JONAS VON DER GATHEN IM GESPRÄCH MIT NIMA POUR JAKUB Fremd bin ich eingezogen … Er ist einer von jenen, die aus der Ferne kamen. Irgendwie gehört er aber schon lange hierher. Etwas in ihm hat sich tiefer eingelassen als bei vielen Einheimischen. Vielleicht ist er einer von vielen, auf die wir gewartet haben? Sein bester Freund im Iran, Shahrokh Zamani, ist gerade vor einer Woche im Gefängnis gestorben, als ich mit Nima Pour Jakub spreche. Vier Jahre vorher sind beide aktiv in der iranischen Zivilgesellschaft. Shahrokh engagiert sich in der Arbeiterbewegung – Nima kommt aus dem studentischen Milieu. Zusammen geben sie eine Zeitschrift im Untergrund heraus, die kritisch auf politische Vorgänge blickt. Ein Exemplar gelangt in falsche Hände. Die angeplante Allianz zwischen Studenten und Arbeitern – zwischen Kopf und Wille – scheint einigen im Land ein Dorn im Auge. Gleichzeitig werden beide verhaftet und landen in Einzelhaft. Shahrokh tritt für 32 Tage in einen Hungerstreik. Nima kommt nach drei Monaten nur durch ein finanzielles Opfer seiner Familie frei und flüchtet, teils zu Fuß. Im iranischen Gebirge, kurz vor der türkischen Grenze, hat er vor lauter Erschöpfung einen Moment den Tod vor Augen. Dass er es später bis in die Schweiz schafft, wird ihm zum Zeichen, dass das Leben noch eine Aufgabe bereithält. Am Anfang kennt er niemanden in der Schweiz. Durch eine Begegnung mit Thomas Stöckli lernt er die Waldorfpädagogik kennen und beginnt 2014 ein Studium an der Akademie für anthroposophische Pädagogik in Dornach. Seine Berufung sieht er einerseits darin, über den Iran und seine dortigen Erfahrungen zu berichten – vor Schulklassen oder bei der UNO. Außerdem bewegt ihn aus eigener Erfahrung die Flüchtlingsfrage. Wie können Kinder und Jugendliche in der Fremde ankommen? Wie können sie ihren individuellen Bildungsweg weitergestalten? 10 Jonas von der Gathen: Was war am fremdesten, als du in der Schweiz ankamst? Nima Pour Jakub: Im Iran habe ich von meinen Eltern gelernt, nie auf der Straße zu essen. Es gibt so viele arme Menschen, die es schwer hätten, das zu sehen. Dort gibt es Millionen Kinder, die bereits arbeiten müssen. In der Schweiz war ich verstört, als ich eine Frau am Bahnhof mit einem Sandwich sah. Öffentlich zu essen und zu trinken, ist hier normal, weil fast jeder sich das Sandwich leisten kann. Die Fremdheit liegt oft im Kleinen, kann seelisch aber groß wirken. Am schwierigsten waren die fremden, teilweise gefühllosen Gesichter morgens in der Bahn. Obwohl alle täglich zusammensitzen, sprechen sie nie miteinander. Man trinkt seinen Kaffee, isst sein Gipfeli, nimmt Papiere und einen Marker aus der Tasche und arbeitet vor – sehr organisiert, aber nicht nur im positiven Sinne. Am Abend kommen dieselben Leute todmüde zurück und ich frage mich: Was wollen sie von ihrem Leben? Wie war deine Beziehung zum Islam? Ich durchlief die typischen Jugendschwankungen. Eine Zeit lang praktizierte ich, betete täglich, dann phasenweise wieder gar nicht. Glücklicherweise habe ich offene Eltern, die nie sagten, jetzt ist Ramadan, jetzt musst du fasten. Meine Großmutter betet mehrmals am Tag, je älter sie wird, desto mehr. Generell sehe ich Beten als etwas Gesundes, man kann Kräfte bemerken, die hinter einem stehen. Aber auch diejenigen, die mich folterten, taten das, als ob sie beteten. Sie sehen das als Beweis für ihren Glauben. Meine Großmutter betet, dass die Armut aufhören möge. Als Jugendlicher erlebt man diese beiden Richtungen und fragt sich, wer recht hat. Beide beziehen sich auf dasselbe Buch, sprechen dieselben Worte im Gebet. Wie war aus diesem Hintergrund die Begegnung mit der Anthroposophie, mit dem Christlichen darin? Einmal habe ich mit einem gelehrten Anthroposophen über den Islam diskutiert. Wir nahmen den Koran zur Hand und haben ihn DAS GOETHEANUM Nr. 48 · 27. November 2015 · GESPRÄCH einfach aufgeschlagen. Es kam die Geschichte von Jesus, wo er Gott um Brot und Fisch bittet, um die Menschen zu speisen. Auch die Mariageschichte findet man dort. Das war für mich ein bestärkendes Bild, auch Gemeinsamkeiten aufzusuchen. Ich halte mich da an Faust: «Am Anfang war die Tat.» Am entscheidendsten ist doch, wie die Menschen aus ihrer Religion heraus handeln. Was ist nun deine Tat? Wir bearbeiten zwei Felder: einerseits Schweizer Schülern die Flüchtlingsproblematik näherzubringen, andererseits den Flüchtlingen in den Unterkünften pädagogisch zur Seite zu stehen. Mit einigen Zentren gibt es mittlerweile eine gute Zusammenarbeit, wo wir sowohl mit Schweizer Schulklassen zu Begegnungstagen hinfahren wie auch vor Ort waldorfpädagogische Elemente einbringen. Wo sind die Eltern dieser Kinder und wie haben sie den Weg bewältigt? Teilweise sind die Eltern noch im Heimatland. Wenn eine Familie nur Geld für die Flucht eines Kindes hat, schicken sie meist den ältesten Sohn los. Viele Kinder laufen bei anderen Familien mit, manche sind tatsächlich alleine unterwegs. Bei anderen sind die Eltern auf der Flucht oder bereits im Heimatland umgekommen. Wo siehst du die größte Belastung der Flüchtlinge? Für viele gibt es nichts Schlimmeres, als die Heimat zu verlieren. Von manchen hört man sogar: «Ich wäre lieber in Syrien gestorben, als die Flucht und diese Fremde zu erleben.» Sie verlassen ihre gewohnte Umgebung und bewältigen in fremden Sprachen so ziemlich jedes bürokratische Problem, das man haben kann. Alle durchleben ungewisse Wochen oder Monate des Wartens, mit wenig Essen, schlechtem Transport, ohne Schlafstätte oder Hygiene. Unterwegs treffen sie viele, die Nutzen aus ihrer Verunsicherung ziehen wollen. – Schaffen sie es irgendwo, aufgenommen zu werden, müssen sie von null anfangen. Untergründig bleibt die Frage: Will ich hier überhaupt ein Leben aufbauen? Die meisten wollen das nicht, sondern sobald wie möglich zurück. Wenn man eine Arbeit und Wohnung findet, bindet das auch. Man hängt immer ein bisschen zwischen dort und hier, hin- und hergerissen zwischen sich einlassen und nach Hause sehnen. Das zermürbt. Gleichzeitig denken die Daheimgebliebenen: Ihm in Europa geht es gut! Das stimmt äußerlich vielleicht, aber innerlich bleibt diese Zerrissenheit. Damit muss man leben. Wie wirkt diese Verunsicherung bei den Kindern und Jugendlichen, die ihr betreut? Das Heimweh – gerade bei Kindern – ist nicht zu unterschätzen. Ein Schweizer Familienvater, der Flüchtlingskinder während der Schulzeit aufnimmt, fragte uns, warum die Kinder über die Ferien – die sie meist in den Zentren verbringen – so unglücklich sind. Im Schulalltag sind sie wenigstens eingebunden, in den Ferien hängen sie in den Unterkünften und erinnern sich an ihre Familie, wie sie früher selbst in die Ferien fuhren. Auch die kulturellen Unterschiede: Hier beginnt das neue Jahr im Dezember, bei uns fängt es im Frühjahr an – ein großer Festtag –, da findet hier natürlich nichts statt. Gerade an solchen Tagen wirkt die Fremde größer. Kümmerst du dich vorwiegend um Flüchtlinge mit muslimischem Hintergrund? Nein, gemischt. Momentan sind in den Unterkünften vor allem Jugendliche aus Eritrea und Syrien. Ist das problematisch? In einem deutschen Flüchtlingszentrum habe ich erlebt, wie zwischen muslimischen und afrikanischen Erwachsenen auch herabschauende Haltungen aufkommen. Das gibt es schon, aber weniger unter den Kindern. Natürlich sind die meisten Eritreer Christen und die Syrer Moslems. Aber das gemeinsame Schicksal der Flucht verbindet auch. Viele haben wirklich genug von jeder Form von Fundamentalismus, weil sie erlebt haben, wohin das führt. Was sind gerade eure konkreten Vorhaben? Teilweise vermitteln wir Waisenkinder direkt in Schweizer Familien. Ansonsten suchen wir Schulen, die freie Plätze anbieten – bestenfalls in der Nähe der Unterbringungszentren. Viele bekommen dort zwar Unterricht mit Übersetzung, aber die Integration in lokale Schulen wäre oft sinnvoller. Da leisten wir Vermittlungsarbeit. – Außerdem stärken wir die Kunst vor Ort, eine unserer Partnerinnen bietet gerade eine Theaterepoche an. Wie funktioniert das sprachlich? Das ist für die Kunst ja glücklicherweise kein Hindernis. Gerade aus der Waldorfpädagogik heraus haben wir mehr Möglichkeiten als nur die Sprache. Wir haben Augen, Hände, Bewegungen oder Farben. Ich selbst unterrichte Mathe und Englisch und ein wenig Formenzeichnen im Zentrum Bäregg in Langnau – mit dieser Unterkunft hat sich die Zusammenarbeit sehr fruchtbar entwickelt. Wie viele leben dort? 70 – allerdings arbeiten wir momentan mit höchstens 20, weil wir nicht alles abdecken können. Sie haben auch ein straffes Programm dort: Viel Unterricht – wenn möglich außerhalb, sonst intern, außerdem Sprachkurse etc. In manchen Zentren gibt es sogar eher das Problem, das die Jugendlichen zu wenig Freizeit haben. An manchen Orten hängen sie aber auch viel herum und schauen fern. Die Stimmung der dortigen Mitarbeitenden ist aber durchweg warm. Alle Pädagogen müssen dort gerade dermaßen improvisieren, dass wirklich familiäre Gefühle aufkommen. Wo siehst du deine beziehungsweise eure Grenzen in der Arbeit? Was wir noch nicht leisten können, ist, das Therapeutische abzudecken. Zum Beispiel tief darüber zu reden, was sie erlebt haben. Da halten wir uns bewusst zurück. Und doch wirken die Elemente der Waldorfpädagogik ja durchaus therapeutisch. Viele der Kinder reagieren hochsensibel, je nachdem welche Gefühle man ausstrahlt: Ist man dort, um auf sie einzugehen, oder verlangt man vorgefertigte Sachen von ihnen. Das spüren sie sofort und gehen mit oder blockieren – die perfekte Ausbildung für einen Pädagogen. Außerdem arbeitet ihr auch von der anderen Seite her – wie reagieren Schweizer Schüler auf die Begegnung? Als ich neulich mit einer neunten Klasse in einem Zentrum war, sagte hinterher einer: «Herr Nima, ich habe heute gelernt, dass hinter jedem Menschen ein Gesicht steckt.» Das sind für mich die schönsten Geschenke. Viele Schüler sind so mit ihren Noten, Prüfungen und sich selbst beschäftigt, dass sie erst durch solch einen Besuch realisieren, dass da draußen wirklich eine andere Welt existiert – dass ganz andere Menschen mit ganz anderen Schicksalen direkt vor ihrer Haustür sitzen. Bei einem gemeinsamen Sporttag blieben die Gruppen erst mal getrennt, am Ende mischte sich das. Vor allem die Mädchen fingen an, ihre Nummern zu tauschen. – Die 12.-Klass-Schüler der Steiner-Schule in Basel und Aesch wollen nun eigenständig aktiv werden und Zentren regelmäßig besuchen, um Deutschkurse anzubieten. Dabei lernen sie selber sicher auch am besten. Wo liegen Zukunftsfragen? Na ja, gibt es andere Optionen, als Zäune zu bauen? Schaffen wir es, ein Leben zu denken, das nicht an den Landesgrenzen endet, sondern die Welt in die Sicht nimmt? Da interessiert mich, was die Anthroposophie beitragen kann. Beschäftigt sich beispielsweise die Sozialwissenschaftliche Sektion mit der Frage, was die soziale Dreigliederung zur Flüchtlingsfrage zu sagen hat? Da sehe ich Aufgaben für die kommenden Jahre. Einblicke und Kontakt über www.fluechtlingspaedagogik.ch · Oder über die Tagung ‹Waldorfpädagogik und die Begegnung mit Flüchtlingskindern›, 5. Dezember 2015, Rudolf-Steiner-Schule Steffisburg Fotografien von Jonas von der Gathen MR DAS GOETHEANUM Nr. 48 · 27. November 2015 · GESPRÄCH 11
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