poldi_23 - Dirks Geschichten

poldi_23
„Dingdong!“ Es klingelte an der Tür, was den Wohnungsinhaber aus dem Tiefschlaf riss. Leopold
schleppte sich zur Tür und stellte mit einem Brummschädel fest, dass er gestern zuviel getrunken
hatte. „Wer da?“ quetschte er trotz Kopfschmerzen hervor.
„Wohnt hier Leopold Schmidt?“
„Ja. Das bin ich.“ „Scheiße,“ brummte Leopold schlaftrunken, „überrumpelt.“ „Wer will das
wissen?“
„Würden Sie bitte öffnen, Herr Schmidt?“
Leopold linste durch den Türspion. Vor seiner Haustüre standen zwei Männer in Mänteln und
Hüten, ohne Sonnenbrillen. „Komisch,“ murmelte Leo, „wir haben doch Sommer.“ Immer noch nicht
ganz klar im Kopf öffnete er vorsichtig die Tür.
„Mein Name ist Lehmann, das ist mein Kollege Maus. Wir sind von der Sicherheitspolizei,“ sagte
der vordere und hielt Leopold seine Blechmarke vor die Nase. Noch bevor der sich das Ding genauer
ansehen konnte, war die Marke schon wieder weg.
„Kann ich die Marke noch mal sehen?“ fragte Leopold. „Und Ihren Dienstausweis?“
„Können wir reinkommen? Sie möchten doch bestimmt nicht, dass Ihre Nachbarn alles
mitbekommen, was wir mit Ihnen zu besprechen haben?“
„Ach nee, die Nachbarmasche,“ dachte Leopold, während sich sein Bewusstsein dem Normalbereich
annähre. „Ihre Marke und Ihren Ausweis bitte,“ blieb er beharrlich.
„Ach, Sie misstrauen uns. Sehr verdächtig.“
„Es wird immer vor falschen Polizisten gewarnt,“ entgegnete Leopold spitzfindig. Er hasste die
Polizei. Wenn man sie brauche, kam sie nicht und kam, wenn man sie nicht haben wollte.
„Wenn Sie mir ihre Marke und Ihren Ausweis nicht zeigen, muss ich davon ausgehen, dass Sie
Betrüger sind“, ermahnte Leopold seine ungebetenen Besucher.
„Sollen wir mit den Kollegen, von denen man nur die Augen sieht, wiederkommen?“ fragte Maus,
während Lehmann den erschrockenen Leopold beiseite stieß.
„Danke, dass Sie uns herein bitten!“ rief Maus mithörerwirksam, während er die Tür hinter sich
schloss. Die Männer schoben Leopold durch den Flur in das Wohnzimmer.
„Was wollen Sie?“ fragte Leopold verärgert.
„Haben Sie unter dem Pseudonym poldi_23 diesen Forumsbeitrag geschrieben?“ Lehmann drückte
Leopold einen Ausdruck in die Hand. Leopold erkannte sofort den Beitrag, den er gestern mittag in
dem Newstickerforum eines großen IT-Verlages gepostet hatte.
„Ja, und? Was ist so schlimm daran? Dass ich nicht meinen vollständigen Namen angebe? Wenn Sie
mal kurz nachdenken, dann würden Sie erkenne, dass Poldi ein üblicher Kosename für Leopold ist.
Nicht unbedingt ein Pseudonym.“
„In diesem Beitrag haben Sie unsere geschätzte Regierung als faschistisch bezeichnet, zu
Gewalttaten aufgerufen und einen Verweis zu einem Schadprogramm veröffentlicht.“
„Schadprogramm?“
„Das Programm VDSFlodder baut Verbindungen zu zufällig erzeugten Adressen auf und beendet
diese sofort wieder. Dadurch werden unnötige Verbindungsdaten erzeugt, die die Arbeit der
Strafverfolgungsbehörden erschwert.“
„Na und? Ihr sollt in euren Daten absaufen. Außerdem ist das ein Script.“
„Unerheblich. Allein die Erschwerung der Strafverfolgung stellt selbst einen Straftatbestand da.“
„Das ist Protest! Auf etwas anderes hört ja niemand mehr.“
„Die Beleidigung und Verunglimpfung der Regierungsmitglieder als Faschisten...“
„Ich habe geschrieben, dass das alles bereits faschistoide Züge annimmt. Steht hier auch. Verdrehen
Sie nichts!“
„Die genaue Formulierung ist irrelevant. Was Sie gemeint haben zählt.“
„Schon mal was von freier Meinungsäußerung gehört?“ fragte Leopold und erntete schallendes
Gelächter. „Außerdem solltet Ihr auch wissen, dass der Aufruf zum Widerstand kein Aufruf zur
Gewalt ist. Lest mal das Grundgesetz, Artikel zwanzig, Absatz vier. Und wenn ihr dabei seid, auch
gleich den ganzen Rest.“
Die Männer grinsten Leopold an und schüttelten ihre Köpfe. Sie gaben ihm zu verstehen, dass sie
seine Ansichten als naiv betrachteten.
„Aufgrund Ihrer Äußerungen im Forum und Ihrer Uneinsichtigkeit müssen wir davon ausgehen,
dass Sie als Staatsfeind einzustufen sind. Zu Gewalt aufrufen und sich auch noch auf das Grundgesetz
berufen wollen. Also, wirklich...“
„Wie bitte? Staatsfeind? Geht’s noch?“
„Herr Schmidt, Sie sind hiermit verhaftet. Widerstand zu leisten wäre zwecklos, wir sind
bewaffnet...“
„War klar.“
„... und werden ohne zu zögern von der Waffe Gebrauch machen.“
„Kann ich mir denken.“
Leopold stand auf und sah aus dem Fenster. Das, was er schon seit langem befürchtet hatte, war
eingetreten. Die langsame Abschaffung von Freiheitsrechten durch den großen Lauschangriff und die
Vorratsdatenspeicherung, die allen Bereichen zunehmende Überwachung, die fortwährende
Aushöhlung des Grundgesetzes, dessen angeblich ewigen Artikel inzwischen nur noch Makulatur
waren. Er erinnerte sich an seinen alten Kumpel Xaver, der einige Tagen zuvor wegen Verstößen
gegen das neue, verschärfte Urheberrecht auch solchen Besuch bekommen hatte und verhaftet worden
war. „Gut, Xaver war ein hohes Risiko eingegangen, aber dennoch, überzogen war das schon,“
murmelte Leo. Der Vorfall hatte ihn wütend gemacht und so hatte er bei einer Meldung über weitere
„Sicherheitsmaßnahmen“, bei denen es um die Speicherung von E-Mailinhalten ging, dieses Posting
verfasst. Einfach um den angestauten Frust rauszulassen, sich Luft zu machen. „Eine unbedachte
Äußerung, eine kritische Bemerkung und gleich wird man als Staatsfeind eingestuft.“ So ein Land
wollte Leopold nie haben.
Er fragte sich, was wohl mit ihm geschehen würde. Leopold erinnerte sich an Gerüchte über
geheime Gefängnisse außerhalb jeglicher Gerichtsbarkeit. Oftmals wurde in diesem Zusammenhang
von einer „Informationsrückgewinnung“ für „Gedankenverbrecher“, so wie er jetzt anscheinend einer
war, geschrieben. Auch die stetige Novellierung des Urheberrechts wurde immer wieder als
„Maßnahme zum Informationsentzug“ bezeichnet, als „Wissenskontrolle“. Vorher hielt er diese
Gerüchte für übertrieben, doch jetzt befürchtete er, dass das alles der Wahrheit entsprach. In letzter
Zeit war es ruhig geworden in den Foren, es gab immer weniger kritische Postings, sogar die Trolle
waren leise geworden. „Gedankenkontrolle, Selbstzensur, ja das ist es,“ schoss es Leopold, der
schlagartig so klar war wie selten zuvor, durch den Kopf. „Sie wollen, dass wir unser Gedanken in
ihrem Sinn kontrollieren. Freies denken ist zum Verbrechen geworden. Ja. Das ist es, was sie immer
wollten. Die totale Kontrolle. Nicht nur über unser Handeln, nein, auch über unser Denken. Und ich
habe nie etwas dagegen getan. Nur geschehen lassen. So wie alle...“
Leopold drehte sich um und ging langsam auf die Sicherheitsbeamten zu.
„Wenigstens sind Sie jetzt vernünftig,“ lobte ihn Lehmann spöttisch.
„Ihr Gestapo-Bastarde! Ihr bekommt mich nicht!“ brüllte Leopold. Nach einer schnellen Drehung
rannte er los und sprang durch das Wohnzimmerfenster.
„Zwölfter Stock. Tut bestimmt weh. Was meinst du?“ fragte Lehmann seinen Kollegen, während sie
vor Leopolds Wohnung auf den Fahrstuhl warteten.
„Keine Ahnung. Was soll’s?“ Maus zuckte teilnahmslos mit den Schultern. „Schon der dritte heute.“
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©2006 Dirk Schulte am Hülse
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