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Jugendliche
Einleitung
Jugendliche
Einleitung
Wenn ein Kind in einer sicheren, anregenden und Rückhalt bietenden
Umgebung aufwächst, erlebt man, dass es bis zum Alter von zehn oder elf
Jahren innerlich immer ausgeglichener wird und in seiner Persönlichkeit fast
die Ausgewogenheit und das Selbstbewusstsein eines Erwachsenen erreicht.
Irgendwann zwischen zehn und vierzehn Jahren ändern sich das. Es ist
schwer vorherzusagen, wie sich diese Änderung ausdrückt – bei Mädchen
vielleicht durch eine größere Zurückgezogenheit, bei Jungen durch eine
eher nach außen gerichtete Aktionsbereitschaft. Vielleicht ist auch kaum
etwas zu bemerken, dennoch hat sich etwas Entscheidendes geändert.
Ein Kind, auch wenn es schon älter ist, verlässt sich meist noch darauf,
dass seine Eltern zur Stelle sind, wenn irgend etwas schiefgeht, dass jemand
kommt und die Verantwortung übernimmt. In der Pubertät und den Jahren
danach wird der Junge oder das Mädchen sich allmählich bewusst, dass jetzt
die Zeit kommt, in der man auf sich gestellt ist und die Verantwortung für
vieles selber übernehmen soll. Man muss seine eigenen Wege finden, und es
gibt Sorgen, Wünsche und Zweifel, in denen die Eltern keine Rolle spielen.
Die Zeit ist schon eine ganze Weile vorbei, in der die Eltern stets helfen
konnten, das entscheidende Wort sagten oder wussten, wie man sich verhält
und was richtig ist. Irgendwann merkte man schon bei den Schulaufgaben,
dass sie nicht mehr bei allem helfen konnten. Wenn alles gut geht, sind sie
noch Freunde, vielleicht Kumpels. Die Kindheit verblasst langsam. Ein Stück
weit richten sich die Hoffnungen weiterhin auf die Eltern, noch lange.
Während bisher schon die Freunde oder Freundinnen eine wichtige Rolle
spielten, werden sie jetzt immer mehr zur Richtschnur dessen, was geht und
was nicht. Manche Jugendliche ziehen es vor, nur eine einzige Freundschaft
zu pflegen, die meisten aber haben eine Clique, mit der sie zusammen sind,
sich absprechen, herumziehen oder zu Partys gehen. Die Art der Clique
und der Inhalt dessen, was sie tut, sagt viel darüber, wo der Weg hingeht.
Oft wird die Clique zu einer Instanz, die eine ungeschriebene Moral festlegt,
so wie dies vielleicht die Eltern früher taten oder versuchten.
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Jugendliche
Einleitung
Jugendliche stehen vor mehreren großen Aufgaben, für die sie Vorbilder
oder zumindest Muster brauchen. Zu diesen Aufgaben gehört der Umgang
mit dem anderen Geschlecht, und es gehört die berufliche Zukunft dazu.
Verunsichernd ist beides, es muss Brücken geben, die den Zugang leichter
machen. Die Zeit mit Freunden und Kumpels ebnet viele Wege, darunter
auch Wege zu Ablenkungen, die es möglich machen, sich noch eine Weile
vor der Zukunft zu drücken.
Der Beruf ist über die Schule zu erreichen, doch erst einmal muss man
die Anforderungen der Schule bewältigen. Während man jedoch von vielen
Dingen absorbiert ist, nicht zuletzt mit sich selber, ist die Konzentration
auf die Schule und den zukünftigen Beruf beeinträchtigt.
Dabei ist es wichtig, dass der Berufseinstieg gelingt. Wer nach dem Ende
der Schulzeit irgendeinen Beruf ergreift, nur weil kein anderer in Reichweite
war, hat einen großen Teil seiner Lebenschancen vielleicht schon vergeben.
Denn der Erfolg im Beruf hängt davon ab, ob man mit dem, was man tut,
wirklich einverstanden ist, und ob man auf Dauer dafür motiviert ist.
Wie konkret werden diese Zusammenhänge im Licht unserer Stichprobe ?
Zunächst wollen wir wissen, wie der Prozess der Loslösung vom Elternhaus vor sich geht, und wie sich neue Beziehungen und neue Bedeutungen
an die Stelle der alten setzen. Wir wollen auch wissen, wie gut der Rückhalt
war und wieviel bleibt. Wir betrachten also zunächst die Situation zu Hause.
Dann interessiert uns die Schule und der Berufseinstieg, um zu sehen,
welche Hürden auf einem erfolgreichen Weg in die Arbeitswelt stehen, und
wie die Jugendlichen diesen Weg beginnen. Das Gelingen oder Scheitern
des Berufseinstiegs ist entscheidend für den weiteren Lebensweg, doch ist
es nicht einfach, Erfolg zu haben.
Als drittes Thema ist die Freizeit wichtig. Die Freizeit ist etwas weniger
von Zwang und Leistungsdruck bestimmt, und so ist es kennzeichnend für
die eigene Kreativität und Interessenlage, wie man damit umgeht.
Die Jungen und Mädchen aus dem Kreis Gütersloh haben uns zu allen
drei Themen aufschlussreiche Antworten gegeben.
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Jugendliche
Situation zu Hause
Situation zu Hause
Einführung
Man könnte meinen, für Jugendliche, anders als für Kinder, sei es nicht
mehr so wichtig, wie es zu Hause zugeht, Hauptsache, die Versorgungsfunktion des „Hotel Mama“ ist intakt.
Jugendliche müssen sich mit Aufgaben auseinandersetzen, bei denen in
erster Linie eigene Initiative und Leistung zählen, und von denen die Eltern
nicht genug verstehen, um viel zu helfen. Die vier großen Aufgaben sind,
- mit sich selber einig zu werden, die eigenen Möglichkeiten, Grenzen und
Empfindungen zu verstehen und seelisch ins Gleichgewicht zu kommen,
- sich unter Gleichaltrigen und Freunden einen Platz zu erobern und ihn
selbstbewusst und mit Geschick zu behaupten,
- mit den Beziehungen zum anderen Geschlecht zurechtzukommen und
auch in dieser Hinsicht Zukunftspläne zu entwerfen und
- in Schule und Ausbildung Erfolg zu haben und dabei die eigene Zukunft
in der Arbeitswelt zu planen und vorzubereiten.
Für diese Aufgaben braucht man auch innere Kraft, und diese speist sich
aus den Verinnerlichungen der Kindheit, für die das Elternhaus gut oder
weniger gut gesorgt hat. Dasselbe Elternhaus ist noch immer da, und es
wird noch immer gebraucht, um Rückhalt zu geben. Es ist entscheidend, ob
man in der fordernden Welt „mit Netz turnt“ oder auf sich allein gestellt ist.
Ein Zuhause, das wie ein Jammertal wirkt, kann nicht ermutigen und
stützen. Da ist es besser, auf Abstand zu gehen. Ein gutes Zuhause aber
kann helfen, die Hürden zu überwinden.
In vielen Fällen hat die Familie eine Geschichte von Partnerschaftskrisen
hinter sich, und gar nicht selten ist die Familie nicht mehr dieselbe wie am
Anfang des Lebens. Trennungen spielen eine große Rolle, und ebenso sind
Krisen, die beinahe zu Trennungen geführt hätten, schwer zu verkraften.
Die amtlichen Statistiken für das Land Nordrhein-Westfalen lassen erkennen,
dass in den letzten Jahren die Zahlen der Eheschließungen stetig sinken
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Jugendliche
Situation zu Hause
und die Zahlen der Scheidungen ständig zunehmen, wobei in fast vier von
fünf Scheidungen minderjährige Kinder betroffen sind. Insgesamt ist etwa
jedes siebte Kind ein Scheidungskind, und da sind die Trennungen ohne
den amtlichen Akt der Scheidung und die Dauerkrisen, die beinahe zur
Trennung oder Scheidung geführt hätten, gar nicht mitgezählt. Bedenklich
sind nicht nur die in der amtlichen Statistik gezählten Fälle, sondern auch
die Fälle, in denen die Atmosphäre in den Familien, die den Jugendlichen
den Rücken stärken sollen, nicht stimmt. Betrachten wir unsere Stichprobe:
Elternsituation von Jugendlichen zu Hause
beide leibliche Eltern
ein Elternteil mit neuem Partner
ein Elternteil allein
64 %
23 %
13 %
von 78
Wie man erkennt, reicht die Bezeichnung „allein erziehend“ nicht aus.
Man müsste dazusagen, ob denn ein neuer Partner für das verbleibende
leibliche Elternteil im Haus ist, und wo der entschwundene Elternteil nun
hingekommen ist. Unsere Interviews erlauben eine differenziertere Sicht.
Zuvor aber werfen wir einen Blick auf andere Einflüsse, die mit darüber
entscheiden, ob das Zuhause eines Jugendlichen sich als eine tragfähige
Basis erweist oder nicht. Da spielen Verständnis und Vertrauen eine Rolle,
aber auch das Schicksal, das der einen Familie viel Luft zum Atmen lässt
und der anderen durch unverschuldete Belastungen den Atem einschnürt.
Unter den belastenden Themen sind Krankheit und Arbeitslosigkeit von
großer Bedeutung. Wo Zeit und Geld knapp sind, wird das Leben schwer.
In unserer kleinen Stichprobe ist Arbeitslosigkeit ein Thema unter anderen.
Thema Arbeitslosigkeit in Familien von Jugendlichen
ist ein belastendes Thema
ist kein belastendes Thema
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17 %
83 %
von 78
Jugendliche
Situation zu Hause
Wenn alles stimmt
Jugendliche sind auf dem Weg ins Leben als Erwachsene. Dazu müssen
sie sich aus der schützenden und orientierenden Welt der Eltern lösen und
eigene Wege suchen. Nun ist es nicht gleichgültig, wie sich die Eltern dazu
stellen. Selbstständig und unabhängig zu sein heißt nicht, die Beziehung zu
den Eltern aufzugeben oder gar als wertlos abzutun. Diese Beziehung hat
nach wie vor entscheidende Bedeutung, sie verändert sich nur. Noch immer
ist der Rückhalt wichtig, den die Eltern jetzt geben können und den sie in
der Vergangenheit gegeben haben. Hat in der Vergangenheit alles gestimmt,
dann sind Verinnerlichungen geblieben, die sich nun im Selbstvertrauen
und im Vertrauen zur Welt wiederfinden. In den Eltern Vorbilder zu sehen
und von den Eltern verstanden zu werden ist für Jugendliche nach wie vor
wichtig. Es kommt darauf an, wie gut sich die Eltern in der neuen und nicht
immer überschaubaren Welt ihres Sohns oder ihrer Tochter zurechtfinden.
In den folgenden beiden Fällen können wir Beispiele dafür erkennen,
dass der Rückhalt zu Hause den Weg in die Selbstständigkeit ebnet.
Junge (17) – Ein ideales Umfeld
Noch immer ist der Siebzehnjährige sehr an seine Eltern gebunden.
Zu ihnen hat er ein Vertrauensverhältnis. Der Vater ist „eingespannt“,
nach ihm richtet sich der Junge im Auftreten und Verhalten. Wenn es
etwas zu reden gibt, hat die Mutter fast immer Zeit. Der Junge erzählt
alles zu Hause, und wenn er etwas auf dem Herzen hat, bittet er seine
Eltern um Rat. Die Eltern möchten zwar, dass ihr Sohn selbstständig
wird und sich von ihnen unabhängig macht, doch wollen sie ihm auch
in Zukunft den bisher gewohnten Rückhalt zu Hause bieten. Er hat
zwei Schwestern, fünf und zehn Jahre alt. Die jüngere ist der „Schatz“
ihres großen Bruders, mit der Zehnjährigen gibt es immer mal wieder
kleine Streitereien, weil sie willensstark ist wie der Bruder. Das ganze
Umfeld ist zum Wohlfühlen. Das Einfamilienhaus ist geräumig und hat
einen schönen Garten. Im Haus wohnen noch eine Großmutter und
ein Onkel, der seine eigene Wohnung hat. Die andere Großmutter
wohnt mit ihrem Mann in der Nähe. Zu diesen Familienmitgliedern
wie zu allen anderen Verwandten hat der Junge ein gutes Verhältnis.
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Jugendliche
Situation zu Hause
Im Dorf kennt jeder jeden, und in der Nähe sind viele Gleichaltrige.
Der Junge freut sich, wenn er sie auf der Straße trifft und mit ihnen
Neuigkeiten austauschen oder etwas verabreden kann. Es gibt auch
Dorfklatsch, aber das ist nicht weiter schlimm, es ist nur wichtig, dass
nichts Falsches verbreitet wird. Wenn der Junge wirklich einmal einen
Fehler gemacht hat, stehen seine Eltern hinter ihm und helfen, alles
wieder auszubügeln. Früher lebte eine Urgroßmutter des Jungen mit
im Haus, und mit ihr verstand er sich gut. Ihr Tod war ein prägendes
Erlebnis für ihn. Vorher konnte es schon geschehen, dass er über alte
Leute lästerte, doch seitdem spricht er über alte Leute mit viel Respekt.
Der Junge wird nun Urlaub machen und danach seine Lehre beginnen.
So sollte es sein. Es kommt beim Erwachsenwerden eben nicht nur auf
die Ablösung selber an, sondern auch auf das, wovon man sich ablöst, und
auf den Rückhalt, der bleibt. Ein unwirtliches Umfeld beschleunigt zwar
das Weggehen, nicht aber das Erwachsenwerden. Der äußere Rückhalt ist
Spiegel und Grundlage des inneren Rückhalts, und den brauchen wir alle.
Die Eltern, die ganze kleine Familie, die Hausgemeinschaft, die Straße und
das Dorf – es sind immer größere Kreise, und am Ende ist es die Welt.
So wächst man hinein, und so bleibt sie, wenn man Glück hat, geordnet.
Mädchen (14) – Alles in bester Ordnung
Die Vierzehnjährige kommt gut mit ihren Eltern zurecht. Der Vater
hat einen Vollzeit-Beruf, die Mutter verbringt einen kleinen Teil ihrer
Zeit mit Randstunden-Betreuung in der Schule. Weil die Mutter also
oft zu Hause ist, kann die Tochter mit ihr ausführlich über Probleme
und Sorgen sprechen, und zwischen beiden hat sich ein besonderes
Vertrauensverhältnis aufgebaut. Die erwachsene Schwester lebt längst
außer Haus, und auch der Bruder, der schon über zwanzig Jahre alt ist,
war schon einmal ausgezogen. Nun aber ist er wieder bei seinen Eltern.
Auch die erwachsene Schwester ist für das Mädchen eine Vertrauensperson, mit der man gut über die Dinge des Lebens sprechen kann.
Überhaupt hält die weibliche Fraktion der Familie eng zusammen, aber
im Grunde verstehen sich alle gut, und das Wochenende verbringen sie
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Jugendliche
Situation zu Hause
gern gemeinsam. Die Vierzehnjährige fühlt sich von ihren Eltern gut
verstanden und vernünftig behandelt. Je älter sie wird, umso lockerer
werden die Regeln. Wann sie ins Bett geht, bestimmt sie selber, und
auch das Ausgehen ist sinnvoll geregelt. Wenn notwendig, gibt es auch
Ausnahmen. Die Eltern interessieren sich sehr für das, was die Tochter
in der Schule tut und erlebt, doch sie setzen sie nicht unter Druck.
Wenn die Eltern Entscheidungen treffen, wird die Tochter einbezogen,
nichts wird über ihren Kopf hinweg entschieden. Wenn das Mädchen
nicht einer Meinung mit den Eltern ist, kann sie mit ihnen darüber
unbefangen sprechen, ohne Ärger auszulösen. Wenn sie Angst hat –
zum Beispiel, die Schule nicht zu schaffen –, kann sie sich den Eltern
anvertrauen, auch über Zukunftspläne gibt es Gespräche. Nur wenn es
um Jungen geht, werden Freundinnen oder die Schwester eingeweiht.
Na also, es geht doch ! Es ist gar nicht so schwer, mit Jugendlichen gut
zurechtzukommen, man muss nur wechselseitiges Vertrauen aufbauen und
liebevoll mit den Wünschen und Sorgen der Söhne und Töchter umgehen –
nicht erst nach der Pubertät, sondern von Anfang an. Wahrgenommen und
in der Bedeutsamkeit der eigenen Interessen bestätigt zu werden, das ist
notwendig, um die eigene Entwicklung mit Motivation zu versorgen.
Schwierige Verständigung zwischen den Generationen
In vielen, vielleicht den meisten Familien fühlen Jugendliche sich nicht
verstanden, während die Eltern verstimmt sind, dass ihre Ansichten und
Ratschläge nicht ankommen. Die Distanz zwischen den Generationen kann
groß oder klein sein oder auch von Zeit zu Zeit wechseln. Es ist besser,
wenn Jugendliche ihren Weg in die Selbstständigkeit aus eigener Initiative,
aber doch im Bewusstsein eines verlässlichen Rückhalts gehen, als wenn sie
sich von ihrem Zuhause mit dem Empfinden lösen, dass man sich sowieso
nichts mehr zu sagen hat. Die Beziehung zwischen Eltern und Jugendlichen
wird durch die Turbulenzen der Pubertät nicht geschaffen, sondern nur
ausgeformt. Sie baut auf der Beziehung auf, die in den Jahren der Kindheit
bestanden hat und durch Verlässlichkeit und Vertrauen geprägt war – mehr
oder weniger. Die folgenden Beispiele machen deutlich, was gemeint ist.
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Jugendliche
Situation zu Hause
Mädchen (17) – Zu Hause wenig Bindung
Die Siebzehnjährige wohnt in einem Haus mit ihren Eltern und einer
ihrer Großmütter. Sie ist Einzelkind und meint, das sei kein Nachteil,
und sie sei auch nicht verwöhnt, sondern habe frühzeitig gelernt, sich
zu behaupten. Zu den Eltern und zur Oma hält sie Distanz. Besonders
von ihrer Mutter fühlt sie sich nicht verstanden. Zwar bedrängt diese
das Mädchen immer wieder, etwas von sich zu erzählen, doch eben
weil sie sich nicht verstanden fühlt, wehrt sie dieses Nachbohren ab.
Mit dem Vater gibt es in dieser Hinsicht weniger Ärger, weil der den
ganzen Tag über weg ist, anders als die Mutter, die oft zu Hause ist.
Probleme hat die Siebzehnjährige schon, doch dafür ist ihre Freundin
als Vertrauensperson zuständig. Auch zur Oma gibt es keine gute oder
gar vertrauensvolle Beziehung. Im Gegenteil : Die Oma kümmert sich
um den Haushalt und nutzt dies, um sich in die Angelegenheiten aller
anderen Familienmitglieder einzumischen. Sie hat sogar schon die Post
des Mädchens gelesen. Aber sie stockt manchmal das Taschengeld auf.
Das meiste Geld geht fürs Handy drauf – seitdem es ein Vertragshandy
ist, sind die Kosten weniger überschaubar und darum höher. Um mehr
Geld zu bekommen, hat die Siebzehnjährige einen Job übernommen
und zweimal pro Woche abends gekellnert. Doch manchmal stand am
nächsten Tag eine Klassenarbeit an, und wenn es später als 23 Uhr
wurde, waren die Eltern aufgebracht. So ließ sie den Job wieder sausen.
Wie wir wissen, ist ein Vertrauensverhältnis zu den Eltern, bei einigen
Mädchen bevorzugt zur Mutter, durchaus nicht selten – unabhängig von
der Ablösung und Verselbstständigung in der Zeit des Erwachsenwerdens.
Wo dieses Vertrauensverhältnis nicht zustande kommt, ist der Grund dafür
meistens in den langen Jahren vor der Pubertät zu suchen. Wenn manche
Erwachsene klagen „Unsere Tochter war früher so ein gutes Kind, aber
jetzt hat sie sich völlig verändert !“, kann dies auch bedeuten, dass die Eltern
die Gefügigkeit des abhängigen kleinen Kindes mit Vertrauen verwechselt
haben und nun sehen müssen, dass die vermeintliche Grundlage nicht trägt.
Dann ist ein Umdenken notwendig, das zu einem besseren Verständnis für
die Art des Denkens und für die Erwartungen der Jugendlichen führt.
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Jugendliche
Situation zu Hause
Junge (17) – Auslaufmodell Familientag
Die Mutter des Siebzehnjährigen produziert zu Hause Waren, die sie
verkauft. Sie hat Stammkunden. Der Vater arbeitet in Wechselschicht.
Die Eltern legen Wert darauf, mit dem Sohn und seiner um ein Jahr
älteren Schwester zusammen gemeinsame Mahlzeiten einzunehmen,
wann immer dies sich einrichten lässt. Sonntag war bisher Familientag,
doch darauf hat der Junge in letzter Zeit keine Lust mehr. Die Familie
hat ihm nicht mehr viel zu bieten. Mit der Mutter kann er noch reden,
wenn sie auch manchmal enttäuscht wirkt, mit dem Vater gibt es Streit
ums Rechthaben. Manchmal, wenn der Sohn „eine große Fresse“ hat,
folgt die Strafe sofort, dann kann er die Party vergessen, zu der er
gehen wollte. Überhaupt fühlt sich der Junge unverstanden, die Eltern
fragen nicht danach, wie es ihm geht und was er denkt und empfindet.
Mit der Schwester versteht er sich gut, auch die Großeltern besucht er
gern – erst letzte Woche hat er ihnen beim Tapezieren geholfen. Jetzt
spart er auf seinen Führerschein, in den Ferien hat er für 4 Euro pro
Stunde gejobbt, es war ziemlich anstrengend, doch er weiß ja, wofür.
Das klingt vertraut. Langsam aber sicher kommt die Entfremdung, und
auch die alten Rituale halten sie nicht auf. Familienleben kann man nicht
über die Jahre einfrieren. Wenn aus einem Kind allmählich ein Erwachsener
wird, müssen die Eltern neue Formen des Umgangs finden, wenn die gute
Beziehung erhalten bleiben soll. Sonst sind die Eltern bald „von gestern“.
Junge (14) – Eigentlich ein Normalfall
Ein ordentliches Elternhaus – drei Kinder und ihre Eltern. Die Rollen
sind so verteilt : Die Mutter ist für den Alltag des Vierzehnjährigen und
seiner Geschwister – des zwei Jahre jüngeren Bruders und der kleinen
Schwester – zuständig. Der Vater ist weniger zugänglich, denn er hat
einen verantwortungsvollen Beruf, der ihn fordert. Am Wochenende
ist der Vater oft weg zu Fortbildungsseminaren. Sind die Eltern einmal
zusammen, erörtern sie mit den Kindern die Probleme des Lebens und
eventuelle Meinungsverschiedenheiten mit vielen Worten – zu vielen
Worten, wie es dem Jungen manchmal scheint. Der Junge hat ein gutes
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Jugendliche
Situation zu Hause
Verhältnis zu seiner Mutter und spricht mit ihr über seine Sorgen.
Früher war sie berufstätig, nun ist sie nur noch zu Hause. Die Berufe
der Eltern haben ihre Forderungen an den Vierzehnjährigen geprägt:
Kein Alkohol, kein Nikotin, keine anderen Drogen ! Das will der Junge
selber, und er erwartet, dass er auch ohne den „coolen“ Konsum dieser
Suchtmittel von seinen Altersgenossen ernst genommen wird, er will
seine Eltern nicht enttäuschen. Manchmal wünscht der Junge sich,
einmal etwas allein mit seinem Vater zu unternehmen, zum Beispiel
mit einem Segelboot zu fahren. Doch der Vater hatte bisher keine Zeit.
So stellt man sich das traditionelle Modell einer normalen Familie vor.
Während der Vater vom Kampf ums Familien-Einkommen absorbiert ist,
sorgt die Mutter für ein funktionierendes Zuhause. Probleme werden stets
„ausdiskutiert“. Die Mutter hört zu, wenn die Kinder Sorgen haben, und
der Vater ist ein Vorbild, nur leider nicht so richtig zum Anfassen, weil er
ständig mit Wichtigerem beschäftigt ist. Der Sohn hätte so gern auf seinem
Weg ins Leben der Erwachsenen seinen Vater in seiner Nähe, um vielleicht
einige Abenteuer mit ihm zu erleben. Die Wochenendseminare gehen vor.
Wahrscheinlich hat der Junge Verständnis für seinen Vater, es kommt aber
darauf an, dass der Vater sich bemüht, das Defizit irgendwie wettzumachen.
Mädchen (17) – Tausche Schwester gegen Oma
Die sportlich wirkende junge Frau fühlte sich in ihrer Familie wohl, bis
jetzt jedenfalls. Doch nun stehen Veränderungen an, und sie weiß noch
nicht, wie sie damit zurechtkommen wird. Vor einer Woche ist ihre um
drei Jahre ältere Schwester ausgezogen, diese beginnt ihre Ausbildung
an einer Fachschule in einer anderen Stadt, weit weg. Das ist schade,
denn mit dieser Schwester hat sich die Siebzehnjährige gut verstanden
und viel mit ihr unternehmen können. Das geht nun leider nicht mehr.
Dafür kommt eine achtzigjährige Großmutter ins Haus, die hier ihrem
Lebensende entgegensehen will. Die Großmutter, so weiß die junge
Frau, neigt dazu, sich in die Angelegenheiten anderer Menschen
einzumischen, besonders in die Angelegenheiten der Siebzehnjährigen.
Wenn es so kommt, ist es mit dem Frieden im Elternhaus bald vorbei.
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Jugendliche
Situation zu Hause
Dieses Beispiel stößt uns darauf, dass nichts so bleiben wird wie es ist.
Die Jahre vergehen in einer Familie spürbarer als in einem Single-Haushalt.
Stellen wir uns einen ähnlichen alltäglichen, typischen Fall dieser Art vor:
Die Idylle aus den Werbespots im Fernsehen zeigt uns Vater, Mutter und
Kinder als Gruppe, die sich gegenseitig stützt, und die das Leben mit seinen
Hürden und Konsumfreuden gemeinsam bewältigt, vielleicht sogar genießt,
von gesunden, aktiven Großeltern mit Wohlwollen ermutigt. Diese Idylle
könnte einige Jahre lang Wirklichkeit sein, wenn nicht zu viel schiefgeht.
Doch unausweichlich wird die Zeit kommen, in der sie zu zerfallen beginnt.
Die Kinder bleiben erst abends, dann am Wochenende weg, dann werden
sie flügge und verlassen das „Hotel Mama“. Jetzt endlich haben Vater und
Mutter ihr eigenes Leben – mit welchem Inhalt ? Die jüngeren Geschwister
spüren, wie sehr ihnen ihre Windschatten gebenden älteren Brüder oder
Schwestern fehlen, die nur noch per Handy oder eMail zu erreichen sind.
Dann verlieren die Omas und Opas an Schwung und beginnen zu kränkeln,
und die Frage wird akut, wer jetzt für sie sorgen soll und wie. Der flügge
gewordene Nachwuchs wechselt in die Welt der Erwachsenen und macht
Zimmer frei für die gebrechlich werdenden Eltern der Eltern. Die Familie
verblüht – aus Sicht der eben noch mitten im Leben stehenden Generation.
Für deren Nachwuchs steht vielleicht die Gründung einer neuen Familie an,
und so schiebt er die Eltern aus dem Rampenlicht der Bühne des Lebens.
Schicksal
Die folgenden drei Beispiele machen deutlich, dass es nicht immer in der
Macht der Familien liegt, ihr Leben erträglich zu machen. Krankheit und
Arbeitslosigkeit sind zwei Themen, die mit einem Gefühl der Ohnmacht
einhergehen und die Familie vielleicht in eine defensive Position bringen.
Junge (18) – Ohne die Mutter
Vor sechs Jahren ist die Mutter des heute Achtzehnjährigen an Krebs
gestorben. Wäre das vermeidbar gewesen ? Hätte die Diagnose nicht
früher gestellt werden können, rechtzeitig ? Haben die Ärzte sich genug
um sie gekümmert ? Der Junge weiß es nicht, denkt aber immer noch
darüber nach. Lange war die Mutter krank und bettlägerig, und doch
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Jugendliche
Situation zu Hause
kam ihr Tod plötzlich. Der Junge hat sie sehr vermisst, doch heute,
nach sechs Jahren, hat er ihren Tod verarbeitet. Dass dies möglich war,
ist auch ein Verdienst des Vaters, der sich um seinen Jüngsten immer
gekümmert hat und auch heute noch für ihn da ist. Die älteren Brüder
haben nicht viel geholfen, sie sind längst aus dem Haus, und der Junge
möchte mit ihnen nichts zu tun haben. Es war schwer, mit den Frauen
zurechtzukommen, die der Vater nach dem Tod der Mutter kennenlernte und als Partnerinnen nahm. Schon ein Jahr nach dem Tod seiner
Frau hat der Vater wieder geheiratet. Die neue Frau hat den Jungen
schikaniert, weil sie ihn nicht leiden konnte. Sein Vater hat dies nicht
geduldet und sich von der Frau wieder getrennt. Noch heute rechnet
der Junge es dem Vater hoch an, dass er sich für ihn entschieden hat.
Seit einiger Zeit hat der Vater eine neue Partnerin, und diese kommt
mit dem Jungen besser zurecht, freundschaftlich. Der Achtzehnjährige
nennt seinen Vater tolerant, der Junge sah sich kaum eingeschränkt
oder bevormundet. Erst seitdem er nun einen Führerschein hat und
mit dem Auto des Vaters unterwegs ist, werden die Regeln enger und
die Zeiten des Wegbleibens vorgegeben. Dies führt der Junge darauf
zurück, dass der Straßenverkehr allerlei Gefahren birgt und der Vater
sich berechtigte Sorgen um das Wohlergehen seines Sohnes macht.
Nicht immer verläuft das Leben nach Plan. Der vorzeitige Tod eines
Elternteils in einem Alter, in dem die Loslösung von den Eltern erst gerade
beginnt, ist nur schwer zu verkraften. Der überlebende Elternteil hat nun
die schwere Aufgabe, mit der eigenen Trauer fertig zu werden und zugleich
dem verstörten Kind zu helfen, den im Grunde für unmöglich gehaltenen
Verlust zu verarbeiten, der in diesem Beispiel die erste und immer noch
vorrangig wichtige Bezugsperson betroffen hat. Man muss Respekt haben
vor der Art, wie der Vater sich der Aufgabe gestellt und sie gemeistert hat.
Junge (17) – Mutter will alles wissen
Der Siebzehnjährige hat zwei erwachsene Brüder und außerdem einen
zu Hause lebenden Bruder, der ein Jahr älter ist, und eine jüngere
Schwester. Früher reichte der Platz nicht, und so wurde stets ein Kind
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Jugendliche
Situation zu Hause
„ausgelagert“ und wohnte ganz in der Nähe bei einer Großmutter
in deren Wohnung. Als die Reihe an den Jungen kam, änderte sich alles
dadurch, dass die Großmutter pflegebedürftig wurde, während er bei
ihr wohnte. Das ist einige Monate her, und seitdem ist es die Aufgabe
des Jungen, sich an der Pflege seiner Großmutter zu beteiligen. Zwar
ist inzwischen genug Platz im Elternhaus, wegen der Pflegeaufgabe
aber wohnt der Junge weiterhin bei der Großmutter. Wenn er abends
weggeht, muss er spätestens um Mitternacht zu Hause sein, um nach
der Oma zu sehen. Auch die Mutter beteiligt sich an der Pflege und hat
dafür ihren bis dahin ausgeübten Vollzeit-Beruf aufgegeben. Nur noch
der Vater ist im Beruf. Der Junge ist nicht nur wegen der Pflege eng an
die Familie gebunden, sondern auch wegen der Grundhaltung seiner
Eltern. Diese wollen ihn immer noch bevormunden. Die Mutter will
alles wissen und auch bei allem mitbestimmen, der Junge meint jedoch,
es gehe die Mutter nichts mehr an, wen er als Freunde hat und womit
er seine Freizeit verbringt. So fragt er oft nicht mehr um Erlaubnis,
weil er sonst zu viele Einzelheiten erklären muss. Trotzdem hat er gute
Beziehungen zu allen Familienmitgliedern, besonders zu seinem etwas
älteren Bruder, mit dem er gemeinsame Interessen hat. Die jüngere
Schwester hat eine Nervenerkrankung, und so steht sie im Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit ihrer Eltern, als Sorgenkind und Nesthäkchen.
„Familie ist, wo sich Alt um Jung oder Jung um Alt kümmert.“ – lautet
einer der vielen Definitionsversuche in einer Welt, in der es keine Standards
des Zusammenlebens mehr zu geben scheint. In diesem Fall bedürfen Jung
und Alt des Kümmerns. Die chronisch kranke Schwester und die pflegebedürftige Großmutter absorbieren Aufmerksamkeit und Kraft und engen
die Kümmerer zeitlich ein. So haben viele Familien Mitglieder, die mit ihrer
Bedürftigkeit den Anderen Randbedingungen der Lebensgestaltung setzen.
Mädchen (16) – Rundum wenig Aufbauendes
Die Mutter des Mädchens trägt durch ihren nicht sehr gut bezahlten
Teilzeitjob die Hauptlast, der Vater bekommt Arbeitslosenhilfe, beides
zusammen bringt seit zehn Jahren die Familie über die Runden, man
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Jugendliche
Situation zu Hause
hat sich ans Verzichten gewöhnt. Der Vater verlor seinen Arbeitsplatz
als Techniker im Zuge einer Kündigungswelle. Da war er beruhigend
weit von der Fünfzig entfernt, und so fand er nach langem Bemühen
wieder Arbeit in seinem Beruf. Doch die Firma ging in Konkurs, und
so war er wieder arbeitslos und älter. Da machte er Kompromisse und
verdingte sich bei einer Leiharbeitsfirma, und durch das Arbeitsamt
wurden ihm viele Weiterbildungskurse zuteil. Aber die nutzten nichts,
und obwohl er sich auf alle freien Stellen bewirbt und alle in Betracht
kommenden Firmen inzwischen kennt, hat es nur Absagen gegeben.
Über das Thema Arbeitslosigkeit darf man in der Familie nicht reden,
es ist tabu. Alle sehen den Vater Bewerbung um Bewerbung schreiben
und zu Gesprächen fahren, aber er selber hat keine Hoffnung mehr
und beginnt zu resignieren. Die ältere Schwester, immerhin, studiert,
sie bekommt BAFÖG. An den Wochenenden kommt sie nach Hause.
Die Eltern der Mutter leben noch, sie sind zwar sehr alt, aber fit und
gesund. Den Großeltern von Seiten des Vaters ist Schlimmes widerfahren. Der herzkranke Großvater ist plötzlich gestorben, die Großmutter leidet an der Alzheimer-Krankheit und hatte vor kurzer Zeit
mehrere Schlaganfälle. Sie lebt in einem Pflegeheim, gelegentlich holt
man sie nach Hause. Nun erkennt sie die eigenen Kinder nicht mehr,
sie freut sich und lächelt, wenn jemand kommt, ob bekannt oder nicht.
Das ist Situation, in der sich die Vierzehnjährige zu Hause befindet.
Sehr dicht zeigt dieser Fall, wie es ist, wenn eine Familie wenig Glück hat.
Das verzweifelte Anrennen des gar nicht alten Vaters gegen die schmerzhafte Erfahrung „Du wirst auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht.“
und die Demütigung, die damit verbunden ist, sind in der Familie allgegenwärtig. Die Mühsal der Mutter, die das Geld verdienen muss und damit an
die Grenze ihrer Belastbarkeit geführt wird, kommt hinzu, und die Demenz
der Großmutter mahnt an die Hinfälligkeit, die jedem Leben bevorstehen
kann. Doch es gibt auch Lichtblicke. Die Schwester studiert dank BAföG,
die Eltern der Mutter sind noch bei guter Gesundheit. Man sieht, das Leben
dieser Familie ist voller Mühen und Plagen – „durchwachsen“. Allzu viel
darf nicht mehr schiefgehen, sonst gerät das empfindliche Gleichgewicht
ganz aus den Fugen. Doch noch geht es.
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Jugendliche
Situation zu Hause
Trennung ohne Schaden
Wir betrachten nun drei Fälle, in denen die Trennung der Eltern keinen
bleibenden Schaden für die Kinder, die späteren Jugendlichen, bewirkte.
Mädchen (17) – Harmonisches Durcheinander
Als das Mädchen drei Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Der Vater
ist bis heute im Ruhrgebiet geblieben und die Mutter mit ihrem Kind
nach Gütersloh gezogen. Die Eltern sind in gutem Einvernehmen
auseinander gegangen, es hat keine Konflikte gegeben, sie verstehen
sich auch jetzt noch gut, und so hat bis heute die Tochter zu beiden
eine tragfähige Beziehung, wenn auch der Vater weit weg ist. Doch er
ist wichtig für sie, sie besucht ihn regelmäßig am Wochenende. Heute
ist sie eine siebzehnjährige junge Frau. Die wichtigste Person in ihrem
Leben ist ihre Mutter. Sie haben gemeinsame Interessen und sind sich
in vielen Dingen ähnlich. Die Mutter hat in ihrem interessanten Beruf
mit Jugendlichen verschiedener ethnischer Herkunft zu tun und kann
mit ihrem Engagement auch die Tochter begeistern. Das harmonische
Zusammenleben ist von einem Konflikt um den Lebensgefährten der
Mutter getrübt. Die Tochter kann ihn nämlich nicht leiden und geht
ihm aus dem Weg, und die Mutter ist über diese Spannung unglücklich.
Ein wenig „kindliche“ Eifersucht ist dabei im Spiel, das wissen beide.
Auch der Vater hatte bis vor einiger Zeit eine Freundin, eine junge
Frau, die heute dreiundzwanzig Jahre alt und damit nur sechs Jahre
älter als die Tochter ist. Beide haben sich gut verstanden und treffen
sich immer noch. Das Mädchen hat in der Lebensgefährtin des Vaters
eher eine Freundin als eine Stiefmutter gesehen und sie sehr gemocht.
Wie ihre Mutter ist die Siebzehnjährige fasziniert von sozialen Unterschieden und dem, was daraus folgt. Sie selber ist Gymnasiastin, aber
sie hat Verbindung zu einer Gruppe aufgenommen, die aus türkischen
und aramäischen Mädchen besteht. Eines der Mädchen wird nun bald
heiraten, weil ihre Eltern das für sie entschieden haben. Der Siebzehnjährigen macht es zu schaffen, dass dieses Mädchen sich einfach ohne
jede Rebellion in sein Schicksal ergibt, doch sie versteht, dass sonst ein
Ausschluss aus dem Familienverband die kaum erträgliche Folge wäre.
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Jugendliche
Situation zu Hause
Dieser Fall zeigt, worauf es wirklich ankommt, nämlich dass einem Kind
das Gefühl von Sicherheit und Zuwendung, also vom Funktionieren seiner
von der Geburt an wichtigsten Bezugspersonen, vermittelt wird. Dann ist
jeder Konflikt bewältigbar, und das am Lebensanfang aufgebaute Grundvertrauen wird nicht, wie bei so vielen Kindern, durch die Verunsicherung
seiner erwachsenen Bezugspersonen nachträglich erschüttert. Sehr schön
kann man in diesem Beispiel erkennen, wie Interesse und Engagement aus
Beziehungen erwachsen und nicht, wie viele naiv hoffen, aus Appellen und
Lehrplänen. Grundlegendes Vertrauen zu anderen Menschen entsteht nicht
zufällig, sondern am Beginn des Lebens, und es festigt sich stetig danach.
Junge (14) – Im großen Ganzen ist alles in Ordnung
Der Vierzehnjährige wohnt mit seiner Mutter in einem einfachen Haus
in einer Siedlung, die früher multikulturell geprägt war und jetzt fast
nur von Russlanddeutschen bewohnt wird. Die Familie gehört nicht
dazu. Es gibt viel Streit und Aufregung im Wohnumfeld. Die Eltern
des Jungen haben sich vor drei Jahren getrennt, und seitdem arbeitet
die Mutter in einem Vollzeit-Beruf. Der Vater wohnt nicht weit weg,
und so ist es für den Jungen leicht, hin und her zu pendeln. Das ist gut
geregelt, am Wochenende ist der Junge beim Vater, an den Werktagen
bei der Mutter, je nach Zweckmäßigkeit gibt es Ausnahmen. Das Haus
gehört nun der Mutter, die unter starker finanzieller Belastung steht,
weil sie die Hypothek übernommen hat. Als die Eltern sich trennten,
war der Vater arbeitslos, und er kann den Unterhalt für Frau und Sohn
nicht zahlen. Das jedoch war nie ein Streitpunkt zwischen den Eltern.
Die Trennung der Eltern hat den damals elf Jahre alten Jungen nicht
bedrückt. Er kann jederzeit, auch außerhalb der vereinbarten Besuchszeiten, zu seinem Vater gehen. Beide Eltern stehen ihm zur Verfügung,
und sie haben auch untereinander weiterhin Kontakt. Zu seiner Mutter
hat der Junge ein gutes Verhältnis, er kann ihr alles sagen, verschont sie
aber mit kleineren Sorgen, sie hat auch so genug Probleme. Wenn er
zum Beispiel eine Freundin hätte, dürfte die Mutter es wissen. Er hat
aber keine. Nur widerwillig hilft er im Haushalt, obwohl die Mutter es
immer wieder von ihm verlangt. Strafen verhängt sie aber nicht.
144
Jugendliche
Situation zu Hause
Man könnte sich günstigere Bedingungen wünschen, doch man hat eben
nicht immer Einfluss darauf. Eltern sollten zusammenbleiben. Aber es geht
nicht immer wie geplant. Der Vater sollte Arbeit haben. Doch manchmal
kommt es anders im Beruf. Man muss das Beste daraus machen, und das ist
in diesem Fall immerhin gelungen. In vielen anderen Fällen gelingt es nicht,
und die beiden großen Gefahrenquellen, Partnerschaft und Beruf, setzen
mit einem Scheitern einen Teufelskreis in Gang, eine Spirale abwärts.
Mädchen (17) – Gut, dass der Vater weg ist
Das Leben ist nicht einfach für die Siebzehnjährige. Dabei ist der ewige
Streit mit ihrer drei Jahre jüngeren Schwester nur ein Ärgernis. Auch
im Wohnumfeld ist es ungemütlich – mehrere Nationalitäten sind da
zusammengekommen, und sie vertragen sich nicht. Zwei Nachbarn
nur sind ansprechbar und freundlich, die anderen sehen sich von Fall
zu Fall vor Gericht oder geraten sich auf andere Weise in die Wolle.
Die hübsche junge Frau und ihre jüngere Schwester leben mit ihrer
Mutter und deren neuem Partner zusammen, und die Siebzehnjährige
verträgt sich gut mit der Mutter und dem Stiefvater. Seit fünf Jahren ist
der leibliche Vater der beiden Kinder schon weg, die Eltern haben sich
scheiden lassen. Die Siebzehnjährige hatte zu ihrem leiblichen Vater
ein sehr schlechtes Verhältnis, ist froh, dass er weg ist, will ihn nicht
mehr sehen und versteht nicht, dass die kleine Schwester sich mit ihm
trifft. Zur Mutter hat das Mädchen eine enge Beziehung und betrachtet
sie als ihre beste Freundin. Der Mutter geht es nicht gut, sie ist belastet,
das Mädchen macht sich Sorgen um sie und versucht, ihr zu helfen.
In diesem Fall ist es eindeutig : die Scheidung kann für ein betroffenes
Kind die beste Lösung sein. Folgenlos ist sie dennoch nicht, besonders weil
sie eine Vorgeschichte hat, in der die traumatisierenden Probleme enthalten
sind. Die Behauptung „Ende gut, alles gut.“ gilt hier nur bedingt. Es hätte
schlimmer kommen können, irgend etwas stimmte von Anfang an nicht.
Die Elterngeneration wird aus Sicht der Kinder durch die Scheidung oft
in ihrer Fähigkeit geschwächt, sich zu kümmern und Vorbild zu sein, und
oft nimmt das Sicherheitsgefühl der Kinder dabei nachhaltigen Schaden.
145
Jugendliche
Situation zu Hause
Trennung mit Schaden
Es ist wahrscheinlich der Regelfall, dass die Trennung der Eltern großen
Schaden bei den Kindern anrichtet, der später noch nachwirkt, wenn aus
den Kindern erst Jugendliche geworden sind. Die drei folgenden Beispiele
sollen deutlich machen, wie ein solcher Schaden aussehen kann.
Mädchen (14) – Distanz zu den geschiedenen Eltern
Es ist sieben Jahre her, dass die leiblichen Eltern der heute Vierzehnjährigen sich scheiden ließen. Sie hat das nicht verstanden. Der Vater
war oft nicht da, die Mutter hat geweint und war seelisch am Ende.
Schließlich hat sie ihrer siebenjährigen Tochter und deren sechsjähriger
Schwester alles gesagt. Der Vater habe eine neue Frau, sie wolle ihn
zurückhaben, habe nun aber selber einen Freund. Die Vierzehnjährige
und ihre dreizehnjährige Schwester leben bei ihrer Mutter und deren
neuem Lebenspartner, von dem die Mutter eine inzwischen fünfjährige
Tochter hat. In der Gegend ist nicht viel los. Manchmal gibt es Streit
zwischen der Mutter und ihrer Ältesten, wenn diese sich bis weit nach
Mitternacht bei Mallorca- oder Ibizapartys herumtreibt, bis sie mit
anderen Jugendlichen zusammen im Taxi nach Hause fährt. Den Streit
verträgt die Vierzehnjährige nur schwer, sie ist dann sehr traurig über
das Zerwürfnis und hat Angst, dass es vielleicht nie wieder gut wird
und der Bruch mit der Mutter endgültig ist. Wenn alles in Ordnung ist,
kann sie mit der Mutter über ihre Sehnsucht und Trauer reden, denn
sie ist unsterblich in einen Jungen verliebt, und der will sie nicht haben.
Doch so richtig gut ist das Verhältnis zur Mutter nicht. Das Mädchen
hat den Eindruck, als bevorzuge ihre Mutter die neue, jüngere Tochter.
Wenn die Halbgeschwister in Streit geraten, nimmt die Mutter Partei
für die Kleine und gibt der Ältesten die Schuld. Alle zwei Wochen holt
der leibliche Vater seine Tochter ab, und sie verbringt dann bei ihm
das Wochenende. Die neue Frau des Vaters motzt an der Vierzehnjährigen herum, wenn der Vater es nicht merkt – wie sie isst, was sie
anzieht, wie sie redet, alles passt der Frau nicht. Das Mädchen spricht
mit seinem Vater darüber, der kann nichts dagegen tun. Er hat seiner
Tochter auch erklärt, wie das aus seiner Sicht mit der Scheidung war.
146
Jugendliche
Situation zu Hause
Vater und Tochter verstehen sich noch immer gut, doch sie wird von
der neuen Frau abgelehnt, das ist bitter. Sie hat sich daran gewöhnt.
Doch sie fühlt sich von beiden Eltern nicht geliebt. Schlimmer ist es
mit der Mutter, da waren vielleicht die Hoffnungen größer. Sie hat sich
mit der um ein Jahr jüngeren Schwester gegen die Mutter verbündet,
und auch Probleme bespricht sie lieber mit Gleichaltrigen als mit ihren
Eltern. Sie erlaubt den Eltern nicht mehr, sie in den Arm zu nehmen
und lehnt den Körperkontakt mit ihnen ab. Auch frisst sie nicht mehr
alles in sich hinein, sondern wehrt sich und sagt ihre eigene Meinung.
Hier vermischen sich altersgemäße Ablösungstendenzen mit den noch
immer schwelenden Gefühlen der Enttäuschung, Empörung und Trauer,
die von der Scheidung der Eltern ausgegangen sind. Von frustrierenden
Eltern kann man sich nur schwer lösen, weil die bewusste und unbewusste
Hoffnung zuletzt stirbt. Man wird die Eltern nicht los, weil sie noch etwas
schuldig geblieben sind. Vielleicht färben nun diese Beziehungserfahrungen
in unglücklicher Weise auch die Beziehungen zu den neuen Liebespartnern,
so dass zum Beispiel auch hier die Ablehnung stärker empfunden wird und
das Anlehnungsbedürfnis unterschwellig dominant bleibt, Enttäuschungen
schwerer verarbeitbar sind und die Beziehungsmuster an den Bedingungen
der Kindheit kleben bleiben – wobei sich der Spielraum einengt.
Mädchen (16) – Vater hat die Familie im Stich gelassen
Als das Mädchen sechs Jahre alt war und ihr Bruder acht, übersiedelten
die Kinder zusammen mit Mutter und Vater nach Deutschland. Erst
einmal blieben sie in einem Auffanglager und lernten dort die deutsche
Sprache. Dann zog die Familie in den Kreis Gütersloh. Danach lernte
der Vater eine andere Frau kennen, und als das Mädchen zwölf Jahre
alt war, verließ er die Familie und reichte die Scheidung ein. Die Mutter
war verzweifelt. Die beiden Kinder mussten sie trösten und stützen,
obwohl sie selber traurig waren. Der damals vierzehnjährige Bruder
war nun der Mann im Haus und übernahm einen Teil der Vaterrolle
gegenüber seiner jüngeren Schwester. Sie ist nun sechzehn Jahre alt,
und der Bruder passt auf, dass sie nicht in schlechte Gesellschaft gerät,
147
Jugendliche
Situation zu Hause
also nicht mit Jugendlichen zusammenkommt, die mit Alkohol, Tabak
oder Drogen zu tun haben. Aber auch ohne diesen Schutz würde sich
das Mädchen von solchen Versuchungen fernhalten. Noch immer ist
die Verbindung zum Vater nicht abgebrochen. Schwester und Bruder
lehnen die neue Frau des Vaters ab, aber auch den neuen Freund ihrer
Mutter wollen sie nicht im Haus haben. Als einmal die Mutter ihren
Freund in die gemeinsame Wohnung aufnehmen wollte, stellten ihre
Kinder sie vor die Wahl : „Entweder er oder wir !“. Also ließ sie es sein.
Es ist leicht, die Übersiedlung für den Zerfall der Familie verantwortlich
zu machen, doch auch Familien, die immer schon hier waren, zerfallen auf
die gleiche Weise. Dass der Wechsel der „Lebensabschnittspartnerschaft“
den Kindern weit mehr zu schaffen macht, als unsere Vorstellungen von
dem, was heute üblich und modern ist, uns suggerieren, sehen wir nicht nur
an diesem Beispiel, sondern wir erkennen es bei genauem Hinsehen auch in
den meisten ähnlichen Fällen. Dass die Familie gerade dann zerfällt, wenn
die Kinder den Halt wegen äußerer Schwierigkeiten am meisten brauchen,
liegt in der Logik der Ereignisse, denn dieselben Schwierigkeiten sind es oft,
die der Partnerschaft der Eltern den Boden entziehen. Die Erwachsenen
haben dann nur die Wahl zwischen zwei Übeln. Sollen sie den Streit und
die Enttäuschung, den Kleinkrieg und das Fremdgehen verewigen, jedoch
zusammenbleiben „der Kinder wegen“, oder sollen sie der Maxime folgen
„Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende !“ ? Guter Rat
ist teuer – nein, gar nicht zu bekommen. Was können die Kinder am besten
verkraften ? Ein Trennungsmoderator wäre gut, gerade der Kinder wegen.
Die Besonderheit dieses Falls ist, dass der Bruder den Vater ersetzen muss,
wohl im Einklang mit Rollenklischees, die mit der Herkunft zu tun haben.
Dass Kinder durch allein gelassene Väter oder Mütter parentisiert, also zum
Partnerersatz gemacht und damit überfordert werden, geschieht recht oft.
Mädchen (15) – Der versteckte Vater
Die Fünfzehnjährige lebt in einer Wohnung mit ihrer Mutter, ihrem
Stiefvater und dem eineinhalb Jahre alten Sohn der beiden. Die beiden
älteren Geschwister sind erwachsen und leben in eigenen Haushalten,
148
Jugendliche
Situation zu Hause
der Bruder mit seiner Frau im Münsterland, die Schwester im Ruhrgebiet. Den Bruder sieht sie öfter, die Schwester seltener. Doch gerade
die Schwester ist eine wichtige Vertrauensperson des Mädchens, oft
gibt es Telefongespräche, manchmal Besuche. Es ist vorgekommen,
dass die ältere Schwester am Telefon spürte, dass das Mädchen sich
Sorgen machte und Kummer hatte, obwohl davon nicht gesprochen
wurde. Kurz danach kam die Schwester zu Besuch. Ein bedrückendes
Thema ist stets der Kontakt zum leiblichen Vater. Dieser stammt aus
dem Ausland und ist inzwischen in seine Heimat zurückgekehrt. Noch
immer leidet die Mutter unter der Erinnerung an diesen Mann, und so
kann die Tochter nicht mit der Mutter über ihn sprechen, sie vermeidet
es sogar, seinen Namen zu erwähnen oder gar mit ihm von zu Hause
aus zu telefonieren. So muss die Fünfzehnjährige warten, bis sie bei
ihrem Bruder oder ihrer Schwester zu Besuch ist, von da aus kann sie
dann ihren leiblichen Vater anrufen. Die älteren Geschwister haben
regelmäßigen Kontakt zu ihm. Von diesem heiklen Thema abgesehen
hat das Mädchen ein gutes Verhältnis zur Mutter und zum Stiefvater.
Die Trennung der leiblichen Eltern wirkt nach. Viele Kinder vollziehen
die Trennung ihrer Eltern innerlich nicht mit, und es fällt ihnen schwer, die
weiter bestehende Bindung an beide Eltern mit deren Zerwürfnis irgendwie
in Einklang zu bringen oder, schlimmer noch, Partei zu nehmen.
Lehrreiche Sonderfälle
Die folgenden drei Beispiele regen zum Nachdenken an. Das erste macht
deutlich, dass hinter einer Übersiedlung nach Deutschland mehr stecken
kann als nur ein Verwaltungsakt, das zweite mutet wie ein Experiment an,
als habe jemand das Thema Gleichberechtigung sehr wörtlich genommen,
das dritte zeigt ein familiendynamisches Phänomen, das nicht selten ist.
Junge (15) – Zwischen zwei Welten
Der Junge stammt aus Polen. Als er noch klein war, ist der Vater nach
Deutschland gegangen, um dort Arbeit zu suchen, die Mutter ist dann
mit ihrem Jungen nachgereist. In dem polnischen Dorf, aus dem sie
149
Jugendliche
Situation zu Hause
kommen, war alles knapp und alle waren arm, in Deutschland gab es
viel mehr und alles war besser, richtig cool. Erst einmal war es schwer,
Fuß zu fassen. Der Junge kam in die deutsche Grundschule, fand
schnell Anschluss und lernte die deutsche Sprache in einem halben
Jahr von ganz allein. Dann fand die Familie eine richtige Wohnung,
und so ist seit sieben Jahren das Leben angenehm. Zu seinen Eltern
hat der Junge ein gutes Verhältnis, nur manchmal, wenn sein Zimmer
nicht aufgeräumt ist oder er zu spät nach Hause kommt, gibt es Streit
mit der Mutter. Aber sie vertragen sich schnell wieder, und in letzter
Zeit gibt es gar nicht mehr so viel Anlass zum Streit. Manchmal fahren
sie nach Polen. Dort ist es schön. Man kann dort weit laufen oder mit
dem Fahrrad zum See fahren und schwimmen, die Landschaft ist viel
schöner als hier, wo die Wohnsiedlung bald nicht mehr allein steht,
sondern von noch mehr neu gebauten Häusern umgeben ist. In Polen
hat der Junge ein Moped, das gehört ihm ganz allein, und er genießt es,
damit herumzufahren und Freunde zu besuchen. Wenn er dort einmal
genug Geld verdienen könnte, so wie sein Vater hier in Deutschland,
dann wäre es vielleicht gut, wieder nach Polen zurückzugehen.
Schöne Landschaft in Polen, viel Geld in Deutschland – zwei Welten im
Kontrast. Aha, wird man sagen, so sind sie, die Wirtschaftsflüchtlinge, sie
lieben Deutschland nicht, sie wollen nur den Wohlstand. Doch kann man
wirklich nicht verstehen, wie dem Jungen zu Mute ist ? Wie jedes Kind hat
er von der Grundschule an danach gesucht, wo er so leben kann wie er es
für sich selber am besten findet. Aus der Entscheidung seiner Eltern, nach
Deutschland zu gehen, musste er das Beste machen. Wenn er wirklich eines
Tages nach Polen zurückkehrt, wird er seine Erfahrungen aus Deutschland
mitnehmen und damit die Welt wieder ein wenig offener machen.
Junge (16) – Vollständige Rollenumkehr
Der Sechzehnjährige lebt in einer ungewöhnlichen Familie. Der Vater
ist ein allein erziehender Hausmann, die Mutter – von ihm getrennt –
eine Karrierefrau, die den Unterhalt der Familie verdient. Vier Brüder
teilen mit dem Jungen und seinem Vater den Haushalt. Das hat seine
150
Jugendliche
Situation zu Hause
Geschichte. Der Vater hat ein Studium begonnen, aber nicht beendet.
Er hat es vorgezogen, für den Haushalt zu sorgen, während seine Frau
sich auf ihren Beruf konzentrierte und draußen im Wirtschaftsleben
Karriere machte. Problemlos war das nicht. Die Eheleute stritten sich,
und vor zwei Jahren zog die Mutter in eine andere Stadt, wo sie auch
arbeitet. Von dort aus telefoniert sie täglich mit ihren Söhnen, sie weiß
über alles Bescheid, und wenn der Junge Probleme in der Schule hat,
vertraut er sich seiner Mutter an und nicht seinem fürsorglichen Vater.
Die Mutter zeigt Zuwendung, der Junge hat das Gefühl, von ihr richtig
verstanden zu werden. Die Trennung der Eltern brachte auch die fünf
Jungen aus dem seelischen Gleichgewicht. Die Vertrauensperson, bei
der sich der Junge hätte „ausheulen“ können, war ja selber verwickelt.
Mit Freunden konnte er darüber nicht reden, eher schon mit Mädchen,
die er vorübergehend als Freundinnen hatte. Jetzt aber hat sich alles
gut eingespielt. Der Vater ist ein Kumpel, Verbote spricht er nicht aus.
Er spendiert auch schon mal Bier, wenn der Junge und seine Freunde
zu Hause vor dem Fernseher sitzen, um ein Fußballspiel zu verfolgen.
Kürzlich ist der Vater auf den Gedanken gekommen, sein begonnenes
Studium zu beenden. Der Junge sieht dies mit gemischten Gefühlen,
ihm scheint es, als sei der Karrierezug für den Vater längst abgefahren.
Der Sechzehnjährige selber erkennt sich in seiner Mutter wieder, und
er möchte nicht so leben wie sein Vater, sondern selber ehrgeizig sein
und in der Berufswelt etwas erreichen. Die Mutter bekräftigt ihn darin.
Als vor zwei Wochen das Scheidungsurteil rechtskräftig wurde, kamen
alle Erinnerungen noch einmal hoch, doch jetzt ist wieder alles im Lot.
Das Lob modern denkender Menschen ist dieser Rollenumkehr gewiss.
Dennoch hat sie ihre Tücken. Der fortschrittliche Vater erntet jedenfalls
nicht nur Lob von dem Jungen, dem das männliche Identifizierungsangebot
fehlt. Die Mutter bietet ihm mehr. Hat der Vater eine undankbare Rolle ?
Wer das meint, sollte daran denken, dass auch im traditionellen Rollenbild
ein Elternteil den entsagungsvollen Teil übernehmen muss – die Mutter.
Was, wenn beide es nicht wollen ? Wer kümmert sich dann um die Kinder ?
Diese Überlegung führ zu der Forderung, der Staat solle dafür sorgen, dass
die Kinder möglichst lange außer Haus betreut werden. Das ist kurzsichtig.
151
Jugendliche
Situation zu Hause
Junge (16) – Nur Mädchen helfen im Haushalt
Ein wiederkehrendes Thema im Leben des Jungen ist die Verteilung
der Rollen zwischen Mann und Frau. Sein Vater gibt den Ton an und
stellt die Regeln auf, doch er ist kaum zugänglich, und der Sechzehnjährige weiß nicht, was der Vater denkt. Die Mutter hat Verständnis
und ein offenes Ohr für die Sorgen ihres Sohnes. Der Vater hat einen
Vollzeit-Beruf, die Mutter eine einfache Tätigkeit im Stundenlohn, und
sie versorgt den Haushalt zusammen mit der jüngeren Schwester des
Jungen, dabei hilft weder der Junge noch sein Vater. Die Schwester hat
gegen diese Arbeitsteilung protestiert, doch die Eltern haben ihr klar
gemacht, dass sie im Haushalt helfen muss, weil sie ein Mädchen ist.
Dies findet auch der Junge richtig. Wenn er später eine Frau hat, soll
sie wie jetzt seine Mutter den Haushalt allein versorgen und außerdem
arbeiten gehen, Vollzeit wenn möglich, so lange keine Kinder da sind.
Der Sechzehnjährige bereitet seinen Eltern viel Kummer. Er verbringt
seine Freizeit mit Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Zusammen
haben sie sich, als sie noch jünger waren, in der Wohnsiedlung durch
Herumstreunen und Randalieren unbeliebt gemacht und Zigarettenautomaten geknackt. Dann gab es eine Initiative, die damit endete, dass
die Jugendlichen sich unter Anleitung ein Holzhaus bauen durften, das
seit einigen Wochen fertig und benutzbar ist – zum Zeitvertreib.
Das Rollenklischee in diesem Beispiel ist Ausdruck eines festgefügten,
unflexiblen Familienmodells. Der Vater hat das Sagen, und der Sohn will
diese Rolle erben. Die geringe Zugänglichkeit des Vaters erlaubt dem Sohn
nicht, sich mit ihm auseinanderzusetzen und dadurch eigene Denk- und
Sichtweisen zu entwickeln. So bleibt dem Sechzehnjährigen nur die Gruppe
der Gleichaltrigen aus der Gegend. Wo die Eltern schwer zugänglich sind,
orientieren sich Jugendliche aneinander – ein Phänomen, das besonders bei
Jugendlichen mit Migrationshintergrund häufig zu beobachten ist und dort
normalerweise auch von den Eltern toleriert und gutgeheißen wird.
Die Situation zu Hause ist, wie wir gesehen haben, von großem Einfluss
auf die Entwicklung der Jugendlichen. Diese Situation zu verbessern, und
sei es auch nur durch gute Ratschläge an die Eltern, könnte lohnen.
152
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Schule und Berufseinstieg
Einführung
Viele Schulkarrieren erinnern uns daran, wie konsequent das Schulsystem
vom Grundsatz der Selektion durchdrungen ist – die Guten zu den Guten,
die Schlechten zu den Schlechten, die Behinderten zu den Behinderten und
die Bösen zu den Bösen. So ist die Schulform für manche ein Stigma. Nicht
in allen Ländern Europas und der Welt ist das so, und die Diskussion über
den Sinn dieser Selektion ist gerade wieder aufgeflammt – contra und pro.
Doch, natürlich gibt es auch ein pro ! Sollen denn wirklich die Überflieger
auf diejenigen warten, die es nicht oder nur langsam blicken ? Und was ist
mit der Disziplin ? Wir hören von so vielen Schülern, dass man erst richtig
lernen kann, wenn – sagen wir in der Neun – die Chaoten endlich weg sind,
wohin auch immer. Und das Dealen und die Schlägereien ? Sind die nicht an
bestimmte Schulformen gebunden ? Und die Gesamtschule ? Können wir
an ihr vielleicht sehen, wie es ist, wenn man alle zusammenwirft ? Unsere
Interviews haben gezeigt, dass die Gesamtschule zumindest bei den Eltern
älterer Kinder beliebt ist, bei vielen der Schüler und Schülerinnen ebenso,
Kritik kommt eher von den Jugendlichen.
Die amtliche Sprachregelung kennt keine höheren Schulen, sondern nur
„weiterführende“. Weiter führen sie alle, von Klasse 5 an, doch das dumme
Volk will nun einmal nicht begreifen, dass die Wertung „Gymnasium oben,
Hauptschule unten, Realschule geht so, Sonderschule schlimm“ nicht gilt.
Und mancher Lehrherr will nicht begreifen, dass man Bewerbungen auch
dann lesen sollte, wenn Hauptschüler / innen sie geschrieben haben.
Vielleicht, schlagen manche Planspieler vor, könnte man alles dadurch
entschärfen, dass man der Grundschule einfach zwei Jahre mehr Zeit gibt,
bis Klasse 6, nicht 4. Aber halt – hätte man dann nicht im Alter von zwölf
die Verunsicherung durch den Schulwechsel und die Verunsicherung durch
die Pubertät im Doppelpack ? Und werden die Schüler aus den Klassen 5
und 6 die mit den Jüngeren noch handhabbare Kuschelpädagogik nicht
durch Abgebrühtheit und Radau stören ? Oder gar die Kleinen prügeln ?
Wer immer die verzwickten Fragen klären muss – er ist nicht zu beneiden.
153
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Vielleicht kann man sich erst einmal helfen, indem man die Diskussion
sich selber überlässt und sich – in welcher Schulform auch immer – Mühe
gibt, gut zu erklären, menschenfreundlich mit Schülern und Schülerinnen
umzugehen, anregende Lern– und Erprobungsangebote zu machen und
chaotische Handlungsweisen im Ansatz einzudämmen, indem man Regeln
setzt und durchsetzt. Besser, man sucht das Heil nicht im Zurechtzimmern
von Rahmenbedingungen, sondern in der Verbesserung der Inhalte.
Im Grunde wollen – so zeigen die Interviews – die Jugendlichen darin
unterstützt und ermutigt werden, Bereiche eigener Kompetenz zu finden,
aus denen sie einen Zukunftsentwurf gewinnen können, der glaubhaft ist
und auch den Übergang von der Schule zum Beruf übersteht. Ermöglicht
man ihnen das, braucht man sich um Motivation und Disziplin nicht mehr
ganz so viele Sorgen zu machen.
Zur Zeit jedenfalls haben viele Jugendliche „Stress“ mit den Leistungen,
die sie in der Schule bringen sollen. Schon unsere statistisch gesehen recht
kleine Stichprobe lässt diese Tendenz deutlich werden. Ob nun unter allen
Jugendlichen im Kreis Gütersloh jede(r) dritte oder jede(r) vierte Probleme
mit der Schulleistung hat oder hatte, ist aus unseren Daten nicht genau
erkennbar. Wir wissen, dass dieser Anteil ungefähr so groß, vielleicht sogar
größer ist, denn viele der Interviewpartner haben sich dazu nicht geäußert.
Gewiss ist aber, dass vielen Jugendlichen – etwa einem Drittel – die Schule
schwer fällt, sie schafft Angst und Selbstzweifel statt Neugier, Freude und
Selbstvertrauen. Besser, sie wäre die Startrampe eines Flugs ins Abenteuer.
Jugendliche, die Probleme mit der Schulleistung haben
jetzt Leistungsprobleme
früher Leistungsprobleme
alles in Ordnung
[keine Angabe]
26 %
15 %
17 %
42 %
von 78
Wenn die Schule zur Last wird, wirkt sich dies überall im Leben aus,
doch es gibt persönliche Probleme, deren Ursache woanders zu suchen ist,
zum Beispiel bei der Familie, den Freunden, dem Partner oder sich selber.
154
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Solche Probleme, die wir ungenau persönliche Probleme nennen wollen,
werden erzeugt oder verstärkt durch den Umgang mit den hohen Hürden,
die dem Erwachsenwerden im Weg stehen. Kein Wunder, dass rund vier
von zehn Jugendlichen zum Ausdruck bringen, sie seien davon betroffen.
Jugendliche, die persönliche Probleme haben
jetzt persönliche Probleme
früher persönliche Probleme
alles in Ordnung
[keine Angabe]
42 %
9%
4%
45 %
von 78
An wen aber wendet man sich, wenn man doch gerade dabei ist, sich von
den Eltern zu lösen ? Die nur auf den ersten Blick überraschende Antwort :
an die Eltern. Sie sind, wie wir auch aus anderen Jugendstudien wissen, oft
nach wie vor immer die wichtigsten Vertrauenspersonen der Jugendlichen.
Die Eltern als Vertrauenspersonen männlicher Jugendlicher
nur die Mutter
nur der Vater
beide Eltern
kein Elternteil
[keine Angabe]
14 %
11 %
49 %
8%
18 %
von 78
Die Eltern als Vertrauenspersonen weiblicher Jugendlicher
nur die Mutter
nur der Vater
beide Eltern
kein Elternteil
[keine Angabe]
29 %
5%
39 %
12 %
15 %
von 78
155
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Auf gutem Weg
Die meisten Schüler und Schülerinnen kommen mit der Schule zurecht,
von einigen bewältigbaren Problemen abgesehen. Viele gehen sogar gern
zur Schule und sehen in ihr eine Herausforderung, der sie sich stellen, weil
sie damit ihre Lebenschancen verbessern wollen. Führen wir uns zu Beginn
drei Fälle vor Augen, in denen die Schule ein sinnvoller Teil des Lebens ist
und offensichtlich dabei hilft, die individuellen Möglichkeiten auszubauen.
Junge (14) – Was soll schon schiefgehen ?
Der Vierzehnjährige fährt gern Fahrrad, und damit legt er seinen Weg
zu seiner fünf Kilometer entfernten Hauptschule zurück, jeden Tag.
In der Schule fühlt er sich wohl, auch wenn ihm nicht alles leicht fällt.
Deutsch und Englisch kosten ihn Mühe, Mathematik macht ihm Spaß.
Im Sportunterricht wird meistens Fußball gespielt. Das beherrscht er,
und so gewinnt er Ansehen. In die Klassengemeinschaft ist er gut
eingebunden. Seine Stärken in der Schule und seine Hobbys passen
zueinander – Mathematik und Technik. Sein Berufsziel hat er schon
jetzt klar bestimmt : er will Fernmeldetechniker werden. Damit er einen
guten Berufseinstieg findet, will er nach dem Abschluss seiner jetzigen
Schule das Fachabitur anstreben. Das wird schon klappen, meint er.
Beide Eltern sind im Beruf als Kaufleute tätig und kommen erst gegen
Abend heim. Oft besucht er nach der Schule seine Oma, dort kann er
zu Mittag essen. Seine Lieblingsbeschäftigung ist, nachmittags in Läden
nach CDs zu stöbern. Sorgen bespricht mit keinem seiner Freunde,
sondern mit seinen Eltern, zu denen er eine Vertrauensbeziehung hat.
Die Berufstätigkeit der Eltern führt dazu, dass diese nachmittags nicht
verfügbar sind, sondern erst gegen Abend. Das schadet aber nichts, eher
schafft es dem Vierzehnjährigen einen willkommenen Freiraum, zumal es
eine Oma gibt, die als Reserve–Anlaufstelle gut in den Tagesablauf passt.
Manchen Kindern und Jugendlichen fällt die Schule leicht. Man darf sie
darum beneiden. Vielleicht hatten sie schon an ihrem ersten Schultag, mit
der Schultüte im Arm, einen Vorsprung, der nie wieder verloren ging ... ?
156
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Mädchen (15) – Die Sorge, unterfordert zu sein
Die 1,85 m große Fünfzehnjährige wirkt sehr reif, ein wenig altklug,
und sie geht in die zehnte Klasse eines Gymnasiums. Sie hat ein Jahr
gewonnen, denn sie hat die achte Klasse übersprungen, weil sie sich
sonst zu sehr gelangweilt hätte. Denn schon seit ihrer Einschulung ist
das Mädchen eine Einserschülerin, die sich ständig unterfordert fühlt.
Die Eltern und die Schulleitung haben miteinander über sie gesprochen
und es als das Beste für das Mädchen angesehen, eine Klasse zu überspringen. So ist es geschehen. Das hat ihre Leistung jedoch nur wenig
beeinträchtigt. Am Ende des Schuljahres war der Notendurchschnitt
schon wieder bei 2,0. Das Mädchen fühlte sich endlich ein wenig
gefordert. Zur Zeit sind Latein und Chemie ihre Lieblingsfächer, aber
das kann sich rasch ändern, weil Sympathien für die Lehrer mitspielen.
Bestimmt ist es verführerisch, wenn man erfährt, dass einem Wissen und
Können gleichsam in den Schoß fallen. Vielleicht spürt man dann zu wenig
Widerstand und möchte weg von dieser Verwöhnung, hin zu einer echten
Herausforderung, damit man später damit umgehen kann, wenn es irgendwann, irgendwo doch einmal schwerer wird, damit man also kämpfen lernt,
und dazu ist das Überspringen einer Klasse manchmal ein geeignetes Mittel.
Jede Schule hat einerseits Angebote, deren man sich bedienen kann, und
andererseits Mängel und Ärgernisse, mit denen man sich auseinandersetzen
muss. Wieviel Initiative bringt man nun auf, um mit dieser vorgefundenen
Alltagswelt zurechtzukommen und aus ihr Nutzen zu ziehen ? Die Schule
ist ein Modell der Welt draußen, und an ihr kann man üben – für später.
Junge (14) – Engagiert in der Schulumwelt
Ein Schulwechsel war der Grund, dass der Junge eine Klasse wiederholen musste. Jetzt ist er in der achten Klasse eines Gymnasiums. Dort
gefällt es ihm, die Atmosphäre ist gut – in der Klassengemeinschaft und
in der ganzen Schule. Selten nur fällt der Unterricht aus, Lehrer gibt es
an dieser Schule offenbar genug. Mit den Lehrern und mit vielen
Mitschülern hat er gute Kontakte, auch ist er Schülervertreter in einer
157
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Fachgruppe, in der Eltern, Lehrer und Schüler sind, und deren Aufgabe
es ist, die Anschaffung von Lehrmitteln passend zu den Unterrichtsinhalten vorzubereiten. Nie hat er Gewalt an der Schule beobachtet,
und auch Drogen sind dort kein Problem. Unzufrieden ist er damit,
dass das Rauchverbot für diejenigen, die unter sechzehn Jahre alt sind,
nicht ernst genommen wird. Früher war ein Lehrer dafür zuständig,
heute kümmert sich niemand mehr darum. Die Schule hat interessante
Angebote für Freistunden und Pausen, darunter eine Mediothek mit
Computerarbeitsplätzen und Internet-Zugang, außerdem viele Bücher.
Da stöbert der Junge gern herum. Auch gibt es einen Platz für Ballspiele. Der Vierzehnjährige hat sich viele Gedanken über seine Zukunft
in der Berufswelt gemacht. Studieren will er, das steht fest. Vielleicht
Meeresbiologie, Archäologie oder Geschichte. Der Erdkundeunterricht
hat ihn darauf gebracht, dass er nach dem Studium seine Kenntnisse
einsetzen könnte, bedürftigen Menschen in den Entwicklungsländern
zu helfen. Zum Beispiel könnte er Brunnen oder Schulen für sie bauen.
Es ist ihm bewusst geworden, wie gut wir es in Deutschland haben.
Vielleicht hätte man die Lehrmittel anschaffen können, auch ohne eine
Fachgruppe zu nutzen, die einen Schülervertreter einbezieht, und vielleicht
wird der Junge später gar kein Entwicklungshelfer. Doch die Gelegenheit,
sich selber in einer Kommission mitmachen zu sehen, und die Anregung,
sich als Fachmann und Menschenfreund zu entwerfen, ist Teil einer Selbsterprobung, die später in dieser oder jener Form aufgegriffen werden kann.
Alles ist möglich, eines Tages könnte es ja etwas werden mit den Brunnen
und den Schulen in einem Entwicklungsland ...
Selbstfindung und Motivation
Wozu soll ich denn das alles machen, wozu brauche ich es ? Hat es Sinn ?
Hat es Sinn mit mir ? Wozu ist es gut, dass ich auf der Welt bin, und wozu
soll ich mich anstrengen ? Was habe ich oder was hat irgendwer davon ?
Solche Zweifel sind legitimer Teil einer normalen Entwicklung, und sie
sind keinem bestimmten Jahrzehnt oder Land vorbehalten. Eng mit ihnen
verbunden ist die Motivation, die so leicht verloren geht und so launisch
und wählerisch ist, und ohne die man so gut wie nichts erreichen kann.
158
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Junge (17) – Wider Willen die Zukunft verbaut ?
Den größten Stress hatte der Siebzehnjährige vor zwei Jahren, als er
in der achten Klasse der Realschule wegen Faulheit nicht mehr mitkam.
Da fand er sich auf der Hauptschule wieder und musste die achte
Klasse noch einmal durchlaufen. Die Eltern machten ihm Vorwürfe.
Das hätten sie sich sparen können, denn die Vorwürfe machte er sich
schon selber. Dabei wollte er immer etwas tun und sich anstrengen,
aber nur der Geist war willig ... Er konnte sich einfach nicht aufraffen,
und als es immer schlimmer wurde, steckte er den Kopf in den Sand
und tat gar nichts mehr. Er hätte das alles schon gekonnt, es war nicht
zu schwer. In den ersten Jahren auf der Realschule waren die Noten
gut, aber immer wieder sackte er ab. Als es in der Realschule mit ihm
bergab ging, begannen die Eltern, sich untereinander zu streiten und
sich gegenseitig die Schuld daran zu geben. Dann war es soweit, und er
musste wechseln. Da hatte er Angst, denn die Hauptschule hatte nicht
gerade den besten Ruf. Kriminelle Sachen und Schlägereien gab es da,
so hörte man, und er ist nicht der Typ, der Gewalt mag. Jetzt kann er
aufatmen, denn so schlimm war es dann doch nicht. Er fühlt sich recht
wohl dort, wenn auch die meisten Freunde noch immer aus der alten
Zeit auf der Realschule stammen. Auch das Zeugnis kann sich sehen
lassen. Gedanken und Bilder quälen ihn, er hätte sich die Zukunft
verbaut. Dabei ist gar nichts verloren, denn es gibt immerhin die 10 b,
das ist die Hauptschulklasse, in der man den qualifizierten Realschulabschluss erreichen kann, wenn man zumindest in Mathe, Deutsch und
Englisch befriedigend ist und auch sonst nicht schlecht. Doch was ist,
wenn die unerklärliche, ungewollte Faulheit wiederkommt ? Zur Zeit ist
nichts davon zu spüren. Mediengestalter – das wäre ein Beruf für ihn !
Darauf ist er gekommen, als im Unterricht über Firmen gesprochen
wurde. Die Schüler durften sogar eigenständig eine Internet-Website
erstellen, und das liegt ihm sehr, denn mit Computern kommt er gut
zurecht. Nun hat er sich schon um dazu passende Praktika beworben.
Es gibt noch mehr Möglichkeiten. Psychologe – das wäre ein Beruf für
ihn, denn er hätte Spaß daran, Leuten zuzuhören und ihnen zu helfen.
Sowieso unterhält er sich lieber mit Mädchen, das obercoole Getue
159
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
vieler Jungen seines Alters stört ihn. Astronaut – daran hat er auch
schon gedacht, aber das kann er nicht werden, denn er hat von Geburt
an Bronchialasthma, keiner weiß, warum ... An die Nordsee hat man
ihn geschickt und ihm Asthmaschulungen verschrieben. Früher, als er
noch jünger war, bekam er oft Anfälle mit Luftnot und Panik, und da
musste er einmal als Notfall in ein Krankenhaus gebracht werden. Jetzt
kommen die Anfälle nur noch selten. Dann hebt er die Arme hoch und
hockt sich auf den Boden, so hat er das gelernt. Die Mutter hat oft
große Panik bekommen, wenn er einen Anfall hatte. Es gab da auch
einen Spray mit Dosieraerosol, doch jetzt kann er Sport treiben, ohne
den Spray zu benutzen. Wenn er an die Zukunft denkt, kommen ihm
Vorstellungen, alles sei schon verbaut, dann ist er traurig und weint.
Das weiß auch seine Freundin, mit der er sich gut versteht. An ihr sind
ihm die Augen aufgefallen, die sind so warm und freundlich. Später will
er selber eine eigene Familie haben und ein Kind. Darüber macht er
sich keine Sorgen. Das Kind wird bestimmt viel zu verwöhnt sein ...
Ist vielleicht einer unter uns (Erwachsenen), der sich in diesem Interview
im Rückblick wiedererkennt, oder sind wir inzwischen auch, auf unsere Art,
obercool ? Manches taucht auf, das ganz individuell ist, und vieles, das sich
auch bei anderen Jugendlichen findet. Nicht normgerecht ist diese seltsame
Arbeitshemmung, nicht normgerecht sind die Selbstzweifel, nicht normgerecht ist die Verunsicherung der Eltern. Nicht normgerecht, aber normal.
Die meisten Jugendlichen gehen irgendwann Umwege, in diesem Fall als
Rückläufer. Die Hauptschule ist wieder einmal besser als ihr Ruf, man darf
froh sein, dass jemand die 10 b erfunden hat. Es ist nicht ungewöhnlich,
dass mancher Jugendliche denkt, mit ihm allein stimme etwas nicht, er sei
anders als die anderen und fern des geordneten Funktionierens, aber mit
den Altersgenossen stimme alles. Doch die haben vielleicht nur die bessere
Show abgeliefert. Der Geist des Erfolgs ist launisch – grapscht man allzu
gierig nach ihm, verflüchtigt er sich. Suchen, versuchen, zweifeln und
Umwege gehen, verzweifeln und am Ende den Mut wiederfinden, all das
gehört zum Leben. Der Mensch ist eben kein programmierbarer Automat.
Die Jahre des Erwachsen–Werdens haben ihre eigenen Gesetze – für jeden
Jugendlichen und jede Jugendliche andere.
160
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Am Ende findet man seinen Weg, wenn die Erwachsenen nicht zu eifrig
dazwischenfunken. Andererseits dürfen sie sich auch nicht heraushalten,
sondern müssen Angebote machen. In diesem Interview wird sehr schön
deutlich, wie die Suche nach einem eigenen Platz in der Berufswelt langsam
vorankommt. Unerwartete Erfolge sind es – hier die Internet-Gestaltung –,
die zu der Frage führen, ob da nicht noch mehr zu machen wäre, vielleicht
ließe sich ein Berufsweg auftun ... Oder lieber Psychologe ? Mit Menschen
reden wie mit der Freundin, zuhören, helfen ... Astronaut, leider, geht nicht.
Das ist ein Suchprozess, dessen Bedeutung unterschätzt wird, gerade weil
er nebenbei geschieht. Man will eine Brücke schlagen von dem, was man
auf der Suche nach der eigenen Kompetenz gefunden hat, zu dem, was sich
draußen in der Welt einordnen, ausbauen und tragfähig machen lässt. Jede
Hilfe ist willkommen – Ausprobieren im Unterricht, Praktika in Betrieben,
Kontakt mit Leuten, die es schon geschafft haben ...
Die Schule unterstützt dieses „Matching“, unabhängig von der Schulform
durch Anregungen, Schulpraktika und andere Zugänge, und das ist sehr
verdienstvoll. Wie wäre es, die Anstrengungen dazu weiter zu steigern, sie
zu verdoppeln oder zu verdreifachen, sie früher zu beginnen ? Kompetenz
ist alles, Kompetenz suchen alle Jugendlichen (und nicht nur die), und für
manche ist eine Kompetenz im Prügeln und in der Delinquenz noch immer
besser als gar keine.
Hoffen wir also auf einen Lehrer, Kaufmann, Handwerker oder Berufsberater, der zuhören, mitdenken und Rat geben kann, wenn es Jugendlichen
darum geht, bei sich selber etwas Besonderes zu finden, das sie können und
gern tun und auf dessen Brauchbarkeit im Beruf sie hoffen. Ein solcher
Helfer kann die Jugendlichen dabei unterstützen, den störanfälligen Prozess
der Entdeckung eigener Kompetenz auf den Weg zu bringen, einen Weg,
der lang sein wird und vielleicht in einer chaotischen Berufswelt versandet,
die fast jeden auf lange Umwege schickt und kaum jemanden willkommen
heißt, es sei denn, sein Können liege im Trend und sei (eine Weile) gut zu
verkaufen. Doch auf Glück und Zufälle zu vertrauen ist zu wenig.
Wer für Jugendliche etwas tun will, das viel nutzt und bewegt, der sollte
genau hier – in der Unterstützung des schwierigen Wegs von der Identitätsund Kompetenzfindung zur Berufsintegration – die Ärmel hochkrempeln
161
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
und zeigen, was er kann. Das zarte Pflänzchen des „Wer bin ich und was
kann ich ?“ am Beginn, der knallharte Kampf ums Überleben in einer
missgünstigen, volatilen Berufswelt am Ende – was für eine Aufgabe !
Der Lehrer, der Berufe und Chancen in der Schule anschaulich macht,
und der Schulpraktika so organisiert, dass sie auch wirklich etwas bringen,
ist jedenfalls auf dem richtigen Weg. Andere, möglichst viele, sollten helfen.
Nicht alle Jugendlichen wollen sich dem Lebenskampf in seiner vollen
Härte stellen, nicht alle haben Ehrgeiz, nicht alle wollen gewinnen. Manche
wollen einfach nur ungeschoren davon kommen und sich einigermaßen
wohl fühlen dabei. Mit etwas Glück gelingt das.
Junge (15) – Gute Schule, guter Kumpel
Er hat viel Scheiß gemacht auf der Realschule in Klasse 7, herumgeschrieen im Klassenraum, Hausaufgaben einfach bleiben lassen, und
natürlich schlechte Noten bekommen. Da hat man ihn vor die Wahl
gestellt, die Klasse 7 zu wiederholen oder zur Hauptschule zu gehen,
ohne Wiederholung gleich in Klasse 8. Einige „Leute“ kannte er dort
schon, er konnte sich leicht eingewöhnen, trotzdem war es peinlich.
In der Hauptschule gibt es eine Konfliktschlichterstelle. Ein Lehrer
wartet in einem „Trainingsraum“ auf die, die etwas angestellt haben,
und gibt ihnen einen Zettel, auf den sie erst einmal schreiben müssen,
welche Folgen ihre Untat für Mitschüler wohl habe. Dann geht es ans
Nachdenken, wie man das wieder gutmachen und dann in Zukunft
besser machen könnte, auch das muss man schriftlich in Worte fassen.
Vor dem nächsten Unterricht will der Lehrer im Trainingsraum dann
den ausgefüllten Zettel haben. Ist er damit zufrieden, darf man wieder
am Unterricht teilnehmen, andernfalls muss man den Zettel nochmal
ausfüllen, diesmal besser. Zweimal bisher musste der Fünfzehnjährige
in den Trainingsraum, beim ersten Mal hatte er im Unterricht mit
seinem Banknachbarn geredet, beim zweiten Mal Papier im Klassenraum herumgeworfen. Inzwischen fühlt er sich auf der Hauptschule
wohl, die Noten sind leidlich, aber er will sich bemühen, dass sie noch
besser werden, die Klasse 10 b lockt ihn, weil er da einen qualifizierten
Abschluss bekommen kann. Demnächst wird er ein Schulpraktikum
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Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
in einer Tischlerei beginnen, da kennt er einen Kumpel, der Tischler ist,
außerdem kommt er gut dort hin und wieder zurück. Er weiß noch
nicht recht, was er werden will, Dachdecker wäre auch ein guter Beruf.
Eine Lehre möchte er machen und während dieser Zeit weiter bei
seinen Eltern wohnen, wo es ein wenig eng ist, aber einen schönen
Garten gibt, danach will er in eine eigene Wohnung ziehen und selbstständig sein wie sein Kumpel. Der hat es vor kurzem genauso gemacht.
Da haben wir also einen von vielen Jugendlichen kennen gelernt, die sich
nicht allzu viel vornehmen und am Ende leidlich zurechtkommen.
Was soll man von dem Trick mit dem Trainingsraum halten ? Die gute
alte Strafarbeit hat sich veredelt. Denn viel unangenehmer als stumpfsinnig
irgend etwas hundert Mal abzuschreiben ist doch das Nachdenken und
Formulieren von Einsicht, gleichgültig ob sie vorgeschoben oder echt ist.
Vielleicht ist der Trainingsraum eine einfache, aber wirksame Maßnahme.
Allerdings bindet sie die Arbeitskapazität eines Lehrers, der anderswo fehlt.
Jugendliche – damit verbinden manche Erwachsene Kraftüberschuss,
Ehrgeiz und Aufbruch zur Welteroberung, da projizieren sie ihr eigenes
unerlöstes Idealselbst hinein. Wenn wir an die Wirtschaft, das Regulativ
unseres ganzen geplagten Lebens, denken, hätten wir die Jugendlichen gern
anpassungswillig, lernbereit und strebsam, damit sie, wenn sie erwachsen
sind, alles in Schwung halten, der internationalen Konkurrenz trotzen und
die „Systeme“ mit Beiträgen beschicken, aus denen Menschen alimentiert
werden müssen, die keine Arbeit finden oder nicht (mehr) arbeiten können.
Es gibt etliche Jugendliche, die zwar gutwillig sind, aber nur gerade so
viel Anstrengung aufwenden wollen wie erforderlich ist, um einigermaßen
angenehm zu leben, die nicht nach den Sternen greifen, sondern nur wissen
wollen, was sie unbedingt tun müssen. Auch für sie ist die Schule da.
.
Das Problem ist die Motivation. Woher kommt sie und warum ist sie hin
und wieder einfach weg ? Vielleicht wegen der Pubertät ? Der Mensch lebt
nicht vom Brot allein, aber auch nicht von und für Aufsatz und Dreisatz.
Vielleicht für das Styling , die Clique ? Rechnen mit Buchstaben – wie öde,
Miss-Sixty-Hosen – wie cool ! Die Rahmen-Lehrpläne wissen nichts davon.
163
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Mädchen (14) – Wimperntusche und Jogging
Die Vierzehnjährige huscht durch ihre Hausaufgaben, gleich wenn sie
zu Hause ist. Fertig ! Oder doch nicht ? Dann wird sie morgen schon
jemanden finden, von dem sie abschreiben kann. Die Mutter kann ihr
ohnehin nicht helfen, vielleicht deren neuer Lebenspartner, ab und zu,
in Englisch. Jetzt jedenfalls kann sie sich verabreden. Überhaupt ist es
nicht mehr weit her mit der Motivation, wenn man in der Acht ist.
Hausaufgaben, keine Lust, Unterricht, keine Lust. In der Neun wird es
wieder besser. Das sagen alle. Auf dem Zeugnis stehen nur Dreien und
Vieren. Die Mutter sieht das mit Missfallen. Dem Mädchen genügt es.
Wichtiger ist ihr die Freundin, ihr Vorbild. Die war immer schon cool
gekleidet, weil ihre Eltern Geld haben, die Vierzehnjährige eifert ihr
nach, will mehr aus ihrem Typ machen. Breite Hosen, Schlaghosen,
Miss-Sixty-Hosen, Schminke, Kajalstift, Wimperntusche, kürzere Haare
mit Strähnchen – sie findet sich gut. Vielleicht blond gefärbte Haare ?
Die Mutter erlaubt das nicht. Wenn nur der Po nicht so dick wäre ...
Also abnehmen ! Wie denn ? Weniger essen, nichts essen ? Ein Mädchen
in der Klasse erbricht, was sie isst, und sieht schlank aus. Lieber nicht !
Besser ist Joggen, das tut sie jetzt, jeden Morgen und jeden Abend in
der Siedlung. In der Schule gibt es Arbeitsgemeinschaften für alles und
jedes : Cheerleading, Klettern, Wasserski fahren, Mofa fahren, Personal
Computer bedienen. Mit der Computer-AG hat die Vierzehnjährige es
einmal versucht, aber das brachte ihr nicht viel, am Ende hat sie nur
gechattet, und das kann sie ebenso gut im Internet-Café. Die (Haupt-)
Schule ist friedlich, das war sie nicht immer. Viele Russlanddeutsche
und Türken sind regulär abgegangen und zwei sind von der Schule
verwiesen worden, seitdem gibt es kaum noch Schlägereien. Das Schulpraktikum steht bevor, die Vierzehnjährige möchte gern als Friseurin
oder Maskenbildnerin oder Floristin Erfahrungen sammeln. Mit ihrem
Leben ist sie zufrieden, nur ein wenig traurig, weil sie den Jungen nicht
kriegt, den sie gern als Freund hätte. Der Zukunft sieht sie ohne Angst
entgegen. Sie will einen Mann und Kinder, nur Jungen, die sind süßer.
Vielleicht auswandern. Sie war einmal mit ihren Eltern in einem fernen
Land, damals, als die Familie noch komplett war. Da will sie wieder hin.
164
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Wenn man so darüber nachdenkt – vielleicht nimmt die Schule sich viel
zu wichtig. Welchen Sinn hat es, Lernstoff zu hubern, wenn die Gedanken
ganz woanders sind ? Andererseits – wir sind nicht zu unserem Vergnügen
auf der Welt. Irgendwann muss man den Stoff ja reintun, den man später
doch braucht. Hoffentlich, vielleicht. Aber es ist schließlich Vorschrift, und
wenn man nicht das richtige Abschlusszeugnis hat, geht es bald bergab.
Also quält man sich durch, es muss ja sein. Und einer Minderheit begabter
Jugendlicher macht es sogar Freude. Wir tun so, als wäre das die Norm.
Die Schule ist in mehr als einer Hinsicht ein Ort der Bewährung, und
man muss aufpassen, dass nichts schief geht. Stätte des kognitiven Lernens
ist die Schule nur nebenbei, das nicht geplante soziale Lernen nimmt einen
großen Raum ein. Selektion und Vermeidung gehören zu den Notwendigkeiten des Schulalltags, manche Dinge machen Spaß, manche sind Mühsal
und manchen geht man besser aus dem Weg. Ein Bodensatz von Spannung
und Aggression ist nicht selten Teil des Schülerdaseins. Ein Beispiel dazu:
Mädchen (15) – Licht und Schatten
In der neunten Klasse der Realschule hatte die damals Vierzehnjährige
einen Leistungsknick, der heute, ein Jahr später, behoben ist. Damals
wollte sie noch zum Gymnasium wechseln und setzte sich deswegen
unter Druck. Da bekam sie Essstörungen und spürte, das geht nicht.
Im Unterricht macht sie entweder mit oder sie schaut gelangweilt aus
dem Fenster – ganz oder gar nicht, das ist ihre Art. Die Lehrer, alt,
streng und strafbereit, verstehen sie nicht, so empfindet sie es. Doch
mit den anderen Schülern kommt sie klar. Sie freut sich auf die Arbeitsgemeinschaft Pop, wo sie in der Vocal Group einer Schülerband singt.
Spaß machen ihr die Fächer Sport, Biologie und Kunst. In der Realschule hat sie noch keinen Hinweis auf Drogen erhalten, in der Nähe
des angrenzenden Gymnasiums jedoch lungern oft Oberstufenschüler
herum und rauchen Marihuana. Die reden dann aggressiv, und deshalb
macht die Fünfzehnjährige einen Bogen um sie. An der Realschule gibt
es keine Schlägereien, an der angrenzenden Hauptschule jedoch geht es
„zur Sache“. Dass man sich wehren muss, hat sie im vorigen Jahr
erkannt. Da lauerten ihr drei eifersüchtige Mädchen im Schwimmbad
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Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
auf, stießen sie in die Brennnesseln und verprügelten sie. Nun verhält
sie sich wehrhafter. Nach der Realschule will sie zur höheren Handelsschule. Apothekerin könnte sie werden – vielleicht auch Stewardess.
Ein bisschen Gewalt und Delinquenz spielen immer mit im Schüleralltag,
sie bilden das normale „Hintergrundrauschen“. Wenn die Feindseligkeit auf
Distanz bleibt, ist sie nicht so schlimm. Da prügelt man sich auf dem Hof
der Nachbarschule, da rauchen Gymnasiasten Gras – man kriegt es mit und
geht seiner Wege. Richtig schlimm aber ist es, wenn die Gewalt hautnah im
eigenen Klassenraum ist, und sei es auch nur seelische Grausamkeit wie sie
sich im Mobbing ausdrückt. Da werden die Schritte schwer auf dem Weg
zur Schule, und die Lust am Lernen schrumpft bis zur Unsichtbarkeit.
Mädchen (16) – Ein Lehrer mit und einer ohne Verständnis
Bis zur fünften Klasse ging es noch gut, dann aber, in der sechsten,
wurden die Leistungen des Mädchens schlechter. Die siebte Klasse
musste sie wiederholen. Darüber war sie sogar froh, denn sie war in der
Klassengemeinschaft schlecht gelitten und wurde von Mitschülerinnen
ihres Namens wegen verhöhnt. In der neuen Klassengemeinschaft ging
es weiter mit dem Mobbing, doch dann griff der Klassenlehrer ein und
setzte der Qual ein Ende. Da kam die Freude am Lernen zurück, denn
der Klassenlehrer verstand und förderte das Mädchen, so dass alle
Fünfen vom Zeugnis verschwanden. Der Klassenlehrer, so sagte man,
sollte länger als ein Jahr bleiben. Trotzdem gab es am Schuljahresende
einen Lehrerwechsel. Der neue Klassenlehrer lehnte das Mädchen ab,
überging sie im Unterricht und erklärte, dass er Sorge haben müsse,
eine falsche Antwort zu erhalten, wenn er sie aufrufe, und manchmal
schickte er sie einfach weg, vor die Tür. Mit der Zeit wurde es immer
unerträglicher, am Ende des vergangenen Schuljahres gab sie auf und
verließ die Schule ohne Hauptschulabschluss. Ebenso erging es ihren
zwei besten Freundinnen, die ebenfalls bei diesem Lehrer in Ungnade
gefallen waren. Einen Beruf kann sie nun nicht erlernen, doch das ist
nicht schlimm, weil sie bessere Pläne für das Leben hat. Seit eineinhalb
Jahren hat sie einen festen Freund, der zwei Jahre älter und Moslem ist.
166
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Wenn sie erst volljährig ist, will sie ihn heiraten. Die allein erziehende
Mutter der Sechzehnjährigen ist einverstanden und die beiden Eltern
des Freundes sehen die Sechzehnjährige schon als Schwiegertochter an.
Darum dürfen die beiden jungen Leute im Haus der Eltern im gleichen
Zimmer schlafen, wenn auch nicht im selben Bett. Türkische Jungen
und Mädchen werden ohnehin schon früher als erwachsen behandelt.
Mit ihrem zukünftigen Ehemann hat die junge Frau vereinbart, dass sie
von ihm nicht geschlagen wird, und dass sie arbeiten geht und Geld
verdient, wahrscheinlich in derselben Fabrik, in der auch ihre Mutter
gearbeitet hat. Die stumpfsinnige, gleichförmige Arbeit und das lange
Stehen am Band mit den recht kurzen Pausen hat sie schon kennen
gelernt, als sie in dieser Fabrik einen Ferienjob hatte. Es ist ihr schwer
gefallen, doch sie wird sich daran gewöhnen. Den Hauptschulabschluss
will sie über ein Berufsförderungsjahr versuchen. Außer Reichweite ist
ihr Traumberuf, Designerin, und so will sie lieber gar keine Ausbildung.
Es kam wie es kommen musste. Wirklich ? Manchmal, wenn die Voraussetzungen schlecht sind wie in diesem Beispiel, darf nicht mehr viel Böses
dazu kommen. Mag sein, dass dieses Kind einer allein erziehenden Mutter
empfindsamer war als andere Kinder, mag sein dass das Mädchen sich nicht
berechtigt glaubte, aufzutrumpfen und Ansprüche zu stellen. MobbingTäter suchen sich gerade die Empfindsamen aus. Da sind Besonderheiten
wie hier der Name nur noch ein Vorwand. Pech, wenn in der eigenen
Klassengemeinschaft Täter sind, die gern Schwächere oder Empfindsamere
an den Pranger stellen. Noch mehr Pech, wenn – wie gar nicht so selten –
der Lehrer sich dumm stellt oder gar mit den Wölfen heult und seinen Teil
zum Mobbing beiträgt. Der zweite Lehrer hat es getan, der erste hatte
Autorität und Verständnis.
Wer fatalistisch denkt, erwartet, dass das vorgesehene Schicksal sich
seinen Weg sucht, so oder so. Doch seit einigen Jahrzehnten ist das Prinzip
„Kleine Ursache, große Wirkung“ auch wissenschaftlich wieder zu Ehren
gekommen. Der Zufall eines (ursprünglich nicht vorgesehenen) Lehrerwechsels hat hier gewirkt wie das Umstellen einer Weiche. Der aussichtsreiche Ansatz zur Befreiung aus der Rolle der Verliererin blieb stecken, weil
der Förderer verschwand und der Nachfolger Lust am Mitmobben hatte.
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Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Ob die junge Frau sich daran erinnert, wenn sie am Fließband vier Stunden
lang Dosen verschließt, dann eine halbe Stunde Pause macht, dann wieder
vier Stunden lang Dosen verschließt und abends nach Hause geht ins Eheleben, das, wenn Pech dabei ist, zur Sackgasse wird ?
Ein Lehrer in Amt und Würden braucht sich bis zur Pensionierung kaum
mehr zu rechtfertigen. Das ist in Ordnung, wenn er ein kluger, vom Schulalltag unangefochtener Menschenfreund ist. Leider gibt es schwarze Schafe,
wie in jedem Beruf, und man muss im Schul-Roulette Glück haben, dass
man an einen Lehrer von der guten Sorte gerät, der Verständnis hat und
wohlwollend hilft. Solche Lehrer gibt es viele, aber auch andere, und beide
Sorten können die Schulkarriere und den weiteren Lebensweg eines jungen
Menschen durch eine entscheidende Weichenstellung nachhaltig lenken.
Die Selbstfindung ist besonders schwer in einer neuen Heimat, die noch
fremd ist und nur langsam, wenn überhaupt, vertraut wird. Förderklassen
sind der erste Ort der Bewährung und der Hoffnung. Hier ein Beispiel :
Junge (16) – Hoffnung auf Deutschland
Die meisten Schüler / innen der Förderklasse kommen aus Russland.
Der Sechzehnjährige fühlt sich wohl darin, auch weil er dort Partner
findet, mit denen er russisch sprechen kann. Da gibt es Mitschüler, die
haben niemanden in der Klassengemeinschaft, der ihre Sprache spricht,
zum Beispiel ein Araber und ein Kosovo-Albaner, die sich nicht mit
Worten, aber auf andere Weise verständigen können, und die so ihre
Freundschaft aufrecht erhalten. Alle in der Förderklasse haben das eine
Ziel, schnell die deutsche Sprache zu erlernen und in eine Regelklasse
zu kommen. Seit zwei Wochen hat der Junge eine Freundin. Auch sie
kommt aus Russland, lebt schon seit einigen Jahren in Deutschland
und ist in einer Regelklasse. Anfangs wagte er nicht, sie anzusprechen,
aber dann traute er sich doch, und nun sind sie ein Paar. Die Beziehung
zu ihr ist ihm auch als Brücke zu neuen Kontakten wichtig. Der Junge
hat in Russland ein Gymnasium und eine Mittelschule besucht, doch
mit dem Schul- und Ausbildungssystem in Deutschland kennt er sich
nicht so gut aus. Er weiß jedoch, dass er sehr gut deutsch sprechen
muss, wenn er eine Berufsausbildung in einem technischen Beruf
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Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
machen will, wie er es gerne möchte. Es gab Tage, da glaubte er als
einziger Schüler seiner Klasse keine Fortschritte zu machen, und für
Stunden überkam ihn Verzweiflung. Die ließ aber nach, wenn er daran
dachte, wie vielen Leuten in seiner Lage es wohl ganz ähnlich geht.
Nach und nach wächst seine Zuversicht, dass Deutschland für ihn eine
Heimat ist. Er sieht in diesem Land Sicherheit und Beständigkeit für
sich und seine Familie. In Russland war stets die Angst da, am nächsten
Tag werde alles zusammenstürzen. Sport war in Russland ein fester Teil
seiner Freizeit. Wenn er sich hier erst eingewöhnt hat, wird er einen
Verein in Gütersloh suchen, vielleicht für Volleyball oder Basketball.
Vielleicht macht diese Schilderung diejenigen nachdenklich, die gerade in
jugendlichen Aussiedlern nur „die Russen“ sehen, die man im Verdacht hat,
zu dealen und Schlägereien anzuzetteln. Die gibt es gewiss, aber wie kommt
es dazu ? Migranten wie dieser Junge setzen große Hoffnungen auf das neue
Land und seine Möglichkeiten. Die Sprache ist die erste Hürde, doch nicht
die einzige. Aber schon diese Hürde lässt ihn, wenn auch nur für Stunden,
verzweifeln. Er ist gutwillig und anpassungsbereit, er will leisten, was man
von ihm erwartet. Manchmal aber machen wir uns nicht klar, wie schwer
das alles ist und wie groß die Gefahr ist, dass weniger Motivierte, weniger
Begabte unter den Migranten daran scheitern.
Was ist, wenn man an diesen inneren und äußeren Integrationshürden
scheitert ? Dann fällt man ins Leere, es sei denn, man findet eine Clique, die
das aus Enttäuschung geborene Ressentiment mit gewohnten, narzisstisch
stützenden Wertvorstellungen aus der alten Heimat zu einer subkulturellen
Ersatzidentität vermischt. Diese wieder erscheint dem Rest der Welt in
ihrer Misstrauen erzeugenden Abkapselung als Nährboden der Delinquenz,
und sie ist dies manchmal wirklich.
Ehe man wartet, bis es so weit ist und dann viel Aufwand in cliquenorientiertes Streetworking investiert, könnte man viel effektiver genau an
diesem ersten Schritt in die Integration feilen und ihm geduldig die Schärfe
nehmen, auch durch orientierende Hilfen zum Verstehen der Gepflogenheiten und Erwartungen in der neuen Heimat Deutschland. Wer Vertrauen
fasst und sich willkommen fühlt, wird zur Anpassung ernsthaft bereit sein.
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Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Berufsfindung und das Ende der Schulzeit
Was soll ich werden ? Diese Frage ist für niemanden so aktuell wie für
die Schulabgänger des laufenden Jahres. Sie sind gut vorbereitet – man hat
sie in der Schule auf die Berufswahl eingestimmt, und sie haben Praktika
hinter sich. Außerdem hat man ihnen gezeigt, wie man sich bewirbt. Und es
gibt auch noch das Arbeitsamt. Da muss es doch klappen. Oder ... ?
Mädchen (17) – Lehrstellen Mangelware
Wenn sie ihre Schule in zwei Wochen mit dem Hauptschulabschluss
verlässt, wartet nirgends eine Lehrstelle auf sie. Einzelhandelskauffrau
oder Malerin / Lackiererin, das sind ihre Berufswünsche. 20 Absagen
auf 20 Bewerbungen, das ist ihre deprimierende Bilanz. Das Arbeitsamt
konnte ihr auch nicht helfen. Ein Trost für die Siebzehnjährige ist, dass
es vielen ihrer Mitschüler / innen so geht, nur zwei waren bei ihrer
Lehrstellensuche erfolgreich. Sie selber stöbert das Internet durch nach
Lehrstellenangeboten, vielleicht findet sie ja doch etwas. Was ihr bleibt,
ist ein Berufsgrundschuljahr für Hauswirtschaft und Ernährung, sie
hofft, damit ihre Chancen für das nächste Jahr zu verbessern. Sie will
sich in der neuen Schule orientieren und parallel weitere Bewerbungen
schreiben. Sie will flexibel sein und sich auf keine Branche festlegen.
Das klingt nicht gut. Junge Leute voller Hoffnungen, die darauf warten,
dass man sie im Berufsleben willkommen heißt. Und die nun erfahren, dass
man sie gar nicht so dringend braucht wie immer behauptet wird.
Junge (16) – Hauptschule abgeschlossen, und dann ?
Wenn das Schuljahr vorbei ist, wird der Sechzehnjährige die Schule mit
dem Hauptschulabschluss verlassen und dann keine Lehrstelle haben.
Dabei wollte er nichts Utopisches. Industriemechanik, Werkzeugbau,
Metallbau – diesen Rahmen hat er sich vorgegeben. 20 Bewerbungen
hat er verschickt. Die hat er sorgfältig und liebevoll verfasst, auf
Empfehlung seiner Cousine mit einem Softwaresystem „Wie bewerbe
ich mich richtig ?“ Das hat nichts genutzt. Alle haben abgesagt, keiner
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Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
wollte ihn auch nur sehen. Das Arbeitsamt konnte ihm auch nicht
helfen. Dabei hat er sich auf die Berufsfindung schon in der Schule
vorbereitet und ein Praktikum in einem Holz verarbeitenden Betrieb
in Gütersloh gemacht. Dabei wurde ihm klar, dass er gar nicht Holz
verarbeiten möchte, sondern Metall. Das hat ihn bereits im Technikunterricht am meisten interessiert. Was bleibt ihm ? Er wird ein Berufsgrundschuljahr machen. Dann, hoffentlich, sind seine Chancen besser.
Wie deprimierend ! Da funktioniert alles wie im Bilderbuch. Der Junge
hat sich vernünftig orientiert, sein Ziel gefunden und nach allen Regeln, die
man ihm hätte nahelegen können, richtig gehandelt. Trotzdem hat er nun
keine Lehrstelle. Dabei ist er doch bestimmt leistungswillig.
Sollte man da nicht ins Grübeln kommen ? Haben wir nicht gehört, dass
viel mehr Kinder geboren werden müssten (oder Einwanderer kommen
müssten), damit die Sozialsysteme bezahlbar bleiben ? Was aber würde aus
diesen zusätzlichen Kindern bei ihrem späteren Berufseinstieg, wenn schon
die jetzt vorhandenen Jungen und Mädchen zum Teil nicht im Berufsleben
untergebracht werden können ? Wie kann der Geburtenrückgang unsere
Sozialsysteme bedrohen, wenn wir schon jetzt mehr Berufseinsteiger haben
als der Arbeitsmarkt aufnehmen kann ? Ist da nicht ein seltsamer Sprung
in der Argumentation ? Irgend etwas wurde wohl nicht zu Ende gedacht.
Sind es die Betriebe, die sich die Mühe mit der Ausbildung nicht machen
wollen ? Oder vergällen Bürokraten den Betrieben die Lust am Ausbilden ?
Oder ist es die Konjunktur, die nicht brummt ? Oder sind es die Billiglohnländer oder doch die Automaten ? Oder sind wir zu dumm ? Noch immer,
das ist entscheidend, fehlt uns die richtige, umfassende Ursachenanalyse.
Nicht alle haben nur Pech mit ihrer Suche nach einem Ausbildungsplatz.
Das folgende Beispiel klingt viel ermutigender.
Mädchen (15) – Rechtzeitiger Ehrgeiz
Noch während das Mädchen zur Grundschule ging, trennten sich ihre
Eltern. Sie blieb bei der Mutter und zog mit ihr um. So kam sie in eine
neue Grundschule. Die Trennung der Eltern verstörte das Mädchen.
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Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Sie begann, Lügen zu erzählen, erfand Freunde, die es gar nicht gab,
und wurde faul in der Schule. Trotzdem wechselte sie nach der Grundschule zur Realschule, doch das ging nur ein Jahr lang gut, danach kam
die Hauptschule. Erst vor einem Jahr erwachte in der damals Vierzehnjährigen der Ehrgeiz, und ihre Noten wurden in allen Fächern außer
Mathematik besser. Sie hat sogar einen Realschulabschluss geschafft
und nach einem Beruf Ausschau gehalten. Gern wäre sie Reisebürokauffrau geworden, dazu müsste sie aber den Abschluss einer höheren
Handelsschule vorweisen und außerdem die spanische Sprache lernen.
Doch schon Englisch fiel ihr viel zu schwer. Also hat sie sich um eine
Ausbildungsstelle als Erzieherin bemüht. Sie war damit erfolgreich und
will sich nun mit voller Kraft einsetzen. Ihr Vater hat sich erkundigt,
ob sie wohl eine Vergütung über 500 Euro erhielte. Das ist nicht so.
Sonst hätte er seine Unterhaltszahlungen eingestellt. So wie er möchte
die Fünfzehnjährige nicht werden, sondern so wie ihre Mutter, die stets
für andere Menschen sorgt. Das Mädchen möchte die Ausbildung mit
Erfolg abschließen und immer mit ihrem Freund zusammenbleiben.
Kein Problem sieht auch der Junge aus dem folgenden Beispiel. Er hat,
wie seine Herkunft ihm nahelegt, eine Marktlücke im Arbeitsmarkt besetzt.
Junge (16) – Kein Problem mit Fleisch
Der sechzehnjährige Hauptschüler macht sich keine Sorgen. Warum
auch ? Er geht gern zur Schule und ist ein guter Schüler. Dabei hat er
weder Lieblingsfächer noch besondere Abneigungen. Mit den Lehrern
versteht er sich, und in die Klassengemeinschaft ist er integriert. Unter
seinen Mitschülern hat er einige Freunde, mit denen er sich zum Inline
Skating oder zum Fußballspielen trifft. Sein Vater ist Fleischermeister,
der Junge möchte das auch werden. Schon jetzt überlässt der Vater
ihm kleine Entscheidungen, zum Beispiel, wie viele Würste auf eine
Stange gehören, vier oder fünf. In seinem zukünftigen Beruf sieht er
wenig Konkurrenz, denn in ganz Gütersloh gibt es nur drei Lehrlinge
im Fleischereihandwerk. Die Jugendlichen wollen nichts mit Fleisch
zu tun haben. Das versteht er nicht, denn er hat damit kein Problem.
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Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Man muss sich nur umsehen. Die Schule jedenfalls bahnt den Zugang,
wo sie kann. Immer wieder wird behauptet, der Fortschritt schaffe neue
Berufe. Wenn das so ist, müssen diese sich auch irgendwie finden lassen.
Der Junge aus dem folgenden Beispiel hat sich daran gehalten.
Junge (14) – Zukunftsberuf Mechatroniker
Der Vierzehnjährige braucht fünf Minuten zu Fuß, um zur Gesamtschule zu kommen. Dort geht er in die achte Klasse. Seine Lieblingsfächer sind Mathematik, Technik und Sport. Vor einiger Zeit fand in
der Schule eine Projektwoche zur Berufswahl statt. Dabei kam er auf
den Gedanken, das neue Berufsfeld Mechatronik wäre etwas für ihn.
Man kann sagen, dass dieses Berufsfeld sich mit der Verbindung von
Mechanik und Elektronik befasst, die man zum Beispiel beim Roboterbau verwendet. Auch die Mutter des Jungen hat sich über das Thema
informiert und findet, ihr Sohn habe gute Berufschancen zu erwarten,
wenn er Mechatroniker werde. Der Junge selber ist mit seiner Suche
noch nicht fertig. Auch der Beruf eines Informatikers passt zu seinen
Neigungen. Voraussetzung dafür wäre das Abitur. Dieses zu erreichen
traut er sich nicht zu, denn er ist in seiner Schule nur in der Mitte
der Leistungsskala. Es ist nicht lange her, da wollte er Schornsteinfeger
werden, weil er gehört hat, dies sei der bestbezahlte Handwerksberuf,
und man könne sich als Schornsteinfeger später selbstständig machen.
Lehrer haben den Vierzehnjährigen getadelt, er mache hin und wieder
„Bockmist“. Die Mutter meint dazu, die Lehrer bauschten Kleinigkeiten auf, kümmerten sich zu wenig um Unterrichtsinhalte und zuviel
um das Drumherum. Bei Elterntagen werde das besonders deutlich.
Im Unterricht fühlt sich der Junge manchmal zu wenig gefordert, weil
die Inhalte ihm zu banal erscheinen. An dieser Gesamtschule wird mit
Drogen gehandelt, und der Vierzehnjährige weiß, wie das vor sich geht.
Einmal hat er gehascht, doch er hat keine Wirkung gespürt. Er war
auch schon einmal betrunken, als er es auf der Party eines Freundes
mit Alkohol versucht hatte. Jetzt ist er klüger und weiß Bescheid.
In der Nähe gibt es eine große Firma, die Mechatroniker beschäftigt.
Dort wird der Junge sein Praktikum machen, um Genaues zu erfahren.
173
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Wer weiß, was er will, hat immer die besseren Chancen, besonders wenn
er einen familiären Hintergrund hat, der Rückhalt bietet. Der folgende Fall
zeigt ganz wunderbar, wie man einen Traumberuf entdecken und ihn mit
wacher Zielstrebigkeit Wirklichkeit werden lassen kann.
Mädchen (15) – Freude an der deutschen Sprache
Vor Jahren ist die Familie aus Kasachstan gekommen – beide Eltern,
das damals zweijährige Mädchen und der Bruder. Auch Geschwister,
Onkel und Tanten der Eltern sind nach Deutschland übergesiedelt und
leben hier, zusammen mit Familienmitgliedern aus der GroßelternGeneration. Sie alle gehören derselben religiösen Gruppe an, aber in
der engeren Familie des Mädchens spielt die Religion kaum eine Rolle,
der Stil des Hauses ist liberal, und das Mädchen fühlt sich zu Hause
geborgen, mit ihren Eltern und mit ihrem Bruder fühlt sie sich liebevoll
verbunden. Die Fünfzehnjährige geht in die zehnte Klasse einer Realschule, in der man Kinder aus Familien ihrer Glaubensgemeinschaft
zusammengefasst hat, überwiegend Jungen. Sie geht gern zur Schule
und mag besonders Deutsch und alles, was mit der deutschen Sprache
zu tun hat. Auch Mathematik mag sie, seitdem sie eine neue Lehrerin
hat, die weniger nett ist als ihr Vorgänger, aber besser erklären kann.
In Englisch fehlen ihr Vokabeln, die sie in den ersten Jahren zu lernen
versäumt hat. Davon abgesehen mag sie auch dieses Fach. Sie arbeitet
mit an der Schülerzeitung, indem sie Textbeiträge verfasst und Comics
zeichnet. Im letzten Jahr fand sie sogar einen Praktikumsplatz bei einer
Tageszeitung – das war nicht leicht, denn solche Plätze sind normalerweise Gymnasiasten vorbehalten. Die Fünfzehnjährige will Journalistin
werden. Durch ihr Praktikum weiß sie, dass dies nicht ohne Abitur
möglich ist. Nun braucht sie einen qualifizierten Abschluss, um zum
Gymnasium zu dürfen. Damit sie dieses Ziel erreicht und so ihrem
Traumberuf näher kommt, ist sie noch fleißiger geworden. Sie freut
sich, dass sie schon weiß, was sie einmal werden will. Die Eltern haben
ihr geraten, sich nicht zu sehr darauf zu verlassen, und einen Ausweichberuf für alle Fälle zu suchen. Da kommt für sie nur Buchhändlerin
oder Bibliothekarin in Betracht, denn mit Büchern und Sprache muss
ihr Beruf etwas zu tun haben. Zur Zeit nutzt sie Gelegenheiten, um ihr
174
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Taschengeld aufzubessern. Sie arbeitet als Babysitterin und gibt einer
Cousine Mathematik-Nachhilfeunterricht. Mit Sechzehn will sie dann
beginnen, als Kellnerin zu arbeiten. Das ist eine gute Übung, denn ihre
Eltern haben nicht genug Geld, um ihr ganzes Studium zu finanzieren,
und so will sie etwas dazuverdienen, auch wenn sie BAföG bekommt.
Individuelle Probleme
Unter den Jugendlichen gibt es manche, die über ein Handicap klagen,
das sie nicht aus der Welt schaffen können, das aber ihre Leistungsfähigkeit
beeinträchtigt, zum Beispiel eine chronische Krankheit, eine Teilleistungsstörung wie Legasthenie oder das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom oder
ein schwerer familiärer Dauerkonflikt. Es sind nicht besonders viele, und
sie bilden keine Gruppe mit einheitlicher Thematik. Ihr Leid ist individuell.
Die Qualität einer Schule zeigt sich darin, wie sorgsam und rücksichtsvoll
ihre Lehrer und Lehrerinnen mit solchen Handicaps umgehen. Im besten
Fall gelingt es, die persönliche und schulisch-berufliche Entwicklung trotz
des Handicaps zum Erfolg zu führen, manchmal jedoch wird das Handicap
zum Anlass von Diskriminierung und Depression. Das folgende Beispiel
zeigt, wie ein guter Rückhalt zu Hause einem Problem die Schärfe nimmt.
Junge (17) – Legasthenie ist eine Last, aber kein Schicksal
Als der Junge zum Gymnasium ging, begann für ihn ein Leidensweg,
der dann vier Jahre dauerte. Mit ewig schlechten Noten schleppte er
sich von Schuljahr zu Schuljahr. Seine Sommerferien waren ausgefüllt
mit Vorbereitungen auf Nachprüfungen, die gerade noch die rettenden
Vieren einbrachten, meistens in Fächern, die mit Sprachlichem zu tun
hatten. Kein Wunder, denn der Junge ist Legastheniker, eine Lese- und
Rechtschreibschwäche macht ihm zu schaffen. Dafür kann er nichts,
und weil seine Eltern das erkannten und ihn nicht unter Druck setzten,
konnte er sich ein dickes Fell zulegen. Wo er nichts gewinnen kann,
bleibt er phlegmatisch. Zum Glück gibt es Bereiche der Kompetenz,
in denen die Legasthenie keinen Schaden anrichtet. Der Junge kennt
sich mit Computern aus. Es sind nicht die Spiele oder Internet-Chats,
175
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
die ihn locken. Vielmehr schreibt er Programme, die einen Computer
steuern und ihm neue Fähigkeiten verschaffen können. Leider hätte
das angesichts seiner schlechten Noten nicht dazu gereicht, ihm eine
Lehrstelle zu sichern. Darum verließ er vor einem Jahr das Gymnasium
und ging zur Hauptschule. Ein Erfolg ! Das Lernen fiel ihm dort viel
leichter, auch weil der Lernstoff anders dargeboten wurde, und bald
hatte er gute Noten und endlich einmal die Ferien für sich, weil keine
Nachprüfung vorzubereiten war. Jetzt kann er Pläne für seine Zukunft
machen. Gern möchte er nun eine technisch orientierte weiterführende
Schule besuchen, um das Fachabitur zu machen und dann vielleicht
doch zu studieren oder zumindest einen Ausbildungsberuf zu erlernen,
selbstverständlich im technischen Bereich. Allerdings möchte er keinen
Beruf ergreifen, der ihn zwingt, gleich den ganzen Tag am Computer
zu verbringen. Die Arbeit müsste schon etwas handfester sein.
Für jemanden, der eine Teilleistungsstörung hat, ist es wichtig, nicht alle
Energien auf den Kampf dagegen zu richten, sondern sich auch abzulenken
und auf einem ganz anderen, unbeeinträchtigten Feld Erfolge zu suchen.
Dann kann die Erfahrung, Erfolg zu haben, und besonders leistungsfähig
zu sein, Mut machen und dem Handicap den Wind aus den Segeln nehmen.
Manchmal muss die Schule eingreifen, wenn die familiären Probleme
so gewaltig werden, dass sie das Leben eines Schülers oder einer Schülerin
zugrunde zu richten beginnen. Dies ist die breite Übergangszone zwischen
Unterricht und Sozialarbeit. Im folgenden Fall ist die Vertrauenslehrerin
Vertrauensperson und Schutzengel zugleich – zum Glück für das Mädchen.
Mädchen (15) – Vertrauenslehrerin als Rückhalt
Als die Eltern geschieden wurden, blieb das Mädchen bei der Mutter
und deren neuem Ehemann in Russland. Die beiden jüngeren Halbschwestern stammen aus dieser zweiten Ehe der Mutter. Als die häusliche Situation dort ins Wanken geriet, schlug die Mutter ihrer ältesten
Tochter vor, zu ihrem leiblichen Vater nach Deutschland zu ziehen,
dorthin war er nämlich übergesiedelt. Das geschah. Es war ein Glück
für die heute Fünfzehnjährige, aber die Erinnerung an die schwere Zeit
176
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
in Russland und die Sorge um ihre Mutter und ihre beiden kleinen
Schwestern reisten mit nach Deutschland. Eine Mischung aus Kummer
und Angst lastet auf ihr, sie ist so weit weg von den ihr vertrauten
Menschen, deren Schicksal sie nicht teilen und beeinflussen kann, und
hier hat sie einen Vater, der ihr nach all den Jahren fremd geworden ist,
und dessen Freundin sie gar nicht kennt. Die Mutter des Vaters aber
konnte die Rolle einer Vertrauensperson annehmen. Einsam und auf
sich gestellt fühlt sich das Mädchen, seit knapp einem Jahr versucht sie,
sich in einer Förderklasse mit der deutschen Sprache zurechtzufinden.
In die Klassengemeinschaft ist das Mädchen eingebunden, Freundschaften jedoch konnte sie dort nicht schließen. Zu einem Mädchen
in der Nachbarschaft entwickelte sich eine Freundschaft, diese wurde
aber vom Vater verboten, weil die Freundin rauchte. Die Schule stellt
eine Vertrauenslehrerin, die sich um das einsame Mädchen kümmert
und eine Unterbringung im Internat vorgeschlagen hat. Dies könnte
eine Lösung sein, denn die Gefühle der Fremdheit gegenüber ihrem
leiblichen Vater wachsen, und die Sorge um Mutter und Geschwister
lässt beinahe keinen anderen Gedanken mehr zu. Wie soll man sich da
auf die Schule konzentrieren ? Das Mädchen wagt nicht, jemanden ihre
Probleme zu erzählen, sie fürchtet, gerade dann abgelehnt zu werden.
Nur die Vertrauenslehrerin weiß alles. Im Internat wären vielleicht
Freundschaften möglich, der Vater könnte sie dort nicht unterbinden.
Die doppelte Last schwerer Probleme in der Familie und einer schweren
Anpassungsaufgabe, die im Zurechtkommen mit einem fremden Land und
einer fremden Sprache besteht, ist ohne Hilfe nicht zu tragen und blockiert
die altersgemäße Entwicklung. Man muss für diese Jugendliche und ihre
Familie hoffen, dass sich die Dinge zum Besseren wenden.
Es gibt so viele Probleme, mit denen Jugendliche sich auseinandersetzen
müssen – Pubertät, Schule, Berufseinstieg –, dass man meint, jedes Problem
mehr müsste jenseits des Bewältigbaren sein. Doch in manchen Fällen ist
die Sorge um die Gesundheit dieses zusätzliche Problem, wie im folgenden
Beispiel. Wir wollen hoffen, dass sich die Beschwerden, von denen darin
die Rede ist, aufklären lassen, damit sie geheilt werden und die Ausbildung
nicht weiter belasten.
177
Jugendliche
Schule und Berufseinstieg
Mädchen (19) – Hoffentlich hält die Gesundheit
Das empfindsame Mädchen war eine der besten Schülerinnen ihrer
Klasse. Dann kamen der Umzug und eine neue Schule. Da plötzlich
war der Lernstoff für sie nicht mehr zu bewältigen, denn aus irgendeinem Grund war man in der neuen Schule weiter vorangeschritten als
in der früheren, obwohl die Klassenstufe noch stimmte. Sie kämpfte
verzweifelt darum, den Anschluss wiederzugewinnen – es ging nicht.
Am Ende gab sie auf und wiederholte die Elf. Doch der Lernstoff war
nicht das einzige Problem. Beinahe ebenso schlimm war es, dass sie in
die neue Klasse nicht so recht hineinfand. Sie ist schüchtern und bleibt
in einer neuen Umgebung erst einmal die Beobachterin, ohne sich
aufzudrängen. Die Mitschüler / innen kamen ihr auch nicht entgegen.
Alle kannten sich schon seit Jahren, und für die Neue war kein Platz.
Sie hat nun das Abitur und auch eine Lehrstelle als Zahnarzthelferin,
die ihr gefällt. Gern möchte sie ihre Ausbildung mit Erfolg beenden.
Doch da gibt es eine große Sorge : die Gesundheit. Vor vier Jahren hat
es begonnen. Von Zeit zu Zeit versagen ihre Muskeln in Armen und
Beinen den Dienst. Die Bewegung ist erschwert und die Empfindung
gestört. Sie kann sich manchmal kaum noch aufrecht halten. Später ist
es wieder weg, und alles ist normal. Noch weiß man nicht, woher das
kommt. Die Neunzehnjährige hat Angst, die Ausbildung nicht zu Ende
führen zu können, wenn die rätselhafte Krankheit schlimmer wird.
Wie dieser Fall sind viele Fälle, jeder für sich, einmalig.
Erwähnen wollen wir noch einen 19 Jahre alten Interviewpartner, der
durch Spastik fast bewegungsunfähig ist, aber geistig aufnahmefähig und
vital. Ohne zu sprechen verständigt der intelligente Junge sich mit Hilfsmitteln. Eine Körperbehindertenschule hatte sich seiner angenommen,
doch wurde die Spastik inzwischen so schlimm, dass er ausgeschult werden
musste. Er wird von seinen Eltern gepflegt, die von Helfern, ehemaligen
Zivildienstleistenden, unterstützt werden. Mit deren Hilfe nutzt der Junge
ausgiebig das Internet. Alles ist sehr mühsam, besonders die Nahrungsaufnahme. Doch er kommt zurecht und hat den Lebensmut nicht verloren.
Er weiß sich zu helfen – auf seine Art.
178
Jugendliche
Freizeit
Freizeit
Einführung
Die Freizeit vieler Jugendlicher ist Leistungsfreizeit. Sie bringt Nützliches
durch Extra–Erlebnisse und –Übungen als Vorbereitung für irgendwann.
Dass Freizeit auch Muße, Faulheit, Nichtstun und „Abhängen“ sein kann,
wobei man sich jedem – auch dem banalsten – Leistungswillen verweigert,
wussten „die drei Zigeuner“ aus einem Liedtext von Nikolaus LENAU :
„Dreifach haben sie mir gezeigt, wenn das Leben uns nachtet,
wie man’s verraucht, verschläft, vergeigt, und es dreimal verachtet.“
Zu sein und zu denken wie sie erscheint uns heute als Anfang vom Ende.
Doch verrauchen und mit Drogen vergeigen kann man das Leben auch so.
Manchen Jugendlichen ist der Leistungswille zuviel, zumindest ab und zu.
Sichtkontakt mit illegalen Drogen bei Jugendlichen
in Berührung gekommen
nicht in Berührung gekommen
[keine Angabe]
30 %
10 %
60 %
von 78
Kontakt mit Alkohol bei Jugendlichen
nur die Kumpels trinken
man selber trinkt (mit)
[keine Angabe]
9%
30 %
61 %
von 78
Kontakt mit Zigaretten bei Jugendlichen
nur die Kumpels rauchen
man selber raucht (mit)
[keine Angabe]
10 %
26 %
64 %
von 78
179
Jugendliche
Freizeit
Das heißt, einem Viertel bis einem Drittel der Jugendlichen ist Rauchen
und Alkohol trinken vertraut, vielleicht sind unter „Keine Angabe“ noch
ein paar Prozent zusätzlich versteckt. Unter „Sichtkontakt mit Drogen“
haben wir Aussagen erfasst wie „Ich weiß, wo man Drogen kaufen kann.“
oder „Ich habe gesehen, wie jemand dealt.“ oder auch „Ich habe das selber
mal probiert.“. Tiefere Bekenntnisse darf man nicht erwarten. Auch wenn
man den unter „Keine Angabe“ versteckten Anteil nicht einbezieht, kann
man doch folgern, dass die Drogenszene eine Infrastruktur hat, die kaum
weniger zugänglich für die Jugendlichen ist als der öffentliche PersonenNahverkehr, und dass diese Infrastruktur auch genutzt wird.
Umso höher muss man die Leistung der vielen Jugendlichen einschätzen,
die ihre Freizeit sinnvoll einteilen und dabei ihre Begabungen entdecken
und einsetzen. Es sind oft Jugendliche, die in ihrem Leben Rückhalt haben.
Ein bedeutsames Phänomen in der Welt der Jugendlichen ist die Clique,
in der sich die Welt der Kumpels informell organisiert wiederfindet. Ob es
uns gefällt oder nicht, die Clique hat die Kraft, Halt zu geben und Normen
zu setzen. Sie tritt in vielen Erscheinungsformen auf, und gerade in sonst
nur schwer zugänglichen Problemgruppen ist eine an Cliquen orientierte
Jugend- und Sozialarbeit ein Königsweg zum Erfolg. Auch unserer kleine
Stichprobe liefert hochsignifikante Ergebnisse zur Bedeutung der Clique :
Bedeutung der Clique für Jungen im Alter von 14 bis 17 Jahren
große Bedeutung
geringe oder keine Bedeutung
[keine Angabe]
62 %
16 %
22 %
von 41
Bedeutung der Clique für Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren
große Bedeutung
geringe oder keine Bedeutung
[keine Angabe]
180
76 %
12 %
12 %
von 41
Jugendliche
Freizeit
Zeitvertreib
Wer sich die Zeit vertreibt, hat zuviel davon. Jedenfalls hat er mehr Zeit,
als er sinnvoll unterbringen kann. Bei Jugendlichen hat dies oft etwas damit
zu tun, dass niemand etwas anzubieten hatte oder hat, das lockend und
lohnend genug wäre, um sich mit Feuereifer darauf zu stürzen. Doch nicht
alle, die sich die Zeit vertreiben, würden sich mit etwas Sinnvollem wohler
fühlen, auch wenn manche auf der Suche danach sind und dies und jenes
ausprobieren. Viele wollen auch einfach nur Spaß. Was ist Spaß ? Vielleicht
bedeutet Spaß : Viel Anregung und Aufregung bei wenig Aufwand.
Junge (15) – Kumpels und Spaß
Sechs Euro pro Stunde bringt die Arbeit in der Fabrik. Der Junge geht
nicht nur in den Ferien hin, sondern manchmal auch nach der Schule.
Er braucht das Geld für ein eigenes Fernsehgerät. Später einmal soll
der Führerschein dabei herausspringen, bald danach ein eigenes Auto.
Da wäre ein 3er BMW richtig, den kann man tiefer legen, das ist cool.
Eine mächtig laute Musikanlage kommt hinein, dann macht es Spaß,
damit herumzufahren. In seiner Freizeit trifft der Junge Kumpels, um
gemeinsam mit ihnen CDs zu hören, Videos zu sehen oder zu Partys
zu gehen. Dort trinken sie Bier, gelegentlich kommt er betrunken nach
Hause, zum Kummer seiner Mutter. Aber was soll sie dagegen tun,
verbieten kann sie es nicht. Mit dem Rauchen hat er vor zwei Jahren
begonnen, weil die Kumpels das vorher taten, dann hat er immer mehr
geraucht. Er merkt, dass er deswegen schneller schlapp macht, aber
was soll’s, er treibt sowieso keinen Sport, nur in der Schule. Immerhin
liest er ab und zu, Comics, keine Bücher. Mit einem Verein hat er es
gar nicht erst versucht. Der Fünfzehnjährige fühlt sich wohl – noch
wohler würde er sich fühlen, wenn es in seiner Gegend nicht so viele
Türken und Russen gäbe. Mit den Türken kommt er zurecht, nur mit
den Russen nicht, denn die zetteln Schlägereien an. Vor einiger Zeit, so
berichtet der Junge, ist sein schon betrunkener Kumpel bei einer Party
im Jugendheim mit einem deutschen Jugendlichen in Streit geraten.
Der Fünfzehnjährige wollte ihn bremsen, aber da war es schon zu spät.
Der Gegner hat dann russische Freunde als Verstärkung geholt. Es ist
181
Jugendliche
Freizeit
zu einer großen Schlägerei gekommen, an der etwa zwanzig Kämpfer
beteiligt waren. Zweite Episode: In der Realschule haben drei Russen,
die in der Pausenhalle an ihm vorbeikamen, auf ihn eingeschlagen und
ihm das Nasenbein gebrochen. Das war dann krumm, aber nur wenig.
Auto, Fernsehen, Bier, Comics, Randale. Schlapp macht der Junge auch
gegenüber der Anforderung, sich etwas zu suchen, auf das man sich mit
Ausdauer einlassen müsste, und das den „Kick“ nicht gleich nach wenigen
Minuten liefert. Er braucht ein Vorbild, und vielleicht findet er es in einem
Kumpel, die Frage ist aber, wohin ihn eine solche Leitfigur führen könnte.
Wer mehr will als Spaß, muss Frust über lange Zeit aushalten können, und
dazu muss er wissen, wofür. Vielleicht sollte man sich damit abfinden, dass
sich nicht jeder Jugendliche Maximen wie „Rettet die Welt !“ oder „Jugend
forscht für die Zukunft“ zu Eigen macht. Einige wollen nur Spaß haben.
Mädchen (17) – Party, Party oder Schule ?
In ihrer Stadt gibt es für die Siebzehnjährige und ihre Clique zu wenige
Angebote – kein Kino, eine Discothek mit zweifelhaftem Ruf und nur
Kneipen, die für ältere Leute eingerichtet sind. Was die jungen Leute
brauchen, finden sie in Gütersloh und Bielefeld, doch wie kommt man
hin ohne Auto ? Das Mädchen und seine Freunde und Freundinnen
haben das schon ausprobiert, doch mit öffentlichen Verkehrsmitteln
ist es kompliziert. Ein Führerschein muss her ! Die Siebzehnjährige
geht seit einigen Wochen zur Fahrschule. Der achtzehnte Geburtstag
kommt bald und mit ihm dann die Mobilität. In einem Jugendheim
arbeitet das Mädchen zur Zeit ehrenamtlich mit einer Kindergruppe.
Die Schulaufgaben werden betreut und Freizeitangebote ausgearbeitet.
Wenn Zeit übrig ist, spielt das Mädchen Tennis. Dies hat sie früher
im Verein betrieben, jetzt möchte sie das nicht mehr, weil sie nicht
nach einem festen Plan Sport treiben will, sondern wenn sie Lust hat.
Die Siebzehnjährige hat zur Zeit keinen Freund. Sie hat zwei Bewerber
in Aussicht, zwischen denen sie sich nicht entscheiden kann. Es kann
geschehen, dass sich wegen ihres Zauderns beide von ihr abwenden.
Sie hat jedoch zwei sehr gute Freundinnen, die ganz verschieden sind.
182
Jugendliche
Freizeit
Als sie vor einiger Zeit Liebeskummer hatte, hat die eine Freundin ihr
ein Gefühl der Sicherheit gegeben. Das kam so : Das Mädchen war
einmal mit einem festen Freund zusammen, der irgendwann begann,
sich abzuwenden, aber nie einen klaren Schlussstrich zog, obwohl
schon längst eine Rivalin im Spiel war, so dass sie immer noch hoffte,
es könne alles wieder gut werden. In dieser langen Zeit allmählichen
Verlustes konnte sie sich mit ihrem Kummer an die Freundin wenden.
Diese half ihr, der Beziehung zu dem Jungen ein Ende zu setzen und
den Kummer darüber zu ertragen. Im Gegensatz dazu ist die andere
Freundin für das Mädchen eher eine Partnerin, mit der zusammen sie
zu Partys geht. Daraus ist ein Konflikt zwischen häufigem Ausgehen
und Schule entstanden. Man muss sich entscheiden, zu viele Partys
lassen sich mit der Oberstufe des Gymnasiums eben nicht vereinbaren.
Die Siebzehnjährige sieht heute klar, dass der Absturz ihrer Leistungen
in der Schule wegen Faulheit eine Folge des häufigen Ausgehens war.
Ein zweites Problem ist dabei der Alkohol. Die Freundin trinkt zu viel
davon und wird unzugänglich, wenn man sie darauf anspricht. Nun ist
die Siebzehnjährige der Schule zuliebe bereit, auf die eine oder andere
Party zu verzichten, besonders wenn sie weiß, dass dort wieder einmal
am Ende alle betrunken sein werden. Doch immer noch braucht sie
die Partys sehr, der Konflikt ist nicht bereinigt, sondern schwelt weiter.
Die Schule kann schon mit Angeboten, Zielen und Belohnungen locken,
doch die Hürden sind alle ziemlich hoch, und im Grunde hätte man es gern
ein wenig billiger. Die Schule bedient die Großhirnrinde, aber das limbische
System, die emotionale Welt, wird von ihr allenfalls mit Dünnluft beatmet.
Da nutzen die schönsten Werte des Abendlandes nichts, sie kommen nicht
an gegen die Aussicht auf Spannung, Abwechslung, menschliche Nähe,
vielleicht Liebe oder deren physische Vorstufen. Die Party hat schon etwas
zu bieten, trotz Suff, Keilereien und Öde. Besser Liebeskummer als nichts,
und dann noch eine Freundin, mit der man ihn genießen kann. Traurig sein,
ein Drama erleben, Selbstzweifel und Auftrumpfen – das macht lebendig,
sogar ohne Dope. Oder doch mit. Die zweite Freundin, in wunderbarer
Arbeitsteilung mit der ersten, inszeniert den Konflikt zwischen Party und
Schule, so dass das Mädchen ihn studieren und Distanz gewinnen kann.
183
Jugendliche
Freizeit
Mädchen (15) – Kaum Angebote
Montag, Mittwoch und Freitag, nachmittags von vier bis sieben Uhr ist
der Jugendtreff des Dorfes geöffnet. Da kann man Billard spielen oder
einfach nur zusammensitzen. Viel zu selten gibt es eine Veranstaltung.
Manchmal trifft sie sich im Dorf mit Freundinnen, ab und zu fahren
sie dann alle mit dem Zug nach Lippstadt, Bielefeld, Dortmund oder
Oberhausen, um in Läden und Kaufhäusern zu schauen, was es gibt,
und vielleicht etwas einzukaufen. Geld dazu erhält sie von ihren Eltern.
Hobbys sind für die Fünfzehnjährige nicht von Bedeutung, sie ist auch
nicht mehr in einem Verein. Früher hat sie Tischtennis und Handball
gespielt. Zum Handball ist der Vater mitgekommen, um seine Tochter
tatkräftig zu unterstützen – vergeblich, denn in diesem Dorf war kein
Weiterkommen möglich. Sie hat an einem Trainingslager in Gütersloh
teilgenommen, doch es gab zu wenig Anreiz, um mit dem Handball
weiterzumachen. Insgesamt hat das Dorf nur wenige Sportangebote,
vom so genannten Breitensport einmal abgesehen, der ihr keinen Spaß
macht. Also bleibt ihr nur das Joggen, ganz für sich allein. Sie schläft
viel und gern, wie alle in der Familie dies tun. In der Schulzeit geht sie
manchmal um neun Uhr ins Bett, in den Ferien jedoch später, weil sie
dann am Abend Freundinnen zu Besuch hat oder mit ihnen telefoniert.
Das kann lange dauern, und am nächsten Tag schläft sie bis zwölf oder
gar zwei Uhr. In ihrer Schulklasse gibt es mehrere Gruppen, darunter
die „Streber“ und die „Hänger“, keiner davon kann sie sich richtig
zuordnen. Drogen gibt es an der Schule auch, und sie weiß, an wen sie
sich wenden müsste, wenn sie welche kaufen wollte. Durch ihren
letzten Freund, der selber gekifft hat, ist sie mit Drogen in Berührung
gekommen. Sie hat es dann auch einmal mit Kiffen versucht, aber sie
konnte nichts daran finden und hat es nicht wieder versucht, man kann
auch so Spaß haben. Auch das Rauchen geht auf die Zeit mit ihrem
Freund zurück, ein ganzes Jahr lang hat sie geraucht. Der Freund hat
nach dem Kiffen oft schlechte Laune gehabt. Als er eine Lehre begann,
sahen sie sich nur noch am Wochenende, dann trennten sie sich ganz.
Mit der Beziehung endete für das Mädchen das Rauchen. Der Freund,
so hat sie gehört, kifft jetzt noch mehr, das findet sie nicht in Ordnung.
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Jugendliche
Freizeit
Da geht es um mehr als nur Spaß haben. Dieses Mädchen sucht etwas,
das weiterführt und trägt, ihr fehlen Angebote. Das Dorf hat kaum welche,
und Gütersloh ist weit. So bleibt nur das Joggen. Streber und Hänger – beide
sind zu extrem für das Mädchen, und auch von ihrem Freund konnte sie
sich trennen, als sie merkte, dass sein Weg mit ihr nicht weit führen würde.
Doch nicht nur Angebote entscheiden darüber, ob man etwas Tragfähiges
für das eigene Leben findet, sondern mehr noch gute Beziehungen, sei es
zur Familie, sei es zu Freunden. Bezugspersonen der Gegenwart und auch
der Vergangenheit sind es, die dem Erlebten Sinn und Bedeutung geben.
Da brauchen die Vereine, Veranstaltungen und Gruppen gar nicht so toll
zu sein – wenn man nur Menschen hat, mit denen man sich gut versteht.
Mädchen (17) – Wenig los, trotzdem schön
In ihrer Freizeit fährt die Siebzehnjährige gern Rad, und sie ist Mitglied
in einem Radsportverein. Früher hat sie dort viel trainiert, jetzt lässt ihr
die Schule kaum noch Zeit zum Training. Besonders gern fährt sie mit
ihrem Vater zusammen Rad. Sie freut sich, dann ihren Vater allein für
sich zu haben, zum Schluss gibt es auch mal ein Eis. Um sich eigenes
Geld zu verdienen, gibt sie zweimal pro Woche Nachhilfeunterricht,
Englisch für die sechste Klasse. Hier in ihrem Ort zu leben, findet sie
schön, obwohl es kaum Freizeitangebote für Jugendliche gibt. Einmal
im Jahr ist richtig etwas los – beim Schützenfest. Außerdem finden auf
einigen Bauernhöfen Scheunenfeste statt. Jugendliche, die meist noch
kein Auto besitzen, haben sonst keine Möglichkeit, einmal auszugehen.
Mit ihrer besten Freundin hat sie Spaß, und mit ihr kann sie auch über
Probleme reden. Noch besser eignet sich dazu eine ältere Cousine, die
fast dreißig Jahre alt ist und viel Erfahrung hat. Sie lebt in einer fernen,
großen Stadt, und die Besuche bei ihr sind deshalb sehr unterhaltsam.
Die Freundin aber ist die wichtigste Person im Leben des Mädchens.
Der folgende Fall steht im Gegensatz dazu. Eine allein erziehende Mutter
nimmt einfach alles hin, was ihr vierzehnjähriger Sohn so treibt, als ginge es
nur darum, dass es nicht gar zu schlimm kommt. Der Junge streunt herum
und probiert mal dies, mal jenes. Vom Zufall hängt es ab, was daraus wird.
185
Jugendliche
Freizeit
Junge (14) – Mutters lange Leine
Der Vierzehnjährige, dessen Eltern sich getrennt haben, lebt bei seiner
Mutter. Jeden Tag, wenn die Schule aus ist, geht er zuerst nach Hause
und dann ins Jugendzentrum. Da spielt er Billard mit seinen Freunden,
beschäftigt sich mit dem Computer oder hängt rum. Am Wochenende,
wenn das Jugendzentrum nicht geöffnet ist, sitzt er mit den Freunden
vor der geschlossenen Tür, die Polizei kommt ab und zu vorbei und
schaut nach, was die Clique so treibt. Seine Mutter weiß nicht genau,
was ihr Sohn im Jugendzentrum macht, denn „Mütter haben da keinen
Zutritt“. Sie vertraut auf die Vernunft des Jungen und auf das Personal
im Jugendzentrum. Der Mutter ist es lieber, wenn ihr Sohn im Jugendzentrum ist, als wenn er sich an Orten herumtreibt, an denen niemand
Kontrolle über ihn hat. Um 21 Uhr ist Schluss im Jugendzentrum, und
erst dann macht der Junge sich auf den Weg nach Hause, zu spät zum
Abendessen. Der Junge hört gern House und Hip–Hop, dabei dreht er
den Verstärker manchmal so laut, dass die Nachbarn sich beschweren.
In seinem Zimmer sieht er fern, beschäftigt sich mit dem Computer
oder spielt mit der Play–Station, der Zeitaufwand hält sich in Grenzen.
Freiwillig gelesen hat er noch nie. Gegen halb Elf sagt dann die Mutter
ihrem Sohn „Gute Nacht“ und schaltet das Fernsehgerät aus, oft sieht
er aber noch länger fern. Am Wochenende darf es später werden, bis
Mitternacht bleibt der Vierzehnjährige außer Haus. Dann läuft er mit
Freunden in der Stadt herum oder geht in die Disco. Sport, immerhin,
treibt er auch, einmal in der Woche geht er zum Handballtraining und
an manchen Wochenenden sogar zu Turnieren. Der Junge interessiert
sich sehr für Computer, er weiß besser Bescheid darüber als sein Vater,
Dazu braucht er das Internet, mehr als vierzig Stunden pro Monat ist er
„drin“. Das ist teuer, besonders wenn man ein langsames Modem hat.
Wenn der Junge bei seinem Vater ist, spielt er auf dessen Computer
stundenlang Spiele im Internet, so dass dieser nur für ihn einen kostengünstigeren Vertrag abgeschlossen hat. Er bezahlt auch eine Call–Ya–
Karte für das Handy seines Sohnes, doch der hat kein Interesse daran,
viel zu telefonieren. Der Junge fährt gerne mit seiner Mutter in Urlaub,
es macht ihm aber auch nichts aus, einmal ohne sie in Urlaub zu fahren.
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Jugendliche
Freizeit
Nicht das alterstypische Durcheinander der Interessen ist das Problem,
sondern der Mangel an Zielvorstellungen. Zielbindung versus Ziellosigkeit,
das ist ein Kriterium, das Voraussagen darüber ermöglicht, wie rosig oder
grau die Zukunft eines Menschen aussehen wird. Zielvorstellungen haben
etwas mit den Gewichten und Bedeutungen von Inhalten des Handelns
und Erlebens zu tun, und dahinter wieder stehen Menschen, die Vorbilder
waren und Echo gegeben haben, verlässlich und über lange Zeit hinweg.
Der Umgang mit den vielen Möglichkeiten, die man erproben und dann
ausbauen oder aufgeben kann, ist im folgenden Fall eingebettet in ein Netz
von sinngebenden Beziehungen, und darauf kommt es an.
Mädchen (15) – Abwechslung aller Art
Nachmittags muss die Fünfzehnjährige erst einmal viel lernen, danach
spielt sie mit ihrem kleinen Bruder. Einmal pro Woche geht sie zum
Training in den Turnverein ihrer Stadt, und sie spielt auch Handball.
Reiten steht auf ihrer Wunschliste, aber dafür ist keine Zeit mehr übrig.
Freitags abends trifft sie sich im Jugendkreis mit anderen Jugendlichen
aus ihrer Schulklasse. Man redet miteinander, zur Zeit wird ein kleiner
Film gedreht, irgendwelche Aktionen stehen fast immer auf dem Plan.
Zwei Betreuer sind pro Gruppe tätig. In den Sommerferien war sie mit
ihrer Gruppe im Ausland. Ihre Familie verfügt seit einigen Jahren über
einen Wohnwagen, mehrmals im Jahr wird er für eine Reise innerhalb
von Deutschland genutzt. Die ganze Familie ist im Sport aktiv, sie hat
einen Kanadier und zwei Kajaks für Touren auf Flüssen in der näheren
Umgebung. Ein Urlaub ohne Sport wäre für die Familie nicht denkbar.
Bis vor einigen Wochen hatte das Mädchen einen festen Freund, aber
der hat nach drei Monaten plötzlich Schluss gemacht. Dennoch war es
eine schöne Zeit, eine gute Erfahrung mit schlechtem Ende.
Freizeit ist Zeit zur freien Verfügung, man darf sie zu allem verwenden,
sogar zum Trödeln und Schlafen oder zu einem endlosen Telefongespräch
oder zu einem Einkaufsbummel. Man ist die Freizeit niemandem schuldig,
nicht der Familie, die gern den Müll und die Geschirrspülmaschine versorgt
sehen will und keinem Sportverband, der trainierte Leistungsträger braucht.
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Jugendliche
Freizeit
Cliquen
Eine Clique macht etwas gemeinsam, eine Clique vereinbart, was gut und
richtig ist, eine Clique hält zusammen gegen Außenstehende und wenn es
sein muss auch gegen die Polizei. Für manche Jugendliche liefert die Clique
etwas, das sonst niemand liefern kann, nämlich ein Korsett fürs Leben, das
stützt und orientiert.
Es gibt Cliquen, die sind Gesetzgeber und können jemanden verurteilen,
zum Beispiel wenn sein „outfit“ nicht stimmt, sie strafen mit Ablehnung
oder drohen damit. Ansehen spielt eine Rolle in einer Clique, wer gut zum
kollektiven Idealbild passt, auf das sich die Clique – ob ausgesprochen oder
nicht – verständigt hat, steht groß da, die anderen müssen ihm nacheifern.
Wer der Macher (der Macker) ist und etwas „besorgen“ kann, der gilt etwas.
Was „geht“ und was nicht, bestimmt die Clique.
Warum sollte sich jemand freiwillig in einer Clique ein- und unterordnen ?
Weil sie Halt gibt und dazu die Gewissheit, dass man auf dem richtigen
Weg ist ! Die Angebote der Älteren und ihrer heiligen Wertewelt müssen
erst einmal etwas dagegensetzen können, viele Familien können das nicht,
viele Schulen auch nicht, sie bieten keinen Halt. Und oft zimmern sie einen
Rahmen, der offensichtlich eher zu ihren eigenen Bedürfnissen passt als
zu denen der Jugendlichen. Da ist die Clique glaubhafter – erst einmal.
Halt und Abgrenzung also – viele Jugendliche sind in einer Clique, doch
kaum eine Clique ähnelt der anderen. Es ist ein buntes Bild. Vom lockeren
Freundeskreis, dem ein Jugendlicher vertraut und in dem er sich wohlfühlt,
bis zur paranoiden Schlägertruppe reicht das Spektrum. Beginnen wir mit
einer sanften Spielart des Phänomens Clique, einem Freundeskreis.
Junge (17) – Junge mit Freundeskreis
Der Siebzehnjährige gehört zu einem Freundeskreis von fünfzehn bis
zwanzig Jungen, die sich seit der Grundschulzeit kennen und nun auf
verschiedene Schulen verstreut sind. Sie verbringen den größten Teil
ihrer Freizeit zusammen. Sie gehen am Wochenende aus oder spielen
Volleyball oder sitzen zusammen und reden. Manchmal bauen sie auch
etwas gemeinsam, zur Zeit zum Beispiel eine Terrasse für den Jungen.
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Jugendliche
Freizeit
Der Siebzehnjährige bezeichnet nur vier Jungen aus diesem Kreis als
wirklich enge Freunde, mit denen er auch Probleme bespricht, noch
lieber als mit seinen Eltern, weil Eltern in manchen Dingen doch eine
andere Einstellung haben als junge Leute. Diese Freunde haben ihm
zugehört und ihn beraten, nachdem seine Eltern eines Nachts einen
sehr schlimmen Streit hatten, bei dem auch das Wort „Scheidung“ fiel.
Der Gedanke, dass seine Eltern nicht mehr zusammen leben könnten
und sich scheiden lassen, kam dem Jungen geradezu unvorstellbar vor.
Der Streit machte ihm große Angst, zugleich war er so wütend auf
seine Eltern, dass er einige Tage nicht mehr mit ihnen sprechen wollte.
Seine Freunde beruhigten ihn damit, dass sie ähnliche Szenen von
ihren eigenen Eltern berichteten, die auch nicht zum Bruch führten.
Seine Eltern haben ihm dann schon am nächsten Tag zugesichert, sie
wollten zusammen bleiben. Der Junge sagt, dieser Streit seiner Eltern
sei das schlimmste Erlebnis gewesen, das er je hatte. Obwohl er nicht
viel mit seinen Eltern und seiner übrigen Familie unternimmt, meint er,
er brauche doch schließlich alle, seine Eltern, seinen Bruder, seinen
Hund, der immer bei ihm ist, und seine Freunde. Eigentlich ist er mit
seinem Leben zufrieden, nur eine Freundin hätte er gern. Wenn er aber
bei anderen Jungen sieht, wie schmerzhaft Liebe sein kann, zögert er.
Noch keiner aus der Clique hat eine Freundin länger als drei Wochen
behalten. Die Mädchen wollten den Freund nicht mit der Clique teilen.
Es ist deutlich, dass der Junge durchaus in seiner Familie Halt sucht, aber
die hat ihn verunsichert, und der Freundeskreis fängt ihn auf. Eine wirklich
gute Sache ist das, leider gelingt sie nicht allen Jugendlichen.
Der folgende Fall handelt von einer Clique, die nach außen „dicht“ ist.
Junge (17) – Die Clique bestimmt
Bis vor zwei Jahren war der Junge Vereinssportler – Inline Skating hat
er betrieben und früher Fußball. Heute ist nur noch Schulsport und
Krafttraining übrig. Warum ? Er ist jetzt einfach zu faul, regelmäßig
zum Vereinstraining zu gehen. Und außerdem sind die Kumpels auch
nicht mehr im Verein. Einige Pflichten im Haushalt haben die Eltern
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Jugendliche
Freizeit
ihm auferlegt – die Spülmaschine ausräumen, den Müll sortieren und
den Rasen mähen, manchmal auch die Wohnung aufräumen. Das ist
nicht zu viel, das macht er gern. An jedem Wochenende erhält er von
den Eltern 15 Euro Taschengeld. In den Ferien jobbt er, zum Beispiel
sucht er jetzt gerade einen Job an einer Tankstelle. Er ist dabei, seinen
Führerschein zu machen, und wenn er das geschafft hat, möchte er
gern ein Auto kaufen. Der Junge sucht sich selber seine Kleidung aus,
mit Kumpels fährt er dazu nach Bielefeld, und manchmal bestellt er
auch Ware bei einem Versandhaus. Markenkleidung braucht er nicht,
es genügt, wenn die Kleidung gut aussieht. In seiner Freizeit und auch
am Wochenende trifft sich der Siebzehnjährige mit seinen Kumpels.
Sie gehen zusammen zu Feuerwehrfesten, zu Schützenfesten oder auch
in eine Bielefelder Diskothek. Da auf Festen der Alkohol zu teuer ist,
versorgt sich die Clique vorher im Supermarkt. Zur Zeit ist Wodka mit
Orangensaft am beliebtesten, der wird getrunken bis zum Abwinken.
Rauchen lehnt der Junge ab, Drogen hat er schon probiert, gelegentlich
wird gekifft, das ist schon alles. Zur Zeit hat er keine feste Freundin,
aber bis vor wenigen Wochen hat er noch eine gehabt. Ob Frauen
im Spiel sind oder nicht, ist Cliquenabsprache. Noch vor vier Monaten
hatte jeder der Kumpels eine Freundin, jetzt sind sie alle frauenlos.
Mädchen und Sex ? Oder gar Liebesabenteuer ? Bei den Kumpels ist man
da sicherer. Aber Drogen, Alkohol ... ? Da beginnt es gefährlich zu werden.
Wie wichtig es sein kann, sich selber so auszustatten und nach außen
darzustellen, dass man wiedererkannt, dass man überhaupt erkannt wird,
zeigt das folgende Beispiel einer Lady in Black.
Mädchen (15) – Grufties statt Eastpaks
Auf die Schule hat die Fünfzehnjährige, nach einer Ehrenrunde, keine
Lust mehr. Sie hat keine guten Beziehungen zu anderen Jugendlichen
und gehört zu keiner ihrer Cliquen, denn sie ist anders als die Anderen.
Die Vorlieben Gleichaltriger lassen das Mädchen kalt. Sie zählt sich
zu den „Grufties“ und kommt schwarz gekleidet daher. Sie hört Musik
der Band „Deine Lakaien“, und lehnt Statussymbole ab, wie Eastpak-
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Jugendliche
Freizeit
Rucksäcke oder teure Markenkleidung. Sie genießt es, wenn Menschen
auf ihr Erscheinungsbild aufmerksam werden, sogar dann, wenn diese
Menschen befremdet wirken oder unfreundlich blicken. Das Mädchen
hat eine Freundin mit ähnlichen Vorlieben und ähnlichem Stil, die aber
einen sehr guten Stand in einer Clique in Gütersloh hat und dort sogar
als Vorbild gilt. Das Mädchen selber findet jedoch keinen Anschluss an
diese Clique und kann sich darum nur hintrauen, wenn die Freundin
mitkommt. Sehr gern möchte die Fünfzehnjährige für ihre Freundin
die beste Freundin sein, doch sie hat in der Clique zu viel Konkurrenz.
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Vielleicht gelingt ja ihr beides – eine beste Freundin zu gewinnen und
außerdem eine Clique, die zu ihr passt. All das sind Stationen auf der langen
Suche nach sich selber.
Fast jede Clique schließt sich mehr oder weniger ab. Dies ruft oft Ärger
bei Außenstehenden hervor, der zu Streit und Schlägereien und – wenn es
weit geht – sogar zu Polizeieinsätzen führen kann. Cliquen an der Grenze
zur Delinquenz haben eine aufgeheizte Binnenstruktur, in der Rachegefühle
und Ressentiments mitspielen, jedenfalls aber eine dauernde Gereiztheit.
Junge (16) – Immer wieder Streit
Vor zwei Wochen hat der Fußballverein den Jungen hinausgeworfen.
Der Sechzehnjährige hat seinen Trainer angespuckt. Das war nicht
richtig, doch mit Worten konnte er ihn nicht erreichen, als er ihm klar
machen wollte, wie ungerecht er sich von ihm behandelt fühlte. Es ist
schade, denn er hat dem Verein seit seiner Grundschulzeit angehört
und in einer Mannschaft gespielt, im Mittelfeld und in der Abwehr.
Traurig war er zuerst, dann verbittert, als er vom Ausschluss erfuhr.
Inzwischen hat er sich einen neuen Verein gesucht, bei dem er ab jetzt
trainieren und spielen will – Fußballspielen gehört zu seinem Leben.
Neben seiner Familie ist seine Clique für ihn sehr wichtig, auch wenn
er durch sie schon oft in Schlägereien geraten ist. Er und seine Freunde
stehen in dem Ruf, Schläger zu sein. Dabei schlägt er nur zu, wenn es
keinen anderen Ausweg gibt, zum Beispiel bei einer Beleidigung gegen
ihn selber, seine Familie oder einen Freund. Das Wort „Hurensohn”
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Jugendliche
Freizeit
ist die schlimmste Beleidigung. Dann bleibt ihm, wie jedem richtigen
Mann, nur die Möglichkeit, seine Ehre durch Schlagen zu verteidigen.
Mit seiner Clique geht er oft dorthin, wo man Billard spielen kann.
Zwar ist dies auch in einigen Jugendzentren möglich, doch dazu fühlen
die Jungen seiner Clique sich zu alt. Ein Jahr lang war der Junge mit
einem Mädchen täglich zusammen. Als die zermürbenden Streitereien
immer schlimmer wurden, machten sie Schluss. Doch die Freundin
fehlte ihm. Nun haben sie neu angefangen. Sie wollen sich aber nicht
mehr täglich sehen und hoffen, dass es auf diese Weise besser klappt
als beim ersten Mal. Die Eltern des Sechzehnjährigen dürfen nichts
von diesem Neuanfang wissen, denn das Mädchen gehört nicht ihrer
Religionsgemeinschaft an. Bei den Eltern des Mädchens ist der Junge
jedenfalls willkommen, und so belastet ihn das Hindernis, dass er nicht
Entsprechendes von den eigenen Eltern sagen kann. Die Geschwister,
zu denen er kein gutes Verhältnis hat, wissen Bescheid, haben aber
noch nichts verraten. Die jüngere Schwester, Liebling der Eltern, hat
ihn mit seiner Freundin gesehen, es aber zum Glück für sich behalten.
Der Raum sozialen Handelns engt sich in solchen Cliquen auf das schmale
Feld ein, in dem die Maxime gilt „Wehr’ Dich, die Welt ist feindlich !“, und
in der Clique passt man aufeinander auf, dass jeder stets kampfbereit ist.
Unbekannt, aber doch einer Nachfrage wert ist es, inwieweit die Erlebnisse
in der Familie zu der stets empörten, aufgebrachten Reaktionsbereitschaft
beigetragen haben – trotz oder auch wegen der religiösen Untermauerung.
Vielleicht gelingt es ja der Freundin, die Welt anders aussehen zu lassen.
Manche Cliquen wirken destruktiv insofern, als sie zwar Anlehnung und
Halt bieten, aber um den Preis betonter Abkapselung von der Außenwelt.
Wenn Alkohol im Spiel ist und sogar zum Träger des Gemeinschaftsgefühls
wird, sind besonders die verunsicherten, problembeladenen Jugendlichen,
die am Rande der Depression leben, in Gefahr, wie in folgendem Beispiel :
Mädchen (17) – Party im Freien
Wenn sie Freizeit hat, hält sich die Siebzehnjährige oft mit ihrer Clique
im Jugendzentrum auf. Alkohol ist im Jugendzentrum verboten, doch
meistens setzt sich die Clique hinterher auf irgendeinen Spielplatz, um
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Jugendliche
Freizeit
dort Alkohol zu trinken. Sie nennt das Party machen, weil in dem Ort,
in dem sie wohnen, ohnehin nie etwas los ist. Bei den Anwohnern sind
die Partys Anlass zum Zorn, sie haben auch schon die Polizei gerufen.
Zum Glück ist das Mädchen nie von der Polizei nach Hause gebracht
worden, denn wenn die Eltern das gesehen hätten, wäre der Ärger
schlimm gewesen. Die Eltern wissen, dass ihre Tochter hin und wieder
Alkohol trinkt, denn sie merken ja, wenn sie angetrunken nach Hause
zurückkommt. Wenn sich dies aber auf die Wochenenden beschränkt,
nehmen die Eltern es hin. Weil die Siebzehnjährige zur Hauptschule
geht, mit Russen befreundet ist, sich viel im Jugendzentrum aufhält
und draußen Party macht, zählt sie nach ihrer eigenen Einschätzung
nicht zu den guten Bürgern der Stadt. Ihr ist das gleichgültig. Sie mag
ihre Freunde und will auch an ihrer Lebensführung nichts ändern.
Viele Vorurteile über die Russen stimmen nicht, so sagt sie. Ihr letzter
Freund war ein Russe, und in den war sie sehr verliebt. Die Trennung
liegt etwa zwei Monate zurück. Sie hat noch Hoffnung, dass aus ihnen
vielleicht wieder ein Paar werden könnte. Mit zwei Mädchen aus ihrer
Clique ist sie etwas besser befreundet als mit den anderen, doch diese
sind untereinander eng befreundet, so ist sie immer etwas außerhalb.
Zu dritt geht das nicht so gut. Sie fühlt sich manchmal einsam, und das
war besonders schlimm, als ihr Freund mit ihr Schluss gemacht hatte.
Das Gefühl, ausgegrenzt und einsam zu sein, belastet offenbar das Leben
dieser jungen Frau. Was sie hier – an der Grenze zur Selbstschädigung – tut,
ist nur auf den ersten Blick Leichtsinn, Protest und jugendtypischer Übermut.
Es ist viel eher die Hoffnung, irgendwo, und sei es am vermeintlichen Rand
der Gesellschaft, jemanden zu finden, der sie wahrnimmt, stützt und aufbaut.
Sie will dies auch von ihrem Freund, doch sie setzt sich der Gefahr aus, dass
dieser sich damit überfordert fühlt und sie deshalb fallen lässt und aufs Neue
einem Gefühl der Leere und der Wertlosigkeit aussetzt. Der Freund, der dann
noch bleibt, der Alkohol, ist ein Erlkönig, der sie umbringen will.
So wichtig hier eine rechtzeitige Intervention wäre – ein aktionistischer Profi
würde mehr Schaden als Nutzen stiften. Was sie braucht, ist Zuwendung mit
Verständnis und viel Geduld. Wer immer dieser jungen Frau das bieten kann,
schützt sie vor dem sonst absehbaren Weg in die Rolle der ewigen Verliererin.
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Jugendliche
Freizeit
Freizeit mit Struktur
Hier ein Sportverein, da ein Musikinstrument, als Krönung ein soziales
Engagement – so sieht man die Jugendlichen gern. Viele von ihnen, aber
sicher nicht alle, entsprechen diesem Bild. Man ist immer wieder erstaunt,
wie nahe viele Jungen und Mädchen in ihrer Freizeit an die Grenze dessen
gehen, was sie bewältigen können. Was motiviert sie ? Die Überzeugung,
dass der eigene Einsatz etwas Gutes bewirkt, ist nicht von heute auf morgen
entstanden, sondern früh im Leben dank zugewandter Bezugspersonen, die
durch Vorbild und Ermutigung glaubhaft machten : „Es lohnt sich !“
Mädchen (16) – Jede Menge Unternehmungsgeist
Musikalisch hat die Sechzehnjährige schon vieles ausprobiert, sie hat
Blockflöte gespielt, Altflöte, Klarinette und Gitarre. Auch im Sport ist
sie aktiv, sie spielt Fußball in einer Arbeitsgemeinschaft, an der Jungen
und Mädchen teilnehmen, außerdem Handball und sogar Eishockey,
sie geht zum Ballett und zum Kunstturnen. Einmal pro Woche hat sie
eine Theaterprobe, die drei bis vier Stunden dauert, danach ist sie oft
fix und fertig. Dann gibt es zu Hause Zoff, weil sie ihre Schulaufgaben
machen und obendrein ihrer Mutter bei deren Hausarbeit helfen soll.
Die Sechzehnjährige bekommt pro Monat fünfzig Euro Taschengeld
von der Mutter, davon muss sie alle persönlichen Ausgaben bestreiten,
Kleidung, Kino, Schulmaterial, Call–Ya–Karte, Klarinettenblätter und
mehr. Das ist knapp, es reicht so gerade. Für größere Anschaffungen
wie Schuhe oder Kleidung erhält sie zusätzliches Geld. Sie würde gern
nebenher jobben, aber ihre Zeit reicht dazu nicht, und das Angebot
an Jobs für Schülerinnen ist nicht groß. Bei Bekannten hat sie schon
gekellnert und sich vom Trinkgeld etwas für knappe Zeiten gespart.
Bis vor einem Monat hatte sie einen Freund, drei Monate lang, dann
hat er Schluss gemacht. Das hat er ihr über Handy mitgeteilt, mit einer
Kurznachricht. Nicht nett – sie hat sich damit abgefunden. Im letzten
Jahr war sie mit einer Jugendgruppe im Ausland, der Vater hatte ihr
Geld für diese Ferienfreizeit gegeben. Das war ihr schönster Urlaub,
sie schwärmt noch heute davon – von den Freunden und dem Land.
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Jugendliche
Freizeit
Der nächste Fall zeigt ganz ähnlich, wie ein Junge seine Begabung nutzt.
Auch er hat, wie das Mädchen, viele Interessen, anders als sie aber hat er
eine davon ganz in den Mittelpunkt gestellt und tut alles dafür, darin Erfolg
zu haben. Bemerkenswert ist hier, wie das einigende Band der Kompetenz
im Sport die Verschiedenheiten ethnischer Herkunft mühelos überbrückt.
Junge (17) – Lebensinhalt Breakdance
Seit zwei Jahren ist ein alter Pavillon der Berufsschule Trainingsort für
die Breakdance-Gruppe, zu der dieser Siebzehnjährige gehört. Es sind
drei bis sieben Jungen und zwei bis drei Mädchen darin – deutsche,
russische und türkische Jugendliche im Alter von vierzehn bis siebzehn
Jahren aus verschiedenen Schulen. An jedem Tag, außer am Wochenende, beginnt das Training am frühen Nachmittag, es dauert drei bis
vier Stunden. Ein Neunzehnjähriger leitet die Gruppe an, an manchen
Tagen hat er aber keine Zeit, und dann trainiert die Gruppe ohne ihn.
Der Siebzehnjährige ist spezialisiert auf Elektrobuggy – eine Variante
des Breakdance, die durch ruckartige Bewegungen gekennzeichnet ist.
Er trainiert zusätzlich zu den vereinbarten Trainingszeiten zu Hause
vor dem Spiegel nach Musik und Filmen, die er aus dem Internet hat.
Zweimal schon hat die Gruppe an einem Wettbewerb teilgenommen,
eine dritte Bewährungsprobe steht bevor. Pro Jahr haben die Gruppen
drei- bis fünfmal Gelegenheit, sich auf Wettbewerben mit den anderen
Gruppen zu messen, außerdem zeigen die Jugendlichen ihr Können
bei Schulveranstaltungen, Hochzeiten, Stadtfesten und dergleichen.
Der Breakdance dominiert die Freizeit des Siebzehnjährigen, und so
bleibt nur wenig Zeit für andere Hobbys. Eines davon ist der Umgang
mit Computern. Der Junge hat sich das Programmieren erarbeitet, und
außerdem mag er die Play-Station und das Fernsehen. Sport ist für ihn
auf vielfältige Weise interessant, und bei Gelegenheit treibt er außer
dem Breakdance auch Schwimmen, Basketball, Kickboard-Fahren und
Inline Skating. Obwohl der Junge und seine ältere Schwester schon fast
selbstständig sind, unternimmt die harmonisch eingestimmte Familie
noch gemeinsam Besuche des Safariparks, Kinobesuche und Einkaufsfahrten, und jedes Jahr gibt es eine gemeinsame Urlaubsreise.
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Jugendliche
Freizeit
Während der Zeit vor dem Berufseinstieg, parallel zur Schule, sind viele
Kinder und Jugendliche auf der Suche nach etwas, das ihrer Begabung
entspricht, ihre Aufmerksamkeit bindet und ihre Motivation anregt. Unter
vielen erprobten Angeboten schält sich vielleicht eines als tragfähig heraus.
Mädchen (15) – Von allem etwas
Vor einiger Zeit wurden zwei Pferde angeschafft. Die Fünfzehnjährige
versorgt sie morgens mit Heu und Wasser, bringt sie nachmittags auf
die Weide, holt sie abends zurück und versorgt sie dann noch einmal.
Manchmal hilft die Mutter dabei, manchmal auch deren Lebenspartner.
Das Mädchen übernimmt auch sonst kleine Pflichten – Spülmaschine
ausräumen, Küche aufräumen, auf die kleinen Geschwister aufpassen.
Früher hat sie viel geritten, eine Freundin der Mutter hat es ihr gezeigt.
In letzter Zeit ist ihr die Lust dazu allmählich abhanden gekommen.
In ihrer Freizeit trifft sie sich mit Freunden, meistens in einer Halle,
die für die Jugendlichen offen ist, oder vor der Grundschule, oder sie
besucht Freundinnen. Sie liest ungern. Ab und zu unternimmt sie noch
etwas mit der Mutter und den kleinen Geschwistern, deren Wünsche
im Vordergrund stehen – zum Beispiel Besuche im Zoo oder im Kino.
Die Kleinen wollen Harry Potter sehen. Das interessiert die Fünfzehnjährige nicht sehr. Sie hat angefangen, das Buch zu lesen, konnte aber
das Interesse daran nicht aufrecht erhalten. Wichtiger für sie ist Sport.
Sie spielt seit drei bis vier Jahren Handball in der Kreisklasse. Ziemlich
schüchtern berichtet sie, dass sie das gut kann. Sie spielt im Kreis und
in letzter Zeit auch als Torfrau. Beim Training gibt sie ihr Bestes, und
sie hofft, dass ihre Mannschaft bald in der Regionalklasse spielen kann.
Am Wochenende, vor wichtigen Spielen, ist sie aufgeregt und möchte
auf jeden Fall gewinnen. Ab und zu geht sie zu Partys bei Freunden
oder zu organisierten Veranstaltungen dieser Art. Dort wird Alkohol
getrunken. Sie selber trinkt Mixgetränke, Cola oder Bier. Vor einigen
Monaten hat sie mit Rauchen begonnen, doch wieder damit aufgehört,
erstens weil es zu teuer ist und zweitens, weil sie keine Lust darauf hat.
Auch wenn in der Clique geraucht wird, kommt sie nicht in Versuchung.
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Jugendliche
Freizeit
Noch wagt dieses Mädchen nicht, alles auf eine Karte zu setzen und einer
einzigen Freizeitaktivität den Vorrang vor allen anderen einzuräumen, aber
sie ist kurz davor, sich einzugestehen, dass Handball ihr wahrer Sport ist.
Der Vierzehnjährige im folgenden Beispiel verteilt seine Bindungen und
Hoffnungen gleich auf zwei Vereine, einen Sportverein und einen Freizeitverein. Der Schritt vom einfachen Mitglied zum Betreuer anlässlich einer
Reise ins Ausland ist verbunden mit einem allmählichen Hineinwachsen
in die Verantwortung für Andere, in diesem Fall Jüngere.
Junge (14) – Verein, Verein
Der Vierzehnjährige spielt Handball im Verein, und seine Mannschaft
hat eine große Bedeutung für ihn. Er fühlt sich wohl darin, und seine
Hoffnung ist, er könne dazu beitragen, dass sie aufsteigt. Nach jedem
Spiel gehen die Spieler zusammen in ein Lokal, und sie halten auch
außerhalb ihres Sports Verbindung miteinander, das gefällt ihm sehr.
In diesem Jahr durfte der Junge zum ersten Mal an der Mannschaftsfahrt teilnehmen. Bedeutsam ist außerdem ein anderer Verein für ihn :
der Christliche Verein Junger Männer (CVJM). Seit seiner Grundschulzeit gehört er dazu, seitdem fährt er regelmäßig mit zu Ferienfreizeiten.
Bisher war er dabei nur Teilnehmer, erstmalig in diesem Sommer aber
fährt er als ehrenamtlicher Betreuer mit. Es gibt noch eine zweite Fahrt
mit dem CVJM, eine Reise nach Schweden. Als Vierzehnjähriger darf
er mit ins Ausland. Sein bester Freund kommt mit. Auch der jüngere
Bruder ist im CVJM, er nimmt an Ferienfreizeiten für die Jüngeren teil.
Sportvereine sind für einige Kinder und Jugendliche etwas „Amtliches“.
Darum trauen sich manche nicht hin, besonders wenn sie die deutsche
Sprache nicht gut beherrschen. Sie organisieren sich lieber selber.
Mädchen (14) – Sport im fremden Deutschland
Die Vierzehnjährige kommt aus Russland, und ihr bisher erworbenes
Deutsch reicht nicht aus, um sich überall zu verständigen. Sie und ihr
Bruder haben in Russland Sport getrieben, sie war Mitglied in einem
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Jugendliche
Freizeit
Volleyballverein und hat in einer Mannschaft gespielt. Nun wäre es
sinnvoll, in einem deutschen Volleyballverein weiterzumachen, aber sie
traut sich einfach nicht hin, weil sie meint, sie könne dann nicht sagen,
was sie will und nichts verstehen. Sie hilft sich anders. Aus der Schule
kennt sie einige Mädchen, mit ihnen und ihrem Bruder verbringt sie
die Freizeit. Sie haben einen öffentlichen Bolzplatz auf dem Gelände
des städtischen Gymnasiums gefunden, auf ihm üben sie nun. An fast
allen Abenden der Woche spielen sie dort Volleyball und Tischtennis.
Ein Weg, die eigene Freizeit zu strukturieren, ist es, Verantwortung für
Andere zu übernehmen. Einige Jugendliche sind selber in der Jugendarbeit
tätig. Sie betreuen Kinder und haben vielleicht durch ihr eigenes Alter einen
besseren Zugang zu deren Problemen. Zwei eindrucksvolle Beispiele dazu
beschließen unsere Ausführungen zur Freizeitgestaltung der Jugendlichen.
Junge (17) – Ausgelastet
Der Tag beginnt für den Siebzehnjährigen um fünf Uhr, um sechs Uhr
fährt der Zug zu seiner Arbeitsstätte, eine halbe Stunde später beginnt
der Arbeitstag. Fünfzehn Minuten Frühstückspause, eine Dreiviertelstunde Mittagspause, Feierabend gegen achtzehn Uhr, der Zug fährt
eine halbe Stunde später – so sieht sein anstrengender Arbeitstag aus.
Danach geht er sofort ins Jugendzentrum, viermal in der Woche, dort
leitet er eine Kindergruppe; außerdem ist er Discjockey, und er betreut
die mobile Disco. An den übrigen Tagen trifft er sich mit der Clique
seiner Freunde, manchmal am Wochenende fahren sie zum Tanzen.
Die Jugendarbeit lässt dem Jungen keinerlei Zeit für Sport, auch nicht
für Taek Won Do, den Kampfsport, den er betrieben hat, bis sich vor
anderthalb Jahren die Gruppe auflöste, weil es mit dem Trainer nicht
mehr klappte. Der Siebzehnjährige leidet an Bronchialasthma und ist
allergisch gegen Gräserpollen und Katzenhaare. Den Notfallspray
gegen Asthmaanfälle hat er immer bei sich. Der Junge hatte schon
mehrere Freundinnen, zur Zeit ist er allein. Er möchte später einmal
mit Freunden in eine Wohngemeinschaft ziehen, möglichst nicht weit
von seinem Elternhaus, jetzt aber reicht das Geld dazu noch nicht.
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Jugendliche
Freizeit
Junge (17) – Kümmerer, ein anstrengendes Hobby
Der Siebzehnjährige setzt sich ein, er kümmert sich um Politik und um
Kinder. Seine Familie hat ihm das vorgemacht. Alle sind sie in ihrem
Kulturverein aktiv, gehen zu dessen Veranstaltungen und treffen sich
dort mit Freunden und Bekannten. Einiges davon findet der Junge
weniger spannend, aber die Konzerte gefallen ihm, oft treten dort
prominente Sänger auf. Interessanter ist da schon sein Engagement
im Jugendparlament der Stadt Gütersloh, das noch nicht lange besteht.
Drei Schüler seiner Schule wurden von den anderen hineingewählt.
Nun hat er Interesse an Lokalpolitik gewonnen und neue Menschen
kennengelernt. Er ist aktives Mitglied in einem Gütersloher Fußballverein. Bis vor einem Jahr hat er selber in einer Jugendmannschaft
gespielt, und jetzt betreut er das Training einer Kindermannschaft.
Die Arbeit mit Kindern betrachtet er als Hobby, und er kann sich gut
vorstellen, dass daraus ein Beruf wird. Dabei ist es nicht immer leicht,
Kinder zu betreuen. Er tut dies ehrenamtlich bei Ferienfreizeiten, die
von Jugendorganisationen veranstaltet werden. Dabei hat er sich auch
schon Ärger eingehandelt : Die Betreuer, zu denen er gehörte, konnten
sich nicht durchsetzen, sie wurden von älteren Kindern beschimpft
und sogar bespuckt und geschlagen. Der Junge ist zufrieden mit sich,
dass er sich beherrschen und die Ruhe bewahren konnte. Er hat nicht
zurückgeschlagen. Am Ende der Freizeit waren die Betreuer nervlich
am Ende ihrer Kraft. Der Junge hat über diese Erfahrung nachgedacht.
Wenn man Pech hat, treffen sich in einer Ferienfreizeit viele Rabauken,
gegen die man machtlos ist, weil man weder Befugnisse und Mittel
noch Unterstützung hat, um ihnen entgegenzutreten. Er vermutet, dass
unter den Rabauken etliche Kinder sind, die zu Hause streng, aber
ohne Zuwendung und Verständnis behandelt wurden. Sind die Eltern
außer Sicht, meinen sie sich an keine Regeln mehr halten zu müssen.
Sie nutzen dann ihren vermeintlichen Freiraum, um sich auszutoben
Wahrscheinlich war dieses Erlebnis eine Ausnahme, und nach wie vor
hat der Junge Freude daran, Betreuer zu sein. Die Furcht jedoch bleibt,
ein solches Erlebnis der eigenen Ohnmacht könnte sich wiederholen,
zumal seine Rolle als Betreuer ihm wichtiger ist als es eine Clique wäre.
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Jugendliche
Fazit
Fazit
Jugendliche befinden sich oft in einer Übergangszeit, in der sie sich auf
die Verantwortung für ihr eigenes künftiges Leben in Partnerschaft und
Beruf einstellen müssen. Trotzdem bleiben sie noch sehr auf den Rückhalt
in ihrer Herkunftsfamilie angewiesen. Wenn Jugendliche gleich beim Einstieg
von der Berufswelt abprallen, entscheidet dieser Frust nachhaltig sehr viel.
Eine bedeutsame Rolle im psychischen Haushalt der Jugendlichen spielen
Cliquen. Diese übernehmen einige orientierende Funktionen, die bisher von
den Eltern besetzt waren. Der Cliquen–Einfluss kann gut oder schlecht sein.
Folgende Desiderata erscheinen als vorrangig in der gegenwärtigen Lage :
Zielgruppenspezifische Elternschulangebote für Eltern von Jugendlichen
einrichten, um Eltern zu befähigen, sich bei Ablösungsproblemen und bei
der Interessen- und Berufsfindung der Jugendlichen richtig zu verhalten.
Frühe Selbsterprobungs- und Identifizierungsangebote für Jugendliche
im Vorfeld der Berufswahl schaffen, die in Zusammenarbeit mit Betrieben
die Berufswelt anschaulich zum informellen Kennenlernen bereitstellen.
Jugendliche anleiten, einbinden und stärken, die sich zu einem ehrenamtlichen Engagement für Kinder oder andere Jugendliche bereit erklären.
Anlaufstellen und Auffangeinrichtungen für demotivierte, depressive oder
schulmüde Jugendliche bereithalten, deren persönliche Entwicklung und
Ausbildung in Stillstand verharren, ohne dass eine Änderung in Sicht wäre
Aufsuchende cliquenorientierte Sozialarbeit für solche Cliquen verstärken,
die in einem destruktiven oder delinquenten Gruppenkonsens verharren.
Herkunftsnahe Mittler als Brückenbauer zwischen Cliquen jugendlicher
Migranten und einheimischen Sozialarbeitern und Institutionen einsetzen.
Die innere Ordnung und die inneren inhaltlichen Reformen der Schulen
durch Schulberatung stärken, in der es um die Nutzung von Projekten
und Ansätzen zur Verbesserung des Schulklimas und des Unterrichts geht.
Anlaufstellen zur Verfügung halten, um Jugendliche aufzufangen, deren
emotionaler oder realer Rückhalt in der Familie zusammengebrochen ist.
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