la terra vista da pasolini

LA TERRA VISTA DA PASOLINI
La terra vista dalla luna (Die Erde vom Mond aus gesehen) ist der Titel eines Kurzfilms von Pier Paolo
Pasolini von 1967. Der Film, eine slapstickartig abgründige Parabel über den Sinn- und Sprachverlust in
der modernen Massengesellschaft, erzählt die aberwitzigen Abenteuer eines verwitweten Vaters und seines
tölpelhaften Sohns (dargestellt von Totò und Ninetto), die auf der Suche nach einer idealen (Haus-)Frau
durch eine surreale Wüste der vorstädtischen Nachgeschichte irren.
Vom Mond aus gesehen, so vermerkt der Vorspann, sei der Film nichts und auch von niemandem gedreht
worden. Tatsächlich aber bezieht sich die nihilistische Mondperspektive auf eine sehr spezifische
soziokulturelle Entwicklung auf der Erde: Der Schauplatz von Pasolinis Märchen, die römische Peripherie,
ist selber eine Mondlandschaft, ein Niemandsland zwischen einer verlorenen agrarischen Zivilisation und
der schillernden Massenkultur, die den beiden Protagonisten verwehrt bleibt. Die bald gefundene
Traumfrau ist taubstumm, und nicht aus Zufall: Sie verkörpert und verklärt die metaphorische
Taubstummheit einer enteigneten sozialen Klasse, der die Resignation zur Überlebensstrategie geworden
ist.
Vom Mond aus gesehen ist das Leben auf der Erde bedeutungslos und irrelevant. Tragödie oder Komödie,
Elend oder Glückseligkeit sind nicht unterscheidbar. Tatsächlich stellt sich nach dem Unfalltod der Frau
heraus, dass sie als Tote den ehelichen Pflichten ebenso gut nachkommen kann wie als Lebendige.
Sarkastisch wird im Abspann eine indische Weisheit zitiert: „Es macht keinen Unterschied, ob man tot ist
oder lebt“. Tatsächlich funktioniert die Kategorie „Tod“ nur im Wechselspiel mit der dialektischen Kategorie
des Lebens. Wo das Leben in einer gleichförmig bewusstlosen Resignation besteht, kann auch nicht
gestorben werden. Auch vom Mond aus gesehen macht es keinen Unterschied, ob man tot ist oder lebt.
Der Blick vom Mond wird so zum entlarvenden, gesellschaftskritischen Blick, der scheinbar unverrückbare
Sehgewohnheiten relativiert und korrigiert. Der Blick aus dem entfernten Anderswo wird zur Anklage, die
die Misere des Subproletariats als Folge einer anthropologischen Mutation im Zeichen des neuen Zeitalters
der Massenkultur entziffert und deren gesellschaftlichen Normen und Ideale der Lächerlichkeit preisgibt.
Die Erde vom Mond aus sehen zu können, ist aber auch der geheime Wunsch von Pasolinis Poetik. Jenseits
der Gesellschaftskritik geht es Pasolini seit jeher um die Wiederherstellung eines verlorenen
ursprünglicheren Zustands. Das filmische Medium soll nicht zuletzt jenen unmittelbaren Zugang zur
Wirklichkeit gewähren, der der Verbalsprache durch die bürgerliche Konventionalität abhanden gekommen
ist. Die Welt vom Mond aus zu sehen bedeutet eine Rückkehr zu einem ursprünglichen Blick, der das
Vertraute wie zum ersten Mal wahrnehmen kann. Da die verlorene Naivität nach Pasolini aber nur durch
höchste technologische und kulturelle Anstrengungen wieder erlangt werden kann, ist der Film La terra
vista dalla luna auch ein hochraffiniertes Stylexperiment, das die sakrale Farbigkeit der Fresken der
Frührenaissance und des Manierismus auf das Comic prallen lässt, die profanste und niederste Gattung der
Massenkultur.
Ricarda Gerosa, Literaturwissenschafterin und Kuratorin, 2012
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LA TERRA VISTA DALLA LUNA
Das Mondkalb? Der Mann im Mond? O Terra. Aquarelle von Thomas Schütte. Total blauer Planet. Wir aber
befinden uns, wie Pier Paolo Pasolini im Vorspann seines Films La Terra vista dalla Luna bemerkt, auf der
Erde. Dieser Planet ist nicht nur durchgedreht, sondern er ist unheimlich. Unheimlich, schreibt Sigmund
Freud, ist es, wenn der Unterschied zwischen Lebenden und Toten sich verflüchtigt. Andere kommen nicht
darüber hinweg, dass die Vertrautheit des Heims verloren ist. Künstler, Dichter, von Anfang an deplatziert,
unterhalten sich mit der Unheimlichkeit der Erde. Trembler avec le tremblement de la terre. Édouard
Glissant. Die Erde umarmen. Distanz und Nähe untrennbar, unvereinbar, Nähe aus der Distanz. Der Mond
ist die Erde. Es ist eine böse Irreführung, die suggeriert, die Erde hätte sich verloren in einem
undurchdringlichen Diskurs der Bilder, Markenzeichen, Simulacren – das gilt nur, wenn die einmalige
Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag, unerträglich geworden ist.
Ulrich Loock, Kritiker, Dozent, 2012
DAS UNIVERSUM IST VOLL VON NATÜRLICHEN SATELLITEN
AUS NATURWISSENSCHAFTLICHER SICHT IST ES KEINE REVOLUTION,
SEINEN BLICK VOM MOND GEGEN DIE ERDE RICHTEN ZU KÖNNEN.
Dem auf der Mondoberfläche stehenden Beobachter offenbart sich ein zugleich vertrauter wie
gewöhnungsbedürftiger Anblick: die Erde, die in die Rolle des Mondes schlüpft und im Verlaufe eines
Monats von der zunehmenden Sichel zur “Voll-Erde” wird, um danach wieder abzunehmen.
Um diese verkehrte Welt aufzusuchen haben die Astronauten der Apollo-Missionen zwischen 1968 und
1972 die Erdumlaufbahn verlassen und sind – weniger als acht Jahre nachdem der erste Mensch überhaupt
ins Weltall vorgestossen war – weiter gereist, als irgendjemand zuvor. Anstatt von einer ca. 300 km über
der Erdoberfläche dahin ziehenden Raumkapsel das ganze Gesichtsfeld auszufüllen, erschien die Erde nun
als relativ kleine Scheibe am Himmel, welche leicht von der ausgestreckten Hand verdeckt werden konnte.
Von der Rückseite des Mondes aus andrerseits ist die Erde nie sichtbar, und der Blick öffnet sich auf den
grossen Rest des Universums wo Monde, bzw. natürliche Satelliten, allgegenwärtig sind. Allein in unserem
Sonnensystem gibt es insgesamt 170 Monde und mit Sicherheit existieren unzählige mehr ausserhalb
unseres Sonnensystems. Um diese aufzuspüren sind jedoch auch die leistungsstärksten Teleskope heute
zu schwach.
Bemerkenswerterweise ist es für Astronomen aber an der Tagesordnung in noch viel grösserer Distanz
Satelliten aufzuspüren; dann nämlich, wenn es sich um Satellitengalaxien handelt (also gewissermassen
“unselbständige” Milchstrassen, die um eine benachbarte, grössere Galaxie kreisen wie ein Mond um
seinen Planeten). Die Milchstrasse besitzt etwa zwei Dutzend solcher Satellitengalaxien, wobei diesen die
Nähe zur Milchstrasse nicht immer gut bekommt. Ganz wie die Gezeitenkräfte zwischen Mond und Erde in
den Weltmeeren Ebbe und Flut erzeugen, wirken Gezeitenkräfte auch auf Satellitengalaxien. Etliche
wurden dadurch regelrecht auseinander gerissen und sind heute nur noch als diffuse Lichtstränge
erkennbar, die sich um die Milchstrasse winden.
Unseren Mond wird dieses Schicksal nie ereilen, da das Schwerefeld der Erde dafür nicht genügend an ihm
zerrt. Wie schon seit 4.5 Milliarden Jahren wird er auch weiterhin, von sporadischen Meteoriteneinschlägen
abgesehen, unversehrt seine Bahn um die Erde ziehen. Und es ist zu hoffen, dass dereinst ein noch viel
grösserer Teil der Menschheit sich diesen Umstand zu Nutze machen kann, um den Mond aufzusuchen und
von dort den denkwürdigen Anblick der Erdkugel zu bestaunen.
Mark Sargent, Service d’Astrophysique, 2012
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