"Vorbild für die Flüchtlinge von heute? Die Integra9on der Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg" Dr. Sebas9an Braun (Ins9tut für WeltwirtschaE) 28. Oktober 2015 Flucht 1945 und 2015 2 Hintergrund • Die Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg betraf etwa 12-‐14 Mio. Menschen. • Schleswig-‐Holstein war in besonderem Maße betroffen, da es, gemessen an der Gesamtbevölkerung, die meisten Vertriebenen aufnahm. • Die Integra9on von Millionen von Heimatvertriebenen bedeutete eine enorme Herausforderung für das kriegszerstörte Deutschland. • War die wirtschaEliche Integra9on erfolgreich? Können wir aus der Vergangenheit Lehren für die heu9ge Situa9on ziehen? Und wenn ja, welche? 3 Flucht und Vertreibung nach Schleswig-Holstein 1. 1943/44/45: Zustrom von Evakuierten infolge des LuEkriegs, insbesondere aus Hamburg 2. 1945: Flucht aus den deutschen Ostgebieten vor der heranrückenden Roten Armee, insbesondere aus Ostpreussen und Pommern 3. 1945/46: „Ordnungsgemäße Überführung“ (Potsdamer Abkommen) der östlich der Oder-‐Neiße-‐Grenze verbliebenden Deutschen 4 Die Flüchtlinge in Schleswig-Holstein nach Herkunftsgebieten Quelle: Stat. MonatsheEe Schleswig-‐Holstein (1950) 5 Bevölkerungsanteil der Vertriebenen nach Bundesländern, 1950 35 33,0 30 27,2 25 21,1 20 16,5 15 0 6 16,7 12,7 10 5 16,6 7,2 5,0 7,3 8,6 9,6 10,1 5,9 Damals und heute 1944-‐50 7 2015 Zahl BRD: 7.876.000 D: ~800.000-‐1.500.000 SH: 857.000 (davon 553.600 SH: ~60.000 in 1945) WirtschaEliche Lage Kriegszerstörungen und Arbeitslosigkeit; später WirtschaEswunder Qualifika9on Weitgehend iden9sch mit Berufliche Qualifika9on (und mit westdeutscher Bevölkerung Abstrichen auch Schulbildung) deutlich geringer Sprachkenntnisse Muoersprachler Zumeist keine Deutschkenntnisse Altersstruktur Ähnlich wie westdeutsche Bevölkerung Geringes Durchschniosalter (55 Prozent sind unter 25 Jahre) Geringe Arbeitslosigkeit; FachkräEemangel und demografischer Wandel Lehre 1: Integra9on dauert—und ist eine Genera9onenaufgabe. Integra9on gelingt einfacher, desto jünger ein Flüchtling ist. Berufliche Umschichtung der Vertriebenen in Schleswig-Holstein, 1950 Vor der Flucht Nach der Flucht 0,6 5,7 16,6 37,8 Selbständige 18,5 11,2 8,3 4,2 Mith. Fam. Angeh. Beamte 71,0 Angestellte Arbeiter 26,1 Quelle: Stat. MonatsheEe Schleswig-‐Holstein (1950) Die Erwerbslosenquote der Heimatvertriebenen in Schleswig-‐Holstein lag 1950 bei 27%. 9 Unterschiede zwischen Vertriebenen und Einheimischen, 1971: Erste Generation 15% 10% Anteil Landwirte Anteil Arbeiter Arbeitseinkommen -‐10% Selbstständigenquote -‐5% Wahrscheinlichkeit Hausbesitz 0% Erwerbstä9gkeit 5% Quelle: Bauer/Braun/Kvasnicka (2013) 10 Unterschiede zwischen Vertriebenen und Einheimischen, 1971: Zweite Generation 15% Männer, Geburtsjahrgang 1944-‐49 10% Anteil Landwirte Selbstständigenquote Wahrscheinlichkeit Hausbesitz -‐10% Anteil Hochqualifizierter -‐5% Erwerbstä9gkeit 0% Arbeitsmarktpar9zipa9on 5% Quelle: Bauer/Braun/Kvasnicka (2013) 11 Derzeitige Arbeitsmarktsituation Arbeitsmark9ndikatoren nach Staatsangehörigkeitsgruppen 70% 66,5% 60% 50,0% 50% 44,3% 41,6% 40% 30% 25,2% 20% 10% 14,6% 17,0% 7,4% 0% Insgesamt Ausländer BeschäEigtenquote Sept. 2015 Balkan Kriegs-‐ und Krisenländer Arbeitslosenquote Juli 2015 Quelle: IAB (2015) 12 Beschäftigungsquote von Zuwanderern im Zeitverlauf, nach Zugangsweg in Prozent Quelle: IAB (2015) 13 Steuer-Transferbilanz in 2012 geborener Kinder ausländischer Eltern, nach wirtschaftlicher Integration 40000 33300 30000 20000 10000 2400 0 -‐10000 50% wie eigene Eltern, 50% 70% wie eigene Eltern, 30% wie Deutsche wie Deutsche 100% wie eigene Elterne -‐20000 -‐30000 -‐40000 -‐50000 -‐44100 Summe der bis an das Lebensende gezahlten Steuern und Beiträge abzüglich der in Anspruch genommenen Sozialleistungen. Gegenwartswert unter Annahme einer Diskontrate von 3% pro Jahr. Quelle: Bonin (2014). 14 Lehre 2: Es gibt—zumindest kurzfris9g—einen Konflikt zwischen Aufnahmeleistung und Integra9on. Daher bedarf es einer gerechteren interna9onalen Verteilung der Flüchtlinge. Erwerbslosigkeit 1950, nach Bundesländern 40% 35% 30% 34% 27% 28% 25% 20% 19% 21% 20% 17% 15% 17% 12% 10% 14% 10% 7% 5% 5% 5% 0% Bevölkerungsanteil Vertriebene Erwerbslosigkeit Vertriebene Quelle: Pfeil (1958) 16 Asylbewerber je eine Million Einwohner in Ländern der EU in Q2 2015 Anzahl der Asylbewerber je eine Million Einwohner 3500 3.317 3000 2500 2.026 2000 1500 1.467 997 1000 883 562 500 471 448 441 437 420 371 294 265 245 221 185 115 79 53 48 46 26 24 21 20 19 6 5 0 Quelle: Eurostat 17 Lehre 3: Dagegen dürEen auch bei weiter steigenden Flüchtlingszahlen einheimische ArbeitskräEe kaum vom Arbeitsmarkt verdrängt werden. Erwerbslosigkeit 1950, nach Bundesländern 40% 35% 34% 30% 28% 25% 21% 20% 15% 10% 17% 14% 12% 8% 10% 6% 5% 5% 3% 3% 5% 4% 0% Bevölkerungsanteil Vertriebene Erwerbslosigkeit Einheimische Heute konkurrieren Flüchtlinge, aufgrund ihrer Qualifika9on und Sprachkenntnisse, untereinander bzw. mit anderen kürzlich Zugewanderten. 19 Lehre 4: Arbeit ist zentral für den Integra9onsprozess. Arbeitsmarktintegration und Entwurzelung, 1953 Quelle: Bohnsack (1956) 21 Lehre 5: Die Unterbringung von Flüchtlingen auf dem Land kann bestenfalls eine kurzfris9ge Lösung sein. Erwerbslosigkeit Heimatvertriebener 1950, nach Siedlungsregion Die Unterbringung der Heimatvertriebenen auf dem Land, fern ab der industriellen Zentren Deutschlands, erschwerte die wirtschaEliche Integra9on. 25% 20% 15% 10% 5% Quelle: Pfeil (1958) 0% Städte Vorfeld LandwirtschaEliche Zone Viele Heimatvertriebene kehrten Schleswig-‐Holstein daher den Rücken. In den 1950er Jahren verlor das Land über 10% seiner Bevölkerung. 23 Lehre 6: Mioelfris9g können Flüchtlinge – nicht zuletzt aufgrund ihrer Mobilität – wirtschaElichen Wandel vorantreiben. Ein bleibender Unterschied: Die Mobilität der Heimatvertriebenen • Vertriebene waren – noch lange nach Flucht und Vertreibung – beruflich und räumlich deutlich mobiler als die einheimische Bevölkerung. • Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Vertriebener den Wohnort wechselte, lag noch in den 1960er Jahren um 50-‐75% über der entsprechenden Wahrscheinlichkeit der Einheimischen. • Die Heimatvertriebenen erweiterten daher nicht nur das Poten9al an qualifizierten ArbeitskräEen im boomenden Nachkriegsdeutschland. • Sie beschleunigten durch ihre Mobilität auch den Strukturwandel in Westdeutschland. 25 Zusammenfassung 1. Integra9on dauert—und ist eine Genera9onenaufgabe. 2. Es gibt—zumindest kurzfris9g—einen Konflikt zwischen Aufnahmeleistung und Integra9on. Daher bedarf es einer gerechteren interna9onalen Verteilung. 3. Dagegen dürEen auch bei weiter steigenden Flüchtlingszahlen einheimische ArbeitskräEe kaum vom Arbeitsmarkt verdrängt werden. 4. Arbeit ist zentral für den Integra9onsprozess. 5. Die Unterbringung von Flüchtlingen auf dem Land kann bestenfalls eine kurzfris9ge Lösung sein. 6. Mioelfris9g können Flüchtlinge – nicht zuletzt aufgrund ihrer Mobilität – wirtschaElichen Wandel vorantreiben. 26 Back-‐up Folien Was tun? 1. Schnelle Schaffung von Rechtssicherheit 2. Erste Genera9on: Qualifika9on, Spracherwerb, Kontakte • Koordina9on von Arbeitsvermiolung und Betreuung; Erfassung beruflicher und sprachlicher Kenntnisse • Qualifika9onsfeststellung und Anerkennung beruflicher Qualifika9onen • Maßgeschneiderte Sprachkurse so früh wie möglich • Kontakte zur einheimischen Bevölkerung so früh wie möglich (dezentrale Unterbringung, ZivilgesellschaE) 3. Zweite Genera9on: Frühkindliche Bildung, durchlässiges Schulsystem Die schiere Zahl der Flüchtlinge erschwert eine adäquate staatliche Betreuung, zivilgesellschaEliche Ini9a9ven sind daher von großer Bedeutung. 28 Entwicklung der Asylanträge (Erstanträge) in Deutschland seit Januar 2014 45000 40.487 40000 34.384 33.447 32.705 35000 28.681 30000 22.775 21.679 25000 18.415 18.748 17.059 16.214 16191 15138 20000 15000 24.504 23.758 12556 12077 11160 9828 9839 10199 10000 5000 0 Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez Jan Feb Mär Apr Mai Jun Jul Aug Sep 14 14 14 14 14 14 14 14 14 14 14 14 15 15 15 15 15 15 15 15 15 Quelle: BAMF Die Zahl der tatsächlichen Einreisen von Asylsuchenden nach Deutschland lag im September 2015 mit 163.772 noch deutlich höher. 29 Günstige Rahmenbedingungen: Geringe Arbeitslosigkeit Arbeitslosenquote in Deutschland im Jahresdurchschnio von 1995 bis 2015 14% 12% 10% 8% 11,4% 11,1% 10,5% 10,4% 9,4% 9,6% 9,4% 11,7% 10,5% 10,5% 9,8% 10,8% 9,0% 7,8% 8,1% 7,7% 7,1% 6,8% 6,9% 6,7% 6,5% 6% 4% 2% 0% '95 '96 '97 '98 '99 '00 '01 '02 '03 '04 '05 '06 '07 '08 '09 '10 '11 '12 '13 '14 '15 Quelle: Bundesagentur für Arbeit 30 Günstige Rahmenbedingungen: Schwarze Null Ausgaben und Einnahmen nach dem Finanzplan des Bundes von 2009 bis 2019 (in Milliarden Euro) 340 330 333 320 300 307 304 310 326 308 319 312 296 292 302 290 296 280 279 270 284 286 260 250 258 260 240 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 Ausgaben 31 Einnahmen Quelle: Deutscher Bundestag (2015) Günstige Rahmenbedingungen: Demografischer Wandel Altersstruktur in Deutschland, 2013-‐50 100 90 21 23 28 31 80 32 70 60 60 50 50 40 30 58 65 Jahre und älter 20 bis unter 65 Jahre unter 20 Jahre 38 Altenquo9ent 34 20 10 0 2013 2020 2030 2040 2050 Quelle: Sta9s9sches Bundesamt (2015) 32 Große Herausforderungen: Geringe Schulbildung Gemeldete erwerbsfähige Personen und sozialversicherungspflich9g BeschäEigte nach schulischer Bildung, Juni 2015 35% 32% 30% 25% 27% 26% 24% 22% 20% 32% 30% 23% 20% 17% 14% 15% 20% 15% 22% 15% 11% 9% 10% 5% 20% 17% 3% 0% Insgesamt Kein Hauptschulabschluss Ausländer Balkan Hauptschulabschluss Kriegs-‐ und Krisenländer Miolere Reife Abitur/Fach/Hochschulreife sons9ges/keine Angabe Quelle: IAB (2015) 33 Große Herausforderungen: Geringe berufliche Bildung Gemeldete erwerbsfähige Personen und sozialversicherungspflich9g BeschäEigte nach beruflicher Bildung, Juni 2015 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Insgesamt Ausländer Balkan Kriegs-‐ und Krisenländer Ohne abgeschlossene Berufsausbildung Betriebliche/schulische Ausbildung Akademische Ausbildung sons9ges/keine Angabe Quelle: IAB (2015) 34
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