Onlinebroschüre - Tempest Library

IM KRIEG
ALLESAMT
Texte, die infolge des Attentats
vom 13. November 2015 in Paris
und der damit verbundenen
Kriegsdynamik erschienen.
INHALT
Seien sie von Gott oder von der Republik,
nieder mit allen Soldaten!
[Anonym, Paris/Montreuil November 2015]
3
Im Krieg, allesamt
[Finimondo, 15. November 2015]
5
Angesichts des Krieges und des Belagerungszustandes: Lasst uns die Reihen durchbrechen
[Anarchisten, Brüssel, 23. November 2015]
10
Entnommen aus Dissonanz (Hrsg):
„Im Krieg, allesamt - Zusammenstellung von Artikeln von Anarchisten
aus Frankreich, Belgien, Italien und der Schweiz, die infolge des Attentats
vom 13. November in Paris und der damit verbundenen Kriegsdynamik
erschienen.“,
Zürich, 25. November 2015
DIE GANZE BROSCHÜRE MIT ALLEN TEXTEN GIBT ES HIER:
AUSTAUSCH.NOBLOGS.ORG
2
SEIEN SIE VON GOTT ODER VON DER REPUBLIK,
NIEDER MIT ALLEN SOLDATEN!
Menschen, die kaltblütig auf wehrlose und terrorisierte Leute schiessen,
Flugzeuge, die ganze Quartiere, Spitäler und Schulen bombardieren, Armeen, die einfallen, plündern, vergewaltigen. Dies sind die Szenarien, die
sich zeitlich und räumlich immer wieder wiederholen. Diese Übergriffe
werden im Namen von dem Kreuz oder des Propheten, der Rasse, des
Vaterlandes oder der Nation, der Demokratie oder Republik begangen.
Um sie zu rechtfertigen und zu legitimieren, sind diese Soldaten, welche
in die Menge schiessen, welche Flugzeuge steuern oder aus ihren Bunkern
Drohnen lenken, dazu erzogen worden, die zu tötende, zu bombardierende,
zu deportierende Masse von Leuten als Feinde der Sache zu betrachten,
welche sie verteidigen, als Ungläubige und Pervertierte, als Barbaren
und Wilde. Die Soldaten handeln stets im Namen einer übergeordneten
Ordnung, sie mittels der Gewalt aufzuzwingen oder zu verteidigen, ist ihr
Daseinsgrund, ihre Erziehung zur Gewalt wurde war immer begleitet von
einer Doktrin, von einer Idee oder von einer Religion. Sie haben gelernt,
zu gehorchen und auszuführen, ohne Zögern, ohne Skrupel.
Am eigenen Leib, in Paris, das Entsetzen angesichts von einem so systematisch organisierten Blutbad, den Schrecken, das Ohnmachtsgefühl
gegenüber dem Gesetz der Waffen, die verzweifelte Suche nach den Nahestehenden, die Psychose zu erfahren, heisst, am eigenen Leib zu erfahren, was von Millionen von anderen Männern und Frauen an zahlreichen
anderen Orten der Welt, in anderen Regionen, Städten und Dörfern erlebt
wird. Sei es im Irak oder in Kurdistan, in Ägypten oder in Nigeria, in
Syrien oder in Palästina, in Libyen oder in Mali, auf den Strassen von Ankara oder von Kabul, von Sanaa oder von Beirut... Es ist derselbe Terror,
erzeugt von demselben Durst nach Herrschaft, von demselben Verlangen
nach Macht und Reichtum.
Menschen im Anzug oder in der Tunika, die in Luxushotels oder -restaurants Verhandlungen führen, Geschäftemacher des Öls oder des Gases,
der Waffen oder der Atomkraft, der Pharmazeutik oder der Agrarindustrie,
der Immobilien oder der Drogen. Angesehene Unternehmensmanager und
3
Mafiabosse, Staatschefs und Kardinäle, Imams und Rauschgifthändler.
Dies sind die grossen Bosse einer Welt, die auf Autorität und Geld beruht,
einer Welt, in welcher der grösste Teil der Menscheit im absolutesten
Elend lebt. Sie teilen untereinander auf und streiten sich um alles, was
sie “Ressourcen” nennen, einschliesslich Männern und Frauen, welche
auf den Status von auszubeutendem Rohmaterial reduziert werden. Sie
verfügen über Waffen und Milizen, die bereit sind, ihre Interessen durchuzusetzen, aber auch über Armeen von “Experten” (Wissenschaftlern,
Ingenieuren, Architekten, Kommunizierern, Journalisten...), welche das
technische Know-How sicherstellen und die Zustimmung und die Legitimation fabrizieren, die sie brauchen.
Heute hören wir sie von bedrohter Nation, von Zivilisation gegenüber der
Barbarei, von Nationaler Einheit, und von anderen Phantasmen dieser Art
sprechen, gleichzeitig wie sie den Ausnahmezustand proklamieren und
die Grenzen den Millionen von Verzeifelten verschliessen, welche vor
dem Krieg und dem Elend fliehen, das sie kreiert haben. Sie haben uns
alle in ihre Kriege hineingezogen. Der Preis ist unser Leben selbst. Der
Preis ist die Kontrolle durch die Bullen und die Armee, welche sie gerne
unbegrenzt sehen würden.
Werden wir immer Zuschauer oder Opfer des Schreckens bleiben, der von
den Staaten (ob demokratisch oder nicht, ob islamistisch oder nicht), von
den Religionen und vom Markt generiert wird? Oder werden wir entscheiden, überall und mit allen Mitteln, die wir haben, zu kämpfen, um uns der
Macht und ihrer Armeen engültig zu entledigen, um eine freie Gesellschaft
aufzubauen, die auf den Bedürfnissen und Verlangen eines jeden und jeder
begründet ist, ohne irgendwelche Chefs, Bosse oder Priester? Lasst uns
revoltieren, lasst uns der Erpressung durch die Angst nicht nachgebe, lasst
uns ihr Kriegsprojekt verweigern. Lasst uns die Reihen durchbrechen.
Für das Leben, für den Ungehorsam, für die soziale Revolution!
Original auf Französisch, Originaltitel: „A bas tous les soldats !“,
anonym veröffentlichtes Flugblatt, dass auf den Straßen von Paris und
Montreuil verteilt wurde.
4
IM KRIEG, ALLESAMT
Im Jahr 1997 brachte die Filmindustrie von Hollywood einen Streifen
heraus, worin die Planung eines aufsehenerregenden Terroranschlags
in New York verbildlicht wurde, als eine Rache für den erfolgten Tod
der eigenen Lieben im Verlaufe von einem der vielen Bürgerkriege
(im Spezifischen jener von Bosnien-Herzegowina), die von den westlichen Regierungen geschürt werden. Es handelte sich um einen Film,
der für die Kinokassen gemacht war, nichts Besonderes, und der bald
in Vergessenheit geraten wäre, wenn nicht wäre, was im September 4
Jahre danach passierte. Im Nachhinein versäumte es dieser Film nicht,
die Aufmerksamkeit mancher auf sich zu ziehen. Nicht per Zufall. Es
kam darin nämlich eine Szene vor, in welcher der Attentäter deutlich
die Gründe erklärte, welche ihn dazu angetrieben haben – ihn, als
reifen und gebildeten Mann –, eine solche Tat zu begehen. Nun, so
sehr sie auch in den Film des Spektakels eingewickelt waren, so hatten
diese Gründe überhaupt nichts filmisches. Im Gegenteil, es war leicht
zu ahnen, dass diese in der Brust von Dutzenden und Hunderten von
Tausenden von auf der Welt verstreuten Menschen in Fleisch und Blut
pochten.
«Angesichts von meiner Tat würdet ihr sagen: „ist ja klar, wieso nicht?
Das ist eine Herde von Tieren. Die massakrieren sich gegenseitig seit
Jahrhunderten“. Aber die Wahrheit ist... dass ich kein Monster bin.
Ich bin ein Mensch genauso wie ihr, ob es euch gefällt oder nicht. Wir
haben während Jahren versucht, zusammen zu leben, bis wir uns im
Krieg befunden haben, allesamt. Ein Krieg, den unsere Führer gewollt
haben. Aber wer hat die serbischen Streubomben, die kroatischen Panzer, die Munition der [bosnischen] muslimischen Artillerie geliefert,
die unsere Kinder töten? Es waren die westlichen Regierungen, welche
die Grenzen von unserem Land gezogen haben, manchmal mit Tinte,
manchmal mit Blut, dem unseres Volkes. Und jetzt schickt ihr eure
Friedenskräfte, um ein weiteres Mal unser Schicksal zu schreiben. Wir
können diesen Frieden nicht akzeptieren, der uns nur den Schmerz
5
lässt, jenen Schmerz, den auch die Befrieder empfinden sollten: ihre
Frauen, ihre Kinder, ihre Häuser, ihre Kirchen... Hier, jetzt wisst ihr
es, jetzt müsst ihr es begreifen. Lasst uns unser Schicksal finden. Möge
Gott Erbarmen mit uns allen haben».
Aber Gott existiert nicht und somit hat er kein Erbarmen für niemanden. Die Befrieder wissen es, aber, obwohl sie so einige Informationen
haben, begreifen sie es nicht, können sie es nicht begreifen, wollen
sie es nicht begreifen. Was ein Drehbuchautor mit der Vorstellungskraft erfasste, das sehen Scharen von Politikern und Journalisten und
gewöhnlichen Bürgern nicht einmal dann, wenn sie uns wieder und
wieder auf die Fresse schlagen. Sonst würden sie sich heute, am Tag
nach den Kriegsakten, die in Paris für ein Blutbad sorgten, nicht so
sehr abmühen, sich zu fragen, wie dies geschehen konnte, wie es möglich war, das gute und alte und zivile Europa mit so viel Brutalität zu
schänden. Vierzehn Jahre nach jenem 11. September haben diejenigen,
die den Krieg zu uns nach Hause bringen kommen, nicht einmal den
Skrupel, sich gegen ein strategisches Ziel zu richten. Sie greifen nicht
zeitgleich
Symbol-Strukturen der feindlichen Macht an (wie es das Pentagon
und das World Trade Center waren), und sie gehen auch nicht auf
Schlangennester los (wie die Redaktion des blasphemischen Charlie
Hebdo wahrgenommen wurde). Nein, sie metzeln direkt einen jeden
beliebigen nieder, blind drauf los, indem sie in die Menge schiessen.
Vielleicht versuchen sie, einen Präsidenten der Republik ins Visier
zu nehmen, aber dann, wenn er sich im Stadion inmitten von Fans
befindet; sie eröffnen das Feuer auf Kunden von Bars und Restaurants,
die nur essen und trinken wollen; sie verüben ein wahres Abschlachten
von Zuschauern an einem Musikkonzert. Das ist der Schrecken, der
heute so bestürzt und niedergeschmettert lässt. „Das ist ein Angriff
gegen die Menschheit“, haben viele gesagt, nicht gegen eine feindliche Regierung, nicht gegen eine konkurrierende Wirtschaft, nicht
gegen einen rivalisierenden Gott, sondern gegen einfache Menschen,
6
die beabsichtigen, ihren Alltag zu leben. Und es stimmt, es ist ein
Angriff gegen die Menschheit. Bleibt sich nur zu fragen, von welcher
Menschheit gesprochen wird.
Es ist die Menschheit, die ausser sich gerät nach einem Tor, die
Menschheit, die rülpst nach einem üppigen Mahl, die Menschheit,
die den ganzen Abend lang sorgenfrei tanzt. Nichts Schlimmes, das
wäre ja noch. Aber diese Menschheit, welche zahlt und beansprucht,
ihr Recht auf die Schwelgerei des Wochenendes zu geniessen, und
welche es deshalb schaudert ab den 129 Toten eines Freitagabends in
Paris, das ist dieselbe Menschheit, welche schnauft und sich langweilt,
wenn sie jemand daran erinnert, dass der Krieg in Syrien innert 4
Jahren 300′000 Tote verursacht hat (das sind etwa 200 pro Tag, jeden
Tag), oder dass die Toten im Irak seit Beginn der Feindlichkeiten auf
500′000 geschätzt werden (das sind mehr als 100 pro Tag, jeden Tag).
Es ist dieselbe Menschheit, die am Tag zuvor das Massaker, welches
in Beirut von denselben Gottesbesessenen begangen wurde, fast gar
nicht bemerkte. Es ist dieselbe Menschheit, die am vergangenen 3.
Oktober zuerst über die Bombardierung eines afghanischen Spitals
durch die amerikanische Luftwaffe klagte, und sie anschliessend wieder vergass, kaum dass die Regierung mit den Sternen und Streifen
ihre Entschuldigungen präsentierte. Damals haben die vom Geruch
des Blutes aufgebrachten Journalisten nicht gegen die christlichen
Bastarde gedonnert, haben die Schöngeister keine Mahnwachen organisiert, keine Kerzen auf den Plätzen, keine Schriftzüge mit “Je suis
Kunduz” überall.
Die Menschheit, von der gesprochen wird, ist die zivile, gebildete,
tolerante Menschheit, oder anders gesagt, diejenige, die in einer mehr
oder weniger laizistischen kapitalistischen Gesellschaft lebt. Wer in
einer fundamentalistischen theokratischen Gesellschaft lebt, ist nicht
Teil der Menschheit, ist bloss ein Monster. Denn man muss Monster sein, um auf diese Weise hunderte von unschuldigen Personen
niederzumetzeln. Die zivilen Wesen, welche die Menschheit bilden,
7
drücken, wenn sie unterschiedslose Massaker begehen wollen, auf
einen Knopf. Monströs ist es, sich die Hände mit Blut zu beschmutzen, zivil ist es, mittels von Maschinen abgeworfenen Sprengkörpern
Massaker zu begehen. Monströs ist es, mit zwanzig Jahren freiwillig
dem Tod entgegenzutreten, zivil ist es, bis achtzig freiwillig der Agonie zu gehorchen. Monströs ist es, auf Befehl von religiösen Führern
auf französische Passanten zu schiessen, zivil ist es, auf Befehl von
politischen Führern auf arme brasilianische Kinder zu schiessen (es
war just die UNO, nur einen Monat her, welche die laufende “erhöhte
Anzahl von Standhinrichtungen von Kindern” durch die brasilianische Polizei anprangerte, aber spricht jemand davon?). Monströs ist
es, seinen Feind abzuschlachten, zivil ist es, ihn aus Distanz zu töten
oder ihn ein Leben lang hinter vier Mauern einzusperren. Monströs ist
es, zu glauben, dass den Kriegsmärtyrer im Paradies zweiundsiebzig
Jungfrauen erwarten, zivil ist es, zu glauben, dass den Märtyrer der
Arbeit im Alter die Pension erwartet (der vielleicht nicht zögert, an
den Sohn Gottes zu glauben, welcher Wunder bewirkt und von einer
Jungfrau geboren wurde). Monströs ist es, zu fordern, dass die Frau
unterworfen ist und dass sie herumgeht, ohne ein Stückchen Haut zu
zeigen, zivil ist es, anzustreben, dass die Frau unterworfen ist und
dass sie möglichst entkleidet herumgehen kann. Monströs ist es, die
Religion der Wüste zu predigen, zivil ist es, die Religion der Börse
zu predigen. Monströs ist es, sich mit der Kriegsplünderung zu bereichern, zivil ist es, sich mit dem Waffenhandel zu bereichern. Monströs
ist der Islamische Staat, welcher Kriegsakte gegen diejenigen bekennt,
die lachen und sich vergnügen, zivil ist der demokratische Staat, der
Kriegsakte gegen diejenigen rechtfertigt, die weinen und leiden.
Dies ist, was die heute so bestürzte Menschheit ist. Die Menschheit, die
sich auf Anordnung empört und rührt, für welche die Akte von Terrorismus, die anderswo und gegen die anderen begangen werden, richtig
und notwendig sind, während diejenigen, die hier zum eigenen Schaden
begangen werden, wahnsinnig und grausam sind. Eine Menschheit, für
welche die Massaker enden, sobald die Fernsehnachrichten enden. Nur,
8
in Kriegszeiten wie jenen, die wir durchleben, enden die Massaker
nicht. Für jene, die es noch nicht bemerkt haben: sie enden nicht
mehr. Wenn die Soldaten von ISIS am vergangenen 10. Oktober in
Ankara für hundert Tote zu sorgen vermochten, weshalb sollten sie
nicht einen Monat später in Paris noch einige mehr machen können?
Etwa, weil die ersteren bereit waren, gegen das Kalifat die Waffen
aufzugreifen, während sich die zweiteren darauf beschränkten, aus
Distanz dagegen anzufeuern? Oder etwa, weil die islamischen Kopfabschneider im Grunde diesen Regierungen dankbar sein müssten,
welche sie viel weniger bekämpfen als sie ankündigen und als sie
könnten? Nicht nur bleibt die Hauptfinanzierungsquelle des ISIS von
den Luftschlägen “gegen den Terrorismus” ausgenommen, da es sich
um recht gewinnbringende Erdölgruben handelt, sondern so, wie im
März 1991 diejenigen, die im Irak zum Schall von Bomben Demokratie exportierten, dem Tyrannen Saddam Hussein erlaubten, den im
Land ausgebrochenen Aufstand niederzuschlagen (eine Repression,
die für 750′000 Opfer sorgte), so hat man heute keinen Finger gerührt,
um Assad daran zu hindern, den syrischen Aufstand niederzuschlagen,
und tut man alles, nur um die Selbstregierung der Kurden in Rojava
zu verhindern.
Lasst uns Schluss machen mit der Entrüstung und der Überraschung.
Genug der Heuchelei. Wir befinden uns im Krieg, allesamt. Ein Krieg,
den unsere Führer gewollt haben. Wer hat die Phosphorbomben gebaut,
die Falludscha niedergebrannt haben, wer hat die Piloten ausgebildet,
die Gaza bombardiert haben, wer hat die Geheimdienste mit Informatiktechnologien ausgerüstet, die in Damaskus getötet haben? Es waren
die Regierungen, es waren die Multinationalen. Regierungen, die auf
demokratische Weise gewählt wurden, Unternehmen, die auf zivile
Weise arbeiten. Hier, bei uns zuhause. Man weiss es, aber man begreift
es kaum. Dies ist, weshalb es kein Mitleid für niemanden gibt, nicht
einmal für uns selber (wir, grosse Revolutionäre, die wir gerne alles
auf den Kopf stellen würden, gegen das ganze Bestehende in den Krieg
ziehen würden, aber die wir nicht mehr in der Lage sind, jemanden auf
9
den Tod zu hassen, nicht einmal unsere schlimmsten Feinde). Dies ist,
weshalb es nunmehr nur noch Raum für den Terrorismus gibt. Nach
langen Jahrzehnten der Bewusstseinstrübung, der Intelligenzverdünnung, der Sensibilitätsbetäubung und der Muskellähmung, haben die
Katastrophen und die Bürgerkriege schöne Tage vor sich. Die Freiheit
und die Revolution viel weniger.
Und es ist nun leicht, vorauszusehen, was geschehen wird. Gegen
die eiserne Faust der Sharia, die eiserne Faust des Zivil- und Strafgesetzbuches. Notstand, Ausnahmegesetze, grössere Kontrolle, weniger
Freiheit für alle. Gegen die Gefahr, durch islamistische Hand zu
sterben, die Sicherheit, durch demokratische Hand dahinzuvegetieren. Und Repressalien, selbstverständlich, welche neue Repressalien
schüren werden, in einem endlosen Teufelskreis. Mit der reaktionären Meute, welche dazu anstacheln wird, die Fremden als solche zu
hassen, und dem progressistischen Gesocks, welches dazu auffordern
wird, die Fremden als solche zu lieben. Und wer keine Position zu
ergreifen hat innerhalb von diesen Lagern, wer kein “uns” um sich
sieht, worin er sich identifizieren kann, wer diesem hirnverbrannten
und terroristischen Krieg desertieren will, weil es ein anderer Krieg
ist, den er kämpfen will – gegen jeden Gott, gegen jeden Staat –, der
wird sich immer mehr umstellt und überwacht sehen.
Aber nur wir können Mitleid mit uns haben. Ein tiefes Durchatmen,
und lasst uns jede Verzweiflung und Erschütterung verlassen. Die
Tränen verblenden die Augen noch mehr als das Blut. Allem Schein
zum Trotz, wir werden nie völlig ohnmächtig sein in dem Versuch,
Unordnung, Sakrileg und Subversion zu verbreiten.
Finimondo, 15. November 2015
Original auf Italienisch, Originaltitel:
„In guerra, tuttiquanti“, anonym veröffentlicht auf finimondo.org.
10
ANGESICHTS DES KRIEGES
UND DES BELAGERUNGSZUSTANDES:
LASST UNS DIE REIHEN DURCHBRECHEN
Belagerungszustand in Brüssel. Hunderte von Soldaten sind in den
Strassen postiert, Tausende von Polizisten durchziehen die Strassen der
europäischen Hauptstadt. Schulen und Universitäten sind geschlossen,
das Transportnetz ist praktisch stillgelegt. Die Strassen sind mehr und
mehr verlassen, die Angst sucht die Gemüter heim. Die Kontrollen
auf den Strassen häufen sich und werden mit dem Maschinengewehr
an der Schläfe durchgeführt. Wenn der Raum von den Kräften der
Macht zugestellt ist, so scheinen es die Geister ebenfalls. Und dies ist
vielleicht noch schlimmer.
Die Zeiten, in denen die europäischen Staaten mittels Luftschlägen, Besatzungen, Eröffnung von neuen Märkten, ungehemmter Ausbeutung
und Plünderung der Ressourcen anderswo auf der Welt Krieg führen,
und dabei gleichzeitig ihre Territorien vor wenn nicht genau gleichen,
so jedenfalls derselben Logik folgenden Kriegsakten bewahren konnten, scheinen vorbei. Der Krieg hat die französische Hauptstadt mitten
im Herzen getroffen, und er wird nicht heimlich verschwinden. Und
jede Kriegslogik befürwortet es, in die Menge zu schlagen. So, wie
es die Staaten seit ihrem Bestehen, gegen ihre eigenen Untertanen
und gegen die Untertanen von anderen Staaten tun. Wie es all jene
getan haben und tun, welche danach streben, die Macht zu erobern,
ihre Herrschaft aufzuzwingen. Sei sie nun islamistisch oder republikanisch, demokratisch oder diktatorisch. Denn es ist, indem man die
Freiheit, die Freiheit von jedem Individuum, mit Füssen tritt, wodurch
sich die Herrschaft einrichtet. Autorität und Freiheit schliessen sich
gegenseitig aus.
Im Krieg spielt man also nach den Regeln des Krieges. Die Sättigung
der Gemüter durch den Diskurs der Macht eliminiert die Räume
des Kampfes für die menschliche Emanzipation, oder drängt sie
11
jedenfalls an den Rand, mehr noch als sie es zuvor getan hat. Die
Mobilisierung will total sein. Entweder mit dem Staat oder mit ihnen
– und diejenigen, die nach etwas ganz anderem streben, die gegen die
Unterdrückung und die Ausbeutung kämpfen, all die Abertausenden
von Rebellen und Revolutionären, welche von den etablierten oder
im Aufbau befindlichen Staaten ermordet und massakriert wurden,
welche in allen Ecken der Welt verfolgt werden, sie sollen sich nunmehr als im Abseits betrachten. Auf dem Altar der bereits völlig von
Blut durchtränkten Macht warten Tausende von weiteren, bis sie an
der Reihe sind, geopfert zu werden.
Wer ist verantwortlich? Brauchen wir daran zu erinnern, wo die
Phosphorbomben hergestellt worden sind, welche Falludscha niedergebrannt haben, wer den Geheimdiensten von Assad, von Sisi die
Informatiktechnologien geliefert hat, wer die Piloten ausgebildet hat,
welche Gaza bombardierten? Brauchen wir daran zu erinnern, wie das
Kobalt und Silizium für die technologischen Geräte aus den Tiefen
von Afrika abgebaut werden, wie all die Konsumprodukte produziert
werden, die wir in den Regalen der Supermärkte und der Läden finden?
Brauchen wir daran zu erinnern, wie der zivilisierte Kapitalismus seine
Hunderten von Arbeitslager, von Bangladesh bis Mexiko verwaltet?
Woher die dunklen Schatten der Drohnen kommen, welche überall
auf der Welt zuschlagen? Wie und im Namen von was Tausende von
Personen seit Jahren im Mittelmeer ertränkt werden? Kommt, sagt es,
wer ist verantwortlich?
Aber wenn unsere Augen von Revoltierenden mit gutem Grund nach
oben blicken, um die Antwort zu finden, so müssten sie auch in uns
selber blicken. Denn in den Zeiten, die kommen, und bereits in den
Zeiten, die sind und die waren, ist es unsere Passivität, wodurch wir zu
Komplizen unserer eigenen Unterdrückung geworden sind. Und diese
Passivität ist nicht nur die Untätigkeit der Arme, es ist auch das Projekt
von programmierter Abstumpfung seit Jahrzehnten durch die Macht,
welche uns der Werkzeuge beraubt hat, um die Realität zu verstehen,
12
um unsere Wut zu verstehen. Welche uns jeglicher Sensibilität, die nicht
in Abhängigkeit von den Anforderungen des Moments dekretiert wird,
jeglicher Fähigkeit, zu träumen, beraubt hat. Es ist daraus, aus diesem
Programm von Reduzierung des Menschen, woraus heute diejenigen
hervorkommen, die sich entscheiden, Blutbäder anzurichten, sich am
Spiel der Macht zu beteiligen, ihrerseits ebenfalls zu massakrieren. Es
wäre dumm, hätten wir geglaubt, dass ihre Blutbäder auf die Mächtigen und ihre Strukturen abzielen würden. Der moderne Krieg in der
hypertrophierten Welt der Technologie und des Massakers aus Distanz
erlaubt keine solchen Subtilitäten mehr, falls denn solche Subtilitäten
im Kopf von Menschen im Krieg jemals hätten existieren können.
In den Quartieren von Brüssels, heute unter militärischer Besatzung,
ist, das muss man sagen, alles aufgewandt worden, um der sozialen
Revolte den Stöpsel aufzudrücken, um der Wut gegen eine schreckliche und grausame Welt einen Dämpfer aufzusetzen. Seien es nun die
Staatsbürgerschafts- und Demokratieförderungskurse (während man
gleichzeitig Bomben abwirft), seien es die von der Religion offerierten
Kontrollmechanismen, oder sei es die massive Zudröhnung durch die
technologischen Geräte: alles lieber als die Revolte. Und manchmal
entweicht dieses Spiel auch den Händen der Macht, wie das heute
geschieht. Und hier kommen die Schläge in die Menge. Umso mehr,
wenn die Vorspiegelung von einer himmlischen Belohnung auftaucht,
welche seit Jahrhunderten und bis heute Millionen von Sklaven in
Erwartung der versprochenen Erlösung unter dem Joch zu halten
vermochte. Gewissermassen wenden sich die Jahrzehnte, in denen der
belgische Staat den Islam benutzt hat, um die Gemüter zu beruhigen,
um die Kontrolle über die Gemeinschaften der Ausgeschlossenen zu
wahren, um die sozialen Widersprüche zu verwalten, heute gegen ihn.
Aber mehr noch vielleicht gegen die Möglichkeit und die Perspektive
von einer befreienden Revolte.
Angesichts der Militarisierung des Raumes und der Militarisierung
der Geister, angesichts des Krieges, in den uns die Staaten und die
13
Machtanstrebenden reissen; und im Wissen, dass wir mehr und mehr
an den Rand gedrängt werden, sollte die Anstrengung sich auf die
absolute Verweigerung konzentrieren, in das Spiel einzusteigen. Und
diese Verweigerung impliziert auch die Zurückweisung der Regeln,
welche sie dabei sind, aufzuzwingen. Heute keinen Lärm machen. Zuhause und somit in den Reihen bleiben. Den Platz den Terroristen der
Demokratie und den Terroristen des Kalifats abtreten. Dass es schwierig sein wird, diese Besatzung zu durchschlagen und die Regeln dieses
Spiels zu brechen, steht ausser Zweifel. Die Wahl des Deserteurs,
desjenigen, der sich weigert, für die Mächtigen Krieg zu führen, hat
ihn schon immer tausend und einer Repression ausgestellt. Aber wer
weiss, ob sich am Rande nicht andere Zurückgewiesene finden, andere
Deserteure, andere Ausgeschlossene, andere Geopferte, mit welchen
man den laufenden Krieg sabotieren und, voller Ungestüm, für Ideen
kämpfen kann, die sich gegen jede Macht sträuben. Wer weiss, ob nicht
an jenem Rand, in jener Ecke, die stolze Internationale, welche alle
Autoritäten herausfordert, inmitten von einer durch den Bürgerkrieg
zerrissenen Welt, wieder aufleben wird?
Wenn das Letzte, dem wir jetzt entsagen würden, eben das Verlangen
nach der Freiheit und der Traum ist, welcher unseren Geist zu schärfen,
unser Herz zum Schlagen zu bringen und unsere Hände zu bewaffnen
vermag, so müssen wir gleichzeitig auch die Anstrengung machen, der
Realität ins Gesicht zu blicken. Die Räume verengen sich, das Blut
floss bereits, fliesst heute und wird noch mehr fliessen, der Kampf
für die Freiheit und die Revolution hat zweifellos schwierige Zeiten
vor sich. Die Bedingungen, worin sich der revolutionäre Kampf
entwickeln soll, verschlechtern sich und nach dem Massaker an den
Volkserhebungen der letzten Jahre in zahlreichen Ländern kommt
auch für uns, die wir uns auf dem europäischen Kontinent befinden,
der Moment, wo ein jeder und eine jede sich der Frage wird stellen
müssen, die möglicherweise schrecklich an Konsequenzen, aber reich
an Herausforderungen ist: sind wir, trotz allem, bereit, für die Freiheit
zu kämpfen?
14
Anarchisten
Brüssel, 23. November 2015
Original auf Französisch, Originaltitel:
„Face à la guerre et l’état de siège : rompons les rangs“.
15
16