
die man als personifiziertes Überich bezeichnen könnte. Jedes Mal habe das kleine Mädchen sie gefragt: „»Wie
kannst du so etwas nur freiwillig machen?«“ (136). Dabei habe es sie mit riesigen, anklagenden Augen
angestarrt. Felia wollte dem Mädchen erklären, wie das ist, älter zu werden, einen festen Freund zu haben und
dass Sex auch etwas anderes sein könne als nackte Gewalt. Aber irgendwie habe sie nie den Mund
aufbekommen. Der vorwurfsvolle Blick der Kleinen habe sie stets verstummen lassen, bevor sie auch nur ein
Wort gesagt habe. Felia wusste, die Kleine würde ihr nie erlauben, Sex zu haben, einfach so, weil es schön ist.
Das moralisierende Auftreten der Kleinen der Erwachsenen gegenüber wirkt, als klage das kleine vergewaltigte
Mädchen seine Eltern an, es in keiner Weise geschützt zu haben. Ebenso gut aber könnte Felia ihre
Schuldgefühle, ihr Gewissen auf das kleine Mädchen projiziert haben: Wie auch immer: Der innere Dialog zeigt,
in welche Bedrängnis Traumatisierte mit ihrem Überich geraten können.
Im Bordell stülpt sich Felia über ihren Kindkörper das trügerische Bild eines lasziven jungen Frauenkörpers,
wenn sie halbnackt umherhüpft, sich „mit wiegenden Hüften aus einem knappen Minirock und dem dazu
passenden knallengen Top“ schält, ihre Hände spielerisch über ihre Brüste gleiten lässt und „ganz nebenbei mit
wildfremden Männern“ schläft (136). Man muss sich das vergegenwärtigen: Felia ist längst magersüchtig!
Woher wiegende Hüften, woher Brüste nehmen, von denen sie andernorts sagte, sie habe anorektisch bedingt
keine? Tatsächlich dürfte sie auf ihren mageren Körper das Bild einer attraktiven, sexy Frau projiziert haben
und somit – ähnlich wie die Lollipopgirls im Internet (vgl. Ettl, 2010) - einem falschen Körperbild aufsitzen. Wie
Felia ihren Körper sieht, passt nicht zu dem, wie er real ist. Aber sie bestätigt die Vermutung, dass
Magersüchtige bei ihrer Selbstwahrnehmung auf Körperbilder aus ihrer Vorzeit zurückgreifen. Lilly hatte als
Pubertierende große weiche Brüste! Dass sie gleichwohl immer wieder von der kleinen Lilly eingeholt wird,
zeigt, dass durch die forcierte Progression ein Riss entstanden ist, der durch die ganze Persönlichkeit geht, und
dass auch die Kleine von damals in sich vielfach gespalten ist. Mal ist sie die Vorwurfsvolle, mal die seelisch und
körperlich Verwundete, tief erschrocken und völlig vereinsamt. Wir müssen also von einem Panorama an
zersplitterten, zum Teil unverbunden nebeneinander stehenden Selbstanteilen ausgehen, Selbstsplitter, die in
verschiedenen äußeren Personen ihre Repräsentanten finden. Deshalb lässt die Autorin eine Reihe Personen
auftreten, die auf irgendeine Weise etwas mit ihrem Selbst zu tun haben, als würde sie in einen zersplitterten
Spiegel schauen. Darum Splitter(fasernackt).
Da ist Caitlin, die als Repräsentantin der 6-jährigen Lilly fungiert. Als Caitlin noch lebte, haben beide die Kleider
getauscht, Spur einer intimen Identifizierung, zumal Caitlin die Einzige gewesen sei, die ihr in die Augen habe
sehen können und dann Dinge über sie wusste, die Lilly ihr nie erzählen konnte (200). Und Caitlin ist wie Lilly
verstorben am Wunsch eines Mannes, ihres Vaters. Caitlin hat sich umgebracht - Suizidgedanken waren Lilly
auch nicht fremd -, weil sie kein eigenes Selbst haben durfte. Ihre Eltern hatten sich getrennt und ihre Mutter
eröffnete ihr, sie sollte beim Vater wohnen. Die Autorin erzählt, Caitlins Vater sei ganz nett, aber die Sorte
Vater, die nie lächelt, lobt oder anerkennt, sondern immer meckert. Wir werden später sehen, dass die Autorin
so auch ihren eigenen Vater charakterisiert. Caitlins Vaters habe klare Vorstellungen gehabt, was aus seinem
Kind einmal zu werden hat und habe sich immer durchgesetzt – offenbar mit Gewalt, denn Caitlin hätte schon
als kleines Kind ständig blaue Flecke gehabt. Lilly tröstete sie: „»Bald sind wir volljährig […] »Dann können wir
ausziehen, ganz weit weg, irgendwohin, wo es keine Eltern gibt.« Caitlin hat ihren Kopf an meine Schulter
gelehnt und etwas gemurmelt. Ich habe kein Wort verstanden, aber ich habe mich auch nicht getraut
nachzufragen“ (205). Zwei um ihr Selbst betrogene Kinder also.
Auch die Kinderladenkinder, die von Felia betreut werden und „mindestens genauso viele Krisen haben wie
ich“(63), sind Repräsentanten ihres Selbst. Mit ihnen baut sie Sandschlösser, backt Eisenbahnkuchen, bastelt
Lichterketten und vergisst, wie schwer es ist, groß zu werden und „wie schwer es war, meine eigene Kindheit
zu bestehen“ (287). Sie kann also einerseits über die Arbeit mit diesen Kindern ihre eigene Geschichte
ausblenden, andererseits über die Anteilnahme an deren Entwicklung ihren Neid, keine Kindheit gehabt haben
zu können, besänftigen und anteilnehmend nachleben.
Felia leidet an einer kompletten Amnesie für die Zeit vor dem Verbrechen: „Ich weiß nicht mehr wie es in der
Zeit davor war. Ich weiß nicht mehr, wer ich einmal war. Ich habe keine Ahnung davon, wie das ist, nie
vergewaltigt worden zu sein. Es ist, als hätte ich alle Erinnerungen an die Jahre davor verloren, als stünde eine
Mauer zwischen den weißen und den schwarzen Tagen“ (26). Die „weißen Tage“ kann sie deshalb nur an Hand
von Fremdschilderungen erinnern. Der Erwachsene Chase und die kleine Hailie, fünfjährige Tochter einer
Freundin von Felia, übernehmen diese Aufgabe.
Lilly kennt Chase vom Kindergarten. Wie sie ist er frühreif, denn er hätte damals schon zum Schrecken seiner
Erzieher Kafka zitiert (127). Chase hat offenbar ein Inzestproblem, denn er beschäftigt sich mit
„Zwischenräumen“, als sei der zu seiner Mutter nicht eingehalten worden. Als er sich vom Dach eines
Spielhauses gestürzt hatte, empfing ihn seine Mutter mit den Worten: „»Mein tapferer kleiner Chase. Was
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wolltest du auf dem Dach? Du weißt doch, dass du auch schon so immer ganz oben bist«“ (130). Wegen der
mütterlichen Idealisierung also vermutlich die Frühreife und der spätere Charme.
Die 5-jährige Hailie steht für die Zeit vor der Vergewaltigung, den „weißen Tagen“, eine Zeit, in der der Vater
noch idealisierbar war. Man darf vermuten, Felias verlorene Erinnerung ist in Hailie aufgehoben; Hailie ist sie
selbst. Als die 5-Jährige Chase fragt, warum bei ihm das Licht immer erst so spät anginge, hebt dieser mit den
Worten an: „»Also, meine kleine Erbse, das ist so«“ und fährt mit der so köstlich wie geheimnisvollen Erklärung
fort, diese Glühbirnen seien ganz besondere Glühbirnen, weil in ihnen ganz genau hundertundsieben
Glühwürmchen lebten, handgefangen von Somalis, die in Usbekistan auf Wohngemeinschafts-Hausbooten
wohnten. Jedes Mal, wenn Hailie den Lichtschalter betätige, würden die kleinen Würmchen wach und fingen
an, aufgeregt hin und her zu fliegen, würden dabei aneinanderstoßen und aufgrund ihrer zauberhaften
Phantasie zu leuchten beginnen. Es würde natürlich einen kleinen Moment dauern, bis alle Glühwürmchen
aufgewacht seien, und dies sei der Grund, warum diese Lampen immer einen Augenblick länger bräuchten, um
zu leuchten (vgl. 391).
Die Autorin erzählt, Chase hätte an dieser Stelle aus rhetorischen Gründen eine Pause gemacht, nicht weil
Hailie ihm nicht geglaubt hätte, nein, weil Chase wüsste, er brauche nur den Mund zu öffnen, und alle
weiblichen Wesen hingen voller Begeisterung an seinen Lippen, um jedes noch so sinnlose Wort, das er von
sich gibt, aufzusaugen (vgl. 391f). Wir schmunzeln, denn die Autorin signalisiert, dass sie selbst in ihren „weißen
Tagen“ ihren Vater als Geschichtenerzähler idealisiert hat.
Die zarten, langsam erwachenden Glühwürmchen sind ein Bild für die Notwendigkeit, gemächlich heranreifen
zu dürfen. Dass Chase diese Geschichte erzählt, ist kein Zufall, denn ich vermute ja, dass er möglicherweise
durch inzestuöse Verführung oder narzisstische Überflutung durch seine Mutter in die Frühreife gepuscht
wurde, er also wie Lilly auch kein langsam erwachendes Glühwürmchen sein durfte. Eine Geschichte vom
gemächlichen Erwachen ist natürlich in einem Buch, in dem es um forcierte Progression geht, von besonderer
Bedeutung, weshalb die Autorin sie unter dem Titel: „Hauptspiel“ aufzeichnet.
Tja, manche Würmchen wollen sich eben nicht ihre Kindheit stehlen lassen und manche protestieren mit
Langsamkeit gegen die forcierte Progression: „»Wenn du genau hinguckst, meine kleine Erbse, dann merkst du
sogar, dass das Licht in den ersten Minuten immer noch ein wenig heller wird. Das sind die verspäteten
Glühwürmchen, Spätaufsteherwürmchen werden sie auch genannt, sie fangen immer erst ganz zum Schluss an
zu leuchten, wenn alle anderen schon längst wach sind.« (392). „»Hör auf, meiner Tochter so einen
Schwachsinn zu erzählen!«“, brummt Hailies Mutter, „Sie ist fünf Jahre alt - nicht bescheuert. Das ist ein
Unterschied, Chase.« »Ich weiß«, erwidert Chase fröhlich und hebt Hailie auf seinen Schoß. »Und meine
wundervolle kleine Erbse hier weiß ganz genau, dass Chase-der-große-Zauberer ihr nur eine Geschichte erzählt,
nicht wahr meine Kleine?« Hailie lacht, nickt und streckt eine Hand aus, um über Chase’ Bartstoppeln zu
streichen. Das macht sie gerne, weil sie findet, dass Chase sich dabei wie das Meerschweinchen ihrer besten
Freundin Zoe anfühlt“ (392). So ungefähr könnte das Leben der Autorin in den Jahren vor der Vergewaltigung
ausgesehen haben. Man kann aber auch ermessen, was in dem kleinen Mädchen durch das Verbrechen an
Lebendigkeit zerstört wurde. Von heute auf morgen wurde aus dem zarten Glühwürmchen „mit zauberhafter
Phantasie“ ein „geficktes“ Mädchen. Welch ein Abgrund!
Auf der Suche nach besseren Eltern
Lilly berichtet, seit Abschluss der Grundschule habe sie in allen Fächern nur noch beste Noten geschrieben. Da
hätten ihre Eltern sie doch endlich lieben können, meint sie. Denen sei das aber egal, „weil sie zu wenig Zeit
oder Lust haben, sich mit mir zu beschäftigen“ (31). Sie überlegt, ob es sinnvoll wäre, mit einer Anzeige in der
Zeitung nach anderen Eltern zu suchen, es gäbe nichts Schöneres, als aufgefangen zu werden und in tragenden
Händen zu liegen. Aber dann schlitze sie sich eben „einfach ein bisschen die Arme auf“. In der Stille, die sie
daraufhin umgebe, während ihr Blut auf die Fliesen im Bad tropft, lese sie immer wieder das erste Kapitel von
irgendeinem Buch, bis sie jedes einzelne Wort auswendig kenne. Anschließend wische sie den Boden, pflastere
ihren Arm und starre in ihr zurückglotzendes Spiegelbild. „So einfach“, so Lilly, überwindet man Schmerzen“
(31). In der emotionalen Vereinsamung bleibt nur der Körper als Kontaktperson und Ort, an dem der Schmerz
über die Einsamkeit dargestellt werden kann. Sie würde sich dann ins Bett verziehen, sich unruhig
herumwälzen, sich gut zureden, über ihren Kopf streichen, sich in den Arm nehmen und dabei ins Ohr säuseln:
„»Alles wird gut, ich bin ja da, hab keine Angst, bald kannst du schlafen ... «“ (76). So hätte sie sich ihre Mutter
gewünscht, gewünscht, dass sie ins Zimmer gestürmt käme, den Vergewaltiger von ihr runterreiße, sie
hochhebe und davontrage, bis sie in Sicherheit sei. Ihre Mutter hätte sie in ihre Arme schließen, sie streicheln,
ihr sanfte Worte ins Ohr flüstern und ihr versprechen sollen, dass so etwas nie wieder passieren werde, dass
alles gut und sie zu einer wundervollen jungen Frau heranwachsen werde (vgl. 112). Die Autorin weiß genau,
was ihr fehlt. An verschiedenen Stellen des Buches finden sich Spuren. So auch in der folgenden Szene: „Das
warme Badewasser hüllt mich ein. Meine Gedanken sind klar, aber trotzdem weich und verträumt. Thomas
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streicht mit leichten Fingerspitzen über meine Beine, und irgendwann reicht er mir seine Hand, um mir aus der
Badewanne zu helfen. Er wickelt mich in ein großes blaues Handtuch, in dem ich fast verschwinde, und führt
mich in sein Schlafzimmer. Auf dem Bett ist ein weißes Laken ausgebreitet, samtiges Licht taucht den kleinen
Raum in ein Meer von Geborgenheit. » Möchtest du, dass ich dich ein bisschen massiere?«, fragt er. Ich nicke
und lege mich auf das Bett. Kurz darauf spüre ich, wie Thomas warmes Mandelöl auf meinem Rücken verteilt.
Seine Hände gleiten über meine Beine, meinen Rücken, meine Schultern, und für etwa neunzig Sekunden fühle
ich mich vollkommen. Nie zuvor war ich so nah bei mir selbst; nie zuvor war mein Körper so sehr ich“ (173f).
Thomas ist der mütterliche Mann (Vater?), der ami maternel.
Das sind deutliche Hinweise an Eltern, was zu tun wäre, erführen sie vom Missbrauch ihres Kindes. Ein warmes
Bad, Salben, Öle und Geborgenheit helfen dem zersplitterten Selbst, sich wieder zu konturieren, sich wieder
vollkommen zu fühlen. Stattdessen musste sich Lilly selbst mütterlich versorgen. Ihre Mutter perfektioniere
lieber ihren Lieblingssatz: „»Ich hasse dich« in „zweihundert Varianten der satzgewandten Betonung“ (41).
Wenn ihre Mutter schrie, sie wolle Lilly nie wieder sehen, dann hätte ihr Vater, ohne von dem Buch
aufzublicken zu ihr gesagt: „»Sie meint das nicht so«“ (21).
Lilly klagt, ihre Mutter fehle ihr. Sie frage sich, warum sie sie so liebe, dass es weh tut, warum sie süchtig nach
ihr sei, obwohl ihre Mutter „herausragend darin ist, mich immer wieder aufs Neue zu verletzen“ (203). Ihre
Mutter würde sie mit ihren Stimmungsschwankungen in den Wahnsinn zu treiben. Die unerfüllte Sehnsucht
quält sie so sehr, dass sie Suizidgedanken bekommt. Am Meer sitzend habe sie überlegt, ob sie nicht einfach so
weit hinausschwimmen sollte, dass sie nie wieder zurückkehren könnte. Stattdessen habe sie den Eltern täglich
zwei Briefe geschrieben, wie sehr sie sie liebe und vermisse und dass sie sich schrecklich wünsche, ebenfalls ein
bisschen geliebt und vermisst zu werden. Wegen des gefühlsduseligen Blödsinns sei sie wütend auf sich
gewesen und habe die Briefe nie abgeschickt (vgl. 204). Als sie mit 17 wieder vergewaltigt wird, wollte sie zu
ihrer Mutter gehen, wollte festgehalten, über die Haare gestrichen bekommen, „wie man es mit einem kleinen
Kind macht, das Trost braucht. Aber ich wusste, so würde es nie sein“ (265). Und auch von ihrem Vater konnte
Lilly keine Unterstützung erwarten. Er würde den ganzen Tag herummaulen. Dennoch würde sie niemals nein
sagen, bäte ihr Vater sie um einen Gefallen. Jeden Tag zehnmal würde sie den Müll heruntertragen, wenn er
dafür nur einmal im Jahr „»es ist schön, dass es dich gibt, Lilly«“ oder etwas Ähnliches sagen könnte“ (326). Für
uns Leser ist das der Hinweis, dass es in Lillys unzufriedener Familie viel Beziehungsmüll zu entsorgen gab.
Aber warum konnte Lilly nicht mit ihren Eltern über die mehrfache Vergewaltigung reden, warum der partielle
Mutismus, warum haben ihre Eltern nichts von der auffallenden Veränderung ihrer Tochter bemerkt? Ihnen
hätte doch zumindest der fehlende Schneidezahn auffallen müssen! Hier die Erklärung: Das
Vertrauensverhältnis zu den Eltern war nicht intim genug, der Dialog mit ihnen entgleist. Hören wir Lilly, wie sie
sich mit diesem Thema an den Leser wendet: „Denn ich habe begriffen, dass es die Stille war, in der ich
zersplittert bin. Die Stille, nachdem er mich aus seiner Wohnung gelassen hatte und ich vor seiner Tür stand reglos, haltlos, stumm. Und die Stille in dem Moment, in dem ich den Blick von meiner Mutter abgewendet
habe, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, ihr dabei zuzusehen, wie sie Sanskritschriften übersetzte, hoch
konzentriert, mit versteinerter Miene, und wie sie mich dabei, ohne eine einzige Sekunde lang aufzublicken,
gefragt hat: »Geht es dir nicht gut? Ist irgendwas? Ich arbeite!«“ (298). Man stelle es sich vor: Das Kind steht
mit blutendem Mund vor seiner Mutter! Da begriff Lilly: „Ich werde es nie erzählen können. Sie wird mir nie
aufmerksam genug zuhören. Und sie wird mir niemals mit sanfter Hand über den Kopf streichen und mir
Geborgenheit schenken“ (298). Für alle Zukunft ist die Möglichkeit zu erzählen verschlossen. Versuche hätten
damit geendet, „dass ich mir eine Rasierklinge in die Pulsader gerammt habe, dass meine Mutter kurzzeitig
ausgezogen ist, dass ich in eine Psychoklinik gewandert bin, dass meine Mutter mit Stühlen geworfen hat, dass
ich ins Kinderheim geflüchtet bin, dass meine Mutter ins Kloster wollte, dass ich eine Packung Antidepressiva
mit einem Happs verspeist habe, dass meine Mutter kein Wort mehr gesprochen hat oder dass ich angefangen
habe, mich mit Wänden anzufreunden“ (20).
Ihr Vater sei immer ruhig und ausgeglichen, hätte sich nie mitreißen lassen, nie getobt. Eine Bombe hätte direkt
neben ihm in die Luft gehen können, er würde einfach gelassen bleiben, in aller Seelenruhe seinen Tee
austrinken, um dann eine Runde mit seinem Fahrrad zu drehen. Lilly hat recht: Die „Bombe“, die neben ihm
geplatzt ist, den Seelenmord an seiner Tochter, hat auch er nicht bemerkt. Lilly: „Als wäre ich vollkommen egal“
(20). Aber natürlich lag der Zünder blank. Kinder ignoranter Eltern versuchen alles, um sich Gehör zu
verschaffen. Mit 17 war es soweit. Mit einem Suizidversuch hat sie eine Reaktion erzwungen. Als sie mit ihrem
Vater am Küchentisch saß, den Hals durch Erbrechen der hundert Tabletten verletzt, eröffnete er ihr mit
vorwurfsvollem Ton, dem Schulleiter mitgeteilt zu haben, sie käme für das nächste halbe Jahr nicht zur Schule
(20). „»Weißt du, wie schwer es für mich war, ihm zu erklären, dass meine Tochter versucht hat, sich
umzubringen?«“. Typisch für manche Eltern schwer traumatisierter Kinder: Sie machen dem Kind Vorwürfe,
weil das Kind sie mit seinem Trauma in Schwierigkeiten gebracht hat. Nicht das Kind wird getröstet, sondern
die Eltern fordern vom Kind Einfühlung in ihr Leid – eine Parentifizierung. So blieb Lilly nur zu sagen: „»Danke «,
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[…] weil mir nichts Besseres eingefallen ist. Außerdem hatte ich Halsschmerzen und konnte sowieso nur heiser
krächzen“ (22). Aber selbst die spärlichste und überdies negative „Zuwendung“ ihres Vaters rührt die
Traumatisierte zutiefst. In Vaters Augen habe kurz etwas aufgeleuchtet, was sie noch nie darin gesehen habe:
Zärtlichkeit. Verzweiflung. Vor Rührung musste sie heulen, sei zuvor allerdings schnell ins Bad geflüchtet, habe
die Tür verschlossen, das Wasser aufgedreht, um möglichst viel Geräusch zu machen und ihr Gesicht mit
kaltem Wasser gewaschen, damit ja keine roten Flecken mehr zu sehen sind. Der Grund: „[…] wie könnte ich je
zugeben, wie sehr meine Eltern mich berühren, mit jedem noch so winzigen Atemzug“ (20). Das war zuviel
Nähe, die Angst vor Süchtigkeit macht. Ihr Vater hätte dann einen Bericht geschrieben, „als wäre unsere
Familie, allen voran natürlich ich, einfach nur irgendein Projekt, dessen Entwicklung so sachlich und knapp wie
möglich dokumentiert werden müsste“ (20). Lilly wurde im Bericht als „unfähig“, „eigensinnig“, als „nicht
imstande für ein vernünftiges Zusammenleben mit ihrer Mutter“ beschrieben, der Suizidversuch „mit genauer
Zeit- und Ortsangabe und so kalt dahingeschrieben, als wäre ich tatsächlich erfolgreich gewesen“, und im „LillyOrdner“ abgeheftet. Eine Therapeutin habe den Vater, den die Explosion offenbar nun völlig „taub“ gemacht
hatte, schließlich gemahnt, es sei nicht taktvoll, ständig mit einer Akte über sie bei ihr aufzukreuzen, Notizen zu
machen, um Kopien des Protokolls an Ärzte und Psychologen zu verteilen. Sie hat den Vater gemahnt, seine
Tochter nicht in der medizinischen Öffentlichkeit zu denunzieren, um sich selbst nicht schämen und
Schuldgefühle haben zu müssen. Lilly zweifelt, dass er das verstanden hat: „Aber egal - ich würde ihm trotzdem
jedes Jahr einen Geburtstagskuchen backen, wenn ich nur wüsste, dass er sich darüber freuen könnte.“ (23). Es
fällt auf, dass Lillys Vater ähnliche Eigenschaften zeigt wie der Vergewaltiger: Er ist ignorant, hat ein nur
formales Verhältnis zu seiner Tochter, sie ist eine Akte, ein Projekt, eine Sache. Das bestätigt die klinische
Erfahrung, dass im Ubw ein Vergewaltiger meist einen Aspekt des Vaters repräsentiert.
Ein Bordell als Sanatorium
Betrachten wir die Mechanismen, mit denen Lilly versucht, ihr Trauma zu bewältigen. Die Traumabewältigung,
die immer zugleich Traumaabwehr und Selbstheilungsversuch ist, beginnt unmittelbar nach der
Vergewaltigung, wenn sie „beschließt“, kein Wort über ihre vermeintliche Schande zu verlieren, weil der
Schmutz, der an ihr klebe, niemals zu sehen sein dürfe (vgl. 17). Dies ist ihr erster Versuch, das Erlittene aktiv in
den Griff zu nehmen. Hinzu tritt der Entschluss, „den widerlichen Körper“ (23) so bald wie möglich los zu sein
und anschließend schnellstens erwachsen zu werden. Der nächste Schritt ist die Flucht der 6-Jährigen in
Geschichten und Tagträume. Manchmal, so Lilly, träume sie sich ein ganzes Leben zusammen, nicht ihres, nein,
eine völlig fremde Geschichte mit einem ihr unbekannten Geschöpf ohne Mut zum Bekenntnis als
Hauptperson. Aber die Dialogführung bestimme sie (vgl. 68). Sie selbst wolle nie wieder etwas empfinden
müssen, alles solle ihr uneingeschränkt egal sein, niemandem würde sie das Recht geben, sie zu verletzen, nie
wieder jemanden nah an sich heranlassen, um berührt zu werden (vgl. 32). Auch ihre Flucht ins Bett, in dem
sie den größten Teil ihrer Freizeit verbringe, umgeben von Büchern, ist ein Bewältigungsversuch. Am liebsten
würde sie sich für den Rest ihres Lebens in Ketten legen, damit sie nicht noch mehr Katastrophen anrichten
könne (vgl. 33). Sie ist jetzt ganz mit dem Vergewaltiger identifiziert, der in Ketten gehört, um andere vor sich
zu schützen. Offenbar haben sich die Schuldgefühle verfestigt.
Wir erfahren wenig über die Inhalte der Tagträume, aber sie dürften die Funktion traumatischer Träume
haben, deren ständige Wiederholung der Versuch ist, ein Trauma unter Ichdominanz zu bekommen, d.h., das
Erlittene selbst zu gestalten. Ein Inhalt jedoch wird früh erkennbar: Die Idee, ins Bordell zu gehen. Die hat sie
schon als Kind, noch ganz unbestimmt und doch zugleich klar, wie sich im Rückblick zeigt: „Da verändert sich
das kleine Mädchen, es beginnt die Gedanken in seinem Kopf zu verdrehen, es erfindet neue Freunde,
unsichtbare flüsternde Gestalten, mit denen es reden kann und die immer da sind. Es gibt eine Geheimsprache,
geheime Spiele, geheime Regeln. Dort, in dieser unwirklichen Welt, fühlt sich das Mädchen sicher, und es zieht
sich dahin zurück, sooft es möglich ist“ (23). Allerdings, man darf nicht vergessen, Lindner erzählt in
nachträglicher Rekonstruktion. Ich vermute eher, bei den „Gedanken“, den „flüsternden Gestalten“ handelte es
sich um Phänomene einer traumatischen Trance. Später im Buch sagt sie: „Denn damals, als ich das kleine
Mädchen war, bin ich weggelaufen vor mir selbst, so weit es nur ging. Eine Seelenflucht. Bis ins rote Licht.“
(331). Der Ort der Geheimsprache, der geheimen Regeln ist das Bordell. Es wundert deshalb nicht, dass sie
später das Bordell, in dem sie arbeitet, wie eine Kinderphantasie, eine Träumerei oder in traumatischer Trance
erlebt und beschreibt. Zentral im Bordell sind das Himmelbett, schon in ihrer Kindheit Ort des Rückzugs- und
des Trostes, und die Kuscheltiere. Die flüsternden Gestalten von damals, die erfundenen Freunde sind die
anderen Prostituierten, ihre Leidensgenossinnen. Natürlich muss Lilly das Bordell und ihre dortige Tätigkeit
narzisstisch-libidinös besetzen, sonst hätte sie es dort keinen Tag ausgehalten. Gefängnisinsassen mit
langjähriger Haft müssen solche Besetzung auch vornehmen, was manche Entlassene dazu treibt, schnell
wieder hinter Gitter zu kommen. Bei Felia liest sich die narzisstische Besetzung so: „In Ohnmacht fallen (wenn
die flashbacks kommen, T.E.) wird zu meinem neuen Lieblingshobby. Schade nur, dass ohnmächtig werden kein
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Leistungssport ist. Ich wäre mittlerweile reich und berühmt und würde bis zum Hals in Medaillen und Pokalen
feststecken. Denn niemand sonst fällt so schön wie ich, niemand sonst fällt so überzeugend, und niemand
sonst fällt so wunderbar lautlos. Eine winzige Erinnerung oder ein einziges falsches Wort reichen vollkommen
aus, um mich zum Fallen zu bringen. Wie in einem zerstückelten oder ungeschnittenen Film rasen in meinem
Kopf die dunklen Bilder hin und her“ (71). Sie hat das Trauma narzisstisch verarbeitet und bringt ihr Gewinn
(„Medaillen“). Sie ist traumatophil geworden.
Mit Himmelbett, Kuscheltieren und Essen beschreibt die Autorin das Bordell als ihr eigentliches Zuhause. Sie
liebe es so sehr, würden alle wie eine große Familie zusammensitzen, Schüsseln und Teller um den Tisch
reichten, durcheinanderplappern, über abgedrehte Kunden lachen und Wetten darüber abschließen würden,
wann das Klingeln an der Tür wieder beginne. „Diese Wärme ist einzigartig, ich habe sie noch nie zuvor gespürt.
Bei den Eltern am Küchentisch war es kalt und einsam, in der Klinik steril und monoton, im Kinderheim
chaotisch und brutal. Aber im Bordell könne sie aufrecht am Tisch sitzen und der Störung in ihr wenigstens für
einen Moment Einhalt gebieten (vgl. 233). An einsamen Tagen rolle sie sich unterm Laken zusammen und
kuschle sich an einen großen zotteligen Bären, den ein namenloses Mädchen im Bordell zurückgelassen habe
(vgl. 200). Die anderen Prostituierten sind in der „gute Mutter“-Funktion.
Die Schilderung hat der Autorin die Kritik eingebracht hat, das Bordelldasein zu beschönigen. Das ist zutreffend
und zugleich nicht. Auch Nicht-Traumatisierte tendieren dazu, am Arbeitsplatz eine erfahrene oder ersehnte
familiäre Situation zu inszenieren und dort alle Konflikte und Erwartungen aus der Herkunftsfamilie zu agieren.
Aber die Kritik ist vor allem nicht zulässig, weil Lilly das erlittene Trauma aus eigener Entscheidung heraus ins
Aktive wendet, indem sie im Bordell mit ihrem Körper das macht, was ihr als Kind aufgezwungen wurde. Ein
entscheidender Unterschied, der sie das Bordell als ideal empfinden lässt. „Und ich weiß: Wenn ich mit jedem
Mann auf der Welt freiwillig ins Bett gehe, dann kann ich nie wieder vergewaltigt werden. Was für eine
Erkenntnis“ (334). Sie gibt sie als Quintessenz unter der Rubrik „Danksagung“ am Ende des Buches weiter: „Und
an alle Mädchen, die ihre entblößten Körper in fremde Betten legen, um zu entkommen: Es sind die Männer,
die kommen. Und sie kommen immer wieder. Aber wir können uns anziehen. Und gehen“ (399). Das konnte sie
damals in der Nachbarwohnung nicht! Die Wendung des Erlittenen ins Aktive ist ein zentraler Mechanismus der
Traumabewältigung. In der Aktivität, der Selbstverfügung und Selbstbestimmung über den Körper liegt der
Heilungsversuch.
Aber beim Einsatz ihres Körpers im Bordell geht es nicht um den Körper einer erwachsenen Frau, sondern um
den Körper der Sechsjährigen, den sie den Männern anbietet, denn sie ist an dieses Körperbild fixiert. Mit
siebzehn Jahren hatte zum ersten Mal freiwillig Sex mit einem Jungen, den sie wegen seiner frech abstehenden
Haare süß fand. Aber der Sex mit ihm sei „schrecklich“ gewesen, „denn ich bin sechs Jahre alt, und mein Körper
ist winzig. Das weiß ich. Auch wenn es nicht mehr so ist“ (59). Im Bordell ist sie die Kleine in der Hülle der
Erwachsenen. Die aber ist magersüchtig, d.h. ohne Brust, ohne Menses, androgyn und damit präpubertär, oder
wie sie sagt: „Wenn ich all den nutzlosen Sex aus meinem Lebenslauf streiche, bin ich eigentlich noch Jungfrau“
(158). Das bedeutet: Das furchtbare Erlebnis wird mit der Idealisierung abgespalten. Jenseits aller Idealisierung
wiederholt sie im Bordell mit den Freiern unablässig den pädophil-sadistisch-perversen Modus von damals.
Fixiert an das frühe Körperbild aus der Zeit der Vergewaltigung findet sie die dazu passenden Freier. Diese
suchen nicht die erwachsene Frau, sondern das in der Magersucht aufgehobene kleine „ungefickte“ Mädchen.
Ich erwähnte bereits, sie wundere sich, warum so viele Männer sie „mit vergötternden Blicken betrachten“ und
dass sie vermutet, ihre Kunden seinen „einfach alle bekloppt oder abartig“ (142). Sie sind pädophil wie ihr
Soulmurderer damals. Streicht man ihre Idealisierung des Bordells weg, so ist das Bordell nichts anderes als die
Wohnung des Nachbarn, in der ein kleines Mädchen vergewaltigt wird. Sie sagt es selbst: „Natürlich zweifele
ich an meinem Verstand. Es ist ein vorübergehender, trügerischer Waffenstillstand, dass Sex auf einmal etwas
anderes geworden ist als pure Gewalt. Im Hinterhalt lauern versteckt die Männer mit den zu großen
Schwänzen.“ (136). Lilly sind also durchaus verschiedene, von einander abgespaltene Ichzustände bewusst. Das
ist grenzwertig, aber nicht psychotisch. Es erklärt auch, warum sie ihre Bordelltätigkeit beendet, als sie wieder
Brüste bekommt und zumindest vom äußeren Erscheinungsbild her kein Kind mehr ist.
Mit „Männer mit den zu großen Schwänzen“ meint sie den einen aus der Kindheit. Sein Schwanz war viel zu
groß. Sie bedient sich hier eines Mechanismus, den man aus Träumen kennt: Treten viele Personen auf, so geht
es meist nur um eine einzige, aber für die Psyche signifikante Person. Man könnte sagen: Viele für (gegen)
einen. Die Autorin weiß das. Sie grübelt, mit wie vielen Männern sie eigentlich mittlerweile geschlafen hat, mit
Achthundert, Tausend, Tausenddreihundert, oder gar schon Zweitausend? „Ein einziger Mann ist mir so
deutlich in meinen Kopf gebrannt, dass ich ihn unter Millionen von Menschen wiedererkennen würde; der
Mann, dem ich gehört habe, als ich sechs Jahre alt war“ (316). Auch textformal spiegelt sich das ‚Viele-füreinen’: Lindner benötigt an die 200 Seiten, also die Hälfte des Buches, für das Bordellthema. Auch darüber
wurde gegrantelt.
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Kurzum, sie benötigt die Männer zur Selbstheilung. Irgendwann, so sagt sie, sei zu der annehmbaren Erkenntnis
gelangt: „Männer haben mir meinen Körper weggenommen. Also müssen sie ihn mir auch wieder zurückgeben.
„Sie schulden mir einen Körper. Meinen Körper, um genau zu sein. Und tausend Entschuldigungen. Und
Zärtlichkeit. Und Normalität“ (89). Sie beschließt, so viele Männer verrückt nach ihr zu machen, „dass mein
schlaues Gehirn eines Tages sagt: »Okay. Jetzt ist alles wieder gut«“ (89). Die Hoffnung, die sie damit verbindet:
„Ein Körper ist nur ein Körper, und mein Körper soll der Körper sein, den alle Männer besitzen wollen, den sie
aber nur dann haben können, wenn sie dafür bezahlen. Das finde ich gut. Das ist ziemlich simpel. Damit ist die
Schuld beglichen. Was kann da noch schiefgehen? Und am Ende darf mein Körper wieder ein Teil von mir sein.
Ich werde ihn an mich binden und festschnüren und nicht mehr hergeben“ (89). Die Männer bekommen damit
eine wichtige Funktion: ihre Schwänze müssen das Trauma, das der eine angerichtet hat, wiedergutmachen.
Das klingt zunächst paradox gemäß der Redewendung ‚den Teufel mit dem Beelzebub austreiben’, was Lilly
natürlich registriert. Sex mache sie mehr als alles andere auf der Welt verletzlich, weil sie sich eingestehen
müsse, etwas zu wollen, was ihr angetan wurde, etwas, „das falsch war und so viel zerrissen hat: mich und
meine Seele“ (330). Es bleibt die einzige Funktion der Männer, denn eigentlich mag Lilly/Felia keinen Sex und
Männer auch nicht (vgl. 316). Ganz mit dem Vergewaltiger und dem Vater identifiziert, sind sie nur Sache, der
Sex nur Akt(e). Wer kann es ihr verdenken, aber deshalb kommt es mit keinem auch noch so netten Mann zu
einer dauerhaften, für sie befriedigenden Beziehung. Eine allerdings zweifelhafte Ausnahme: „Einmal hat eine
Freund mich geschlagen, einmal nur, weil ich ihn gereizt habe, weil ich es darauf angelegt habe. Und der
Schmerz war ganz deutlich und klar. So nah war mir ein Mann nur selten“ (68). Klar, besser sich den Schmerz
selbst zufügen (lassen), als ihn erleiden zu müssen.
Einverleibt sich Felia also Tausende Schwänze, sei es oral, anal oder vaginal, dann mit der Absicht, den einen,
der gewaltsam in ihren Leib gedrungen war, aus diesem und ihrer Seele hinauszubefördern. Das Introjekt
„Vergewaltiger“ muss externalisiert werden. So verfährt die Bulimikerin, wenn sie isst, um erbrechen zu
können oder der Kranke, der ein Medikament einnimmt, um etwas Quälendes aus dem Körper
hinauszubekommen. Die Menge an Schwänzen signalisiert zugleich, wie überschwemmend der Eine für Leib
und Seele war, weshalb sie ihn wie eine „Sturmflut“ erlebte, deren sie sich nicht erwehren konnte: „Aber ich
kann es nicht lassen, mir die Finger so fest in die Arme zu krallen, bis ich blute, und ich kann nicht aufhören, mir
von den Augenblicken zu erzählen, in denen ich sechs war und grässlichen Sex hatte, den ich weder
wegwaschen kann noch auskotzen oder weghungern. Und ausbluten kann ich ihn auch nicht.“ (131). Trotz aller
Bewältigungstechniken will es ihr nicht gelingen, das Trauma zu externalisieren.
Dennoch: ihr Versuch der Selbstheilung ist partiell erfolgreich. Nachdem sie zwei Monate wenigstens einmal
täglich eine halbwegs vernünftige Mahlzeit zu sich genommen hatte, sieht sie gesünder aus, zwar noch dünn
und winzig, aber sie hat wieder Brüste. Sie hasse ihren Körper nicht mehr ganz so sehr und beim Gedanken an
Sex drehe sich ihr nicht mehr automatisch der Magen um. Sie könne „einen Schwanz angucken, ohne vor Angst
im Erdboden oder vor Übelkeit im Bad zu verschwinden“ (211). Einen Fortschritt macht ihre Heilung, als sie
Human Trafficking sieht, einen Film über Frauenhandel. Ihr wird klar: sie ist ihr eigener „Zuhälter“. Nicht von
irgendeinem bösen Mann wird sie gefoltert und zur Prostitution gezwungen, sondern von sich selbst, da sie
sich verbiete, um Hilfe zu bitten oder wegzulaufen. Vielmehr dränge sie sich selbst dazu, ihren Körper zu
verkaufen und zwinge sich, den Mund zu halten (vgl. 315). Schließlich macht sich die Autorin Sorgen, nicht
verständlich machen zu können, ausgerechnet in der Prostitution den Teil von ihr wiedergefunden zu haben,
den sie vorher so sorgfältig versteckt hatte (vgl. 218). Aber ihre Sorge ist unbegründet. Dem aufmerksamen
Leser zumindest konnte sie es nahebringen.
Der Gesundungsprozess wird von Trauer über das gestörte Wachstum und den Verlust der Kindheit begleitet.
An dem Tag, an dem sie wieder Brüste bekommt, weint sie fassungslos vor dem Spiegel. Ein kleiner Busen
sprießt. Sie fühle wie ein verzweifeltes Kind, das gerade verstanden hat, dass man aus jedem Lieblingspullover
einmal herauswachsen muss, egal wie schön man die Elefanten darauf findet. Eine Stimme in ihr streicht ihr
sacht über die Wangen, wischt ein paar Tränen beiseite und flüstert ihr ins Ohr: „»Du bist eine Frau, meine
Süße. Du bist eine schöne, selbstsichere und junge Frau. Es ist okay, Brüste zu haben«“ (346). Jetzt wird
verstehbar, weshalb sie gesundet. Sie hat Kontakt zu einem guten Objekt in ihrem Inneren gefunden,
möglicherweise ein Objekt aus der Zeit vor dem Verbrechen. Ich konnte aber diesbezüglich keine Angaben
finden, es sei denn, man lässt gelten, dass die zur Weiblichkeit ermunternde Stimme im Roman die von Lady
ist, Hailies Mutter.
Weiß man um die Rückfallgefahr bei Traumatisierten, hält man den Atem an, denn Lillys Seelenleben ist
natürlich auch von missgünstigen Objekten bevölkert, die jetzt auf den Plan treten könnten. Sie lassen nicht
lange auf sich warten: „Also weine ich weiter. Meine Brüste fühlen sich weich an [...] Und ich weiß, dass ich sie
vermisst habe, als sie nicht mehr da waren. Ich liebe es, Frauen mit schönen Brüsten nachzugucken. Aber
meine eigenen sind mir fremd, sie gehören nicht mehr zu mir. Ich kann so nicht leben. Ich muss unbedingt
wieder aufhören zu essen“ (346).
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Das Objekt, das für den Widerstand gegen Gesundung verantwortlich ist, hat einen Namen: „Ana. Ana? Verlass
mich nicht“, ruft Felia verzweifelt. Wie in einem Traum, so erzählt sie, sei sie mit glasigen Augen ins Bad
gewandelt, habe sich zum zehnten Mal an diesem Tag auf die Wage gestellt und beschlossen, in der nächsten
Woche fünf Kilo abzunehmen, um wieder zweiundvierzig zu wiegen und sich wieder in Richtung vierzig zu
bewegen. Dann würde alles gut (vgl. 346f).
Wegen der Rückfallgefahr bräuchte Lilly Hilfe. Sie weiß das und kann es artikulieren: „Ich werde erst wieder ich
selbst sein können, mit allem, was dazugehört, wenn mein Körper wieder ein Teil von mir ist. Also muss ich ihn
zurück bekommen, um jeden Preis. Aber wie soll ich das schaffen? Von wem hole ich meinen Körper zurück?
Und wie kann ich ihn anschließend an mir befestigen? Sekundenkleber, Isolierband, Nägel, Schrauben,
Heftklammern, Tesafilm oder gleich ein Schweißbrenner? Wie füge ich mich zusammen, und womit bedecke
ich die verräterischen Nähte?“ (89). Auf die Idee jedoch, ihr Leben in den Griff zu bekommen und vielleicht eine
neue Therapie anzufangen, käme sie nicht (vgl. 92). Schade, denn nimmt man hinzu, dass sie manchmal mit
Mühe versucht, sich zu erinnern, „besessen“ sei von einem ungefickten Rückblick, „als hätte ich die Chance,
noch alles zu verändern“ (26), so hätten wir es mit einer für eine analytische Therapie gut motivierten Patientin
zu tun, „besessen“ davon, ihre Lebensgeschichte aufzuarbeiten, ihren partiellen Stimmverlust zu beheben und
das Stimmengewirr in ihrem Kopf zu sortieren: „Ich bin süchtig nach dieser Stille; dem Augenblick, wenn all die
anderen Stimmen in meinem Kopf endlich aufhören zu schreien, zu toben und wenn die Angst in mir kleiner
wird, immer kleiner, bis sie kaum noch zählt“ (317).
Eine solche Behandlung könnte an der Sehnsucht nach Zusammenführung von Körper und Selbst ansetzen.
Behutsam würde man mit dem „Kind“ imaginär in die Wohnung gehen, in der das Verbrechen geschah, ein
Ansatz, welcher der Selbstheilungskraft der Patientin Rechnung tragen würde, schildert sie doch, wie sie nach
ihrem Körper suchte, nachdem der Verbrecher ausgezogen und real aus ihrem Leben verschwunden war, „als
hätte es ihn nie gegeben“ (27). Stunden-, tage-, monatelang hätte sie vor der leeren Wohnung des Verbrechers
darauf gewartet, dass ihr Körper herauskommt, um wieder mit ihm zusammen sein zu können. Wieder schreibt
sie in ihrem Bett im Bordell einen Brief an das kleine Mädchen, dem ihre ganze Sehnsucht und ihre fast
mütterliche Liebe gilt, nach der sie sich selbst so unendlich sehnt. Der Brief zeigt die Begabung der IchErzählerin, ihre ganze Not auf den Begriff zu bringen, weshalb ich vollständig zitiere:
„Du bist noch immer jeden Tag bei mir - das hat die Zeit nicht geändert, da kann sie laufen und rennen so viel,
wie sie will, abschütteln wird sie dich nie. Wie alt bist du eigentlich? Sechs, oder schon sieben? Deine Haare
sind länger als meine und ganz weich, sie reichen dir fast bis zu deinen Hüften. Du bist noch so klein und immer
leicht gebräunt, auch wenn gar nicht Sommer ist. Schau mich an, ich bin immer weiß und blass, egal, wie schön
die Sonne draußen scheint. Ich kann dich sehen: Du bist einsam, weil du nicht weißt, wie man mit anderen
Kindern spielt; du fühlst dich fremd, wenn du deine Freunde besuchen gehst, denn bei dir zu Hause ist alles
anders. Du weißt nicht, wie es ist, sich in Sicherheit zu wiegen. Dafür weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man
einen Schwanz im Mund hat und versucht, nicht zu weinen - weil er es mag, wenn du weinst und zappelst. Aber
am Abend, in deinem Bett, da weinst du dann. Jede Nacht. Jede verdammte Nacht. Du sagst: »Mama, ich liebe
dich.« Und deine Mutter antwortet: »Ich habe jetzt keine Zeit.« Da drehst du dich um. Und läufst davon. Du
versteckst dich in deinen Gedanken“ (311). Die ganze Tragik ist in dem einen Satz verdichtet: ‚Mama, ich liebe
dich’. Es ist ihre unerfüllt gebliebene Sehnsucht nach einem guten Objekt, das sie vor dem Bösen schützt.
Auf die Rückkehr ihres verlorenen Körpers wartet sie vergebens und bleibt einsam. Sie schließt die Augen:
„»Bitte, bitte lass mich gesund werden«, sage ich an niemand Bestimmten gerichtet.“ Nirgendwo kann sie das
kleine Mädchen entdecken. „»Der Nebel hat sie verschlungen«, flüstert eine Stimme in der Nacht. »Hörst du
sie um Hilfe rufen, hörst du sie schreien?« Ich schüttele den Kopf. »Dann hör genau hin«, sagt die leise Stimme
warnend und verschwindet“ (312). Die leise Stimme könnte die einer Analytikerin sein - ich meine sie braucht
eine Frau -, die nicht mit spitzen Fingern, falsch verstandener Abstinenz oder theoriegeleitet (Sanskrit
übersetzend), sondern intersubjektiv-kommunikativ vorgeht. Sie würde die blutende Zahnwunde sehen und
Lilly erlauben, „langsam erwachendes Glühwürmchen“ zu sein, das Gegenmodell zu ihrer Turboentwicklung.
Der Brief zeigt, dass sich auch die Technik anwenden ließe, Lilly sich vorstellen zu lassen, das abgespaltene Kind
sei ihr eigenes Kind, eine Technik, die insbesondere bei essgestörten Patienten, die ihren Körper malträtieren,
deshalb hilfreich ist, weil sie aus dieser Perspektive gesehen betroffen sind, wie sie mit ihrem „Kind“ umgehen.
Die Autorin hat Zugang zur mütterlichen Haltung: „Und wenn ich dort bei dir wäre, meine Kleine, ich würde
mich zu dir niederknien, damit ich auf Augenhöhe mit dir wäre, ich würde dein Gesicht ganz sanft in meine
Hände nehmen, ich würde dir über deine hübschen Wangen streichen, deine zarten Augenbrauen mit den
Fingerspitzen nachzeichnen und dir kein Wort über deine Zukunft verraten“ (311).
Das alles klingt nach einer günstigen Prognose, zumal die „Patientin“ weiß, was sie erreichen möchte: ihren
Körper fühlen, begreifen, dass beide zusammengehören. „Ich will noch so viel erleben. Ich will Kinder kriegen.
Ich will Schokolade essen. Ich will einmal sagen können: ich liebe dich. Und ich will es ernst meinen“ (181). Sie
will eines Tages mit einem Mann schlafen können, ohne sich vorstellen zu müssen, dazu gezwungen worden zu
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sein, will einen Orgasmus haben, der sie „umhaut, der die Welt zum Stehen bringt, sie von mir aus auch gleich
aus ihrer Umlaufbahn schleudert“ (212). Der Soulmurderer hat das alles verhindert. So liegt ihr „erstes Mal“
noch vor ihr. Um genitale Gefühle haben zu können, muss Lilly erst ihren Körper, sprich ihr Genitale
zurückerobern. Genitale Lust ist ihr mit 6 Jahren geraubt worden, was ihr allerdings ihre Bordelltätigkeit
ermöglichte. Was damals passiert sein dürfte, haben die Analytiker der ersten und zweiten Generation, u. a.
Freud, Fenichel oder Bernfeld beschrieben, allerdings unter libidoökonomischen Erwägungen. So schildert
Fenichel die Not einer Patientin, in die sie geriet, als sie sich im Genitalbereich hätte von einem Arzt
untersuchen lassen müssen. Da sie exhibitionistische Neigungen stark verdrängte und mit einem
außerordentlichen Schamgefühl überkompensierte, sträubte sie sich lange, „fürchtete, sie könne diese
Situation gar nicht überleben. Als es soweit war, geschah etwas Merkwürdiges: Sie verlor plötzlich ihr
Körpergefühl. Ihr Unterkörper war ihr ‚fremd’, gehörte nicht mehr zu ihr - und nun konnte sie sich auch
untersuchen lassen“ (1928, 45). Die Verdrängung könne sich körperlich in Änderungen der Sensibilität
(Fremdheit gewisser Körpergefühle und kinästhetischer Sensationen) manifestieren. Für die Organfremdheit
sei die Frigidität ein Beispiel, bei der die Genitalgegend während des Verkehrs überhaupt nicht verspürt werde.
Fenichel verweist auf Bernfeld, der meinte, wir seien immer geneigt, ein unfolgsames Organ aus dem Körper
auszuschließen (vgl. 1928, 47). Der Begriff ‚unfolgsam’ könnte im Fall Lilly irreführend sein, trifft es aber, weil
auch sie sich der Schande bezichtigt, sich schämt und Vorwürfe macht. Fenichels Beispiel zeigt überdies, wie
sich die Zeiten geändert haben. Heute würde sich eine Frau wohl kaum noch schämen, einem Arzt ihr Genitale
zu zeigen. Sie würde sich möglicherweise schämen, ihr Genitale nicht zeigen zu können, weil sie es für unschön
hält. Nicht die Scham hat sich geändert, nur deren Inhalt. Nichtmehr Triebwünsche machen zu schaffen,
sondern der Narzissmus. Der modernen Genitaldysmorphophobie wegen boomt die ästhetische Intimchirurgie.
Lilly jedenfalls sehnt sich nach einem Leben ohne „Betonklotz“, das untragbare Geheimnis, in den ihr Name
geritzt stehe und der an ihr Bein gekettet sei (vgl. 316).
Die Schilderungen der Autorin sind gleichwohl eine Absage an alle, die meinen, ein solcher therapeutischer
Prozess ließe sich schnell bewerkstelligen. Die Gefahr einer Retraumatisierung und eines Rückfalls wäre viel zu
groß, weil ein forciertes Vorgehen einer Vergewaltigung der Seele gleichkäme. Eine forcierte Progression lässt
sich nicht mit einem therapeutischen Schnellverfahren behandeln. „Glühwürmchen“ müssen langsam
erwachen dürfen – ein hochaktuelles Thema, wenn man bedenkt, was Kindergartenkindern heute alles schon
von Eltern abverlangt wird. Ein Heer von um ihre Kindheit betrogenen Frühreifen oder ihr Gegenteil, von
„Spätaufsteherwürmchen“ dürfte auf uns zukommen.
Die anorektische Logik
Auch die Magersucht ist ein Versuch der Traumabewältigung. Gründlich räumt das Buch sowohl mit dem
alltagsklinischen Mythos auf, Magersucht sei eine Erkrankung an falscher Ernährung, als auch mit dem,
Magersucht sei eine Erkrankung, die erst in der Pubertät beginne. Die Auskünfte, die Lindner als Betroffene
diesbezüglich erteilt, sind unschätzbar in ihrem klinischen Wert. Schritt für Schritt führt sie uns vor, dass beide
Symptomkomplexe, sowohl die Magersucht als auch das mit ihr verschwisterte selbstverletzende Verhalten
(SVV) eine Erkrankung an traumatischer Beziehungserfahrung sind. Da diese Erfahrungen mit Nahrungs- bzw.
Genussmitteln verknüpft sind, manifestiert sie sich im weiteren Verlauf der Erkrankung sekundär als gestörtes
Essverhalten. Dieses jedoch dient einzig der Stabilisierung, weil das Hungern im Selbstwertgefühl der Kranken
eine zentrale Rolle zu übernehmen hat. Hungern wird fortan zum stärksten Motiv der Magersüchtigern.
Magersucht wie selbstverletzende Verhalten haben bei Lilly selbstheilende Funktion, dienen mithin demselben
Zweck wie das Bordell: „Wir können nicht ausdrücken, was uns wirklich bewegt, wir können nicht erklären,
woher die große Sehnsucht kommt. Und unsere Seelen in unseren Körpern halten können wir auch nicht – aber
hungern, das können wir!“ (367). Wir erinnern uns: „Und an alle Mädchen, die ihre entblößten Körper in
fremde Betten legen, um zu entkommen: Es sind die Männer, die kommen. Und sie kommen immer wieder.
Aber wir können uns anziehen. Und gehen“ (399). Um nicht „durchzudrehen“, verrät uns Felia/Lilly ihr
„Geheimrezept“: „Ich schaffe mir ein neues Problem, das groß und schrecklich genug ist, um an erste Stelle zu
stehen, und beschäftige mich in jeder freien Minute, in der andere schlimme Dinge meine Seele plagen
könnten, nur damit: Nichtessen. Essen. Erbrechen. Verhungern. Das macht unglaublich viel Spaß“ (64). Welch
eine Aussage! Sie umreißt die anorektische Logik: Der Hunger wird zum „neuen Problem“ auserkoren, um mit
ihm andere, ältere unangenehme Erinnerungen zu verdrängen. Die Magersucht wird als Abwehrsymptom
verortet. Das „neue Problem“ hat einen großen Vorteil: Der Hunger ist das einzige „Objekt“, von dem Lilly das
Gefühl haben kann, es unter Kontrolle zu haben. Den Hunger kann sie bezwingen, vom Vergewaltiger wurde sie
bezwungen, ihn hatte sie nicht unter Kontrolle. Deshalb ist der Hunger so zentral und so therapieresistent,
zumal er Lilly als Schutzzone dient, denn auf einer Waage könne man nicht zum Sex gezwungen werden, und er
dient ihr überdies noch als „Ausdruck meiner Wortlosigkeit in diesem sprachverlorenen Raum“ (386). Hunger
ist ihre somatisierte Ersatzsprache, Körpersprache eben, für die stimmlos machende Gewalterfahrung mit 6
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Jahren. Im Klartext meint das: Der „Hunger“ hat eine Vorgeschichte, ist als „neues Problem“ nur ein altes in
neuem Gewand. Der Hunger ist Substitut aller unverdaulichen Erlebnisse mit Personen und dem eigenen
Körper. Darum geht es in der Behandlung dieser Patienten immer darum, mit ihnen zusammen herauszufinden,
welche Person, welche Erlebnisse und welche Körpererfahrungen hinter dem „Hunger“ stehen. Bei Lily hat der
Hunger einen Namen: den des Nachbars. ‚Hunger’ ist Symbol für eine Beziehungserfahrung mit einer
signifikanten Person, hier eine Gewalterfahrung. D.h. mit „Hunger“ ist immer eine Szene gemeint. Das lehrt uns
dieses Buch.
Das Buch zeigt unabweislich und die Geschichte des Hungers bestätigt es: der Beginn der Erkrankung und ihre
ätiologischen Wurzeln liegen in der Kindheit, im hiesigen Fall bei der 6-Jährigen, und da wird jedes Detail der
Schilderung von Bedeutung. Unmittelbar nach der Vergewaltigung, nachdem sie sich gewaschen hat, nimmt
Lilly die Schokolade, die sie achtlos auf den Fußboden geworfen hatte, und ißt sie hastig auf. Dann geht sie wie
in Trance ins Bad, „die schwachen Beine taumelnd wie die einer Marionette“; beugt sich über die Toilette und
würgt so lange, „bis auch der letzte Krümel wieder aus dem elenden Körper heraus ist“. Anschließend wäscht
sie sich Hände und Gesicht mit eiskaltem Wasser, bis sie erst blau und dann violett-lila anlaufen. Der Schmerz
beruhigt und sie fühlt, wie ihre Fingerspitzen taub werden, wie sie zittern und beben. „Es ist nichts passiert. Es
ist doch nichts passiert“, suggeriert sie sich. Mit verkrampften Händen dreht sie den Wasserhahn zu und schaut
in den Spiegel. Ihr Spiegelbild weicht Schritt für Schritt zurück. Jetzt weiß sie: „Es gibt mich nicht mehr“ (19).
Unsichtbar zu sein ist der Wunsch einer jeden Magersüchtigen. Auf einmal hätte sie einen Geistesblitz, so Lilly:
„je mehr von mir auf dieser Welt ist, desto schlimmer. Wenn ich verschwinden könnte, wäre alles besser“ (35).
Später wird sie versuchen, über Hungern zu verschwinden.
In dieser Szene ist bereits alles enthalten, was eine spätere Essstörung ausmacht. Aber auch der
Perfektionsanspruch, der auf Schuldgefühlen basierende Reinheitszwang und die Funktionalisierung dieser
Patienten (vgl. Ettl, 2001) sind bereits bei der 6-Jährigen zu finden. Sie stehen in direktem Zusammenhang mit
dem früh erlittenen Trauma: „Ich bin sechs Jahre alt, […] Glücklich sein ist wichtiger als Schmerzen empfinden,
das habe ich schon im Kindergarten gelernt. Denn Eltern mögen glückliche Kinder. Eltern mögen lachende
Kinder. Wenn man lächelt, mit Grübchen in den Wangen und mit leuchtenden Augen, wenn man lange, vom
Wind zerzauste Haare und ein süßes Puppengesicht hat, dann wird man leichter geliebt als andere. Perfektion
ist Sicherheit, Perfektion ist Macht. Meine Eltern brauchen ein perfektes Kind; ich muss funktionieren, ich darf
auf keinen Fall ein Fehler sein“ (18). Essgestörte waren als Kinder mit ihren Sorgen, Schmerzen und Fehlern
ihren Eltern oft lästig (vgl. Ettl, 2006). Damals bereits war Lilly „verzweifelt“, wenn ihr Handtuch nicht weiß war,
„denn weiß ist beruhigend, weiß ist sauber, weiß ist rein“ (18). Später wird Lilly, um sich perfekt rein zu halten,
alles um sich herum unpersönlich gestalten: Bilder von den Wänden entfernen, das Bett weiß beziehen, die
Regale mit weißen Laken verhängen und nur wenige Dinge aufbewahren. Aber trotzdem geht es ihr nicht
besser, weil sie nach wie vor Gefühle hat, obwohl sie gerne ein Stein wäre.
Warum Hunger haben für ein stabiles Selbstwertgefühl so zentral und Essen so gefährlich ist und eine
Niederlage vor dem Feind bedeutet, erklärt Lilly. Genuss- und Nahrungsmittel, wie Schokolade, Toast,
Spiegeleier sind unmittelbar an die Gewalterfahrung mit 6 Jahren gekoppelt, also mit dem Trauma assoziiert.
„Der Mann lässt uns gehen. Mich und den Körper. Wir stehen vor seiner Wohnungstür, er drückt uns eine Tafel
Schokolade in die Hand und sagt: »Das ist unser kleines Geheimnis. Du wirst es niemals jemandem erzählen.
Hörst du? Niemals! Wenn dir dein Leben lieb ist …« ( ). Schokolade ist an eine Todesdrohung geknüpft! Später,
wenn ihr die Nacht lang erscheint, schleicht sie in die Küche, macht sich Toast mit Spiegeleiern und trinkt
Orangensaft. Das sei das Letzte, was sie damals als sechsjähriges Mädchen gegessen habe, sie wisse es noch
genau. Dann spült sie ab, wischt den Tisch, schrubbt den Herd, obwohl er sauber ist, geht dann ins Bad, um
Toast, Eier und Saft zu erbrechen. Erst wenn ihr Bauch leer sei, dürfe sie wieder atmen (vgl. 68). In der
Frühform der Magersucht ist Lilly noch bulimisch – nicht ungewöhnlich.
Zu Ostern schenkt ihre Mutter ihr einen Korb, überfüllt mit Schokolade. Sie versucht zu lächeln, sagt „»Lecker!
Vielen Dank! Schokolade! Wow, so viel!« […] „Er hat mir danach jedes Mal Schokolade gegeben. Mein Leben
gegen einen Schokoriegel, ein fairer Tausch. Ich habe nicht versucht zu handeln. Die Schokolade habe ich
immer ausgekotzt oder weggeworfen. Wie dumm von mir. Ich hätte sie aufbewahren können, als Andenken“
(69). Die Szenerie zeigt, auch das Erbrechen hatte schon damals die Funktion, die es später in der Essstörung
hat: Es ist Lillys Versuch, die 6-Jährige bzw. einen Lebensabschnitt auszulöschen. All das verwundert nicht, denn
schon für das Kleinkind ist Essen an die Beziehung zur Mutter geknüpft. Ist die Mutter lieb, wird es gerne essen,
ist sie böse, wird es die „böse Mutter“ mit der Nahrung zusammen einverleiben, sie dann erbrechen oder aber
Nahrung ganz verweigern. Im Klartext: (Schokolade) Essen ist für Lilly ein schlimmes „Andenken“, ein ‚Denken
an’ die Vergewaltigung. Essen heißt vergewaltigt zu werden, den Vergewaltiger zu introjizieren samt der
Schuldgefühle, der Scham, dem empfundenen Schmutz. Da bleibt nur Kotzen oder verhungern. Mit jedem
Bissen, den sie zu sich nehmen würde, würde sie sich das Trauma erneut einverleiben, als wäre er ein
Brotaufstrich. Darum wird, zu Hause angekommen, Mutters Osterkörbchen bei Nachbarn vor die Tür gestellt,
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die Schokolade verweigert und sich ein bisschen mit Rasierklingen beschäftigt. Anstatt Todesschokolade lieber
eine Selbstverletzung. Später gesteht sie einem Freund, sie könne es nicht lassen, sich die Finger so fest in die
Arme zu krallen, bis sie blute.
Die Selbstverletzung: sich bis aufs Blut in die Arme krallen, sich in der Badewanne schrubben, bis die Haut rot
und geschwollen ist, sich Hände und Gesicht mit eiskaltem Wasser waschen, bis sie blau anlaufen, ist der
juvenile Vorläufer späterer Verletzungen, deren Funktion klar benannt wird: „Der Schmerz beruhigt“ (67). Und
er betäubt: „Mein Kopf wird von einem höllischen Schmerz durchbohrt, als ich ihn so fest, wie ich kann, gegen
den Türrahmen von meinem Zimmer schlage und anschließend benebelt auf den Boden sinke“ (29).
Schmerz und Hunger haben dieselbe Funktion. Beide kann die Magersüchtige selbst bestimmen und damit
unter Kontrolle nehmen, weil sie ihn sich selbst zufügt und das ist ein himmelweiter Unterschied zu von
anderen verabreichten Schmerzen. Sie hat es selbst in der Hand, wie bei einer phantasierten, tagträumerischen
Vergewaltigung. Das unterscheidet das selbstverletzende Verhalten von einer Fremdverletzung. Die eine tut
gut, die andere weh. Das kleine Mädchen Lilly „zerkratzt sich seine Arme, um einen anderen Schmerz zu
spüren, einen greifbaren, der abklingt und verheilt; es boxt sich in den Bauch, liegt nackt und zitternd bei weit
geöffnetem Fenster auf dem Fußboden und friert, weil es nicht besseres verdient hat, weil sein Körper leiden
muss“ (24). Diese Textstelle ist allerdings tückisch, verweist sie doch auf eine Schwierigkeit, wenn man
Patienten zuhört: zwei unterschiedliche Motive für Selbstverletzung sind in einen Satz gepackt und textformal
nur durch ein Semikolon getrennt: der erste Teil spricht den Kontrollwunsch, damit den Selbstheilungsversuch
an, der zweite den Wunsch nach Bestrafung wegen der Schuldgefühle. Im gesprochenen Wort ist es schwerer,
diese Unterscheidung zu hören.
Ana, Mia und die Magersüchtige
Haben wir in Lindners Buch klare Eckpunkte für Verständnis und Ätiologie der Magersucht ausmachen können,
so gibt es auch Einblick in die Wirkmacht der rätselhaften Ana. Sie schien ja verantwortlich für den Widerstand
gegen Lillys Gesundung: „Ana. Ana? Verlass mich nicht“, rief Lilly verzweifelt und beschloss fünf Kilo
abzunehmen, weil dann alles gut werde (vgl. 347). Wer aber ist diese Ana und was wird alles gut?
Die Ich-Erzählerin sagt: „Die Tage mit Ana sind zugleich auch die stärksten und mächtigsten Tage, denn nichts
will meine vergewaltigte Seele mehr als Kontrolle und Befehlsgewalt über diesen geschundenen Körper“ (183).
Ana scheint Kontrolle und Befehlsgewalt zu ermöglichen. Lilly ergänzt: „Es ist spät am Abend und ich würde
mich gerne in mein Bett legen und anfangen zu träumen. Aber Träume bedeuten Verlangen und Hoffnung, und
Ana hält nichts von dem großen Sehnen. Selbstmord auf Raten. Das ist Anas Hoheitsgebiet“ (237). Das macht
Ana eigentlich noch rätselhafter. Will man ihr auf die Spur kommen, scheint Ehrfurcht geboten, immerhin
betritt man Hoheitsgebiet!
Ana ist eine virtuelle Figur, die im Internet in Form von Websites auftritt und sich an Magersüchtige wendet.
Für diese ist sie zum Synonym für ihre Krankheit geworden. Für uns ist von Interesse, welchen Platz und welche
Bedeutung Ana im Seelenleben Lillys/Felias bzw. Magersüchtiger bekommt. Aus den Beschreibungen und
Szenen, die die Autorin mitteilt, lässt sich ermitteln, dass es sich bei Ana wohl um eine eher unsympathische,
gestrenge Person handelt, die man normalerweise ersuchen würde, gefälligst schnell das Weite zu suchen. So
muss man z.B. vor Ana „eine Rechtfertigung nach der nächsten geben“ (184); Ana kreischt wie eine Furie, isst
man ein Stück Kuchen; nicht mal frühstücken darf man (241). Ana macht Kleiderkontrolle. Anas Regel Nummer
eins lautet: Wir haben keinen Hunger! Das ist die lebensgefährliche Aufforderung, den Hunger zu verleugnen.
Hunger scheint Anas großer Feind zu sein, ihn zu befriedigen ein schweres Vergehen.
Demzufolge unterbindet Ana jeden Kontakt zu Personen, die zum Essen verführen könnten. Bei
Zuwiderhandlung wird Lilly das Handy aus der Hand gerissen und zum Fenster hinausgeworfen (189f). So
konkretistisch wird Ana erlebt. Sie tritt auf wie eine Schlange, die so wütend zischen kann, dass man mit dem
Kopf voraus gegen den Schrank kracht. Oder sie wird zum Drachen mit rabenschwarzen Augen und
funkensprühendem Blick, verstößt man gegen die Regel Nummer eins. Der Drache vermag Lilly zutiefst zu
erschrecken, wenn er „überaus freundlich daran erinnern möchte, dass ich gefälligst noch zu erbrechen habe.
Wir seien hier ja schließlich nicht im Ferienparadies“ (282).
Das klingt, als wäre Ana eine strenge, restriktive Instanz – ein Überich. So wundert es nicht, dass Ana keinen
Mann zulässt, denn Männer sind Feinde wie der verführerische Hunger: „»Seit wann denkst du darüber nach,
mit dem Feind essen zu gehen?«“, faucht Ana. Deshalb sind auch Brüste so gefährlich, denn seit Felia wieder
Brüste hat, verlieben sich noch mehr Männer in sie (vgl. 346). „Untersteh dich, kreischt Ana.“ (241). Ana ist die
eifersüchtige Freundin. Nicht für die Männer, für Ana soll sich die Magersüchtige sexy machen: „Ana schnaubt
verächtlich, denn in ihren Augen ist ein so glibbriges und fettes Vieh von 41 Kilo ganz bestimmt nicht perfekt
und auch nicht annähernd sexy“ (285). Ana bestimmt das Ideal, dem die Magersüchtige entsprechen soll. Man
kann hier von einer homoerotischen Beziehung zwischen dem Ich und seinem Ideal ausgehen, denn das
Ichideal ist weiblich, da es sich an der frühen Mutter bildet. Niemand habe sie je fester gehalten oder zärtlicher
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berührt als Ana, versichert uns Lilly (vgl. 203). „Meine aufmerksame und selbstlose Freundin Ana ist natürlich
sofort zur Stelle, um mich zu unterstützen…»Lilly«, flüstert sie mir verführerisch ins Ohr. »Komm, lass uns
wieder so wunderschön leicht und frei sein wie damals mit 37 Kilo ... weißt du noch?« […] »Bis zum Ende ... «,
raunt Ana und legt ihre Hand auf meine Taille (183). So schwört man sich’s am Traualtar. Kein Mann wolle
begreifen, dass Felia ein lesbisches Verhältnis mit Ana, ihrem Überich/Ichideal–System hat, und das lässt
keinen Mann zu. Das ist kein Widerspruch zu Lillys Bordelltätigkeit, denn dort dienen die Männer einzig, den
Vergewaltiger zu eliminieren. Dieser Männergebrauch ist vor Ana statthaft. An dieser homoerotischen
Website-Beziehung dürften sich die sadomasochistischen Phantasien der Essgestörten entzünden, die dann
autoerotisch befriedigt werden.
Aber Ana ist nicht nur feminin. Wir haben von Lilly gehört, sie sei von ihrer Mutter aufgefordert worden, ihren
Peiniger, zum Ideal zu nehmen: „»Er ist so höflich und aufmerksam! Jedes Mal, wenn er mich mit Einkäufen im
Treppenhaus trifft, trägt er mir die Tüten hoch. Ich hoffe wirklich, du wirst irgendwann auch einmal so ein
Mensch, Lilly«“ In der Tat schildert uns die Autorin Ana auch als mit Zügen des Vergewaltigers ausgestattet.
Man muss allerdings genau hinsehen, dann aber erfährt man, dass Ana ebenso „rabenschwarze Augen“ hat.
Die hatte der Soulmurderer auch – sicher kein Zufall.
Essen gehen würde demnach Regelverletzung bedeuten, bedeuten, dem Feind zu unterliegen und damit Ana zu
erzürnen. „»Das wird eine Katastrophe!«, schnauzt Ana“ und droht Lilly mit Vernichtung: Sie malt ein Bild, auf
dem nichts zu sehen ist, hält es Lilly vor die Nase und sagt: Guck mal, das bist du“ (288). Kurzum: „Wenn Ana
sich zu ihrer vollen Größe ausstreckt, dann kann ich noch so viel mit mir selbst kämpfen, sie macht mich mit
einem knochigen Finger platt. Ana kann ein Käsebrötchen mit so viel Verachtung anstarren, dass es einfach
verschwindet. Und mich natürlich auch“ (233).
Während Ana gestrenge „Freundin“ (vgl. Ettl, 2010) für Magersüchtige sein will, ist Mia für Bulimiker zuständig.
Auch sie ist eine virtuelle Figur, aber nicht so herrisch wie Ana. Mit Mia kann man streiten, sie stellt sogar
Fragen: „Seit wann kooperierst du in unserer Freizeit mit dem Feind?, würde Ana fauchen. Mia hingegen
wispert, das könne nur schiefgehen. Mia umarmt auch und steht auch den Männern näher, ist also
triebfreundlicher. Ana ist nur zynisch: »Ich glaube, ich sterbe, flüstert Mia. »Au ja, bitte!«, freut sich Ana, der
Mia viel zu normalgewichtig ist. Aber Ana wie Mia sitzen der Magersüchtigen im Nacken, so Lilly. Das kennen
wir vom Gewissen, das auch dort verortet wird.
Anas Spuren tauchen schon früh auf. Es ist die Zeit kurz nach der Vergewaltigung mit 6, als Lilly beginnt, die
Gedanken in ihrem Kopf zu verdrehen, neue Freunde erfindet, unsichtbare flüsternde Gestalten, mit denen sie
reden könne und die immer da seien. Sie erwähnt eine Geheimsprache, geheime Spiele, geheime Regeln, die
an die Welt der Ana erinnern. Schon damals, so die Autorin, habe sie sich in dieser unwirklichen Welt sicher
gefühlt und sich dorthin zurückgezogen, sooft es möglich war (vgl. 23). Die „flüsternden Gestalten“ tauchen in
der Schulzeit wieder auf, wenn sie auf dem Bett liegend ihre „Psychotabletten“ anstarrte: „Eine Stimme in
meinem Kopf sagt: »Schluck sie alle auf einmal runter!«. Eine andere Stimme sagt: »Au ja, und dann noch eine
Schachtel Aspirin als Nachspeise!«. Eine dritte Stimme sagt leise und verführerisch: »Eine Tablette für den
Anfang kann auf gar keinen Fall schaden ... « (45). Namentlich taucht Ana meines Wissens zum ersten Mal auf
Seite 64 auf. Lilly hat gerade die Schule geschmissen, sich von Fabian getrennt und die Arbeit in einem
Kinderladen aufgenommen. Jetzt müsse sie sich endlich mal für eine Form der Essstörung entscheiden, so Lilly.
Das Hin und Her zwischen Bulimie und Anorexie sei sie leid. Jetzt tauchen Ana und Mia auf: „Ana und Mia - das
sind die beiden Stimmen in meinem Kopf, die sich um jeden noch so kleinen Kekskrümel streiten können, als
ginge es um den Lauf der Welt. Und mittlerweile sind die zwei alles, worüber ich mich definieren kann“ (64).
Anas makellose Maske sei ihr größter Alptraum. Die Hingabe, mit der ich ihre Rolle spiele, lässt mich zuweilen
in ihr verlorengehen“ (336). Felia/Lilly ist jetzt ganz mit ihrem Überich identifiziert. So, wie sich Lilly, um „nach
Strohhalmen zu greifen“, als 6-Jährige von der Stimme fortführen ließ, weg von dem Sofa, weg von dem Mann,
weg von ihrem Körper, so jetzt von Ana: „»Komm«, wispert mir da eine leise Stimme ins Ohr; die Stimme
gehört mir, aber ich erkenne sie nicht. »Komm«, flüstert sie, »Ich bringe dich weg von hier, vertrau mir«“ (15f).
Wir hören die Schlange zischeln. Schließlich „verkaufe ich meine Seele an Ana. Ana bis zum Ende. Das ist ein
Versprechen, das stumm besiegelt wird. Und so verzieht sich Mia in den hinteren Teil meines Gehirns, während
Ana mit ihren streichholzdürren Armen um mich herumtanzt und tatsächlich glaubt, sie könne fliegen, wenn ihr
BMI nur unter 16 bleibt“ (65). Hier taucht ein weiterer Grund für Anas strenges Regelwerk auf: Dem Hunger
widerstehen „beflügelt“. Ana verkörpert einen alten Traum der Menschheit: Das Ideal fliegen zu können.
Aus den geschilderte Szenen wird klar: Ana ist sowohl das personifizierte Überich als auch das personifizierte
Ichideal der Magersüchtigen. Über Lindners Darstellung gewinnen wir einen tiefen Einblick in die wirkmächtige
Stimme dieses modernen Internet-Überich/Ichideal-Systems. Diese neuzeitliche Form eines externen
personifizierten, aber unpersönlichen, rigiden und standardisierten Systems in Form eines inneren Objekts oder
Instanz drängt sich aus dem Internet heraus der Magersüchtigen auf, denn es hat sich nicht an konkreten
Personen der Lebensgeschichte gebildet, sondern setzt sich offenbar umstandslos und mit konkretistischen
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Anweisungen an die Stelle der an den Eltern gebildeter Vorläufer und zwingt Erwachsene in die infantile
Position. Abgesehen davon, dass das eine interessante Funktion des Internets ist, geht es bei diesem externen,
personifizierten Überich/Ichideal aus psychoanalytischer Sicht um eine frühe und damit noch unreife Form. In
Lindners Text kann man diese Instanz leider nur bis ins sechste Lebensjahr zurückverfolgen. Ana dürfte
Surrogat einer absurde Ideale fordernden Mutter sein, schließlich fordert sie wie diese von Magersüchtigen ein
absurdes Ideal: Niemals dem Hunger nachgeben bis zum Verhungern: „Ja, ich weiß, wir Frauen sind die
einzigen Lebewesen, die Intelligenz, Glück und Reichtum in Kilogramm messen können. Und ausgerechnet in
dieser Disziplin muss ich auch noch herausragend sein. Genau wie meine Hüftknochen“ (346).
Dass Ana überhaupt eine Chance hat, im Seelenleben der Magersüchtigen diesen Platz einzunehmen, kurz:
dass die Magersüchtigen so auf Ana „abfahren“, lässt ein subjektives Entgegenkommen vermuten, vermuten,
dass das Überich/Ichideal-System der Magersüchtigen an einem frühkindlichen, unreifen, rigiden Zustand
fixiert geblieben sein muss, und sich deshalb so problemlos anschlussfähig an die Ana-Ideologie erweist. Wir
ahnen: Die hoch konzentrierte, mit versteinerter Miene, und ohne eine einzige Sekunde lang aufblickende
Sanskritübersetzerin, die „Geht-es-dir-nicht-gut-Ist-irgendwas-Ich arbeite-Mutter“ könnte die Ur-Ana der
frühen Jahre gewesen sein.
Der Hunger als „neues Problem“ bekommt seine Bedeutung in der Pubertät. Ab jetzt ist der Hunger für jede
Magersüchtige der Teufel, weil er zum Essen verführt. „Aber Lady schiebt den Brotkorb so nah an mich heran,
dass er gegen meine Brüste stoßen würde, wenn ich noch welche hätte, und reißt mich aus meinen Gedanken.
Dann pustet sie mir eine kleine Rauchwolke entgegen, die aussieht wie ein Wolf. Ein Werwolf. Ich habe Angst.
Nicht vor dem Wolf. Vor dem Tapasteller. Und dem Brot“ (203). In welche Not die Magersüchtige mit dem
Hunger kommen kann, zeigt folgende Stelle: „Und dann sage ich das, was ich niemals sagen durfte, das, was ich
meinem Körper niemals zugestehen konnte. Das, was ich mir ausdrücklich verboten habe, und das, was mich so
grausam in meine leeren Zwischenräume verbannt hat. […]Aber ich sage es doch: »Ich habe solchen Hunger«.
Die Tränen, die mir dabei in die Augen schießen, sind salzig, sie brennen schlimmer als alle zuvor. Etwas
zerbricht in mir, etwas zersplittert; ich spüre die nackten Scherben in jede Faser meiner Haut stechen scharfkantig und wütend. Ana starrt mich an, aus rabenschwarzen Augen. Tag für Tag hat sie mir die Regel
Nummer eins erklärt: Wir haben keinen Hunger! Hörst du? Niemals! Wir haben keinen Hunger!“ (385). Das ist
der magische Versuch, den Teufel Hunger zu verleugnen und damit jeder Verführung vorzubeugen. Der Hunger
soll keine Bedeutung bekommen, so wie der Vergewaltiger damals auch nicht, als sich Lilly sagte: „Es ist nichts
passiert. Es ist doch nichts passiert“ (18). Ebenso magisch sollen die Sexualität, die Gier, die Hoffnung, „das
große Sehnen“ verleugnet werden. Ana fordert Askese.
Hunger haben ist so gefährlich, weil er zur Befriedigung des abgewehrten Wunsches verführt, ‚Made im Speck’
zu sein, das Feindbild der Magersüchtigen. Dieses Feindbild sieht sie im Spiegel. Der Spiegel ist für die
Magersüchtige jedoch keine Reflektionsfläche, sondern Leinwand und auf diese projiziert sie ihren Wunsch. Sie
sieht nicht ihren Körper, sondern ihren abgewehrten Wunschkörper und ist angesichts ihres Wunsches
entsetzt. Insofern kann man nicht von gestörtem Körperbild sprechen, denn die Magersüchtige sieht sich
durchaus realistisch, aber sie nimmt anachronistisch wahr. Sie sieht die Adipöse von früher, so wie Felia die
vollbusige Pubertierende Lilly sieht, die sie auf ihren magersüchtigen Körper projiziert. Wenn die
Magersüchtige bestürzt darauf hinweist, sie sähe so fett aus, so ist das Koketterie, denn alle fallen darauf
herein und antworten: Nein, nein, Du bist viel zu dünn. Aber genau das will sie hören, sieht sie sich doch darin
bestätigt, dass ihre Abwehr funktioniert und Ana mit ihr zufrieden sein kann.
Aber irgendwann hat Lilly Anas wichtigste Regel gebrochen und muss jetzt befürchten, „dass die Stimmen in
meinem Kopf anfangen, mich zu beschimpfen, und Ana sich mit mörderischem Blick auf mich stürzt“ (339). Die
ständige Gefahr, wegen quälenden Hungers die Regel zu übertreten, ist die Crux der Magersüchtigen, denn
wenn sie dem Hunger nachgibt, verliert sie die Liebe Anas, d.h. sie fühlt sich vom Überich/Ichideal-System
fallen gelassen und verstoßen. Sie empfindet Schuld, Schande und fühlt sich schmutzig – wie damals als 6Jährige. Es ist, als würde Ana jetzt wie früher die Mutter sagen: »Ich hasse dich«. Mit anderen Worten: Die
Magersüchtige kommt in einen depressiven Zustand. Das Gefühl, eine Niederlage erlebt zu haben, schwächt
und lässt das Selbstwertgefühl absinken und sie muss verzweifelt betteln: »Ana, Ana, verlass mich nicht.“
Darum sagt Lilly, alle Tage mit Ana seien nicht nur die stärksten, sondern auch „die schwächsten und
isoliertesten, die ich je hatte“ (183).
Ganz anders liegen die Verhältnisse, wenn die Magersüchtige hungert, dem (Körper-) Bedürfnis oder der
Sexualität nicht nachgibt. In diesem Fall erfährt sie die ganze (homoerotische) „Liebe“ Anas, ihres Gewissens;
ihr Ich befindet sich im Einklang mit dem Ichideal/Überich-System. Der Hunger ist jetzt Freund, der Teufel
besiegt: „Das ist ein Anfang, dann kann ich mich wieder in Richtung vierzig bewegen. Dann wird alles gut“
(347). Sie hat ein gutes Gewissen - bekanntlich ein sanftes Ruhekissen. Dann sind die Tage mit Ana „die
stärksten und mächtigsten Tage“ (183), d.h. die Magersüchtige wird hypomanisch, also „beflügelt“. Dafür
opfert sie bereitwillig ihre Gesundheit. Vor dem Hintergrund dieser anorektischen Logik verliert der Satz: Der
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Hunger macht mich stark, seine Rätselhaftigkeit. Beide Stimmungen alternieren je nach Füllungsstand des
Magens. In der Regel ist es so, dass Magersüchtige morgens eher guter Laune, abends hingegen depressiv sind.
Der Grund für die abendliche Depression ist, dass sie tagsüber etwas essen, also eine Niederlage hinnehmen
mussten und sich Anas Zorn zuzogen. Darum ist jeder Tag ein Kampf, „seit Ana und Mia Anspruch auf mein
Leben erheben“ (289).
Die Stellung zum Überich/Ichideal-System ist bei der Bulimie etwas anders. Die Instanz ist nicht so streng,
sondern milder. Deshalb lebt und wirkt die Bulimikerin triebfreundlicher. Bei ihr erfolgt der Einspruch des
Systems erst ‚hinter dem Mund’, also, wenn sie gegessen hat, weshalb sie sich dann den Finger in den Hals
steckt. Bei der Magersüchtigen lauert das System ‚vor dem Mund’ und erlaubt dem Essen erst gar keinen
Zutritt zum Magen.
Diese für das Verstehen der anorektischen Logik so zentralen innerpsychischen Vorgänge sind der Grund,
warum ich nicht bereit bin, manche Bausteine der klassischen psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie und
die aus ihr abgeleiteten klinischen Vorstellungen zur Melancholie einfach zugunsten moderner Konzepte über
Bord zu werfen, wie das in Teilen der psychoanalytischen community der Fall ist. Splitterfasernackt legt nahe,
daran festzuhalten. Kombiniert man diese Bausteine mit einem modernen, kommunikativen Setting, in
welchem der Patient nicht durch Schweigen ins Leere fällt, ließe sich mit Lilly therapeutisch arbeiten.
Man kann an der von Lindner lehrreich beschriebenen klinischen Bedeutung von Ana und Mia ermessen, was
passiert, würde man therapeutisch nur die Essstörung in den Blick nehmen und entsprechende Maßnahmen
anwenden: Man würde die Patienten in einen schweren Konflikt mit ihrem Überich und in eine narzisstische
Krise mit ihrem Ichideal stürzen. Sie würden solches Vorgehen wie „nackte Sexgewalt“ (108) erleben, aus
Schuldgefühlen es jedoch vermeiden, auf den „fehlenden Schneidezahn“ aufmerksam machen. Würde man nur
am Thema Hunger arbeiten und nicht seinen Vorläufern nachgehen, man käme nie an die Wurzeln der
Hilflosigkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die die Seele dieser Patienten seit ihrer Kindheit quält.
Eine Torte mit rosa Zuckerguss und Marzipanblüten
Wir konnten beobachten, dass Ana den entscheidenden Widerstand gegen eine Gesundung setzt. Lilly bleibt an
Anas Welt fixiert: „Aber mein Leben dreht sich trotz allem weiterhin nur um vier Dinge - um Ana, um Mia, um
das kleine Mädchen und um Schadensbegrenzung. Ich bin total besessen“ (221). Es wäre schön, wieder ein
ganz normales Mädchen sein zu können, so Lilly, aber sie sei splitterfasernackt. Auch wenn sie manchmal
halbwegs gesund aussähe, hieße sie seit Jahren Ana. Ana und Mia würden nie auch nur einen einzigen Schritt
von ihrer Seite weichen (303). Aber wir haben auch erfahren, dass ihr trotzdem eine wenn auch instabile
Besserung ihres körperlichen und seelischen Befindens gelingt. Das hängt damit zusammen, dass sie zwar
hungern will till the end, aber „nichts mehr möchte als endlich leben. Ich weiß: Das ist eine kaputte
Satzinteraktion.“ (66). Lilly entschuldigt sich, Anas Sprache sei schwer zu übersetzen, sie würde unverständlich,
sobald man versuche, sie zu erklären (vgl. 66). Es ist die Sprache der Ambivalenz zwischen
Triebwunsch/Körperbedürfnis und Gewissen/Perfektion/ Reinheit, die für die kaputte Satzkonstruktion
verantwortlich ist. Man muss sich als Außenstehender nur immer vergegenwärtigen, was gerade die Oberhand
hat, sonst gerät man wie Magersüchtige in Gefahr, das Überich/Ichideal-System namens Ana zu mystifizieren.
Unter dem Einfluss ihres Lebenswunsches bleibt es Lillys Traum, die Fixierung zu lösen. Für einen Moment
wisse sie genau, stelle sie sich klug an und wolle wirklich, werde sie Ana eines Tages an irgendeiner überfüllten
Kreuzung abschütteln und wieder frei sein, auch wenn sie dann für die nächsten Jahre auf der Flucht vor Ana
sein müsste (vgl. 300f.) Jetzt ist Ana der Feind. Der Kampf gegen das Überich beginnt. Verwirrend! Aber es hilft
nichts: Dass die Dinge der Seele so verschiedene Rollen und Bedeutungen einnehmen können, macht sie zu
einer komplizierten Angelegenheit.
Wie also Ana abschütteln? Mit Hilfe einiger Personen, die wir schon kennen! Z.B. Caitlin. Lilly findet sie schön
und aufregend, weil sie regungslos wie eine Fee dasteht, mit langen gewellten goldblonden Haaren in
sonnengelbem Kleidchen (vgl. 80). Also keine rabenschwarzen Augen. „Vielleicht könnte Caitlin eines schönen
Tages wieder auferstehen, und wir könnten nachts um drei bei mir in der Küche stehen und eine Torte mit
rosafarbenem Zuckerguss und Marzipanblüten darauf backen. Ich wäre so glücklich, [...], ich würde begreifen,
dass es nicht wichtig ist, jede einzelne Rippe unter der Haut hervorstechen zu sehen. [...] Ich würde es
irgendwann wagen, Ana mit einem Tritt vor meine Tür zu befördern und Mia gleich mit. Ich würde den beiden
die Stirn bieten und jeden Tag einen winzigen Schritt weiter zu mir selbst und zu den schrecklichen Kilos
kommen, die ein Recht darauf haben, Platz in dieser Welt einzunehmen“ (184f).
Wir lernen: Die schreckliche Ana ist nur nachts – da schläft das Überich - oder mit netten Frauen zu vertreiben,
denn Ana und Mia seien kein guter Ersatz für ein so großes und gütiges Herz wie das von Caitlin (vgl. 290). Nur
ein gutes (inneres) Objekt vermag von Ana zu erlösen. Hier noch eine Nette: „Aber an diesem Sonntag bin ich
ohne Ana unterwegs. Also teile ich mir mit Amy eine Streuselschnecke und trinke ein Glas Orangenlimonade
dazu. Es ist ein Abenteuer. Das letzte Mal, dass ich ein Getränk mit Zucker oder Süßstoff zu mir genommen
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habe, ist schon ewig lange her“ (233). Und noch eine: „… doch an diesem Abend esse ich trotzdem etwas. Nicht
viel, aber mehr als sonst. Für Lady, weil sie meine beste Freundin ist.“ (203).
Auch Thomas, dem ami maternel, gelingt es, Ana zu vertreiben, genauer: zu ertränken. „Thomas öffnet den
Verschluss von meinem BH so sorgsam, als wäre ich ein kostbares Wesen. Kostbar. Dabei weiß ich nicht einmal,
wie man das mit der passenden Betonung ausspricht. Hier zeigt sich an einer Winzigkeit die Fähigkeit der
Autorin zum Sprachspiel. Thomas reicht ihr eine Hand, um ihr in die Badewanne zu helfen. Lilly steigt hinein
und fühlt, wie das warme Wasser sich um sie legt. Die Temperatur ist genau richtig, und Lilly vergisst fast, dass
sie ihren Körper hasst. „Ana wispert etwas. Es geht unter und ertrinkt“ (172).
Caitlin, Amy, Lady, der mütterliche Thomas – sie alle stehen auf der Kreuzung und helfen Lilly Ana
abzuschütteln. Es sollte sich noch eine Analytikerin hinzugesellen, die sich aber bitte nicht durch verdrossene
Indifferenz zur Ana macht. Das mochte schon Freud nicht. Wäre diese Bedingung erfüllt, Ana wäre vermutlich
für immer ins Internet verbannt.
Ein Lachen voller Sterne
Schließlich darf ein ganz wesentlicher Versuch der Selbstheilung, der bei allen Essgestörten eine große Rolle
spielt, nicht unter den Tisch fallen. Lindner nennt ihn in einem Kapitel, das sie mit „Hauptspiel“ überschreibt
und das zugleich das letzte Kapitel des Buches ist, dessen Bedeutung wir schon an andere Stelle gewürdigt
haben: Das Schreiben eines Tagebuchs. Ein Tagebuch ist als Container und Beziehungspartner für essgestörte
Patienten von großer Bedeutung (vgl. Ettl, 2001). Und wieder bedient sich Lindner der Fremdschilderung,
wieder an der Figur der ihr Selbst vertretenden Hailie. Und wiederum ist es Chase, der ihr eine Geschichte
erzählt, diesmal von einem kleinen Mädchen mit langen Prinzessinnen-Haaren und einem Lachen voller Sterne.
Dieses kleine Mädchen lebte mutterseelenallein in einem großen Schloss an einem See, denn sein Vater
umsegelte gerade die Weltmeere, und seine Mutter, eine gute Fee, war auf der Suche nach dem ewigen Licht
der Güte. Das kleine Mädchen fühlte sich verlassen und vermisste seine Eltern. Eines Tages kam ein Vogel
geflogen, der in seinem Schnabel ein Päckchen trug. Als das Mädchen seine Hand danach ausstreckte, ließ der
Vogel es in seine Hand gleiten und flog davon. Das Mädchen öffnet neugierig das Päckchen und ist verdutzt: es
enthält ein Buch mit lauter leeren Seiten und einem Zettel: ›Dies ist ein Zauberbuch‹, ›Jede Geschichte, die Du
in dieses Buch schreibst, wird durch die Welt fliegen und anschließend zu Dir zurückkommen, um von einer
zauberhaften Reise zu berichten. Du wirst sie alle kennenlernen, die Kobolde, die Hexen, die Flammentänzer
und die Hüter der Freiheit. Du brauchst nichts weiter zu tun, als mir ein paar Worte zu schenken‹. Das kleine
Mädchen nahm aufgeregt einen Stift zur Hand und begann zu schreiben, vom Vater, „der immer die schönsten
Schätze mit nach Hause brachte“, von seiner Mutter, „der anmutigen Fee, mit den goldenen Flügeln“. Kaum
waren die ersten Sätze geschrieben, begann das Buch zu leuchten, und es ertönte ein Flüstern und Knistern,
das immer näher und näher kam. „Und von diesem Tag an musste das kleine Mädchen nie wieder einsam oder
traurig sein, denn das Zauberbuch hielt sein Versprechen und wisperte Wort um Wort, bis die Stille in dem
großen leeren Schloss gefüllt war mit den Geschichten der Welt, an denen das kleine Mädchen von da an
teilhaben durfte« (394).
Was für eine Geschichte! Aber nicht mehr überraschend für uns: Es ist die Geschichte einer gelungenen
Sexualentwicklung. Gelungen, weil sie klug und weise die Notwendigkeit eines zarten, einfühlsamen
Hineinwachsens in die Welt der Erotik betont, hier als Reise beschrieben, auf der das kleine Mädchen alle
Aspekte der Sinnlichkeit kennenlernen wird: Kobolde, Hexen, Flammentänzer und einen Hüter der Freiheit.
Den braucht sie, damit kein Vergewaltiger ihr die Freiheit nehmen kann. Wieso gelungene Sexualentwicklung,
wird der Leser fragen, und wie kommt sie in dieses Buch voller Schrecklichkeiten? Weil sie das Gegenstück zur
Bordellsozialisation ist, und deshalb steht sie unter „Hauptspiel“.
So wie der Vogel Symbol für den Penis ist - mit ihm wird schließlich „gevögelt“, aber auch der Spatz in der Hand
ist dem Volksmund geläufig – so ist die ganze Geschichte voller Sexualsymbolik vom Feinsten. Sie erzählt
davon, dass das Mädchen sich den Penis im Zuge seines Heranreifens aneignen muss, d.h. es muss aus dem
anatomischen Penis eines Partners einen persönlichen Penis für sich machen. Das hat nichts mit Penisneid zu
tun, sondern damit, dass es selbst herausfinden muss, wie sie ihn für ihre Lust nutzen kann, d.h. es muss ihn in
ihre Phantasiewelt einbauen dürfen, so wie es auch aus der anatomischen Vagina seine persönliche Vagina
machen muss. Auch Jungens müssen diesen Entwicklungsschritt machen, es geht hierbei nicht um
Geschlechtspezifisches. Auf diesem Hintergrund kann man die Geschichte, die Chase Hailie erzählt, lesen. Das
leere Buch könnte für die Empfängnisbereitschaft der Frau stehen. Da wir es hier aber mit einem kleinen
Mädchen zu tun haben, dürfte das Buch ein Tagebuch sein, in das die Prinzessin als langsam erwachendes
Glühwürmchen Seite für Seite ihre Phantasien um den Penis eines Prinzen und die Sexualität hineinschreiben
kann, um sich so allmählich die Welt der Erotik zu erschließen. Der Vergewaltiger hat Lilly diese Möglichkeit der
allmählichen Aneignung zerstört, indem er ihr den Penis brutal aufgezwungen hat. In der forcierten Progression
haben Geschichten und Märchen keinen Platz mehr. Kinder aber brauchen Märchen. Es scheint, als habe Lilly
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sich trotz aller erlebten Schrecken eine zarte Seite ihres Selbst retten können und diese kommt wieder zum
Vorschein, je mehr Kontakt sie zu ihrem Selbst aus der Zeit vor der Vergewaltigung findet. Und deshalb steht
diese Geschichte unter „Hauptspiel“, um die Bedeutung der Erotik im Leben zu betonen.
So lässt sich am Ende von Splitterfasernackt doch noch im Getöse der pornographisierten Welt die leise Stimme
der Seele vernehmen.
Ein schreckliches Buch. Ein lehrreiches Buch. Ein hoffnungsvolles Buch.
Literatur
Ettl, Th. (2001): Das bulimische Syndrom. Psychodynamik und Genese. Tübingen (edition diskord).
Ettl, Th. (2006): Mythos Essstörung. www.psychoanalyse-aktuell.de
Ettl, Th. (2010): Dünn-Dünner-Lollipopgirl. Körper im Internet. psychosozial, 33. Jahrgang, Nr.122, 2010, Heft IV,
63-77
Fenichel, 0. (1928): Über organlibidinöse Begleiterscheinungen der Triebabwehr. Int. Ztschr. f. PsA., XIV, 1928.
In: Grunert, J. (Hrsg.) (1977): Körperbild und Selbstverständnis. Psychoanalytische Beiträge zur Leib-SeeleEinheit. München: Kindler, 33-55
Ferenczi, S. (1932): Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit
und der Leidenschaft. Ders: Bausteine zur Psychoanalyse. Ullstein Materialien, Bd. III, 1984, 511-525
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