Dr. L. Tamulionyté DIE TATSACHEN DES LEBENS („FACTS OF LIFE“), SCHMERZ UND VERÄNDERUNGSPROZESSE Vortrag für den Förderverein und für die Patienten der Sonnenberg Klinik Stuttgart 28.05.2015 Plan 1. Warum gerade jetzt dieses Thema 2. Warum ist es wichtig, die Dinge analytisch zu betrachten 3. Lustprinzip und Realitätsprinzip 4. Bi-Logik 5. Die Facts of Life: 5.1. Die Existenz der „guten Brust“ 5.2. Das Ausgeschlossensein aus der Urszene 5.3. Der Lauf und die Endlichkeit der Zeit 6. Ohne Schmerz keine Veränderung 7. Auch ohne Trauer geht es nicht 8. Das Ziel – mehr Integrität. Der Weg – Anerkennung der Realität. Aber welcher? VORTEILE DER PSYCHOANALYTISCHEN HERANGEHENSWEISE - Psychoanalyse anerkennt neben der bewussten Steuerung des seelischen Geschehens die steuernde Kraft des Unbewussten (abgewehrte, momentan nicht zugängliche seelische Inhalte, Wünsche, Triebe, Affekte, Erfahrungen, Normen....). „Der Mensch ist nicht Herr in seinem Haus“ (S. Freud). - Psychoanalyse beschreibt den Menschen als ein widersprüchliches Wesen, gesteuert, geplagt und beseelt von diversen, teilweise in alle Richtungen gehenden Impulsen. - Psychoanalyse ist hiermit wie keine andere Persönlichkeitstheorie der Komplexität des Menschen gerecht. - Psychoanalyse beschreibt den Menschen unverschönt, räumt seinen Ressourcen und Talenten, seiner noch so „verrückten“ Kreativität, aber auch seinen Abgründen, seiner Destruktivität einen (Spiel-)Raum ein. Es geht dabei insbesondere darum, die Bedeutung dieser Seelenelemente zu ergründen. - Macht uns mit dem Lust- und Realitätsprinzip (beide das menschliche Handeln und sein Seelenleben beherrschende komplementäre Prinzipien) vertraut. - Macht uns mit „Bi-Logik“ vertraut. LUSTPRINZIP UND REALITÄTSPRINZIP Lustprinzip bezeichnet das Streben des ES (Teil des Unbewussten) nach sofortiger Befriedigung der ihm innewohnenden elementaren Triebe, Bedürfnisse, Impulse, Wünsche. Indem dies geschieht, wird Triebspannung entladen und den damit verbundenen Unlust-Gefühlen sowie Schmerz ausgewichen, bzw. diese in ihr Gegenteil verwandelt. Der komplementäre psychische Wirkmechanismus zum Lustprinzip ist das Realitätsprinzip. Realitätsprinzip ist eine Leistung und ein „Produkt“ des ICH. Das Ich muss nicht nur die Strebungen aus dem Ubw „verwalten“ und lenken, sondern noch den Anforderungen des ÜBER-ICH (meist auch unbewusst!) sowie deren der Außenwelt und des ICH selber (Selbsterhaltungstrieb) gerecht werden, also eine komplexe Kompromisslösung generieren. Trägt u.a. zur Sublimierung und anderer Verwandlung (Projektion, Symptombildung etc.) der Triebenergie bei. BI-LOGIK (M. BLANCO, 1975, 1988, 1989) „Wenn wir uns nun Freuds Modelle des Seelenlebens und seine Beschreibung vor Augen führen, welche Art des Denkens im Unbewussten und im Bewussten vorherrscht, dann werden wir erkennen, dass im Unbewussten primäre Denkprozesse die Oberhand haben, die im wesentlichen der symmetrischen Logik ähnlich sind. Im Bewussten gibt es eine Dominanz sekundärer Denkprozesse, die entsprechend der asymmetrischen oder aristotelischen Logik funktionieren. Das Obengenannte führt zu der Gegebenheit, dass jeder bewusste oder unbewusste gedankliche Prozess gleichzeitig symmetrische und asymmetrische Elemente enthält. Symmetrie ist erforderlich, wenn es darum geht, Assoziationen, Symbolisierungen, Projektionen, Introjektionen und allgemein jeden gedanklichen Prozess zu erfassen, der nötig ist, um Verbindungen zwischen inneren wie äußeren Objekten herzustellen“ (Fink 2015). DIE TATSACHEN DES LEBENS (FACTS OF LIFE) Roger E. Money-Kyrle (1971) Die Existenz und die Abhängigkeit von der „guten“ Brust. Das Ausgeschlossensein aus der Urszene. Der Lauf und die Endlichkeit der Zeit. 1. DIE „GUTE“ (UND DIE „BÖSE“) BRUST Für uns ist jetzt wichtig der Punkt, dass die Brust außerhalb von uns ist, wir sie nicht (immer) kontrollieren können, dennoch existentiell auf sie angewiesen sind. Anders gesagt, wir sind nicht imstande, allein nur mit uns auszukommen, wir sind auf andere angewiesen, deren Nähe, Hilfe, Präsenz. Das ist eine schmerzliche Erfahrung und ein Schlag für die narzisstische Selbstregulierung („ich brauche niemanden“, „es läuft alles wie geschmiert, wenn ich es will“). 2. DAS AUSGESCHLOSSENSEIN AUS DER URSZENE Mit der „Urszene“ ist der Liebesakt der Eltern gemeint. Dieses Konzept ist durchaus konkret, aber in der ersten Linie auch symbolisch zu verstehen: wenn etwas Wichtiges stattfindet, insb. etwas erschaffen wird, gar ein neues Leben (im Falle des Liebesakts), wir sind nicht dabei! Die Empörung ist m.E. eher durch das eigene Gefühl der Ohnmacht und des Neides gespeist, die auf das Ausgeschlossensein fußen (zu erkennen auch an der Äußerung: „Was machen die da eigentlich?“). Wir ertragen nämlich schlecht, dass etwas Kreatives ohne unser Zutun stattfindet, wir wollen halt dabei sein. 3. DER LAUF UND DAS ENDE DER ZEIT Der Mensch tat sich schon immer sehr schwer, diese Tatsache anzuerkennen, dass die Zeit vergeht und endlich ist. Schauen wir uns zwei Bilder an: „Die Beständigkeit der Erinnerung“ von S. Dali (1934) und ein anderes Bild: L. Cranach d.Ä. „Der Jungbrunnen“ (1546, aktuell in d. Berliner Gemäldegalerie). Der Lauf der Zeit ist unabhängig von uns, auch wenn wir über eine sehr subjektive Wahrnehmung der Zeit verfügen (angenehme Erlebnisse verfliegen schnell, manchmal hat man aber das Gefühl, dass die Zeit in ganz besonders bewegenden Momenten stehen bleibt; schmerzliche Momente oder sehr arbeitsintensive Momente können sehr sehr lang vorkommen). Wir können jedoch die Zeit weder anhalten noch beschleunigen. Sehr wahrscheinlich ist die Zeit (fast) endlos. Aber für uns, für jeden einzelnen, ist sie begrenzt. Man muss damit achtsam umgehen: sich Zeit nehmen, aber sie auch nicht unnötig zu verlieren. DEFINITION DES SCHMERZES Definition der IASP (International Association for the Study of Pain): „….. eine Erfahrung, unangenehme verbunden mit sensible einem und emotionale tatsächlichen potentiellen Gewebeschaden…..“ Sensible Verarbeitung - räumliche, zeitliche, quantitative Verarbeitung Affektive Verarbeitung - emotionale Verarbeitung der Information - Signalisierung von Bedrohung - Verarbeitung motorischer und vegetativer Antworten (Stefen 2013) oder SCHMERZCHRONIFIZIERUNG • Wiederholte Reizung von Nozizeptoren führt zur peripheren und zentralen Sensibilisierung. • Periphere Sensibilisierung: Reizschwelle sinkt. • Zentrale Sensiblisierung: NMDA Rezeptoren werden leichter erregbar, Hinterhornneurone reagieren auf niederschwellige Reize. • Induktion von immediate early genes (IEGs) c-fos, c-jun, welche die Proteine FOS und JUN bilden. Kodierung neuer Rezeptoren (NMDA), Ionenkanäle (Nav) • Bildung von IL-1ß und NF-κB unterstützt die COX-2 Expression. • Unterbindung der endogenen Schmerzhemmung durch Prostaglandine (Glycinrezeptorenhemmung). • Zentrale morphologische Veränderungen (neue Schaltkreise, incl. komplexe Verschaltungen mit der affektiven Verarbeitung). Medikamentös schwer zu beeinflussen! (Stefen 2013) ORTE DES SEELISCHEN RÜCKZUGS (J. STEINER) Rückzug soll von unerträglichen Gefühlen der Bedrohung, Ängsten, subjektiv nicht handhalbbaren Objektbeziehungen und –verlusten sowie Trauer schützen. Verlassen des Rückzugsortes, in dem man sich eingerichtet hat, bedeutet immer erst Mal eine Konfrontation mit paranoiden und depressiven Ängsten. Spaltungen im Selbst und massive Projektionen. "Borderline" Raum. "Beuteltierraum" (Rey). Verharren im Rückzug führt zum Entwicklungsstillstand und Gefühl der Unlebendigkeit. Depressive Position: Das ich ist vollständig mit seinen guten internalisierten Objekten identifiziert und erkennt gleichzeitig seine eigene Unfähigkeit, sie vor den internalisierten verfolgenden Objekten und dem Es zu schützen und sicher zu bewahren. Diese Angst ist psychologisch gerechtfertigt und bringt erhebliche Konflikte mit sich, die besonderer Bewältigung bedürfen. ANERKENNUNG DER INNEREN UND DER ÄUSSEREN REALITÄT Ambivalenzen ertragen. Das Gute und das Böse spendender Objekt ist das gleiche Objekt. Anerkennung und Betrauern des Verlusts des Objekts. Verinnerlichung der "guten" Aspekte und Objekte (Befriedigungen). Abschied von bzw. wenigstens Hinterfragen des regressiven Rückzugs. Idealisierungen und Entwertungen hinterfragen und korrigieren. Erkennen und Zurücknehmen der projizierten eigenen Anteile. Lernen, reif mit Kränkungen umzugehen. Wenn Kritik berechtigt ist, Fehler mit Nachsicht korrigieren (Fehler machen wir alle). Das Selbst-Ideal ist nicht ganz realistisch, es ist auch ok so, weil es eine Pufferfunktion hat. Das Selbst-Ideal soll aber auch nicht zu sehr abgehoben bleiben. Eigene Fähigkeiten er- und anerkennen, diese entwickeln und pflegen. Erleben und würdigen, dass man wirksam und nicht destruktiv ist, und wenn man aggressiv ist, fähig ist zu bedauern. BEDEUTUNG DER TRAUER (J.STEINER) Die Realitätsprüfung hat gezeigt, dass das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erlässt nur die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen (Freud). Das heißt auch, Kontrolle über das Objekt aufzugeben und die Getrenntheit anzuerkennen. Die Situation stellt sich als Paradox dar, da der Trauernde dem Objekt irgendwie zugestehen muss, dass es ihn verlässt, obwohl er überzeugt ist, diesen Verlust selbst nicht zu überleben. Zur Trauerarbeit gehört, sich diesem Paradox und der mit ihm verbundenen Verzweiflung zu stellen. Gelingt dieser Prozess, so führt er zur Anerkennung des Verlusts und in der Folge zu einer Bereicherung des Trauernden (durch die Anteile, die man bis dahin beim Objekt projektiv "deponiert" hatte und nun zurückgenommen hat). WARUM IST DIE SCHMERZVOLLE ANERKENNUNG DIESER TATSACHEN UND DER TRAUER WICHTIG Kennen Sie diesen Spruch: „Der Indianer kennt keinen Schmerz“? also der Indianer meidet den Schmerz (nach Lustprinzip) oder ist von seinem Über-Ich überwältigt, d.h. auch von seinem Unbewussten, zumindest überwiegend. Kennen Sie auch diesen Spruch: „Der Schmerz ist der beste Freund des Indianers, weil er ihm sagt, dass er noch lebt“ Das heißt, der Indianer anerkennt den Realitätsprizip und stellt sich der Sache, macht sozusagen das Beste draus. Oder wir können auch sagen, wenn wir über lange Strecken keinen Schmerz verspüren, sollten wir uns fragen, ob wir noch leben? Da der Schmerz ein Begleiter einer Veränderung ist. Und der Trennungsschmerz ist nur einer davon. WARUM FÄLLT DIE VERÄNDERUNG SO SCHWER Wir wollen uns entwickeln und verändern. Aber nach der Logik der Bi-Logik und des Lustprinzips wollen wir es auch nicht. Warum: - Weil die Veränderung eine Arbeit ist. - Weil die Veränderung weh tut. - Weil es eine traurige Angelegenheit ist. - Weil sie das Ende näher bringt (alles, was sich bewegt, hat ein Ende). - Weil sie uns abhängig von den anderen macht. - Weil sie uns ausschließt von Kreativität anderer. Wenn wir es aber nicht tun, passiert das Gleiche (Schmerz, Trauer, Endlichkeit, Ausgeschlossensein), wir sind aber passiv und überwältigt! Zum Schluss will ich Ihnen zwei Ausschnitte aus zwei Filmen zeigen: „A Beautiful Mind“ (2001, zum Triumph der Anerkennung der Realität, Abschied und Trauer) und „Die Blechtrommel“ (1979, zum Sieg der Bi-Logik und NichtAnerkennung der aktuellen äußeren Realität). In diesem Sinne danke ich allen für das Kommen, Teilnehmen, Mitgehen, Begleiten an einem bedeutsamen Stück meines Lebens! Verwendete und empfohlene Literatur sowie Medien A Beautiful Mind. Howard R (Regie). Universal Studios and DreamWorks LLC (2001) (DVD) Die Blechtrommel. Schlöndorff V (Regie). ARTHAUS (1979) (DVD) Cranach L d.Ä: Der Jungbrunnen. Gemäldegalerie Berlin http://www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/gemaeldegalerie/home.html (25.05.2015) Fink K: Die Fehlleistung und ihre bi-logische Bedeutung als nonverbale Deutung. http://www.epf-fep.eu/Public/Article.php?ID=887&ancestor1=32&page=1&authorID=7689&language=ger (24.05.2015) Johannsen RH: 50 Klasiker. Gemälde. Gerstenberg (2010) Lustprinzip und Realitätsprinzip. Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Lustprinzip (23.05.2015) Stefen P: Nozizeption. PDF-Datei, persönlich zur Verfügung gestellt (2013) Stukenbrock Ch, Töpper B: Meisterwerke der europäischen Malerei. Könemann (1999) Kernberg O, Hartmann H-P (Hrsg): Narzissmus. Schattauer Stuttgart (2006) Kohut H, Wolf E: Die Störungen des Selbst und ihre Behandlung. In: Balmer H (Hrsg): Die Psychologie des 20ten Jahrhunderts. Bd. II, S. 667-682 (1976) Steiner J: Orte des seelischen Rückzugs. Klett-Cotta Stuttgart (1998) Winnicott D: Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Fischer Frankfurt (1997)
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