ERÖFFNUNGSVORTRAG Malu Dreyer 1 1. Begrüßung Sehr

ERÖFFNUNGSVORTRAG
Malu Dreyer 1
1.
Begrüßung
Sehr geehrter Herr Voßhoff, sehr verehrte Schwestern, sehr geehrte Frau Dr. Lohse, sehr
geehrter Herr Dr. Breitmaier, Herr Dekan Dr. Babelotzky, liebe Klinikseelsorgerinnen,
sehr geehrte Referentinnen und Referenten, meine sehr geehrten Herren und Damen
ich freue mich, dass das Krankenhaus „Zum guten Hirten“ das zehnjährige Bestehen seiner
psychiatrischen Abteilung zum Anlass nimmt für eine Fachtagung, die für mich als
Gesundheits- und Sozialministerin doppelt spannend ist.
2. Gratulation und Dank an die Abteilung
Bevor ich jedoch auf die „Psychiatrie und die soziale(n) Fragen“ zu sprechen komme, möchte ich
zunächst die Gelegenheit nutzen, Ihnen sehr geehrter Herr Dr. Breitmaier, Herr Voßhoff
und Ihnen, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum 10jährigen Jubiläum Ihrer Abteilung
für Psychiatrie und Psychotherapie zu gratulieren.
Ich verbinde meine Gratulation mit einem herzlichen Dank für Ihre gute Arbeit in der
psychiatrischen Versorgung hier in Ludwigshafen.
Ich erinnere mich noch gut an meinen Besuch anlässlich Ihres 5- jährigen Jubiläums. Auch
dieses Jubiläum haben Sie schon mit einer Fachtagung begangen. Das Thema damals war die
Weiterentwicklung der Gemeindepsychiatrie. Sie selbst konnten damals schon auf eine
spannende und erfolgreiche Aufbauzeit zurückblicken.
Die große Nachfrage nach einer Behandlung in Ihrer Abteilung hat 2008 zu einer Ausweitung
Ihrer Kapazitäten auf 74 Betten und 24 tagesklinische Plätze geführt. Diese wachsende Belegung
hat verschiedene Ursachen, ganz sicher spielt aber auch der gute Ruf Ihrer Abteilung eine
wichtige Rolle.
Diesen guten Ruf haben Sie in den vergangenen fünf Jahren weiter festigen und ausbauen
können. Sie leisten eine hervorragende Arbeit in der Klinik und Sie waren von Anfang an und
sind bis heute einer der stärksten und engagiertesten Partner im Gemeindepsychiatrischen
Verbund der Stadt Ludwigshafen. Von ihrer Eröffnung an haben Sie eng mit den sogenannten
komplementären und ambulanten Assistenz- und Unterstützungsangeboten in Ludwigshafen
zusammengearbeitet. Sie betreuen außerdem selbst ein Wohnhaus für Menschen mit chronischen
seelischen Störungen in einem Ludwigshafener Stadtteil.
Lieber Herr Dr. Breitmaier, die gute Arbeit Ihrer Abteilung hat auch ganz viel mit Ihnen
persönlich zu tun. Ich möchte Ihnen herzlich danken für Ihre Arbeit in Ludwigshafen, aber
auch dafür, dass Sie sich so intensiv für die Weiterentwicklung der psychiatrischMalu Dreyer, Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen des Landes RheinlandPfalz
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psychotherapeutischenen Versorgungsstrukturen in Rheinland-Pfalz, aber auch bundesweit
engagieren. Ich überschaue nicht Ihre vielfältigen bundesweiten Aktivitäten, aber ich weiß,
wie viel Sie für die Weiterentwicklung der Psychiatrie in Rheinland-Pfalz tun. Sie haben zum
Beispiel in unserem Landesprojekt „Kinder psychisch kranker Eltern“ mitgearbeitet und
waren maßgeblich beteiligt an der Erstellung von Leitlinien zur Arbeit der Tageskliniken in
Rheinland-Pfalz. Sie sind einer unserer hochgeschätzten Experten und Ratgeber. Vielen Dank
für Ihr großes Engagement!
3.
Exklusion – die neue soziale Frage
Die Psychiatrie und die soziale(n) Frage(n) so haben Sie die heutige Fachtagung überschrieben.
Die soziale Frage meinte ja ursprünglich die Auseinandersetzung mit den sozialen
Missständen, die mit der Industriellen Revolution einhergingen. Wir wissen um diese
Verhältnisse aus Zeitzeugenberichten, Büchern und Filmen: die katastrophalen Arbeits- und
Lebensbedingungen, Unterernährung, frühes Siechtum, Wohnungsnot in den anwachsenden
Großstädten. Der französische Schriftsteller Emile Zola hat diese dramatischen Zustände
besonders packend und lebendig beschrieben. Es lohnt sich, ihn zu lesen, um ein eindrückliches
Bild für die damalige Zeit zu bekommen.
Was aber ist die soziale Frage heute in einer Zeit, in einem Land, in dem arme Menschen in
der Regel ihre Grundbedürfnisse befriedigen können?
Unsere heutige soziale Frage ist die soziale Ausgrenzung, die Exklusion einer wachsenden
Zahl von Menschen. Nach der für die Sozialberichterstattung der EU gültigen Definition handelt
es sich dabei um einen „Prozess, durch den bestimmte Personen an den Rand der Gesellschaft
gedrängt und durch ihre Armut bzw. wegen unzureichender Grundfertigkeiten oder fehlender
Angebote für lebenslanges Lernen oder aber infolge von Diskriminierung an der vollwertigen
Teilhabe gehindert werden.
Diese soziale Ausgrenzung hat viele Dimensionen: sie findet statt als Ausgrenzung am
Arbeitsmarkt, als ökonomische und kulturelle
Ausgrenzung, als Ausgrenzung durch
gesellschaftliche Isolation und schließlich auch als räumliche Ausgrenzung.
Der letzte Armutsbericht der Bundesregierung zeigt deutlich die wunden Stellen. Die Schere
zwischen „arm und reich“ bewegt sich weiter auseinander, die Bedeutung der Mittelschicht
nimmt ab.
35 bis 40 Prozent der Kinder, die nur mit einem Elternteil aufwachsen, leben in relativer Armut
und bleiben oft auch über lange Phasen der Kindheit arm.
Die Bildungschancen eines Kindes hängen in Deutschland viel stärker als in anderen Ländern
davon ab, wo es lebt und woher es kommt.
Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund haben deutlich schlechtere Bildungschancen: Sie
besuchen in den ersten Lebensjahren seltener einen Kindergarten und sind an Sonder- und
Hauptschulen stark überrepräsentiert.
4. Psychische Erkrankung und Exklusion
Es gibt ganze Gruppen von Menschen, deren Teilhabemöglichkeiten beschränkt sind. Hierzu
gehören Arbeitslose, Migrantinnen und Migranten, Alleinerziehende und kinderreiche Familien.
Wer nur gering qualifiziert ist, läuft besonders Gefahr, relativ arm und damit ausgeschlossen zu
bleiben.
Und es gibt eine weitere Gruppe von Menschen, die ebenfalls überdurchschnittlich oft von
Ausgrenzung betroffen ist: es sind die psychisch kranken Menschen.
Psychisch kranke Menschen haben gegenüber psychisch Gesunden
-
ein doppelt so hohes Risiko, ihre Arbeit zu verlieren
-
sie haben ein dreifach erhöhtes Risiko, erheblich verschuldet zu sein.
-
sie haben ein dreifach erhöhtes Risiko geschieden zu werden
-
und sie haben oft Mietrückstände und laufen damit Gefahr, ihre Wohnung zu verlieren.
In diesem Zusammenhang: Die Mehrheit der Wohnsitzlosen in Deutschland ist psychisch
krank. An diesem wohl am stärksten ausgeschlossenen Personenkreis zeigt sich besonders
gravierend die enge Verbindung von Armut und psychischer Erkrankung.
Aktuelle Daten aus dem Gesundheitswesen zeigen auch, dass anders als früher nicht nur
chronisch psychisch Kranke, sondern auch immer mehr akut Kranke mit der Einschränkung
ihrer funktionalen Fähigkeiten in die soziale Isolation, in Arbeitslosigkeit oder Frühverrentung
geraten.
Meine sehr geehrten Herren und Damen,
die sozialen Nachteile und Behinderungen die mit chronischer psychischer Krankheit
einhergehen, sind Ihnen als Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgung aus Ihrer täglichen Arbeit vertraut.
Wir müssen leider auch feststellen, dass die Ziele der Psychiatriereform heute erst teilweise
erfüllt sind. Die klassische sozialpsychiatrische Hypothese, dass soziale Integration automatisch
durch Enthospitalisierung geschieht, hat sich nicht bestätigt. Ein Leben in der Gemeinde
unterstützt von ambulanten und komplementären Diensten ist eine wichtige Voraussetzung
für Integration, führt aber nicht automatisch zur Integration.
Es fehlt heute aber immer noch an Normalität und echter Integration. Im Zuge der
Psychiatriereform sind psychiatrische Sonderwelten entstanden, die zwar für viele chronisch
Kranke ungemein wichtig sind, weil sie Wärme, Schutz und eine Tagesstruktur bieten. Viele
psychisch Kranken empfinden das Leben in diesen Sonderwelten aber auch als stigmatisierend
und unbefriedigend. Sie sehnen sich nach „normalen“ Kontakten, Freunden und Bekannten, sie
sehnen sich vor allem nach einer sinnstiftenden Tätigkeit.
4.1 Der Mangel an sinnstiftender Tätigkeit
Arbeit, eine sinnstiftende Beschäftigung bedeutet: Einkommen, Selbstbestätigung, sozialer
Kontakt, Tagesstruktur, Anregung… alles Dinge, die jeder und jede von uns dringend benötigt
und die gerade psychisch kranke Menschen dringend benötigen.
In der Fachliteratur werden auch immer wieder die positiven Auswirkungen von Arbeit auf
den Gesundheitszustand psychisch kranker Menschen bestätigt. Arbeit stellt eine wichtige
therapie-sichernde Unterstützung und Rückfallprophylaxe dar, denn ohne Arbeit bzw.
„Tätigsein“ werden erfolgreich durchlaufene medizinische und psychosoziale Maßnahmen in
Frage gestellt.
Um so betrüblicher ist der Blick auf die Zahlen bei der Integration psychisch kranker Menschen
in Arbeit und Beschäftigung. Nur 10 Prozent der Menschen mit seelischer Behinderung haben
eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. 20 Prozent arbeiten in einer Werkstatt für
behinderte Menschen. Weitere 15 Prozent gehen einer anderweitigen tagesstrukturierten Arbeit
nach. Mehr als die Hälfte ist jedoch ohne Beschäftigung!
Hinzu kommt, dass gerade psychisch kranke Menschen die Arbeit in einer WfbM häufig als
stigmatisierend empfinden. Trotz der Arbeit in einer Werkstatt sind sie in der Regel auf staatliche
Unterstützung (Grundsicherung) angewiesen. Und häufig entspricht die Arbeit ihren
individuellen Neigungen und Fähigkeiten nur unzureichend.
Verstehen Sie mich richtig: ich weiß, dass es besonders schwer erkrankte Menschen gibt, denen
die WfbM einen notwendigen und guten Schutzraum bietet.
Wir müssen jedoch auch all denen Rechnung tragen, die einen berechtigten Anspruch an
Normalisierung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stellen.
4.2 Stigmatisierung und Diskriminierung
Eine weitere, gravierende Ursache für den sozialen Ausschluss psychisch kranker Menschen
besteht in der nach wie vor existierenden Stigmatisierung und Diskriminierung.
Psychisch kranke Kinder und Jugendliche werden in der Schule gehänselt und ausgegrenzt.
Erwachsene verschweigen ihre psychischen Erkrankungen bzw. Aufenthalte in psychiatrischen
Einrichtungen gegenüber ihren Arbeitgebern und ihren Kolleginnen und Kollegen und
Vermietern aus Scham und Furcht vor Diskriminierung. Und diese Diskriminierung kann
handfeste Auswirkungen haben: etwa den Verlust des Arbeitsplatzes oder die Schwierigkeit, eine
Arbeit oder Wohnung zu finden.
Zur Stigmatisierung gehört auch, dass psychische Beeinträchtigungen häufig nicht als Erkrankung
wahrgenommen werden. So werden z.B. depressive Menschen häufig als "willensschwach" und
"disziplinlos" bezeichnet. Angehörige werden in Vorurteile eingeschlossen: z.B. werden Eltern
psychisch kranker Kinder – entgegen wissenschaftlichen Erkenntnissen – häufig
Erziehungsfehler vorgeworfen.
Besonders stark sind die Vorbehalte immer noch gegenüber Menschen, die an schizophrenen
Erkrankungen leiden. Sie leiden daher nicht nur an ihrer Erkrankung, sondern auch am Stigma
der Unheilbarkeit und Gefährlichkeit. Dass Patienten mit schizophrenen Symptomen heute gut
behandelt werden können, ein Drittel von ihnen sogar wieder vollständig gesund und ein großer
Teil beinahe beschwerdefrei wird, wissen die wenigsten.
Die Medien unterstützen dieses Klischee häufig. In Zeitungsberichten, aber auch in vielen
Spielfilmen wird meist erst dann über Menschen mit Schizophrenie oder anderen psychischen
Erkrankungen berichtet, wenn diese im negativen Sinne auffällig geworden sind.
Wir sind – mit anderen Worten – noch weit vom Ideal der Gleichstellung von psychischen und
somatischen Erkrankungen entfernt und das führt dazu, dass vor allem chronisch kranke
Menschen in ihren Teilhabemöglichkeiten deutlich eingeschränkt werden.
4.3 Exklusion gefährdet die psychische Gesundheit
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
bisher habe ich den Blick auf die Exklusion gerichtet, die psychisch Kranke in Folge ihrer
Erkrankung in unserer Gesellschaft erfahren. Ich möchte einige Worte sagen zu einer anderen
Wirkweise: nämlich dazu, dass der soziale Ausschluss, Armut selbst ein Risikofaktor für
Gesundheit insgesamt und die psychische Gesundheit im Besonderen ist.
Den Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Krankheit belegen zahlreiche sozial und
naturwissenschaftliche Untersuchungen. Bevölkerungsgruppen, die besonders von Armut
betroffen sind, haben ein signifikant erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko.
Kinder aus armen Familien haben größere Probleme in der Schule, sie werden häufiger krank
oder verhaltensauffällig.
Arbeitslose leiden vor allem an psychischen und psychosomatischen Krankheiten. Hierbei
dominieren Ängste, Schlaflosigkeit und depressive Symptome – also diejenigen psychischen
Erkrankungen, die insgesamt deutlich zunehmen. Zudem beschreiben Langzeitarbeitslose
signifikant häufig suizidale Phasen. Suizidversuche und vollzogene Selbsttötungen sind generell
häufiger bei arbeitslosen Menschen.
In sozial benachteiligten Familien haben Kinder häufiger Übergewicht, zeigen häufiger sozial
auffälliges Verhalten und nehmen seltener an aktiver Freizeitgestaltung, etwa an Sportangeboten
teil. All das hat negative Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit.
Einkommensschwache Haushalte sind in ihrem Wohnumfeld stärkeren Belastungen durch
Straßenverkehr, Lärm und verkehrsbedingte Luftschadstoffe ausgesetzt. In vielen deutschen
Städten sind Quartiere mit einer Konzentration von städtebaulichen, wirtschaftlichen und
sozialen Problemen entstanden. Eine angemessen aus-gestattete und bezahlbare Wohnung und
ein Wohnumfeld, das die Gesundheit der Bewohner und die Entwicklungschancen, insbesondere
für Kinder, garantiert, sind aber nicht zuletzt wichtig für eine gesunde psychische Entwicklung.
Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Einkommen und Gesundheit zeigen, dass unter
Berücksichtigung von Altersunterschieden in der Zusammensetzung der Einkommensgruppen
ein bestehendes monetäres Armutsrisiko die Chance auf einen sehr guten oder guten
Gesundheitszustand etwa halbiert. Auch Männer und Frauen mit Migrationshintergrund sind
häufiger nachteiligen Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt, was zu feststellbaren
Unterschieden im Gesundheitszustand führt.
Aber auch unsere Lebensweise mit den wachsenden Anforderungen an Leistungsfähigkeit, an
Mobilität und Flexibilität ist im wahrsten Sinne des Wortes für viele Menschen ungesund. Für
diejenigen, die in unserer Leistungsgesellschaft nicht mithalten können, „nicht im Club“ sind, ist
der soziale Ausschluss ein erheblicher Risikofaktor für ihre psychische Gesundheit. Aber auch bei
vielen, die „drinnen“, „im Club“ sind, kann der Leistungsdruck, die veränderten
Arbeitsbedingungen und der ungesunder Stress bei entsprechender Vulnerabilität zum Auslöser
psychischer Erkrankungen werden.
5. Was ist zu tun?
Lassen Sie mich ein Zwischenfazit ziehen: wir befinden uns in einer Situation, in der chronisch
psychisch krank sein immer noch für zu viele Menschen bedeutet: ausgeschlossen zu sein. Und
wir befinden uns in einer Situation, in der umgekehrt Armut und Exklusion die Entstehung
psychischer Erkrankungen zumindest begünstigen.
Was ist zu tun? Ich denke, die Herausforderung ist offensichtlich: wir müssen einerseits präventiv
vorgehen und alles daran setzen, um Armut und soziale Exklusion zu vermeiden und damit
Chancengleichheit zu fördern.
Andererseits müssen wir psychisch kranken Menschen, vor allem auch chronisch Kranken echte
Teilhabe ermöglichen. Beide Ziele sind leicht formuliert, aber schwer umzusetzen. Ich
möchte auf beide Ziele näher eingehen.
5.1 Inklusion psychisch kranker Menschen fördern
Ich bin keine Ärztin und keine Psychologin, für mein Verständnis gilt jedoch: wenn wir bei der
Behandlung von psychisch kranken Menschen von einem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell
ausgehen, wenn also biologische, intrapsychische und soziale Ursachen eine Rolle spielen bei der
Entstehung von psychischen Erkrankungen, dann müssen auch alle drei Faktoren bei der
Behandlung eine Rolle spielen. Also auch und gerade die sozialen Faktoren, über die wir heute
sprechen.
Das heißt: Behandlungsfortschritt bedeutet nicht allein Fortschritte der Patienten innerhalb der
psychiatrischen Krankheitssymptomatik und innerhalb der institutionellen Versorgungskette,
sondern auch und vor allem der Fortschritt in der Inklusion in soziale Aktivitäten und die
Gesellschaft überhaupt!
Das stellt große Anforderungen an die Sozialpsychiatrie, vor allem an eine lebensfeldnah
ausgeführte spezifische Betreuung.
Ich sage aber auch ganz deutlich: die Inklusion (chronisch) psychisch kranker Menschen ist und
kann keine Aufgabe allein für die Sozialpsychiatrie sein! Es ist eine Aufgabe auch an meine eigene
Adresse - an die Politik, die Sozial-, Gesundheits-, Arbeitsmarkt- und Familienpolitik. Denn was
wir brauchen, sind Rahmenbedingungen, die Inklusion fördern und die Teilhabechancen
psychisch kranker Menschen deutlich verbessern!
Anders als etwa in den skandinavischen Ländern liegt unser Schwerpunkt der Versorgung und
Unterstützung psychisch kranker Menschen heute noch immer im stationären und nicht im
ambulanten Sektor. Das gilt für die medizinisch-psychotherapeutische Versorgung ebenso wie
für den sogenannten komplementären Bereich – etwa die Wohnform.
Unser Versorgungs- und Unterstützungssystem ist immer noch mehr institutionen- als
patientenorientiert. Es sucht und hält den Patienten bzw. die Patientin, der in die Institution
passt, bzw. für den eine Finanzierung gefunden wird. Dieses Problem durchzieht alle Bereiche.
Es findet sich auf der personellen bzw. professionellen Ebene ebenso wie auf der strukturellen
Ebene und wird durch die bestehenden Finanzierungsregeln verstärkt
Die große Herausforderung liegt deshalb meines Erachtens in der Stärkung der ambulanten,
lebensfeldzentrierten Hilfeangebote und in der hierfür notwendigen intelligenten,
personenzentrierten Verknüpfung zwischen dem ambulanten und dem stationären
Bereich.
Wir müssen die Unterstützungsangebote so gestalten, dass psychisch kranke und behinderte
Menschen so viel Betreuung wie nötig bekommen, ihre Rückkehr in das normale Leben
aber soweit wie möglich gefördert wird. Ambulante, lebensfeldzentrierte Angebote können
diese Anforderungen angemessener erfüllen als stationäre Angebote.
Ich bin vorhin besonders eindringlich auf das Thema Integration in Arbeit und Beschäftigung
eingegangen, weil die Frage, ob jemand „drinnen“ oder „draußen“ ist, in besonderem Maße von
dem Vorhandensein einer einkommen- und sinnstiftenden Tätigkeit abhängen.
Ein schönes Beispiel für gelungene Integration psychisch behinderter Menschen ist übrigens der
Kiosk in der Eingangshalle des Krankenhauses „Zum Guten Hirten“, den das Krankenhaus in
Kooperation mit den Wichern-Werkstätten seit 2005 betreibt.
Wir brauchen in unserer Gesellschaft noch viel intensivere Anstrengungen für ein
bedarfsgerechtes Angebot an Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben, besonders für flexible
Hilfen und Qualifizierungsmaßnahmen in der realen Arbeitswelt.
Ein gutes, noch relativ neues Instrument haben wir dafür in Rheinland-Pfalz mit dem Budget
für Arbeit entwickelt. Das persönliche Budget für Arbeit ist eine Geldleistung an WerkstattBeschäftigte, die mit dieser Unterstützung einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt
ausfüllen können. Das soll den Übergang von der Werkstatt für behinderte Menschen auf den
ersten Arbeitsmarkt erleichtern. Das Budget für Arbeit steht anstelle einer Leistung für die
Beschäftigung in der Werkstatt und zielt auf ein zeitlich unbefristetes Arbeitsverhältnis.
Allerdings sollten wir unsere Anstrengungen nicht allein auf den ersten, zweiten oder
dritten Arbeitsmarkt beschränken. Ich möchte Bezug nehmen auf Klaus Dörner, der vor dem
Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung mit psychisch kranken Menschen heraus das
„Tätigsein für andere“ als nahezu wichtigste Quelle für Zufriedenheit und Lebensqualität
ausgemacht hat.
Ich halte es für überaus wichtig, gemeinsam mit den psychisch kranken Menschen
individuelle Formen sinnvoller Tätigkeit aufzuspüren und sie dabei zu unterstützen.
5.2 Präventiv : Exklusion verhindern
Die Aufgabe der Politik geht allerdings noch viel weiter: Wir müssen eine Umgebung schaffen,
die ökonomische und soziale Teilhabe- und Verwirklichungschancen für alle Mitglieder in der
Gesellschaft ermöglicht und damit auch seelische Gesundheit fördert und psychische
Erkrankungen vermeiden hilft.
Hierbei sind fast alle Politikfelder gefragt: Inklusion zu ermöglichen ist eine Aufgabe der
Sozialpolitik, wie auch der Arbeitsmarkt- und Familienpolitik. Und es ist in besonderer Weise
eine Aufgabe der Politik der Integration behinderter Menschen und auch der Menschen mit
Migrationshintergrund.
Die rheinland-pfälzische Politik ist deshalb auf Teilhabe angelegt. Teilhabe zu erreichen,
Exklusion zu verhindern ist das zentrale Ziel unserer politischen Anstrengungen. Das betrifft die
Arbeitsmarktpolitik, die Sozial- und Integrationspolitik. Beispiele sind unsere umfangreichen
Maßnahmen zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit oder auch die Förderung von
Integrationsbetrieben. In Rheinland-Pfalz erhalten aber auch mehr Menschen mit Behinderung
ein persönliches Budget als in allen anderen Bundesländern zusammen.
Es ist hier und heute leider nicht die Zeit, die Grundzüge unserer auf Teilhabe ausgerichteten
Politik zu skizzieren, mir ist jedoch die Botschaft wichtig: Sozial gerechte Politik verbessert die
ökonomische und soziale Teilhabe- und Verwirklichungschancen für alle Mitglieder in der
Gesellschaft. Eine Politik, die dazu beitragen will, Armut und soziale Ausgrenzung zu verhindern,
kann sich daher nicht in der Sicherung materieller Grundbedürfnisse erschöpfen. Dauerhafte
Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge führt zur Verfestigung von Armut – teilweise über
Generationen hinweg – und muss vermieden werden. Entscheidend für den Erfolg einer sozial
gerechten Politik ist deshalb, dass es gelingt die Fähigkeiten und auch das Selbstbewusstsein –
und Selbstvertrauen derjenigen zu stärken, die heute noch ausgeschlossen sind.
6.
Dank und Ausblick
Meine sehr geehrten Herren und Damen,
es ließe sich noch so viel mehr zum Thema Ihrer Tagung sagen. Ich muss jedoch zum Ende
kommen und möchte ein Fazit ziehen: Psychiatrie, psychische Erkrankungen und psychische
Gesundheit sind eng verwoben mit unseren heutigen sozialen Fragen. Das gilt für die psychisch
kranken Menschen, die nicht nur ihre Krankheit zu tragen haben, sondern in unserer Gesellschaft
in vielfacher Weise ausgeschlossen sind. Das wird besonders deutlich an ihrem Ausschluss am
Arbeitsmarkt mit allen damit einhergehenden ökonomischen und sozialen Folgen.
Andererseits ist die Armut, die Exklusion selbst ein Risikofaktor für psychische Erkrankungen.
Aus all dem ergeben sich Aufgaben für die Psychiatrie, aber auch Aufgaben, die weit über die
Psychiatrie hinausreichen. Die Gemeindepsychiatrie muss sicher noch mehr als bisher darauf
achten, dass echte Teilhabe, Normalität für chronisch psychisch kranke Menschen möglich
werden.
Wir alle und die Politik im Besonderen sind aber auch gefordert, die ökonomische und soziale
Teilhabe- und Verwirklichungschancen für psychisch kranke Menschen strukturell zu verbessern
und die soziale Ausgrenzung, die Exklusion einer wachsenden Zahl von Menschen insgesamt
zu verhindern.
Die Psychiatrie kann hierbei in besonderer Weise helfen. Sie, als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
kennen aus den Lebensgeschichten ihrer Patientinnen und Patienten die sozialen Schieflagen und
Probleme. Sie können besser als viele andere auf die wunden Stellen hinweisen. Und sie haben
auch das Recht Veränderungen einzufordern. Dazu möchte ich Sie ermutigen und wünsche
Ihnen zunächst einmal eine interessante Tagung mit vielen guten Anstößen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.