Literatur 5-HAVO - dirkvanwingerden.nl

Literatur 5-HAVO
Roman
Tschick
Kurzgeschichten
Der Brotholer
Nicht alles gefallen lassen
Nachts schlafen die Ratten doch
Ein Liebesfall
Gedichte
Es ist alles eitel
Erlkönig
Die Loreley
Die Moritat von Mackie Messer
Kennst du das Land
Todesfuge
Inventur
Gedanken im Mai
Die große Fracht
Für Karajan und andere
Sage nein
Komm wir malen uns das Leben
Groene Hart Lyceum
-
Alphen aan den Rijn
-
2015
Inleiding
In dit boekje vind je de meeste literaire teksten die dit jaar behandeld worden. Alleen de roman
Tschick staat hierin niet afgedrukt.
Het is de bedoeling dat je belangrijke dingen in de teksten markeert en aantekeningen
maakt tijdens de lessen van alles wat verteld of besproken wordt!! Je mag (een deel van)
deze aantekeningen in het boek Tschick of in dit boekje zetten, maar je dient in ieder geval
een persoonlijk schrift te hebben (en te gebruiken!).
Voor een goede voorbereiding van de literatuurtoets is het noodzakelijk dat je alle teksten goed
gelezen (en evt. herlezen hebt!) en de aantekeningen goed bestudeerd hebt.
We hopen dat je voldoende interessante en leuke dingen in de thema’s zult aantreffen en er wat van
mee zult nemen voor jezelf!
Hans Bender
Der Brotholer
»Du bist Brotholer«, sagte einer zu Norbert, der vor der Pritsche die Jacke auszog.
»Ja, ich weiß.«
»Du bist Brotholer«, sagte ein anderer.
»Du bist Brotholer«, sagte einer und stieß Norbert in den Rücken.
»Ich weiß, aber lasst mich vorher die Hände waschen.«
»Ich nehm das Brot auch so!« rief einer von oben.
Norbert trocknete die Hände, nahm das Tablett vom Pfosten und ging zum vorderen
Ende der Baracke. Vor der Tür der Kopfstube standen die Brotholer Schlange. Drinnen
zählte der Propagandist: »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs . ..«
»Ich möchte einmal zwei Brote essen«, sagte der Vordermann Norberts.
»Zwei? Ich könnte zehn Brote essen! « sagte ein anderer.
»... zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn ...«, zählte der Propagandist. Norbert rückte zur
Tür. Dann war nur noch einer vor ihm, und Norbert kam auf die Schwelle und sah die
Stube. Rechts und links an der Wand standen Betten, weiße, flauschige Decken lagen
auf den Betten und Kissen mit weißen Bezügen. Über den Betten hingen gerahmte
Fotografien. Über dem rechten Bett war ein Bord, auf dem Bücher standen. In der Ecke,
unter dem Fenster - das groß war und geteilte Scheiben hatte - war ein Ofen, aus
Ziegelsteinen gemauert. Davor stand eine Bank. Der junge Propagandist saß darauf,
hatte die Beine angezogen und ein Brett, auf dem er die Brotportionen abstrich, gegen
die Knie gestützt. Wärme füllte die Stube, die trockene Wärme der Birkenscheite. Der
junge Propagandist hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt, das Hemd hatte einen
Kragen und war gebügelt.
»Wieviel Brote bekommst du?« fragte der ältere Propagandist.
»Vierundzwanzig«, sagte Norbert.
»Stimmt's?« fragte der ältere Propagandist den jungen.
»Stimmt«, sagte der.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf ...« Der ältere Propagandist nahm die Brotstücke vom Regal
und legte eines nach dem anderen auf das Tablett. Das Brot, dunkelbraun und feucht,
war in viereckige Würfel geschnitten. Einen Tisch hatten sie vor dem Ofen, mit einer
Decke, einer Blumenvase, in die Papierblumen gesteckt waren, und einem
Aschenbecher aus Porzellan, in den der junge Propagandist seine qualmende Papyrosi
legte.
» ... zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig.
» Hast du auch mitgezählt?« fragte der ältere Propagandist.
»Wie?«
»Ich meine, ob du mitgezählt hast? Vielleicht beschummle ich dich, dann kannst du
hungern bis morgen.«
»Nein, ich habe nicht mitgezählt«, sagte Norbert.
»Siehst du - aber ich beschummle dich nicht.«
Norbert hatte die Brote verteilt. Ein Brot blieb übrig. Er zählte die Leute, und alle waren
da. Vierundzwanzig. Jeder hatte sein Brot.
»Ich habe ein Brot zuviel«, sagte Norbert zu Wansdorf, seinem Nachbarn. Der neben
Wansdorf sagte: »Bring's schon dem Propagandisten. Der hat immer Hunger.«
Wansdorf sagte ruhig: »Ja, bring's ihm. Sicher fehlt es bei einer anderen Brigade.«
»Der Dummkopf«, sagte einer.
»Ein Brot zuviel? Der will wohl Spießruten laufen!« rief oben einer und beugte sich
herab. Norbert nahm das Tablett und trug das Brot durch den Gang. Er klopfte an die
Tür der Kopfstube. Der junge Propagandist öffnete und schrie: »Was ist los?«
»Ich habe ein Brot zuviel«, sagte Norbert.
»Gib her«, sagte der Propagandist. Er nahm das Brot, schlug die Tür zu und drehte den
Schlüssel im Schloss. Die Gefangenen saßen eng nebeneinander auf den Pritschen. Sie
hielten die Kochgeschirre zwischen den Knien, und das Brot lag auf ihren Schenkeln. Sie
schlurften und kauten. Schnee klebte vor den Scheiben, und die Birnen streuten gelbes
Licht. Wansdorf war vor zwei Tagen aus einem anderen Lager gekommen, im
Einzeltransport. Er trug die schwarze Uniform der Panzerleute. Die Schulterstücke waren
abgetrennt, und auf den Ellbogen waren die Flecke einer Zeltbahn mit großen Stichen
aufgenäht. Wansdorf hatte eine gute Figur und ein gutes Gesicht. Er war sauber, und es
machte Norbert nichts aus, neben ihm zu liegen.
Norbert sagte: »Man müsste in einer Kopfstube wohnen. Sie haben einen Tisch, einen
Ofen, ein Bett, und wenn sie sich schlafen legen, können sie ihre Jacken und Hosen
ausziehen.«
Wansdorf sagte: »Ich bleibe lieber hier.«
Norbert sagte: »Nicht so viele Gesichter sehen. Licht haben und einen Ofen, in den man
Scheite legen und zusehen kann, wie sie verbrennen.«
»Ja, ins Feuer sehe ich auch gern«, sagte ·Wansdorf.
»Bei Petsamo hatten wir einmal ein Feuer.«
»Du warst in Petsamo?«
»Mit drei Freunden, die älter waren als ich.«
»Petsamo ist weit.«
»Hört auf mit eurem Petsamo! Ich will schlafen«, sagte der Nebenmann von Wansdorf.
»Du siehst, nicht einmal unterhalten kann man sich in dieser verfluchten Baracke«,
sagte Norbert. »Eine Kopfstube müsste man haben.«
Am Abend ging der Propagandist durch die Baracke. Die Gefangenen, die gegessen
hatten und sich unterhielten, verstummten, als er vorbeikam. Er war dick, trug eine
Jacke aus einer Wolldecke, vom Lagerschneider angefertigt, er ging schnell, und seine
Augen konnten keinen ansehen. Er blieb vor Norbert stehen und sagte: »Komm mit, ich
habe mit dir zu sprechen.« Norbert schoss das Blut in die Stirn. Der Propagandist sprach
mit ihm, und die anderen sahen es. Wansdorf kramte in seinem Tornister. Der
Propagandist ging voraus und schloss die Tür, als Norbert eingetreten war.
»Ist es der?« fragte der ältere Propagandist den jungen Propagandisten, der Werner
hieß. »Ja, das ist der, der das Brot zurückgebracht hat«, sagte Werner.
»Das war doch selbstverständlich«, sagte Norbert.
»Nein, das war nicht selbstverständlich«, sagte der Propagandist.
»Jeder andere hätte es selber verdrückt. Aber du sollst es auch verdrücken. Hier,
nimm's!« Er nahm ein Stück Brot aus dem Regal und gab es Norbert.
»Danke«, sagte Norbert. »Hunger hab ich immer.«
»Setz dich zu uns«, sagte der Propagandist. »Oder bist du müde?«
»Ich habe vom Einrücken bis jetzt geschlafen«, sagte Norbert.
»Wohin willst du dich setzen? Auf das Bett? Auf den Stuhl? Auf die Bank?«
»Auf die Bank am liebsten.« Er setzte sich auf die Bank vor dem Ofen. Auf dem Ofen lag
eine eiserne Platte, die glühte.
»Du könntest Tee aufbrühen«, sagte der Propagandist zu Werner, und Norbert fragte er:
»Weißt du noch, wie Butter schmeckt?«
»Butter.«
»Er weiß es nicht. Gib ihm Butter.«
Werner streckte sich zum Fenster und holte eine Butterdose vom Sims, eine dieser
runden, schwarzen Bakelitdosen, wie sie bei den Marketenderwaren im Krieg verkauft
wurden. Werner schraubte den Deckel ab und schob Norbert die Dose hin.
»Und ein Messer.«
»Hier, ein Messer.«
»Danke.«
»Schmier dir tüchtig drauf.«
»Weißt du«, sagte der Propagandist, »wir haben vorgesehen, dass du in die Kopfstube
ziehst. Der russische Lagerführer will haben, dass wir in die Kopfstube im Wachgebäude
ziehen. Hier soll ein Gefangener einziehen, der das Brot verteilt und Aufsicht hält.
Während wir überlegten, brachtest du das Brot zurück - aber du isst ja gar nicht.«
»Er geniert sich«, sagte Werner. Er nahm Norbert das Brot und das Messer aus den
Händen und strich Butter auf den Anschnitt. Er goss Tee in den Becher, der vor Norbert
stand, und der Tee dampfte neben dem Brot mit der Butter.
Der Propagandist sagte: »Du könntest noch jemanden in die Stube mitnehmen. Die
Betten bleiben sowieso hier. Willst du nicht diesen Wansdorf mitnehmen, der neben dir
liegt?« Werner sagte: »Ja, das könnte man machen. Wansdorf ist zwar erst zwei Tage
hier, doch er macht einen guten Eindruck.«
»Wenn es dir Spaß macht«, sagte der ältere Propagandist, »nimm Wansdorf mit in die
Stube. Ich glaube, die Dolmetscherin hat nichts dagegen.«
Diese Propagandisten können die Wünsche von der Stirn ablesen, dachte Norbert.
Die Propagandisten zogen aus. Norbert half, ihre Koffer, eine Kiste, die Bücher und
Töpfe in die Kopfstube im Wachgebäude zu tragen. Norbert und Wansdorf zogen ein.
Die Birne blendete, und neben dem Ofen lagen Birkenscheite. Wansdorf zerspellte ein
Scheit, hielt ein Streichholz daran und schob es in den Ofen. Er schichtete Scheite
darüber, die Feuer fingen. Norbert stopfte den Abfall in einen Eimer, kehrte die Stube
aus und spannte die Decken über die Strohsäcke.
»Bilder müssten wir haben«, sagte Wansdorf.
»Ich habe Fotografien«, sagte Norbert.
»Ich habe keine«, sagte Wansdorf. »Sie haben sie mir abgenommen, als ich in
Borowitschi ins Gefängnis eingeliefert wurde.«
»Du warst im Gefängnis?«
»Ja, aber davon erzähle ich dir später.«
Wansdorf brachte Wasser zum Kochen und brühte Tee auf. Sie rauchten
Machorkazigaretten und saßen auf der Bank vor dem Ofen. Gegen Mitternacht nahmen
sie die Trage, um das Brot für den anderen Tag in der Küchenbaracke zu holen. Schnee
fiel in großen, nassen Flocken. Die Brotausgeber standen mit weißen Jacken hinter dem
Schalter und setzten die Brotstücke auf die Trage.
»Es sind zwei mehr«, sagte der, der die Brotausgeber beaufsichtigte.
»Jeder, der in der Kopfstube wohnt, bekommt ein Stück mehr. Erzählt's nicht weiter.«
Eine Stunde später gingen sie schlafen. Wansdorf zog sich aus, Norbert zog sich aus. In
der Baracke konnte man sich nicht ausziehen. Dort lag man auf Brettern. Jeder hatte nur
eine Decke oder einen Mantel, und in der Nacht wurde es kalt.
»Wie fühlst du dich?« fragte Norbert.
»Gut«, sagte Wansdorf.
»Du wolltest mir von Petsamo erzählen.«
»Ich bin müde, Norbert. Morgen erzähle ich dir, und nicht nur von Petsamo.«
Die Birne schwebte über Norberts Augen. Solange sie brannte, konnte er nicht
einschlafen. Es war schön, noch eine Weile wach zu bleiben. Es war still. Das Brot
duftete. Er legte die Hand an die Ofenwand. Sie wärmte noch lange.
Die Brigaden waren ausgerückt, bis auf zwei Gefangene, die sich am Tag vorher die
Zehen erfroren hatten. Norbert ordnete das Brot, stellte Pappschilder mit der Zahl und
der Stärke der Brigaden vor die Stapel, rasierte sich und ging zur Wäscherei, sein
schmutziges Hemd zu tauschen.
»Am Samstag ist Tausch", sagte der Gefangene, der die Wäsche verwaltete.
»Ich wohne in der Kopfstube!« sagte Norbert.
»Das ist was anderes«, sagte der Gefangene hinter dem Schalter. Er suchte in seinen
Wäschestapeln und sagte: »Ich gebe dir ein Hemd mit Kragen, ein gebügeltes Hemd.«
Alles war besser, wenn man in der Kopfstube wohnte. Er zog das frische Hemd an und
legte sich auf das Bett. Werner kam herein und sagte: »Du sollst zur Dolmetscherin
kommen.«
»Zur Dolmetscherin?«
»Weiß der Teufel, was sie will.«
Norbert hatte nie mit der Dolmetscherin zu tun gehabt. Er wusste, sie zensierte die Post;
sie saß in einer Stube im Wachgebäude. Manchmal ging sie mit einem der Offiziere
durchs Lager. Sie trug Stiefel, einen Uniformmantel, und ihr Haar hatte sie als Flechten
um den Kopf gelegt.
»Beeil dich«, sagte Werner. Schlafbenommen taumelte Norbert hinter Werner ins
Wachgebäude. Die Dolmetscherin öffnete. Ein Offizier saß neben ihr am Tisch.
Er sagte: »Guten Tag, wie geht es Ihnen?« Er lachte, weil es ihm Mühe machte, die
eingelernten Worte richtig zu betonen. Er hielt eine Zigarettenschachtel über den Tisch,
in der Zigaretten lagen, die ein Goldmundstück hatten.
Die Dolmetscherin nahm eine Zigarette, und der Offizier nahm eine Zigarette.
Die Dolmetscherin sagte: »Sie wohnen in der Kopfstube. Baracke sieben.«
»Ja«, sagte Norbert.
»Es ist besser als bei den vielen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Norbert. »Es ist besser.«
»Und wer wohnt bei Ihnen?«
»Wansdorf heißt er«; sagte Norbert. »Vor drei Tagen ist er ins Lager gekommen.«
»Und Sie verstehen sich gut mit Wansdorf?« fragte die Dolmetscherin.
»Ja, sehr gut«, sagte Norbert. Der Offizier und die Dolmetscherin redeten miteinander;
dann fragte sie: »Russisch können Sie nicht?«
»Nein«, sagte Norbert. »Nur fluchen.«
»Fluchen ist schlecht«, sagte die Dolmetscherin. »Die Russen fluchen schlecht.«
Der Offizier schob ein Blatt über den Tisch, vor Norbert hin, und sagte:
»Unterschreiben!« Die Dolmetscherin sagte: »Unterschreiben Sie hier. Eine Formalität.«
»Unterschreiben?« fragte Norbert. »Warum unterschreiben?«
»Damit Sie schweigen, nur dazu verpflichtet es, damit Sie schweigen über alles, was wir
jetzt sprechen. Ja?«
Sie tauchte einen Federhalter in das Tintenfass und reichte ihn Norbert herüber.
»Es verpflichtet zu nichts. Nur schweigen müssen Sie.«
Norbert nahm den Federhalter und schrieb seinen Namen unter mehrere Zeilen
russischer Wörter. Er dachte: Ich habe keinen schönen Namen, ich habe eine
charakterlose Schrift. Nun werde ich mich immer schämen, wenn ich meinen Namen
schreibe.
»Wenn Sie doch darüber sprechen, werden Sie nach unseren Gesetzen bestraft«, sagte
die Dolmetscherin. Warum habe ·ich unterschrieben? dachte Norbert. Das Blatt lag vor
ihm. Warum zerriss er es nicht?
Da nahm die Dolmetscherin das Blatt fort. Der Offizier sprach, und die Dolmetscherin
sagte: »Sie wollen doch nicht, dass es wieder Krieg gibt, dass Sie wieder verwundet werden und in Gefangenschaft kommen?«
»Nein«, sagte Norbert, »ich will nicht wieder in Gefangenschaft kommen.«
»Aber es gibt Gefangene, die wollen, dass es wieder Krieg gibt. Wansdorf ist einer von
denen, die wollen, dass es wieder Krieg gibt.«
»Ich glaube es nicht«, sagte Norbert.
»Wir haben Beweise, dass er es will, aber noch nicht alle Beweise. Zu verhindern, dass
Leute wie Wansdorf wieder einen Krieg anfangen, müssen Sie uns helfen«, sagte die
Dolmetscherin.
»Helfen, ich kann nicht helfen«, sagte Norbert.
Die Dolmetscherin sagte: »Wansdorf wird Ihnen erzählen, was er früher machte. Wenn
er Ihnen nicht erzählt, versuchen Sie, es zu erfahren. Er hat im Jahre 1938 in der
Tschechoslowakei einen Menschen ermordet.«
»Wansdorf?«
»Wir wissen es aus den Dokumenten. Wenn er es Ihnen sagt, kommen Sie zu uns. So
können Sie uns helfen.«
Der Offizier redete weiter. Die Dolmetscherin hörte ihm zu, dann sagte sie zu Norbert:
»Sie werden es gut haben. Sie wohnen in der Kopfstube und gehen nicht mehr zur
Arbeit. Leutnant Michailow hat es befohlen.«
Der Offizier hielt noch einmal die Zigarettenschachtel hin. Dann ging Norbert. Die
Baracke lag auf einem Hügel. Der Weg stieg bergan und war glatt. Neun Stufen hatte die
Holzstiege zur Baracke. Die beiden, die die Zehen erfroren hatten, lagen auf der Pritsche
und schliefen. Norbert ging in die Stube, setzte sich auf das Bett. Als er die Schritte und
Stimmen der Brigaden hörte, erschrak er. Norbert verteilte das Brot. Wansdorf half ihm
dabei. Die Brotholer quollen über die Schwelle und hielten das Tablett vor dem Bauch.
Gegen Mitternacht gingen Norbert und Wansdorf mit der Trage zur Küche, und als sie in
den Betten lagen, sagte Wansdorf: »Heute erzähle ich dir.«
»Von Petsamo?« fragte Norbert.
»Ja, warum nicht - und keiner brüllt Ruhe, und keinen stört der Machorkaqualm. - Darf
ich dir eine drehen? - Ob ich dir eine Zigarette drehen soll?«
»Ja, bitte«, sagte Norbert. Wansdorf erzählte von seinen ersten Fahrten, von nahen und
weiten Fahrten und der Fahrt nach Petsamo. Er schilderte die Seen, die Wälder, die
Tundra, die Mitternachtssonne und die Fahrt mit der finnischen Eisenbahn. Er nannte
die Namen der finnischen Städte: Kuopio, Kojana, Sortavala und Savukoski. Wansdorf
konnte gut erzählen, Norbert sah alles, was er gesehen hatte.
»Damals war ich vierzehn«, sagte Wansdorf. »Es war im Sommer 1931. In den folgenden
Jahren war ich in Italien, in Jugoslawien, und die letzte Fahrt machten wir nach Schottland. Später war es nicht mehr so leicht, wegzukommen.
1938, im Frühjahr, wurde ich in die tschechische Armee eingezogen, und im Sommer
kam es zu den ersten Unruhen.«
Erzähl nicht weiter! wollte Norbert sagen, aber er sagte es nicht.
»Die Tschechoslowakei ist ein schönes Land«, sagte Wansdorf.
»Ihr im Westen wisst es nicht. Wir wohnten nicht weit von der Grenze. Mein Vater war
Bürgermeister im Ort. Im Sommer 1938 fingen die tschechischen Behörden an, meinem
Vater Schwierigkeiten zu machen.
»Hörst du auch zu, Norbert?«
Norbert gab keine Antwort. Er hatte die Augen geschlossen, er hörte jedes Wort. Er
wusste, wenn Wansdorf weitersprach, verriet er sich. Hatte er einen Menschen getötet?
Nein, er wollte es nicht wissen! Er wollte es nicht wissen!
Wansdorf fragte wieder: »Schläfst du schon?«
Norbert atmete tief, Schlaf vorzutäuschen. Er hörte, wie Wansdorf nach langer Zeit
aufstand, auf nackten Sohlen herüberkam, sich über ihn beugte und die Birne im
Gewinde drehte, bis sie erlosch.
Einer der beiden, die die Zehen erfroren hatten, kam herein und fragte, ob er sein Brot
rösten dürfe. Norbert freute sich, dass er kam.
»Wenn du es lieber geröstet isst, warum nicht?«
Der Gefangene kniete sich mit seinem Holzteller vor den Ofen, legte die Scheiben auf die
Platte und wendete sie um, bis beide Seiten gebräunt waren. Er sah auf und sagte:
»Zwölf Scheiben mache ich aus einem Stück Brot. So habe ich jede Stunde am Tag ein
Brot.« Norbert gab ihm eines der übriggebliebenen Stücke.
Der Brotröster sagte: »Nun habe ich vierundzwanzig Scheiben Brot und kann alle halbe
Stunde eine essen.«
Norbert dachte: Wenn ich ihm noch eines schenke, kann er alle zwanzig Minuten ein
Brot essen, und wenn ich ihm noch eins schenke, alle fünfzehn Minuten, und wenn ich
ihm noch eins schenke und noch eins, und noch eins - er konnte es nicht mehr
errechnen. Nein, er war nie ein guter Rechner gewesen.
Die Brigaden kamen später als sonst. Einer von den Begleitmannschaften hatte einen
Gefangenen mit dem Seitengewehr in den Arm gestochen. Es hatte Verhandlungen
gegeben. Der Gefangene war auf dem Transport ins Lazarett gestorben. Nach dem Essen
schliefen die Gefangenen nicht. Sie saßen in brodelnden Gruppen auf den Pritschen. Am
Abend, als Norbert und Wansdorf in den Betten lagen, sagte Wansdorf: »Was würdest
du tun, Norbert, wenn einer deinen Vater erschlägt, deine Mutter auf die gemeinste
Weise umbringt, dein Elternhaus anzünden lässt, und du siehst den Schuft nach einigen
Wochen wieder? Er will sich gerade davonmachen, er ist verkleidet, aber du erkennst
ihn, und er erkennt dich. Er winselt vor dir, und du kannst mit ihm machen, was du
willst. Du stehst ihm allein gegenüber, du hast eine Pistole in der Hand, und niemand
sieht, was du machst?«
»Das ist selbstverständlich«, sagte Norbert.
Wansdorf drehte sich zur Wand. Seine Schultern ragten aus der Decke. Seine Haare,
wenige Zentimeter lang, sträubten sich über dem Wirbel. Ob ich ihm alles sage? dachte
Norbert. Er stand auf, zog die Hose an, fuhr mit den Füßen in die Holzsandalen und ging
in die Baracke. In der Ecke, unter dem Licht, stand eine Gruppe Gefangener. Einer sah
Norbert kommen, er sagte es den anderen, sie gingen auseinander und krochen auf die
Pritschen. Eine Ratte plumpste in den Lichtfleck. Sie hielt ein Stück Brot zwischen den
Zähnen.
Am nächsten Tag war die Baracke leer. Auch die beiden, die die Zehen erfroren hatten,
waren ausgerückt. Schnee klebte vor den Scheiben. Der Boden war feucht. Die Luft roch
verbraucht. Heute werden sie mich holen, dachte Norbert. Gegen Abend, eine Stunde
bevor die Brigaden einrückten, kam Werner und sagte: »Die Dolmetscherin erwartet
dich.« Norbert ging in das Wachgebäude. Die Tür stand offen, und die Dolmetscherin
saß am Tisch.
»Was gibt es Neues?« fragte sie.
»Nichts«, sagte Norbert.
»Sie sind jeden Abend zusammen«, sagte die Dolmetscherin.
»Sie unterhalten sich, Sie erzählen sich, und Sie behaupten, nichts zu wissen.«
»Ich weiß nichts«, sagte Norbert.
»Er hat vielleicht Andeutungen gemacht. Auch Andeutungen genügen.«
»Nein!«
Der Offizier kam in die Stube. Er sagte: »Guten Tag, wie geht es Ihnen?«
Er nahm die Brieftasche aus seinem Mantel und legte vier Geldscheine vor Norbert auf
den Tisch. Die Dolmetscherin sagte: »Behalten Sie es. Kaufen Sie damit, was Ihnen
Freude macht. Vielleicht essen Sie gern Butter?«
»Ich esse nicht gern Butter«, sagte Norbert.
»Dann was anderes«, sagte die Dolmetscherin.
»Ich nehme kein Geld«, sagte Norbert.
Sie übersetzte es dem Offizier. Er gestikulierte.
Die Dolmetscherin sagte: »Wir können Sie zwingen, uns zu sagen, was Sie von Wansdorf
wissen.«
»Ich weiß nichts von ihm«, sagte Norbert.
»Er hat es Ihnen gesagt. Einer aus der Baracke hat es gehört.«
»Keiner hat es gehört, weil wir nie darüber gesprochen haben.«
Die Dolmetscherin sagte: »Warum wollen Sie ihn in Schutz nehmen? Er verdient nicht
Ihren Schutz.«
Nun gab Norbert keine Antwort mehr. Die Dolmetscherin stand auf, der Offizier stand
auf. Sie flüsterten miteinander. Draußen am Tor brüllte der Wachoffizier. Die Brigaden
rückten ein. Ihre Holzsohlen klopften auf den gefrorenen Weg. Die Dolmetscherin
fragte: »Sie wollen es uns also nicht sagen?«
»Nein«, sagte Norbert, »ich weiß es nicht, und wenn ich es wüsste, würde ich es nicht
sagen. Wansdorf ist mein Freund.«
Die Dolmetscherin übersetzte. Norbert wusste nicht, was »Freund« auf Russisch hieß.
»Drug« musste es heißen oder so ähnlich, denn immer wieder sagte die Dolmetscherin
»drug«, und der Offizier sagte immer wieder »drug«, und wie sie es sagten, war es ein
dunkles und gefährliches Wort. Die Worte dazwischen wurden immer weniger, und der
Offizier sagte nur noch »drug«, immer lauter und wütender. Er schrie »drug«, kam
hinter dem Tisch hervor, stellte sich neben Norbert, der mit gesenktem Kopf dasaß, und
stieß ihm die Faust zwischen die Augen.
Am Abend zogen Norbert und Wansdorf in die Baracke. Werner, der junge
Propagandist, zog in die Kopfstube und übernahm das Kommando. Norbert ging zur
Arbeit. Er gehörte zur Brigade, die den Bahndamm baute. Es war eine schwere Arbeit,
aber es war besser so. Als die Brigade einrückte, war Norbert Brotholer.
»Du bist Brotholer! « riefen sie von allen Seiten.
»Er hat keinen Hunger«, sagte einer.
»Er hat sich in der Kopfstube sattgefressen«, sagte ein anderer.
Norbert nahm das Tablett vom Pfosten und ging zur Kopfstube. Er sah auf das Tablett,
und der Propagandist zählte die Brote darauf. Norbert verteilte die Brote, eines blieb
übrig. Er zählte nicht nach, er legte es an seinen Platz, neben das Brot, das ihm zustand,
und deckte den Mantel darüber. Die Gefangenen löffelten die Suppe aus dem
Kochgeschirr. Sie rauchten Machorkazigaretten und legten sich schlafen. Norbert schlief
nicht. Der Mantel lag neben ihm, und die zwei Brote waren darunter versteckt. Er fror,
aber er deckte sich nicht zu.
Nach dem Essen ging der junge Propagandist durch die Baracke. Er trug die Stiefel eines
Offiziers, er stellte sich am Ende der Pritschen auf einen Hocker, schob zwei Finger
zwischen die Jackenknöpfe und brüllte: »Herhören!«
Die Gefangenen rieben sich die Augen. Laut sagte Werner: »Kameraden! Wir wissen,
was ein Stück Brot ist! Wir haben Brot schätzen gelernt! Wer einem Kameraden das
Stück Brot wegnimmt, nimmt ihm das Leben! Einer von euch hat wissentlich ein Brot
zuviel abgeholt. Er hat es auch nicht zurückgebracht, nach vier Stunden nicht
zurückgebracht! Er hat es einem Kameraden weggenommen!«
Die Gefangenen erhitzten sich. Sie schrien: »Wo ist das Schwein?«
»Sag uns den Namen!«
»Wir wollen den Namen von dem Schwein wissen!«
Der Propagandist sagte: »Wir können ihn dem Russen melden.«
»Niemals!« schrien die Gefangenen. Der Propagandist sagte: »Der Russe würde die
Sache auch nicht tragisch nehmen. Er hat keinen Verlust. Er hat uns das uns zustehende
Brot gegeben. Zudem würden wir uns bloßstellen, als Deutsche!«
»Wir bestrafen ihn!« knurrte ein Gefangener. Der Propagandist sagte: »Ja, es gibt einen
zweiten Weg: wir bestrafen ihn selbst.«
Die Gefangenen schrien: »Sag uns den Namen«
»Sag uns endlich den Namen von dem Schwein!«
Der Propagandist stieg vom Stuhl, er ging durch den Flur und blieb vor Norbert stehen.
Norbert saß da, und es war ihm gleichgültig, was nun geschehn würde. Der Propagandist
riss den Mantel weg, und die Gefangenen sahen die zwei Brote da liegen. Wie Tiere
schrien sie, und .der Propagandist schrie in den Tumult: »Ihr wisst, was ihr zu tun habt! «
Sie zerrten Norbert von der Pritsche, sie boxten ihn zur Tür, wo der freie Platz war. Einer
zog ihm die Jacke aus, und einer riss ihm das Hemd vom Körper. Sie zerrten ihn in den
zweiten Flur, damit er weiterginge, an allen Pritschen vorbei. Einer schlug ihn mit einem
Stock, einer schlug ihn mit dem Koppel, das er an beiden Enden festhielt, und einer, der
im Verdacht stand, ein Spitzel zu sein, stieß ihm die Faust ins Gesicht. Einer hob vor ihm
den rechten Arm, ließ ihn wieder sinken und schrie: »Du bist mir viel zu dreckig! Ich will
meine Hände nicht beschmutzen. Viel zu dreckig bist du mir!« Einer warf seine
Holzschuhe nach ihm, und einer spritzte ihm das Spülwasser aus dem Kochgeschirr in
die Augen. Einer trat ihn in den Unterleib. Dann spürte Norbert nicht mehr, wohin sie
ihn schlugen und womit sie ihn schlugen. Noch einige Schritte kam er vorwärts, bis zur
Pritsche, wo Wansdorf saß. Sich am Balken neben ihm festzuhalten, streckte Norbert die
Hand aus, und Wansdorf ergriff sie.
Nicht alles gefallen lassen
Gerhard Zwerenz
1. Wir wohnen im dritten Stock mitten in der Stadt und haben uns nie etwas zuschulden
kommen lassen, auch mit Dörfelts von gegenüber verband uns eine jahrelange
Freundschaft, bis die Frau sich kurz vor dem Fest unsre Bratpfanne auslieh und nicht
zurückbrachte.
Als meine Mutter dreimal vergeblich gemahnt hatte, riss ihr eines Tages die Geduld,
und sie sagte auf der Treppe zu Frau Muschg, die im vierten Stock wohnt, Frau
Dörfelt sei eine Schlampe.
2. Irgendwer muss das den Dörfelts hinterbracht haben, denn am nächsten Tag
überfielen Klaus und Achim unsern Jüngsten, den Hans, und prügelten ihn
windelweich.
Ich stand grad im Hausflur, als Hans ankam und heulte. In diesem Moment trat Frau
Dörfelt drüben aus der Haustür, ich lief über die Straße, packte ihre Einkaufstasche
und stülpte sie ihr über den Kopf. Sie schrie aufgeregt um Hilfe, als sei sonst was los,
dabei drückten Sie nur die Glasscherben etwas auf den Kopf, weil sie ein paar
Milchflaschen in der Tasche gehabt hatte.
3. Vielleicht wäre die Sache noch gut ausgegangen, aber es war just um die Mittagszeit,
und da kam Herr Dörfelt mit dem Wagen angefahren. Ich zog mich sofort zurück,
doch Elli, meine Schwester, die mittags zum Essen heimkommt, fiel Herrn Dörfelt in
die Hände. Er schlug ihr ins Gesicht und zerriss dabei ihren Rock. Das Geschrei lockte
unsere Mutter ans Fenster, und als sie sah, wie Herr Dörfelt mit Elli umging, warf
unsere Mutter mit Blumentöpfen nach ihm. Von Stund an herrschte erbitterte
Feindschaft zwischen den Familien.
4. Weil wir nun Dörfelts nicht über den Weg trauen, installierte Herbert, mein ältester
Bruder, der bei einem Optiker in die Lehre geht, ein Scherenfernrohr am
Küchenfenster. Da konnte unsere Mutter, waren wir andern alle unterwegs, die
Dörfelts beobachten.
5. Augenscheinlich verfügten diese über ein ähnliches Instrument, denn eines Tages
schossen sie von drüben mit einem Luftgewehr herüber. Ich erledigte das feindliche
Fernrohr dafür mit einer Kleinkaliberbüchse. An diesem Abend ging unser
Volkswagen unten im Hof die Luft.
6. Unser Vater, der als Oberkellner im hochrenommierten Cafe Imperial arbeitete, nicht
schlecht verdiente und immer für den Ausgleich eintrat, meinte: wir sollten uns jetzt
an die Polizei wenden. Aber unserer Mutter passte das nicht, denn Frau Dörfelt
verbreitete in der ganzen Straße, wir, das heisst, unsere gesamte Familie, seien
derart schmutzig, dass wir mindestens zweimal jede Woche badeten und für das
hohe Wassergeld, das die Mieter zu gleichen Teilen zahlen müssen, verantwortlich
wären.
7. Wir beschlossen also, den Kampf aus eigener Kraft in aller Härte aufzunehmen. Auch
konnten wir nicht mehr zurück, verfolgte doch die gesamte Nachbarschaft gebannt
den Fortgang des Streites.
8. Am nächsten Morgen schon wurde die Straße durch ein mörderisches Geschrei
geweckt. Wir lachten uns halbtot, Herr Dörfelt, der früh als erster das Haus
verliess, war in eine tiefe Grube gefallen, die sich vor der Haustür erstreckte.
Er zappelte ganz schön in dem Stacheldraht, den wir gezogen hatten; nur mit dem
linken Bein zappelte er nicht, das hielt er fein still, das hatte er sich gebrochen.
Bei alledem konnte der Mann noch von Glück sagen denn für den Fall, dass er die
Grube bemerkt und umgangen hätte, war der Zünder einer Plastikbombe mit dem
Anlasser seines Wagens verbunden. Damit ging kurze Zeit später Klunker Paul, ein
Untermieter von Dörfelts, hoch, der den Arzt holen wollte.
9. Es ist bekannt, dass die Dörfelts leicht übelnehmen. So gegen zehn Uhr begannen sie
unsere Hausfront mit einem Flakgeschütz zu bestreichen. Sie mussten sich erst
einschiessen, und die Einschläge befanden sich nicht alle in der Nähe unserer
Fenster.
10. Das konnte uns nur recht sein, denn jetzt fühlten sich auch die anderen
Hausbewohner geärgert, und Herr Lehmann, der Hausbesitzer, begann um den Putz
zu fürchten. Eine Weile sah er sich die Sache an, als aber zwei Granaten in seiner
Stube krepierten, wurde er nervös und übergab uns den Schlüssel zum Boden. Wir
robbten sofort hinauf und rissen die Tarnung von der Atomkanone. Es lief alles wie
am Schnürchen, wir hatten den Einsatz oft genug geübt. Die werden sich jetzt ganz
schön wundern, triumphierte unsere Mutter und kniff als Richtkanonier das rechte
Auge fachmännisch zusammen.
11. Als wir das Rohr genau auf Dörfelts Küche eingestellt hatten, sah ich drüben
gegenüber im Bodenfenster ein gleiches Rohr blinzeln, das hatte freilich keine
Chance mehr, Elli, unsere Schwester, die den Verlust ihres Rockes nicht
verschmerzen konnte, hatte zornroten Gesichts das Kommando «Feuer!» erteilt.
Mit einem unvergesslichen Fauchen verliess die Atomgranate das Rohr, zugleich
fauchte es auch auf der Gegenseite. Die beiden Geschosse trafen sich genau in der
Straßenmitte.
12. Natürlich sind wir nun alle tot, die Straße ist hin, und wo unsere Stadt früher stand,
breitet sich jetzt ein graubrauner Fleck aus.
Aber eins muss man sagen, wir haben das Unsere getan, schliesslich kann man sich
nicht alles gefallen lassen. Die Nachbarn tanzen einem sonst auf der Nase herum.
Goldmann Verlag, München
Wolfgang Borchert
Nachts schlafen die Ratten doch
1. Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne.
Staubgewölke flimmerte zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste
döste.
2. Er hatte die Augen zu. Mit einmal wurde es noch dunkler. Er merkte, daß jemand
gekommen war und nun vor ihm stand, dunkel, leise. Jetzt haben sie mich! dachte er. Aber
als er ein bißchen blinzelte, sah er nur zwei etwas ärmlich behoste Beine. Die standen
ziemlich krumm vor ihm, daß er zwischen ihnen hindurchsehen konnte. Er riskierte ein
kleines Geblinzel an den Hosenbeinen hoch und erkannte einen älteren Mann. Der hatte
ein Messer und einen Korb in der Hand. Und etwas Erde an den Fingerspitzen.
3. Du schläfst hier wohl, was? fragte der Mann und sah von oben auf das Haargestrüpp
herunter. Jürgen blinzelte zwischen den Beinen des Mannes hindurch in die Sonne und
sagte: Nein, ich schlafe nicht. Ich muß hier aufpassen. Der Mann nickte: So, dafür hast du
wohl den großen Stock da? Ja, antwortete Jürgen mutig und hielt den Stock fest. Worauf
paßt du denn auf? Das kann ich nicht sagen. Er hielt die Hände fest um den Stock. Wohl auf
Geld, was? Der Mann setzte den Korb ab und wischte das Messer an seinen Hosenbeinen
hin und her. Nein, auf Geld überhaupt nicht, sagte Jürgen verächtlich. Auf ganz etwas
anderes. Na, was denn? Ich kann es nicht sagen. Was anderes eben.
4. Na, denn nicht. Dann sage ich dir natürlich auch nicht, was ich hier im Korb habe. Der Mann
stieß mit dem Fuß an den Korb und klappte das Messer zu. Pah, kann mir denken, was in
dem Korb ist, meinte Jürgen geringschätzig, Kaninchenfutter. Donnerwetter, ja! sagte der
Mann verwundert, bist ja ein fixer Kerl. Wie alt bist du denn? Neun. Oha, denk mal an,
neun also. Dann weißt du ja auch, wieviel drei mal neun sind, wie? Klar, sagte Jürgen, und
um Zeit zu gewinnen, sagte er noch: Das ist ja ganz leicht. Und er sah durch die Beine des
Mannes hindurch. Dreimal neun, nicht? fragte er noch einmal, siebenundzwanzig. Das
wußte ich gleich. Stimmt, sagte der Mann, und genau soviel Kaninchen habe ich. Jürgen
machte einen runden Mund: Siebenundzwanzig? Du kannst sie sehen. Viele sind noch ganz
jung. Willst du?
5. Ich kann doch nicht. Ich muß doch aufpassen, sagte Jürgen unsicher. Immerzu? fragte der
Mann, nachts auch? Nachts auch. Immerzu. Immer. Jürgen sah an den krummen Beinen
hoch. Seit Sonnabend schon, flüsterte er. Aber gehst du denn gar nicht nach Hause? Du
mußt doch essen. Jürgen hob einen Stein hoch. Da lag ein halbes Brot und eine
Blechschachtel. Du rauchst? fragte der Mann, hast du denn eine Pfeife? Jürgen faßte
seinen Stock fest an und sagte zaghaft: Ich drehe. Pfeife mag ich nicht.
6. Schade, der Mann bückte sich zu seinem Korb, die Kaninchen hättest du ruhig mal ansehen
können. Vor allem die Jungen. Vielleicht hättest du dir eines ausgesucht. Aber du kannst
hier ja nicht weg. Nein, sagte Jürgen traurig, nein, nein. Der Mann nahm den Korb hoch
und richtete sich auf. Na ja, wenn du hierbleiben mußt - schade. Und er drehte sich um.
Wenn du mich nicht verrätst, sagte Jürgen da schnell, es ist wegen den Ratten. Die
krummen Beine kamen einen Schritt zurück: Wegen den Ratten? Ja, die essen doch von
Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von. Wer sagt das? Unser Lehrer. Und du paßt
nun auf die Ratten auf? fragte der Mann. Auf die doch nicht! Und dann sagte er ganz leise:
Mein Bruder, der liegt nämlich da unten. Da. Jürgen zeigte mit dem Stock auf die
zusammengesackten Mauern. Unser Haus kriegte eine Bombe. Mit einmal war das Licht
weg im Keller. Und er auch. Wir haben noch gerufen. Er war viel kleiner als ich. Erst vier. Er
muß hier ja noch sein. Er ist doch viel kleiner als ich.
7. Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: Ja, hat euer
Lehrer euch denn nicht gesagt, daß die Ratten nachts schlafen? Nein, flüsterte Jürgen und
sah mit einmal ganz müde aus, das hat er nicht gesagt. Na, sagte der Mann, das ist aber ein
Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen die Ratten doch. Nachts kannst du
ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer. Wenn es dunkel wird, schon.
8. Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Betten sind das,
dachte er, alles kleine Betten. Da sagte der Mann (und seine krummen Beine waren ganz
unruhig dabei): Weißt du was? Jetzt füttere ich schnell meine Kaninchen und wenn es
dunkel wird, hole ich dich ab. Vielleicht kann ich eins mitbringen. Ein kleines oder, was
meinst du? Jürgen machte kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Kaninchen. Weiße,
graue, weißgraue. Ich weiß nicht, sagte er leise und sah auf die krummen Beine, wenn sie
wirklich nachts schlafen.
9. Der Mann stieg über die Mauerreste weg auf die Straße. Natürlich, sagte er von da, euer
Lehrer soll einpacken, wenn er das nicht mal weiß. Da stand Jürgen auf und fragte: Wenn
ich eins kriegen kann? Ein weißes vielleicht? Ich will mal versuchen, rief der Mann schon im
Weggehen, aber du mußt hier solange warten. Ich gehe dann mit dir nach Hause, weißt
du? Ich muß deinem Vater doch sagen, wie so ein Kaninchenstall gebaut wird. Denn das
müßt ihr ja wissen. Ja, rief Jürgen, ich warte. Ich muß ja noch aufpassen, bis es dunkel wird.
Ich warte bestimmt. Und er rief: Wir haben auch noch Bretter zu Hause. Kistenbretter, rief
er.
10. Aber das hörte der Mann schon nicht mehr. Er lief mit seinen krummen Beinen auf die
Sonne zu. Die war schon rot vom Abend, und Jürgen konnte sehen, wie sie durch die Beine
hindurchschien, so krumm waren sie. Und der Korb schwenkte aufgeregt hin und her.
Kaninchenfutter war da drin. Grünes Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt.
(Aus: Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk. Reinbek: Rowohlt o. J., S. 216-218.)
Wolfgang Borchert
Borchert wurde 1921 in Hamburg geboren. Er arbeitete als Buchhändlerlehrling, bis er 1941 zum Militärdienst
einberufen wurde. Wegen abfälliger Bemerkungen über das Hitlerregime wurde Borchert mehrmals zu
Haftstrafen verurteilt. Obwohl schwer erkrankt, erhielt er nur unzureichende ärztliche Betreuung.
Seine Geschichten und das Theaterstück "Draußen vor der Tür" sind im wesentlichen in den 2 Jahren
zwischen Kriegsende und seinem frühen Tod (1947) geschrieben; sie machten ihn zum Sprecher und Dichter
einer Generation, die mit furchtbaren Erinnerungen und Erfahrungen belastet aus Krieg und Gefangenschaft
zurückkehrte und vor einem Neuanfang stand.
Wolfdietrich Schnurre
Ein LiebesfaII
1. Ich nahm sie zu mir, als ihre Eltern gestorben waren; sie war das letzte von zwölf Kindern,
ihre Geschwister waren den Giftstreuern zum Opfer gefallen. Ich kannte sie von frühester
Jugend an und habe ihr Wachstum mit reger Anteilnahme verfolgt. Zuerst glaubte ich,
meine Neigung zu ihr sei väterlicher Art; je mehr sie 1heranwuchs, desto deutlicher wurde
mir aber, dass ich sie liebte.
2. Scheu und zurückhaltend, wie sie war, erwiderte sie meine Gefühle nur zögernd, doch
gerade das gab unserem Verhältnis scinen unverwelklichen Reiz. Anfangs bewohnten wir
den 2Bau ihrer Eltern unter den Kellern des Stadtgefangnisses, aber bald schon ängstigte
uns das Schreien der Gefangenen so, dass wir beschlossen, nach einer anderen Wohnung
Ausschau zu halten. Meine Kammer war bereits wieder vermietet, ein spitznäsiger
3Kontorist
lag auf dem Bett, als ich hineinsah; auch erkannte ich am Gesicht meiner Wirtin,
sie hätte mir Schwierigkeiten bereitet, wäre ich mit meiner Freundin gekommen. So
suchten wir weiter. Schließlich fanden wir im Industrieviertel der Stadt über einer
Tuchweberei einen leerstehenden Maschinenraum, in dem wir uns einnisteten.
3. Es war eine schöne Zeit. Unterhalten zwar konnten wir uns, der ewig ratternden Maschinen
wegen, kaum, desto inniger aber liebten wir uns. Es gab Wochen, in denen wir nicht einen
einzigen Brotkrümel zu uns nahmen. Wir lagen dann nur, uns selig bei den Händen haltend,
in unseren 4ölduftenden Werghaufen vergraben und blickten einander in die Augen dabei.
4. Einmal jedoch spürte der Hund des Schlüsselwärters uns auf. Damit war unsere Zuflucht
verloren, und wir mussten uns abermals nach einer neuen Wohnmöglichkeit umsehen. Ich
fand sie in einer schrägwandigen Mansarde, die mit Backsteinen verschalt war, zwischen
denen, wie versteinerte Sahne, der Mörtel hervorquoll.
5. Auch hier verlebten wir herrliche Tage, wiewohl ich jetzt, um die Miete aufbringen zu
können, hin und wieder auch arbeiten gehen und mir beim 5Krämer das Getuschel der
Leute mitanhören musste, die, ich weiß nicht, weshalb, sich Anstoß an meiner Freundin zu
nehmen erlaubten. Doch ich gab nichts darauf und behielt es für mich; zumal ja alles
1
opgroeide
nest
3
kantoorbediende
4
Werg = een soort touwtjes van mindere kwaliteit; een bijproduct van vlas of hennep o.d., o.a. gebruikt om
naden in houten schepen te dichten (breeuwen), of om verwarmingsbuizen te omwikkelen tegen lekkage en
energieverlies.
5
marktkoopman
2
Ungute auch wie weggefegt war, wenn ich, noch das Gespött der 6Gassenkinder im Ohr,
nur erst einmal unsere Mansarde betrat.
6. Lächelnd, gekämmt und gebürstet, die feingliedrigen Pfoten zierlich vor dem strahlenden
Weiß einer frisch gestärkten Schürze gefaltet und eine große schwarze Schleife im
Schwanz, pflegte meine Freundin mich dann zu erwarten. In einem 7Winkel war, mit
Schwarzbrot und Milch, das Essen, in einem anderen, auf würzig duftenden Säcken, das
Lager bereitet.
7. Wir wuchsen nun immer mehr zueinander, und die täglichen Trennungen fingen an, uns
recht beschwerlich zu werden. Eines Tages jedoch teilte mir der 8Polier auf der Baustelle
mit, dass ich entlassen sei, mein Verhältnis zu meiner Freundin untergrabe das Ansehen
der 9Handwerkerinnung. Ich nahm‘s als Geschenk, und es folgte eine Reihe von
bezaubernden Wochen, während der wir uns kaum zu den Mahlzeiten vom Lager erhoben.
8. Dann aber pochte einmal der Wirt an die Türe. Ich glaubte, es handele sich um die
10rückständige
Miete und bat ihn herein. Er jedoch bezichtigte uns grässlichster
Ausschweifungen und wurde handgreiflich, so dass es uns nur mit äußerster Mühe gelang,
das Treppenhaus zu gewinnen.
9. Unsere nächste Zuflucht war die Gerümpelkammer eines Absteigequartiers, in dem ich
mich als Aushilfskellner verdingte. Ich musste das annehmen, weil meine Freundin, bei
ihren schwachen Nerven, zu kränkeln begann. Doch auch hier jagte man uns, als man
erfuhr, wir lebten zusammen, nach fünf Tagen fort, und die Gäste liefen uns gar noch
johlend voraus, und man zeigte mit Fingern auf uns.
10. Von nun an war es schwierig, ein neues Unterkommen zu finden. Überall wo wir läuteten,
schalt und bespie man uns, denn es war bereits spaltenlang und verzerrt in der Zeitung
über uns berichtet worden. Meine Freundin litt fast bis auf den Tod unter diesen
Anfeindungen. Um sie ein wenig zu schonen, bereitete ich ihr in einem Schuppen auf dem
Güterbahnhof ein Lager und suchte allein eine Wohnung. Endlich gelang es mir, mich mit
einem Lumpensammler vertraut zu machen, der seinen Keller am Stadtrand hatte, wo die
großen 11Schutthalden beginnen. Wir verpflichteten uns gegen Kost und Logis, ihm beim
6
straatkinderen
hoekje
8
opzichter
9
Een Innung is een soort gilde
10
achterstallig
11
vuilnishopen
7
Sammeln und Sortieren des 12Kehrichts zu helfen. Meiner Freundin bekam diese Arbeit gar
nicht; jedoch, sie traf viele Verwandte bei den Müllbergen draußen, das heiterte sie auf.
11. Aber auch hier am Stadtrand fand man uns. Der Lumpensammler war unschuldig. Gewiss,
er war kein guter Mensch; aber er war auch nicht so schlecht, dass er uns preisgegeben
hätte. Meine Freundin behauptete, die Fabrikarbeiterkinder hätten uns verraten; sie
nähmen uns übel, dass wir wie sie aus den Konservenbüchsen die Fettränder kratzten.
Doch ich weiß es besser; ich habe nicht den Argwohn in den Blicken der Verwandten
meiner Freundin vergessen, als sie mich misstrauisch aus ihren engstehenden Augen
betrachteten; und auch nicht eine der hundert Pfoten, die ich dort draußen auf den
Müllbergen schüttelte, hat den Druck meiner Bereitschaft erwidert. Nein, ich weiß heute,
wer uns angezeigt hat: die Ratten.
12. Nun, wenn schon; als wir gegen Mittag, staubbedeckt und mit unseren Säcken voll Tuch
und Metallen die fliegenübersummten Halden herabtaumelten, drängte sich jedenfalls
eine gewaltige Menschenmenge vor unserem Keller; sie war mit Steinen und Knüppeln
bewaffnet und schrie: 'Her mit dem Rattenbräutigam!' und 'Hängt es, das Rattenliebchen!'
Wir ließen unsere Säcke fallen und rannten zurück. Doch da hatte man uns bereits
entdeckt, und eine wilde Verfolgung begann. Anfangs zwar vermochten wir unseren
Vorsprung zu halten, dann jedoch traf mich ein geschleuderter Bierkrug am Bein, so dass
ich zu hinken anfing, und als darauf auch meiner Freundin der Atem verging, fand ich mich
schon damit ab, dass unser Ende nun nah sei.
13. Plötzlich sah ich vor uns die Brücke; das gab mir neue Lebenskraft ein. Ich riss meine
Freundin empor, und da dröhnt auch schon der Eisenbelag der Streben mir unter den
Füßen, ich schwinge mich auf das Geländer, Möven umstieben uns, tief unten rauht ein
gelassen dahinziehender und von einer langen Rauchfahne verfolgter Schlepper den
gleißenden Flussspiegel auf, und jetzt prasseln wie Hagelschlossen die Schritte unserer
Verfolger heran, meine Freudin schließt zitternd die Augen, wir umarmen einander, und ich
stoße mich ab.
14. Der Sturz währte endlos. Ich hatte, während wir fielen, nur den einen Wunsch, meine
Freundin möge die Augen nicht öffnen, damit ihr weiterhin vergönnt sei zu glauben, was
ich ihr beim Absprung zugeraunt hatte und ja nun fast auch selber schon glaubte: nicht
silbernes Eisenbahnschienengeflirr, sondern ein Fluss zöge unter der Brücke dahin.
12
afval
15. Als ich zu mir kam, lag ich quer über den flimmernden Gleisen, der Schotter ringsum war
gerötet von Blut, und in den Armen hielt ich, tot, meine Freundin. Ich schleppte mich zum
Bahndamm und grub ihr unter Klettenbüschen ein Grab. Dann ging ich zurück in die Stadt
und stellte mich, denn es konnte kein Zweifel bestehen, dass ich meine Freundin getötet
hatte. Aber man wollte nichts mehr von mir. Ob ich beschwören könne, dass sie tot sei. Ich
beschwor es. Dann sei es gut, sagte man mir.
Andreas Gryphius (1616 - 1664)
Es ist alles eitel
(Zu Prediger 1,2)
Du siehst, wohin du siehst nur Eitelkeit auf Erden.
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein
Auf der ein Schäfers Kind wird spielen mit den Herden:
Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.
Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch bestehn?
Ach! was ist alles dies, was wir für köstlich achten,
Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;
Als eine Wiesenblum, die man nicht wieder find't.
Noch will, was Ewig ist, kein einig Mensch betrachten!
Erlkönig
Tekst von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
1. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.
2. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.
3. "Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir;
Manch bunte Blumen sind an dem Strand;
Meine Mutter hat manch gülden Gewand."
4. Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht?
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind!
In dürren Blättern säuselt der Wind.
5. "Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein."
6. Mein Vater, Mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort?
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau;
Es scheinen die alten Weiden so grau.-
7. "Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt."
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan!
8. Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,
Er hält in den Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.
Die Loreley
Heinrich Heine
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin,
Ein Märchen aus uralten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt,
Im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr gold'nes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar,
Sie kämmt es mit goldenem Kamme,
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewalt'ge Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe,
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh'.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn,
Und das hat mit ihrem Singen,
Die Loreley getan.
Bertolt Brecht (1898-1956)
DIE MORITAT VON MACKIE MESSER
Und der Haifisch, der hat Zähne
Und die trägt er im Gesicht
Und Macheath, der hat ein Messer
Doch das Messer sieht man nicht.
Und es sind des Haifischs Flossen
Rot, wenn dieser Blut vergießt
Mackie Messer trägt ’nen Handschuh
Drauf man keine Untat liest.
An der Themse grünem Wasser
Fallen plötzlich Leute um
Es ist weder Pest noch Cholera
Doch es heißt: Mackie geht um.
An’nem schönen blauen Sonntag
Liegt ein toter Mann am Strand
Und ein Mensch geht um die Ecke
Den man Mackie Messer nennt.
Und Schmul Meier bleibt verschwunden
Und so mancher reiche Mann
Und sein Geld hat Mackie Messer
Dem man nichts beweisen kann.
Jenny Towler ward gefunden
Mit ’nem Messer in der Brust
Und am Kai geht Mackie Messer
Der von allem nichts gewußt.
Wo ist Alfons gleich, der Fuhrherr?
Kommt er je ans Sonnenlicht?
Wer es immer wissen könnte
Mackie Messer weiß es nicht.
Und das große Feuer in Soho
Sieben Kinder und ein Greis
In der Menge Mackie Messer, den
Man nichts fragt, und der nichts weiß.
Und die minderjähr’ge Witwe
Deren Namen jeder weiß
Wachte auf und war geschändet
Mackie welches war dein Preis?
Aus: Dreigroschenoper
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn
in den Büros, als wären es Kasernen.
Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe.
Und unsichtbare Helme trägt man dort.
Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe.
Und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort!
Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will
- und es ist sein Beruf etwas zu wollen steht der Verstand erst stramm und zweitens still.
Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen!
Die Kinder kommen dort mit kleinen Sporen
und mit gezognem Scheitel auf die Welt.
Dort wird man nicht als Zivilist geboren.
Dort wird befördert, wer die Schnauze hält.
Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein.
Es könnte glücklich sein und glücklich machen?
Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein
und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen.
Selbst Geist und Güte gibt´s dort dann und wann!
Und wahres Heldentum. Doch nicht bei vielen.
Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann.
Das will mit Bleisoldaten spielen.
Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün.
Was man auch baut - es werden stets Kasernen.
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Erich Kaestner (1899-1974)
Paul Celan
Todesfuge
Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus
Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith
1952
Günter Eich
Inventur
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.
Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,
so dient er als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.
Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Dies ist mein Notizbuch,
dies ist meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.
1946
Gedanken im Mai
1. Ich rede von mir: Volker von Törne, geboren
Im vierunddreißigsten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts
Als meine Genossen schon kämpften gegen die Mörder
Die mich aufzogen als ihresgleichen
Nach ihrem Bilde:
2. Und ich trank die Milch
Die dem Hungernden fehlte. Und ich trug das Kleid
Meinem Bruder geraubt. Und ich las die Bücher
Die den Raub billigten. Und ich hörte die Reden
Die aufriefen zum Mord:
3. Und ich nannte den Schlachthof
Mein Vaterland, als schon die Völker aufstanden
Gegen mein Volk. Und ich betete für den Endsieg
Der Mörder, als schon die Städte
Aufgingen in Rauch:
4. Und schuldig war ich
Am Tod jedes Menschen, ahnungslos atmend
Unter den Galgenästen
Süßduftender Linden
Volker von Törne, Im Lande Vogelfrei, Berlin 1981
Der Text entstammt der Sammlung Törne, Heubner, Wojdylo, herausgegeben 1997 von der
Internationalen Jugendbegegnungstätte Ausschwitz-Birkenau.
Volker von Törne (1934-1980) - Mitarbeiter der Aktion Sühnezeichen, einer Organisation, die an
der Versöhnung zwischen den Deutschen und ihren Opfern arbeitet, gab fünf Gedichtbände
heraus.
Ingeborg Bachmann
Die große Fracht
Die große Fracht des Sommers ist verladen,
das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
Die große Fracht des Sommers ist verladen.
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
und auf die Lippen der Galionsfiguren
tritt unverhüllt das Lächeln der Lemuren.
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit.
Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,
kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;
doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
Hans Magnus Enzensberger
Für Karajan und andere
Drei Männer in steifen Hüten
vor dem Kiewer Hauptbahnhof –
Posaune, Ziehharmonika, Saxophon –
im Dunst der Oktobernacht,
die zwischen zwei Zügen zaudert,
zwischen Katastrophe und Katastrophe:
vor Ermüdeten spielen sie, die voll Andacht
in ihre warmen Piroggen beißen
und warten, warten
ergreifende Melodien, abgetragen
wie ihre Jacken und speckig
wie ihre Hüte, und wenn Sie da
fröstelnd gestanden wären unter Trinkern,
Veteranen, Taschendieben,
Sie hätten mir recht gegeben:
Salzburg, Bayreuth und die Scala
haben dem Bahnhof von Kiew
wenig, sehr wenig voraus.
Sage nein!
Konstantin Wecker
1. Wenn sie jetzt, ganz unverhohlen, wieder Nazi-Lieder johlen,
über Juden Witze machen, über Menschenrechte lachen,
wenn sie dann in lauten Tönen saufend ihrer Dummheit frönen,
denn am Deutschen hinterm Tresen muß nun mal die Welt genesen,
dann steh auf und misch dich ein:
Sage nein!
2. Meistens rückt dann ein Herr wichtig die Geschichte wieder richtig,
faselt von der Auschwitzlüge - Leider kennt man's zur Genüge mach dich stark und bring' dich ein,
zeig es diesem dummen Schwein:
Sage nein!
Ob als Penner oder Sänger, Bänker oder Müßiggänger,
ob als Priester oder Lehrer, Hausfrau oder Straßenkehrer,
ob du sechs bist oder hundert - sei nicht nur erschreckt, verwundert,
tobe, zürne, misch dich ein:
Sage nein!
3. Auch wenn jetzt die Neunmalklugen ihre Einsamkeit benutzen
unsren Aufschrei zu verhöhnen, öffentlich zurechtzustutzen,
wolln wir statt mit Eitelkeiten und Zynismus abzulenken,
endlich mal zusammenstehn, endlich mit dem Herzen denken.
Laßt uns doch zusammenschrein:
Sage nein!
4. Und wenn sie in deiner Schule plötzlich lästern über Schwule,
schwarze Kinder spüren lassen wie sie andre Rassen hassen,
Lehrer, anstatt auszusterben, Deutschland wieder braun verfärben,
hab' dann keine Angst zu schrein:
Sage nein!
5. Und wenn aufgeblas‘ne Herren dir galant den Weg versperren,
ihre Blicke unter Lallen nur in deinen Ausschnitt fallen,
wenn sie prahlen von der Alten, die sie sich zu Hause halten,
denn das Weib ist nur was wert wie dereinst - an Heim und Herd,
tritt nicht ein in den Verein:
Sage nein!
Ob als Penner oder Sänger, Bänker oder Müßiggänger,
ob als Priester oder Lehrer, Hausfrau oder Straßenkehrer,
Ob als Penner oder Sänger, Bänker oder Müßiggänger,
ob als Priester oder Lehrer, Hausfrau oder Straßenkehrer,
ob du sechs bist oder hundert - sei nicht nur erschreckt, verwundert,
tobe, zürne, misch dich ein:
Sage nein!
Komm wir malen uns das Leben
(Moderner Liedtext der Band Sternblut)
Wir malen Musik,
mit unsren Stimmen,
all ihren Farben,
den Melodien und dem was sie zusammenhält.
Wir malen Gefühle,
mal glücklich und froh
traurig und wütend,
Liebe und Einsamkeit.
Komm wir malen uns das Leben,
komm wir malen uns die Welt,
mit all ihren Farben,
Höhen und Tiefen
und mit allem was uns gefällt.
Wir malen Freiheit,
alles leicht und schön,
zu nichts gezwungen,
einfach nur hier sein , das ist die Traumwelt.
Ich mach die Augen zu und denk an dich.
Denk an damals, an unsre frühere Welt,
und mal mir daraus ein Bild, mal mir daraus ein Bild.