Jugendliche Einleitung Jugendliche Einleitung Wenn ein Kind in einer sicheren, anregenden und Rückhalt bietenden Umgebung aufwächst, erlebt man, dass es bis zum Alter von zehn oder elf Jahren innerlich immer ausgeglichener wird und in seiner Persönlichkeit fast die Ausgewogenheit und das Selbstbewusstsein eines Erwachsenen erreicht. Irgendwann zwischen zehn und vierzehn Jahren ändern sich das. Es ist schwer vorherzusagen, wie sich diese Änderung ausdrückt – bei Mädchen vielleicht durch eine größere Zurückgezogenheit, bei Jungen durch eine eher nach außen gerichtete Aktionsbereitschaft. Vielleicht ist auch kaum etwas zu bemerken, dennoch hat sich etwas Entscheidendes geändert. Ein Kind, auch wenn es schon älter ist, verlässt sich meist noch darauf, dass seine Eltern zur Stelle sind, wenn irgend etwas schiefgeht, dass jemand kommt und die Verantwortung übernimmt. In der Pubertät und den Jahren danach wird der Junge oder das Mädchen sich allmählich bewusst, dass jetzt die Zeit kommt, in der man auf sich gestellt ist und die Verantwortung für vieles selber übernehmen soll. Man muss seine eigenen Wege finden, und es gibt Sorgen, Wünsche und Zweifel, in denen die Eltern keine Rolle spielen. Die Zeit ist schon eine ganze Weile vorbei, in der die Eltern stets helfen konnten, das entscheidende Wort sagten oder wussten, wie man sich verhält und was richtig ist. Irgendwann merkte man schon bei den Schulaufgaben, dass sie nicht mehr bei allem helfen konnten. Wenn alles gut geht, sind sie noch Freunde, vielleicht Kumpels. Die Kindheit verblasst langsam. Ein Stück weit richten sich die Hoffnungen weiterhin auf die Eltern, noch lange. Während bisher schon die Freunde oder Freundinnen eine wichtige Rolle spielten, werden sie jetzt immer mehr zur Richtschnur dessen, was geht und was nicht. Manche Jugendliche ziehen es vor, nur eine einzige Freundschaft zu pflegen, die meisten aber haben eine Clique, mit der sie zusammen sind, sich absprechen, herumziehen oder zu Partys gehen. Die Art der Clique und der Inhalt dessen, was sie tut, sagt viel darüber, wo der Weg hingeht. Oft wird die Clique zu einer Instanz, die eine ungeschriebene Moral festlegt, so wie dies vielleicht die Eltern früher taten oder versuchten. 129 Jugendliche Einleitung Jugendliche stehen vor mehreren großen Aufgaben, für die sie Vorbilder oder zumindest Muster brauchen. Zu diesen Aufgaben gehört der Umgang mit dem anderen Geschlecht, und es gehört die berufliche Zukunft dazu. Verunsichernd ist beides, es muss Brücken geben, die den Zugang leichter machen. Die Zeit mit Freunden und Kumpels ebnet viele Wege, darunter auch Wege zu Ablenkungen, die es möglich machen, sich noch eine Weile vor der Zukunft zu drücken. Der Beruf ist über die Schule zu erreichen, doch erst einmal muss man die Anforderungen der Schule bewältigen. Während man jedoch von vielen Dingen absorbiert ist, nicht zuletzt mit sich selber, ist die Konzentration auf die Schule und den zukünftigen Beruf beeinträchtigt. Dabei ist es wichtig, dass der Berufseinstieg gelingt. Wer nach dem Ende der Schulzeit irgendeinen Beruf ergreift, nur weil kein anderer in Reichweite war, hat einen großen Teil seiner Lebenschancen vielleicht schon vergeben. Denn der Erfolg im Beruf hängt davon ab, ob man mit dem, was man tut, wirklich einverstanden ist, und ob man auf Dauer dafür motiviert ist. Wie konkret werden diese Zusammenhänge im Licht unserer Stichprobe ? Zunächst wollen wir wissen, wie der Prozess der Loslösung vom Elternhaus vor sich geht, und wie sich neue Beziehungen und neue Bedeutungen an die Stelle der alten setzen. Wir wollen auch wissen, wie gut der Rückhalt war und wieviel bleibt. Wir betrachten also zunächst die Situation zu Hause. Dann interessiert uns die Schule und der Berufseinstieg, um zu sehen, welche Hürden auf einem erfolgreichen Weg in die Arbeitswelt stehen, und wie die Jugendlichen diesen Weg beginnen. Das Gelingen oder Scheitern des Berufseinstiegs ist entscheidend für den weiteren Lebensweg, doch ist es nicht einfach, Erfolg zu haben. Als drittes Thema ist die Freizeit wichtig. Die Freizeit ist etwas weniger von Zwang und Leistungsdruck bestimmt, und so ist es kennzeichnend für die eigene Kreativität und Interessenlage, wie man damit umgeht. Die Jungen und Mädchen aus dem Kreis Gütersloh haben uns zu allen drei Themen aufschlussreiche Antworten gegeben. 130 Jugendliche Situation zu Hause Situation zu Hause Einführung Man könnte meinen, für Jugendliche, anders als für Kinder, sei es nicht mehr so wichtig, wie es zu Hause zugeht, Hauptsache, die Versorgungsfunktion des „Hotel Mama“ ist intakt. Jugendliche müssen sich mit Aufgaben auseinandersetzen, bei denen in erster Linie eigene Initiative und Leistung zählen, und von denen die Eltern nicht genug verstehen, um viel zu helfen. Die vier großen Aufgaben sind, - mit sich selber einig zu werden, die eigenen Möglichkeiten, Grenzen und Empfindungen zu verstehen und seelisch ins Gleichgewicht zu kommen, - sich unter Gleichaltrigen und Freunden einen Platz zu erobern und ihn selbstbewusst und mit Geschick zu behaupten, - mit den Beziehungen zum anderen Geschlecht zurechtzukommen und auch in dieser Hinsicht Zukunftspläne zu entwerfen und - in Schule und Ausbildung Erfolg zu haben und dabei die eigene Zukunft in der Arbeitswelt zu planen und vorzubereiten. Für diese Aufgaben braucht man auch innere Kraft, und diese speist sich aus den Verinnerlichungen der Kindheit, für die das Elternhaus gut oder weniger gut gesorgt hat. Dasselbe Elternhaus ist noch immer da, und es wird noch immer gebraucht, um Rückhalt zu geben. Es ist entscheidend, ob man in der fordernden Welt „mit Netz turnt“ oder auf sich allein gestellt ist. Ein Zuhause, das wie ein Jammertal wirkt, kann nicht ermutigen und stützen. Da ist es besser, auf Abstand zu gehen. Ein gutes Zuhause aber kann helfen, die Hürden zu überwinden. In vielen Fällen hat die Familie eine Geschichte von Partnerschaftskrisen hinter sich, und gar nicht selten ist die Familie nicht mehr dieselbe wie am Anfang des Lebens. Trennungen spielen eine große Rolle, und ebenso sind Krisen, die beinahe zu Trennungen geführt hätten, schwer zu verkraften. Die amtlichen Statistiken für das Land Nordrhein-Westfalen lassen erkennen, dass in den letzten Jahren die Zahlen der Eheschließungen stetig sinken 131 Jugendliche Situation zu Hause und die Zahlen der Scheidungen ständig zunehmen, wobei in fast vier von fünf Scheidungen minderjährige Kinder betroffen sind. Insgesamt ist etwa jedes siebte Kind ein Scheidungskind, und da sind die Trennungen ohne den amtlichen Akt der Scheidung und die Dauerkrisen, die beinahe zur Trennung oder Scheidung geführt hätten, gar nicht mitgezählt. Bedenklich sind nicht nur die in der amtlichen Statistik gezählten Fälle, sondern auch die Fälle, in denen die Atmosphäre in den Familien, die den Jugendlichen den Rücken stärken sollen, nicht stimmt. Betrachten wir unsere Stichprobe: Elternsituation von Jugendlichen zu Hause beide leibliche Eltern ein Elternteil mit neuem Partner ein Elternteil allein 64 % 23 % 13 % von 78 Wie man erkennt, reicht die Bezeichnung „allein erziehend“ nicht aus. Man müsste dazusagen, ob denn ein neuer Partner für das verbleibende leibliche Elternteil im Haus ist, und wo der entschwundene Elternteil nun hingekommen ist. Unsere Interviews erlauben eine differenziertere Sicht. Zuvor aber werfen wir einen Blick auf andere Einflüsse, die mit darüber entscheiden, ob das Zuhause eines Jugendlichen sich als eine tragfähige Basis erweist oder nicht. Da spielen Verständnis und Vertrauen eine Rolle, aber auch das Schicksal, das der einen Familie viel Luft zum Atmen lässt und der anderen durch unverschuldete Belastungen den Atem einschnürt. Unter den belastenden Themen sind Krankheit und Arbeitslosigkeit von großer Bedeutung. Wo Zeit und Geld knapp sind, wird das Leben schwer. In unserer kleinen Stichprobe ist Arbeitslosigkeit ein Thema unter anderen. Thema Arbeitslosigkeit in Familien von Jugendlichen ist ein belastendes Thema ist kein belastendes Thema 132 17 % 83 % von 78 Jugendliche Situation zu Hause Wenn alles stimmt Jugendliche sind auf dem Weg ins Leben als Erwachsene. Dazu müssen sie sich aus der schützenden und orientierenden Welt der Eltern lösen und eigene Wege suchen. Nun ist es nicht gleichgültig, wie sich die Eltern dazu stellen. Selbstständig und unabhängig zu sein heißt nicht, die Beziehung zu den Eltern aufzugeben oder gar als wertlos abzutun. Diese Beziehung hat nach wie vor entscheidende Bedeutung, sie verändert sich nur. Noch immer ist der Rückhalt wichtig, den die Eltern jetzt geben können und den sie in der Vergangenheit gegeben haben. Hat in der Vergangenheit alles gestimmt, dann sind Verinnerlichungen geblieben, die sich nun im Selbstvertrauen und im Vertrauen zur Welt wiederfinden. In den Eltern Vorbilder zu sehen und von den Eltern verstanden zu werden ist für Jugendliche nach wie vor wichtig. Es kommt darauf an, wie gut sich die Eltern in der neuen und nicht immer überschaubaren Welt ihres Sohns oder ihrer Tochter zurechtfinden. In den folgenden beiden Fällen können wir Beispiele dafür erkennen, dass der Rückhalt zu Hause den Weg in die Selbstständigkeit ebnet. Junge (17) – Ein ideales Umfeld Noch immer ist der Siebzehnjährige sehr an seine Eltern gebunden. Zu ihnen hat er ein Vertrauensverhältnis. Der Vater ist „eingespannt“, nach ihm richtet sich der Junge im Auftreten und Verhalten. Wenn es etwas zu reden gibt, hat die Mutter fast immer Zeit. Der Junge erzählt alles zu Hause, und wenn er etwas auf dem Herzen hat, bittet er seine Eltern um Rat. Die Eltern möchten zwar, dass ihr Sohn selbstständig wird und sich von ihnen unabhängig macht, doch wollen sie ihm auch in Zukunft den bisher gewohnten Rückhalt zu Hause bieten. Er hat zwei Schwestern, fünf und zehn Jahre alt. Die jüngere ist der „Schatz“ ihres großen Bruders, mit der Zehnjährigen gibt es immer mal wieder kleine Streitereien, weil sie willensstark ist wie der Bruder. Das ganze Umfeld ist zum Wohlfühlen. Das Einfamilienhaus ist geräumig und hat einen schönen Garten. Im Haus wohnen noch eine Großmutter und ein Onkel, der seine eigene Wohnung hat. Die andere Großmutter wohnt mit ihrem Mann in der Nähe. Zu diesen Familienmitgliedern wie zu allen anderen Verwandten hat der Junge ein gutes Verhältnis. 133 Jugendliche Situation zu Hause Im Dorf kennt jeder jeden, und in der Nähe sind viele Gleichaltrige. Der Junge freut sich, wenn er sie auf der Straße trifft und mit ihnen Neuigkeiten austauschen oder etwas verabreden kann. Es gibt auch Dorfklatsch, aber das ist nicht weiter schlimm, es ist nur wichtig, dass nichts Falsches verbreitet wird. Wenn der Junge wirklich einmal einen Fehler gemacht hat, stehen seine Eltern hinter ihm und helfen, alles wieder auszubügeln. Früher lebte eine Urgroßmutter des Jungen mit im Haus, und mit ihr verstand er sich gut. Ihr Tod war ein prägendes Erlebnis für ihn. Vorher konnte es schon geschehen, dass er über alte Leute lästerte, doch seitdem spricht er über alte Leute mit viel Respekt. Der Junge wird nun Urlaub machen und danach seine Lehre beginnen. So sollte es sein. Es kommt beim Erwachsenwerden eben nicht nur auf die Ablösung selber an, sondern auch auf das, wovon man sich ablöst, und auf den Rückhalt, der bleibt. Ein unwirtliches Umfeld beschleunigt zwar das Weggehen, nicht aber das Erwachsenwerden. Der äußere Rückhalt ist Spiegel und Grundlage des inneren Rückhalts, und den brauchen wir alle. Die Eltern, die ganze kleine Familie, die Hausgemeinschaft, die Straße und das Dorf – es sind immer größere Kreise, und am Ende ist es die Welt. So wächst man hinein, und so bleibt sie, wenn man Glück hat, geordnet. Mädchen (14) – Alles in bester Ordnung Die Vierzehnjährige kommt gut mit ihren Eltern zurecht. Der Vater hat einen Vollzeit-Beruf, die Mutter verbringt einen kleinen Teil ihrer Zeit mit Randstunden-Betreuung in der Schule. Weil die Mutter also oft zu Hause ist, kann die Tochter mit ihr ausführlich über Probleme und Sorgen sprechen, und zwischen beiden hat sich ein besonderes Vertrauensverhältnis aufgebaut. Die erwachsene Schwester lebt längst außer Haus, und auch der Bruder, der schon über zwanzig Jahre alt ist, war schon einmal ausgezogen. Nun aber ist er wieder bei seinen Eltern. Auch die erwachsene Schwester ist für das Mädchen eine Vertrauensperson, mit der man gut über die Dinge des Lebens sprechen kann. Überhaupt hält die weibliche Fraktion der Familie eng zusammen, aber im Grunde verstehen sich alle gut, und das Wochenende verbringen sie 134 Jugendliche Situation zu Hause gern gemeinsam. Die Vierzehnjährige fühlt sich von ihren Eltern gut verstanden und vernünftig behandelt. Je älter sie wird, umso lockerer werden die Regeln. Wann sie ins Bett geht, bestimmt sie selber, und auch das Ausgehen ist sinnvoll geregelt. Wenn notwendig, gibt es auch Ausnahmen. Die Eltern interessieren sich sehr für das, was die Tochter in der Schule tut und erlebt, doch sie setzen sie nicht unter Druck. Wenn die Eltern Entscheidungen treffen, wird die Tochter einbezogen, nichts wird über ihren Kopf hinweg entschieden. Wenn das Mädchen nicht einer Meinung mit den Eltern ist, kann sie mit ihnen darüber unbefangen sprechen, ohne Ärger auszulösen. Wenn sie Angst hat – zum Beispiel, die Schule nicht zu schaffen –, kann sie sich den Eltern anvertrauen, auch über Zukunftspläne gibt es Gespräche. Nur wenn es um Jungen geht, werden Freundinnen oder die Schwester eingeweiht. Na also, es geht doch ! Es ist gar nicht so schwer, mit Jugendlichen gut zurechtzukommen, man muss nur wechselseitiges Vertrauen aufbauen und liebevoll mit den Wünschen und Sorgen der Söhne und Töchter umgehen – nicht erst nach der Pubertät, sondern von Anfang an. Wahrgenommen und in der Bedeutsamkeit der eigenen Interessen bestätigt zu werden, das ist notwendig, um die eigene Entwicklung mit Motivation zu versorgen. Schwierige Verständigung zwischen den Generationen In vielen, vielleicht den meisten Familien fühlen Jugendliche sich nicht verstanden, während die Eltern verstimmt sind, dass ihre Ansichten und Ratschläge nicht ankommen. Die Distanz zwischen den Generationen kann groß oder klein sein oder auch von Zeit zu Zeit wechseln. Es ist besser, wenn Jugendliche ihren Weg in die Selbstständigkeit aus eigener Initiative, aber doch im Bewusstsein eines verlässlichen Rückhalts gehen, als wenn sie sich von ihrem Zuhause mit dem Empfinden lösen, dass man sich sowieso nichts mehr zu sagen hat. Die Beziehung zwischen Eltern und Jugendlichen wird durch die Turbulenzen der Pubertät nicht geschaffen, sondern nur ausgeformt. Sie baut auf der Beziehung auf, die in den Jahren der Kindheit bestanden hat und durch Verlässlichkeit und Vertrauen geprägt war – mehr oder weniger. Die folgenden Beispiele machen deutlich, was gemeint ist. 135 Jugendliche Situation zu Hause Mädchen (17) – Zu Hause wenig Bindung Die Siebzehnjährige wohnt in einem Haus mit ihren Eltern und einer ihrer Großmütter. Sie ist Einzelkind und meint, das sei kein Nachteil, und sie sei auch nicht verwöhnt, sondern habe frühzeitig gelernt, sich zu behaupten. Zu den Eltern und zur Oma hält sie Distanz. Besonders von ihrer Mutter fühlt sie sich nicht verstanden. Zwar bedrängt diese das Mädchen immer wieder, etwas von sich zu erzählen, doch eben weil sie sich nicht verstanden fühlt, wehrt sie dieses Nachbohren ab. Mit dem Vater gibt es in dieser Hinsicht weniger Ärger, weil der den ganzen Tag über weg ist, anders als die Mutter, die oft zu Hause ist. Probleme hat die Siebzehnjährige schon, doch dafür ist ihre Freundin als Vertrauensperson zuständig. Auch zur Oma gibt es keine gute oder gar vertrauensvolle Beziehung. Im Gegenteil : Die Oma kümmert sich um den Haushalt und nutzt dies, um sich in die Angelegenheiten aller anderen Familienmitglieder einzumischen. Sie hat sogar schon die Post des Mädchens gelesen. Aber sie stockt manchmal das Taschengeld auf. Das meiste Geld geht fürs Handy drauf – seitdem es ein Vertragshandy ist, sind die Kosten weniger überschaubar und darum höher. Um mehr Geld zu bekommen, hat die Siebzehnjährige einen Job übernommen und zweimal pro Woche abends gekellnert. Doch manchmal stand am nächsten Tag eine Klassenarbeit an, und wenn es später als 23 Uhr wurde, waren die Eltern aufgebracht. So ließ sie den Job wieder sausen. Wie wir wissen, ist ein Vertrauensverhältnis zu den Eltern, bei einigen Mädchen bevorzugt zur Mutter, durchaus nicht selten – unabhängig von der Ablösung und Verselbstständigung in der Zeit des Erwachsenwerdens. Wo dieses Vertrauensverhältnis nicht zustande kommt, ist der Grund dafür meistens in den langen Jahren vor der Pubertät zu suchen. Wenn manche Erwachsene klagen „Unsere Tochter war früher so ein gutes Kind, aber jetzt hat sie sich völlig verändert !“, kann dies auch bedeuten, dass die Eltern die Gefügigkeit des abhängigen kleinen Kindes mit Vertrauen verwechselt haben und nun sehen müssen, dass die vermeintliche Grundlage nicht trägt. Dann ist ein Umdenken notwendig, das zu einem besseren Verständnis für die Art des Denkens und für die Erwartungen der Jugendlichen führt. 136 Jugendliche Situation zu Hause Junge (17) – Auslaufmodell Familientag Die Mutter des Siebzehnjährigen produziert zu Hause Waren, die sie verkauft. Sie hat Stammkunden. Der Vater arbeitet in Wechselschicht. Die Eltern legen Wert darauf, mit dem Sohn und seiner um ein Jahr älteren Schwester zusammen gemeinsame Mahlzeiten einzunehmen, wann immer dies sich einrichten lässt. Sonntag war bisher Familientag, doch darauf hat der Junge in letzter Zeit keine Lust mehr. Die Familie hat ihm nicht mehr viel zu bieten. Mit der Mutter kann er noch reden, wenn sie auch manchmal enttäuscht wirkt, mit dem Vater gibt es Streit ums Rechthaben. Manchmal, wenn der Sohn „eine große Fresse“ hat, folgt die Strafe sofort, dann kann er die Party vergessen, zu der er gehen wollte. Überhaupt fühlt sich der Junge unverstanden, die Eltern fragen nicht danach, wie es ihm geht und was er denkt und empfindet. Mit der Schwester versteht er sich gut, auch die Großeltern besucht er gern – erst letzte Woche hat er ihnen beim Tapezieren geholfen. Jetzt spart er auf seinen Führerschein, in den Ferien hat er für 4 Euro pro Stunde gejobbt, es war ziemlich anstrengend, doch er weiß ja, wofür. Das klingt vertraut. Langsam aber sicher kommt die Entfremdung, und auch die alten Rituale halten sie nicht auf. Familienleben kann man nicht über die Jahre einfrieren. Wenn aus einem Kind allmählich ein Erwachsener wird, müssen die Eltern neue Formen des Umgangs finden, wenn die gute Beziehung erhalten bleiben soll. Sonst sind die Eltern bald „von gestern“. Junge (14) – Eigentlich ein Normalfall Ein ordentliches Elternhaus – drei Kinder und ihre Eltern. Die Rollen sind so verteilt : Die Mutter ist für den Alltag des Vierzehnjährigen und seiner Geschwister – des zwei Jahre jüngeren Bruders und der kleinen Schwester – zuständig. Der Vater ist weniger zugänglich, denn er hat einen verantwortungsvollen Beruf, der ihn fordert. Am Wochenende ist der Vater oft weg zu Fortbildungsseminaren. Sind die Eltern einmal zusammen, erörtern sie mit den Kindern die Probleme des Lebens und eventuelle Meinungsverschiedenheiten mit vielen Worten – zu vielen Worten, wie es dem Jungen manchmal scheint. Der Junge hat ein gutes 137 Jugendliche Situation zu Hause Verhältnis zu seiner Mutter und spricht mit ihr über seine Sorgen. Früher war sie berufstätig, nun ist sie nur noch zu Hause. Die Berufe der Eltern haben ihre Forderungen an den Vierzehnjährigen geprägt: Kein Alkohol, kein Nikotin, keine anderen Drogen ! Das will der Junge selber, und er erwartet, dass er auch ohne den „coolen“ Konsum dieser Suchtmittel von seinen Altersgenossen ernst genommen wird, er will seine Eltern nicht enttäuschen. Manchmal wünscht der Junge sich, einmal etwas allein mit seinem Vater zu unternehmen, zum Beispiel mit einem Segelboot zu fahren. Doch der Vater hatte bisher keine Zeit. So stellt man sich das traditionelle Modell einer normalen Familie vor. Während der Vater vom Kampf ums Familien-Einkommen absorbiert ist, sorgt die Mutter für ein funktionierendes Zuhause. Probleme werden stets „ausdiskutiert“. Die Mutter hört zu, wenn die Kinder Sorgen haben, und der Vater ist ein Vorbild, nur leider nicht so richtig zum Anfassen, weil er ständig mit Wichtigerem beschäftigt ist. Der Sohn hätte so gern auf seinem Weg ins Leben der Erwachsenen seinen Vater in seiner Nähe, um vielleicht einige Abenteuer mit ihm zu erleben. Die Wochenendseminare gehen vor. Wahrscheinlich hat der Junge Verständnis für seinen Vater, es kommt aber darauf an, dass der Vater sich bemüht, das Defizit irgendwie wettzumachen. Mädchen (17) – Tausche Schwester gegen Oma Die sportlich wirkende junge Frau fühlte sich in ihrer Familie wohl, bis jetzt jedenfalls. Doch nun stehen Veränderungen an, und sie weiß noch nicht, wie sie damit zurechtkommen wird. Vor einer Woche ist ihre um drei Jahre ältere Schwester ausgezogen, diese beginnt ihre Ausbildung an einer Fachschule in einer anderen Stadt, weit weg. Das ist schade, denn mit dieser Schwester hat sich die Siebzehnjährige gut verstanden und viel mit ihr unternehmen können. Das geht nun leider nicht mehr. Dafür kommt eine achtzigjährige Großmutter ins Haus, die hier ihrem Lebensende entgegensehen will. Die Großmutter, so weiß die junge Frau, neigt dazu, sich in die Angelegenheiten anderer Menschen einzumischen, besonders in die Angelegenheiten der Siebzehnjährigen. Wenn es so kommt, ist es mit dem Frieden im Elternhaus bald vorbei. 138 Jugendliche Situation zu Hause Dieses Beispiel stößt uns darauf, dass nichts so bleiben wird wie es ist. Die Jahre vergehen in einer Familie spürbarer als in einem Single-Haushalt. Stellen wir uns einen ähnlichen alltäglichen, typischen Fall dieser Art vor: Die Idylle aus den Werbespots im Fernsehen zeigt uns Vater, Mutter und Kinder als Gruppe, die sich gegenseitig stützt, und die das Leben mit seinen Hürden und Konsumfreuden gemeinsam bewältigt, vielleicht sogar genießt, von gesunden, aktiven Großeltern mit Wohlwollen ermutigt. Diese Idylle könnte einige Jahre lang Wirklichkeit sein, wenn nicht zu viel schiefgeht. Doch unausweichlich wird die Zeit kommen, in der sie zu zerfallen beginnt. Die Kinder bleiben erst abends, dann am Wochenende weg, dann werden sie flügge und verlassen das „Hotel Mama“. Jetzt endlich haben Vater und Mutter ihr eigenes Leben – mit welchem Inhalt ? Die jüngeren Geschwister spüren, wie sehr ihnen ihre Windschatten gebenden älteren Brüder oder Schwestern fehlen, die nur noch per Handy oder eMail zu erreichen sind. Dann verlieren die Omas und Opas an Schwung und beginnen zu kränkeln, und die Frage wird akut, wer jetzt für sie sorgen soll und wie. Der flügge gewordene Nachwuchs wechselt in die Welt der Erwachsenen und macht Zimmer frei für die gebrechlich werdenden Eltern der Eltern. Die Familie verblüht – aus Sicht der eben noch mitten im Leben stehenden Generation. Für deren Nachwuchs steht vielleicht die Gründung einer neuen Familie an, und so schiebt er die Eltern aus dem Rampenlicht der Bühne des Lebens. Schicksal Die folgenden drei Beispiele machen deutlich, dass es nicht immer in der Macht der Familien liegt, ihr Leben erträglich zu machen. Krankheit und Arbeitslosigkeit sind zwei Themen, die mit einem Gefühl der Ohnmacht einhergehen und die Familie vielleicht in eine defensive Position bringen. Junge (18) – Ohne die Mutter Vor sechs Jahren ist die Mutter des heute Achtzehnjährigen an Krebs gestorben. Wäre das vermeidbar gewesen ? Hätte die Diagnose nicht früher gestellt werden können, rechtzeitig ? Haben die Ärzte sich genug um sie gekümmert ? Der Junge weiß es nicht, denkt aber immer noch darüber nach. Lange war die Mutter krank und bettlägerig, und doch 139 Jugendliche Situation zu Hause kam ihr Tod plötzlich. Der Junge hat sie sehr vermisst, doch heute, nach sechs Jahren, hat er ihren Tod verarbeitet. Dass dies möglich war, ist auch ein Verdienst des Vaters, der sich um seinen Jüngsten immer gekümmert hat und auch heute noch für ihn da ist. Die älteren Brüder haben nicht viel geholfen, sie sind längst aus dem Haus, und der Junge möchte mit ihnen nichts zu tun haben. Es war schwer, mit den Frauen zurechtzukommen, die der Vater nach dem Tod der Mutter kennenlernte und als Partnerinnen nahm. Schon ein Jahr nach dem Tod seiner Frau hat der Vater wieder geheiratet. Die neue Frau hat den Jungen schikaniert, weil sie ihn nicht leiden konnte. Sein Vater hat dies nicht geduldet und sich von der Frau wieder getrennt. Noch heute rechnet der Junge es dem Vater hoch an, dass er sich für ihn entschieden hat. Seit einiger Zeit hat der Vater eine neue Partnerin, und diese kommt mit dem Jungen besser zurecht, freundschaftlich. Der Achtzehnjährige nennt seinen Vater tolerant, der Junge sah sich kaum eingeschränkt oder bevormundet. Erst seitdem er nun einen Führerschein hat und mit dem Auto des Vaters unterwegs ist, werden die Regeln enger und die Zeiten des Wegbleibens vorgegeben. Dies führt der Junge darauf zurück, dass der Straßenverkehr allerlei Gefahren birgt und der Vater sich berechtigte Sorgen um das Wohlergehen seines Sohnes macht. Nicht immer verläuft das Leben nach Plan. Der vorzeitige Tod eines Elternteils in einem Alter, in dem die Loslösung von den Eltern erst gerade beginnt, ist nur schwer zu verkraften. Der überlebende Elternteil hat nun die schwere Aufgabe, mit der eigenen Trauer fertig zu werden und zugleich dem verstörten Kind zu helfen, den im Grunde für unmöglich gehaltenen Verlust zu verarbeiten, der in diesem Beispiel die erste und immer noch vorrangig wichtige Bezugsperson betroffen hat. Man muss Respekt haben vor der Art, wie der Vater sich der Aufgabe gestellt und sie gemeistert hat. Junge (17) – Mutter will alles wissen Der Siebzehnjährige hat zwei erwachsene Brüder und außerdem einen zu Hause lebenden Bruder, der ein Jahr älter ist, und eine jüngere Schwester. Früher reichte der Platz nicht, und so wurde stets ein Kind 140 Jugendliche Situation zu Hause „ausgelagert“ und wohnte ganz in der Nähe bei einer Großmutter in deren Wohnung. Als die Reihe an den Jungen kam, änderte sich alles dadurch, dass die Großmutter pflegebedürftig wurde, während er bei ihr wohnte. Das ist einige Monate her, und seitdem ist es die Aufgabe des Jungen, sich an der Pflege seiner Großmutter zu beteiligen. Zwar ist inzwischen genug Platz im Elternhaus, wegen der Pflegeaufgabe aber wohnt der Junge weiterhin bei der Großmutter. Wenn er abends weggeht, muss er spätestens um Mitternacht zu Hause sein, um nach der Oma zu sehen. Auch die Mutter beteiligt sich an der Pflege und hat dafür ihren bis dahin ausgeübten Vollzeit-Beruf aufgegeben. Nur noch der Vater ist im Beruf. Der Junge ist nicht nur wegen der Pflege eng an die Familie gebunden, sondern auch wegen der Grundhaltung seiner Eltern. Diese wollen ihn immer noch bevormunden. Die Mutter will alles wissen und auch bei allem mitbestimmen, der Junge meint jedoch, es gehe die Mutter nichts mehr an, wen er als Freunde hat und womit er seine Freizeit verbringt. So fragt er oft nicht mehr um Erlaubnis, weil er sonst zu viele Einzelheiten erklären muss. Trotzdem hat er gute Beziehungen zu allen Familienmitgliedern, besonders zu seinem etwas älteren Bruder, mit dem er gemeinsame Interessen hat. Die jüngere Schwester hat eine Nervenerkrankung, und so steht sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ihrer Eltern, als Sorgenkind und Nesthäkchen. „Familie ist, wo sich Alt um Jung oder Jung um Alt kümmert.“ – lautet einer der vielen Definitionsversuche in einer Welt, in der es keine Standards des Zusammenlebens mehr zu geben scheint. In diesem Fall bedürfen Jung und Alt des Kümmerns. Die chronisch kranke Schwester und die pflegebedürftige Großmutter absorbieren Aufmerksamkeit und Kraft und engen die Kümmerer zeitlich ein. So haben viele Familien Mitglieder, die mit ihrer Bedürftigkeit den Anderen Randbedingungen der Lebensgestaltung setzen. Mädchen (16) – Rundum wenig Aufbauendes Die Mutter des Mädchens trägt durch ihren nicht sehr gut bezahlten Teilzeitjob die Hauptlast, der Vater bekommt Arbeitslosenhilfe, beides zusammen bringt seit zehn Jahren die Familie über die Runden, man 141 Jugendliche Situation zu Hause hat sich ans Verzichten gewöhnt. Der Vater verlor seinen Arbeitsplatz als Techniker im Zuge einer Kündigungswelle. Da war er beruhigend weit von der Fünfzig entfernt, und so fand er nach langem Bemühen wieder Arbeit in seinem Beruf. Doch die Firma ging in Konkurs, und so war er wieder arbeitslos und älter. Da machte er Kompromisse und verdingte sich bei einer Leiharbeitsfirma, und durch das Arbeitsamt wurden ihm viele Weiterbildungskurse zuteil. Aber die nutzten nichts, und obwohl er sich auf alle freien Stellen bewirbt und alle in Betracht kommenden Firmen inzwischen kennt, hat es nur Absagen gegeben. Über das Thema Arbeitslosigkeit darf man in der Familie nicht reden, es ist tabu. Alle sehen den Vater Bewerbung um Bewerbung schreiben und zu Gesprächen fahren, aber er selber hat keine Hoffnung mehr und beginnt zu resignieren. Die ältere Schwester, immerhin, studiert, sie bekommt BAFÖG. An den Wochenenden kommt sie nach Hause. Die Eltern der Mutter leben noch, sie sind zwar sehr alt, aber fit und gesund. Den Großeltern von Seiten des Vaters ist Schlimmes widerfahren. Der herzkranke Großvater ist plötzlich gestorben, die Großmutter leidet an der Alzheimer-Krankheit und hatte vor kurzer Zeit mehrere Schlaganfälle. Sie lebt in einem Pflegeheim, gelegentlich holt man sie nach Hause. Nun erkennt sie die eigenen Kinder nicht mehr, sie freut sich und lächelt, wenn jemand kommt, ob bekannt oder nicht. Das ist Situation, in der sich die Vierzehnjährige zu Hause befindet. Sehr dicht zeigt dieser Fall, wie es ist, wenn eine Familie wenig Glück hat. Das verzweifelte Anrennen des gar nicht alten Vaters gegen die schmerzhafte Erfahrung „Du wirst auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht.“ und die Demütigung, die damit verbunden ist, sind in der Familie allgegenwärtig. Die Mühsal der Mutter, die das Geld verdienen muss und damit an die Grenze ihrer Belastbarkeit geführt wird, kommt hinzu, und die Demenz der Großmutter mahnt an die Hinfälligkeit, die jedem Leben bevorstehen kann. Doch es gibt auch Lichtblicke. Die Schwester studiert dank BAföG, die Eltern der Mutter sind noch bei guter Gesundheit. Man sieht, das Leben dieser Familie ist voller Mühen und Plagen – „durchwachsen“. Allzu viel darf nicht mehr schiefgehen, sonst gerät das empfindliche Gleichgewicht ganz aus den Fugen. Doch noch geht es. 142 Jugendliche Situation zu Hause Trennung ohne Schaden Wir betrachten nun drei Fälle, in denen die Trennung der Eltern keinen bleibenden Schaden für die Kinder, die späteren Jugendlichen, bewirkte. Mädchen (17) – Harmonisches Durcheinander Als das Mädchen drei Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Der Vater ist bis heute im Ruhrgebiet geblieben und die Mutter mit ihrem Kind nach Gütersloh gezogen. Die Eltern sind in gutem Einvernehmen auseinander gegangen, es hat keine Konflikte gegeben, sie verstehen sich auch jetzt noch gut, und so hat bis heute die Tochter zu beiden eine tragfähige Beziehung, wenn auch der Vater weit weg ist. Doch er ist wichtig für sie, sie besucht ihn regelmäßig am Wochenende. Heute ist sie eine siebzehnjährige junge Frau. Die wichtigste Person in ihrem Leben ist ihre Mutter. Sie haben gemeinsame Interessen und sind sich in vielen Dingen ähnlich. Die Mutter hat in ihrem interessanten Beruf mit Jugendlichen verschiedener ethnischer Herkunft zu tun und kann mit ihrem Engagement auch die Tochter begeistern. Das harmonische Zusammenleben ist von einem Konflikt um den Lebensgefährten der Mutter getrübt. Die Tochter kann ihn nämlich nicht leiden und geht ihm aus dem Weg, und die Mutter ist über diese Spannung unglücklich. Ein wenig „kindliche“ Eifersucht ist dabei im Spiel, das wissen beide. Auch der Vater hatte bis vor einiger Zeit eine Freundin, eine junge Frau, die heute dreiundzwanzig Jahre alt und damit nur sechs Jahre älter als die Tochter ist. Beide haben sich gut verstanden und treffen sich immer noch. Das Mädchen hat in der Lebensgefährtin des Vaters eher eine Freundin als eine Stiefmutter gesehen und sie sehr gemocht. Wie ihre Mutter ist die Siebzehnjährige fasziniert von sozialen Unterschieden und dem, was daraus folgt. Sie selber ist Gymnasiastin, aber sie hat Verbindung zu einer Gruppe aufgenommen, die aus türkischen und aramäischen Mädchen besteht. Eines der Mädchen wird nun bald heiraten, weil ihre Eltern das für sie entschieden haben. Der Siebzehnjährigen macht es zu schaffen, dass dieses Mädchen sich einfach ohne jede Rebellion in sein Schicksal ergibt, doch sie versteht, dass sonst ein Ausschluss aus dem Familienverband die kaum erträgliche Folge wäre. 143 Jugendliche Situation zu Hause Dieser Fall zeigt, worauf es wirklich ankommt, nämlich dass einem Kind das Gefühl von Sicherheit und Zuwendung, also vom Funktionieren seiner von der Geburt an wichtigsten Bezugspersonen, vermittelt wird. Dann ist jeder Konflikt bewältigbar, und das am Lebensanfang aufgebaute Grundvertrauen wird nicht, wie bei so vielen Kindern, durch die Verunsicherung seiner erwachsenen Bezugspersonen nachträglich erschüttert. Sehr schön kann man in diesem Beispiel erkennen, wie Interesse und Engagement aus Beziehungen erwachsen und nicht, wie viele naiv hoffen, aus Appellen und Lehrplänen. Grundlegendes Vertrauen zu anderen Menschen entsteht nicht zufällig, sondern am Beginn des Lebens, und es festigt sich stetig danach. Junge (14) – Im großen Ganzen ist alles in Ordnung Der Vierzehnjährige wohnt mit seiner Mutter in einem einfachen Haus in einer Siedlung, die früher multikulturell geprägt war und jetzt fast nur von Russlanddeutschen bewohnt wird. Die Familie gehört nicht dazu. Es gibt viel Streit und Aufregung im Wohnumfeld. Die Eltern des Jungen haben sich vor drei Jahren getrennt, und seitdem arbeitet die Mutter in einem Vollzeit-Beruf. Der Vater wohnt nicht weit weg, und so ist es für den Jungen leicht, hin und her zu pendeln. Das ist gut geregelt, am Wochenende ist der Junge beim Vater, an den Werktagen bei der Mutter, je nach Zweckmäßigkeit gibt es Ausnahmen. Das Haus gehört nun der Mutter, die unter starker finanzieller Belastung steht, weil sie die Hypothek übernommen hat. Als die Eltern sich trennten, war der Vater arbeitslos, und er kann den Unterhalt für Frau und Sohn nicht zahlen. Das jedoch war nie ein Streitpunkt zwischen den Eltern. Die Trennung der Eltern hat den damals elf Jahre alten Jungen nicht bedrückt. Er kann jederzeit, auch außerhalb der vereinbarten Besuchszeiten, zu seinem Vater gehen. Beide Eltern stehen ihm zur Verfügung, und sie haben auch untereinander weiterhin Kontakt. Zu seiner Mutter hat der Junge ein gutes Verhältnis, er kann ihr alles sagen, verschont sie aber mit kleineren Sorgen, sie hat auch so genug Probleme. Wenn er zum Beispiel eine Freundin hätte, dürfte die Mutter es wissen. Er hat aber keine. Nur widerwillig hilft er im Haushalt, obwohl die Mutter es immer wieder von ihm verlangt. Strafen verhängt sie aber nicht. 144 Jugendliche Situation zu Hause Man könnte sich günstigere Bedingungen wünschen, doch man hat eben nicht immer Einfluss darauf. Eltern sollten zusammenbleiben. Aber es geht nicht immer wie geplant. Der Vater sollte Arbeit haben. Doch manchmal kommt es anders im Beruf. Man muss das Beste daraus machen, und das ist in diesem Fall immerhin gelungen. In vielen anderen Fällen gelingt es nicht, und die beiden großen Gefahrenquellen, Partnerschaft und Beruf, setzen mit einem Scheitern einen Teufelskreis in Gang, eine Spirale abwärts. Mädchen (17) – Gut, dass der Vater weg ist Das Leben ist nicht einfach für die Siebzehnjährige. Dabei ist der ewige Streit mit ihrer drei Jahre jüngeren Schwester nur ein Ärgernis. Auch im Wohnumfeld ist es ungemütlich – mehrere Nationalitäten sind da zusammengekommen, und sie vertragen sich nicht. Zwei Nachbarn nur sind ansprechbar und freundlich, die anderen sehen sich von Fall zu Fall vor Gericht oder geraten sich auf andere Weise in die Wolle. Die hübsche junge Frau und ihre jüngere Schwester leben mit ihrer Mutter und deren neuem Partner zusammen, und die Siebzehnjährige verträgt sich gut mit der Mutter und dem Stiefvater. Seit fünf Jahren ist der leibliche Vater der beiden Kinder schon weg, die Eltern haben sich scheiden lassen. Die Siebzehnjährige hatte zu ihrem leiblichen Vater ein sehr schlechtes Verhältnis, ist froh, dass er weg ist, will ihn nicht mehr sehen und versteht nicht, dass die kleine Schwester sich mit ihm trifft. Zur Mutter hat das Mädchen eine enge Beziehung und betrachtet sie als ihre beste Freundin. Der Mutter geht es nicht gut, sie ist belastet, das Mädchen macht sich Sorgen um sie und versucht, ihr zu helfen. In diesem Fall ist es eindeutig : die Scheidung kann für ein betroffenes Kind die beste Lösung sein. Folgenlos ist sie dennoch nicht, besonders weil sie eine Vorgeschichte hat, in der die traumatisierenden Probleme enthalten sind. Die Behauptung „Ende gut, alles gut.“ gilt hier nur bedingt. Es hätte schlimmer kommen können, irgend etwas stimmte von Anfang an nicht. Die Elterngeneration wird aus Sicht der Kinder durch die Scheidung oft in ihrer Fähigkeit geschwächt, sich zu kümmern und Vorbild zu sein, und oft nimmt das Sicherheitsgefühl der Kinder dabei nachhaltigen Schaden. 145 Jugendliche Situation zu Hause Trennung mit Schaden Es ist wahrscheinlich der Regelfall, dass die Trennung der Eltern großen Schaden bei den Kindern anrichtet, der später noch nachwirkt, wenn aus den Kindern erst Jugendliche geworden sind. Die drei folgenden Beispiele sollen deutlich machen, wie ein solcher Schaden aussehen kann. Mädchen (14) – Distanz zu den geschiedenen Eltern Es ist sieben Jahre her, dass die leiblichen Eltern der heute Vierzehnjährigen sich scheiden ließen. Sie hat das nicht verstanden. Der Vater war oft nicht da, die Mutter hat geweint und war seelisch am Ende. Schließlich hat sie ihrer siebenjährigen Tochter und deren sechsjähriger Schwester alles gesagt. Der Vater habe eine neue Frau, sie wolle ihn zurückhaben, habe nun aber selber einen Freund. Die Vierzehnjährige und ihre dreizehnjährige Schwester leben bei ihrer Mutter und deren neuem Lebenspartner, von dem die Mutter eine inzwischen fünfjährige Tochter hat. In der Gegend ist nicht viel los. Manchmal gibt es Streit zwischen der Mutter und ihrer Ältesten, wenn diese sich bis weit nach Mitternacht bei Mallorca- oder Ibizapartys herumtreibt, bis sie mit anderen Jugendlichen zusammen im Taxi nach Hause fährt. Den Streit verträgt die Vierzehnjährige nur schwer, sie ist dann sehr traurig über das Zerwürfnis und hat Angst, dass es vielleicht nie wieder gut wird und der Bruch mit der Mutter endgültig ist. Wenn alles in Ordnung ist, kann sie mit der Mutter über ihre Sehnsucht und Trauer reden, denn sie ist unsterblich in einen Jungen verliebt, und der will sie nicht haben. Doch so richtig gut ist das Verhältnis zur Mutter nicht. Das Mädchen hat den Eindruck, als bevorzuge ihre Mutter die neue, jüngere Tochter. Wenn die Halbgeschwister in Streit geraten, nimmt die Mutter Partei für die Kleine und gibt der Ältesten die Schuld. Alle zwei Wochen holt der leibliche Vater seine Tochter ab, und sie verbringt dann bei ihm das Wochenende. Die neue Frau des Vaters motzt an der Vierzehnjährigen herum, wenn der Vater es nicht merkt – wie sie isst, was sie anzieht, wie sie redet, alles passt der Frau nicht. Das Mädchen spricht mit seinem Vater darüber, der kann nichts dagegen tun. Er hat seiner Tochter auch erklärt, wie das aus seiner Sicht mit der Scheidung war. 146 Jugendliche Situation zu Hause Vater und Tochter verstehen sich noch immer gut, doch sie wird von der neuen Frau abgelehnt, das ist bitter. Sie hat sich daran gewöhnt. Doch sie fühlt sich von beiden Eltern nicht geliebt. Schlimmer ist es mit der Mutter, da waren vielleicht die Hoffnungen größer. Sie hat sich mit der um ein Jahr jüngeren Schwester gegen die Mutter verbündet, und auch Probleme bespricht sie lieber mit Gleichaltrigen als mit ihren Eltern. Sie erlaubt den Eltern nicht mehr, sie in den Arm zu nehmen und lehnt den Körperkontakt mit ihnen ab. Auch frisst sie nicht mehr alles in sich hinein, sondern wehrt sich und sagt ihre eigene Meinung. Hier vermischen sich altersgemäße Ablösungstendenzen mit den noch immer schwelenden Gefühlen der Enttäuschung, Empörung und Trauer, die von der Scheidung der Eltern ausgegangen sind. Von frustrierenden Eltern kann man sich nur schwer lösen, weil die bewusste und unbewusste Hoffnung zuletzt stirbt. Man wird die Eltern nicht los, weil sie noch etwas schuldig geblieben sind. Vielleicht färben nun diese Beziehungserfahrungen in unglücklicher Weise auch die Beziehungen zu den neuen Liebespartnern, so dass zum Beispiel auch hier die Ablehnung stärker empfunden wird und das Anlehnungsbedürfnis unterschwellig dominant bleibt, Enttäuschungen schwerer verarbeitbar sind und die Beziehungsmuster an den Bedingungen der Kindheit kleben bleiben – wobei sich der Spielraum einengt. Mädchen (16) – Vater hat die Familie im Stich gelassen Als das Mädchen sechs Jahre alt war und ihr Bruder acht, übersiedelten die Kinder zusammen mit Mutter und Vater nach Deutschland. Erst einmal blieben sie in einem Auffanglager und lernten dort die deutsche Sprache. Dann zog die Familie in den Kreis Gütersloh. Danach lernte der Vater eine andere Frau kennen, und als das Mädchen zwölf Jahre alt war, verließ er die Familie und reichte die Scheidung ein. Die Mutter war verzweifelt. Die beiden Kinder mussten sie trösten und stützen, obwohl sie selber traurig waren. Der damals vierzehnjährige Bruder war nun der Mann im Haus und übernahm einen Teil der Vaterrolle gegenüber seiner jüngeren Schwester. Sie ist nun sechzehn Jahre alt, und der Bruder passt auf, dass sie nicht in schlechte Gesellschaft gerät, 147 Jugendliche Situation zu Hause also nicht mit Jugendlichen zusammenkommt, die mit Alkohol, Tabak oder Drogen zu tun haben. Aber auch ohne diesen Schutz würde sich das Mädchen von solchen Versuchungen fernhalten. Noch immer ist die Verbindung zum Vater nicht abgebrochen. Schwester und Bruder lehnen die neue Frau des Vaters ab, aber auch den neuen Freund ihrer Mutter wollen sie nicht im Haus haben. Als einmal die Mutter ihren Freund in die gemeinsame Wohnung aufnehmen wollte, stellten ihre Kinder sie vor die Wahl : „Entweder er oder wir !“. Also ließ sie es sein. Es ist leicht, die Übersiedlung für den Zerfall der Familie verantwortlich zu machen, doch auch Familien, die immer schon hier waren, zerfallen auf die gleiche Weise. Dass der Wechsel der „Lebensabschnittspartnerschaft“ den Kindern weit mehr zu schaffen macht, als unsere Vorstellungen von dem, was heute üblich und modern ist, uns suggerieren, sehen wir nicht nur an diesem Beispiel, sondern wir erkennen es bei genauem Hinsehen auch in den meisten ähnlichen Fällen. Dass die Familie gerade dann zerfällt, wenn die Kinder den Halt wegen äußerer Schwierigkeiten am meisten brauchen, liegt in der Logik der Ereignisse, denn dieselben Schwierigkeiten sind es oft, die der Partnerschaft der Eltern den Boden entziehen. Die Erwachsenen haben dann nur die Wahl zwischen zwei Übeln. Sollen sie den Streit und die Enttäuschung, den Kleinkrieg und das Fremdgehen verewigen, jedoch zusammenbleiben „der Kinder wegen“, oder sollen sie der Maxime folgen „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende !“ ? Guter Rat ist teuer – nein, gar nicht zu bekommen. Was können die Kinder am besten verkraften ? Ein Trennungsmoderator wäre gut, gerade der Kinder wegen. Die Besonderheit dieses Falls ist, dass der Bruder den Vater ersetzen muss, wohl im Einklang mit Rollenklischees, die mit der Herkunft zu tun haben. Dass Kinder durch allein gelassene Väter oder Mütter parentisiert, also zum Partnerersatz gemacht und damit überfordert werden, geschieht recht oft. Mädchen (15) – Der versteckte Vater Die Fünfzehnjährige lebt in einer Wohnung mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und dem eineinhalb Jahre alten Sohn der beiden. Die beiden älteren Geschwister sind erwachsen und leben in eigenen Haushalten, 148 Jugendliche Situation zu Hause der Bruder mit seiner Frau im Münsterland, die Schwester im Ruhrgebiet. Den Bruder sieht sie öfter, die Schwester seltener. Doch gerade die Schwester ist eine wichtige Vertrauensperson des Mädchens, oft gibt es Telefongespräche, manchmal Besuche. Es ist vorgekommen, dass die ältere Schwester am Telefon spürte, dass das Mädchen sich Sorgen machte und Kummer hatte, obwohl davon nicht gesprochen wurde. Kurz danach kam die Schwester zu Besuch. Ein bedrückendes Thema ist stets der Kontakt zum leiblichen Vater. Dieser stammt aus dem Ausland und ist inzwischen in seine Heimat zurückgekehrt. Noch immer leidet die Mutter unter der Erinnerung an diesen Mann, und so kann die Tochter nicht mit der Mutter über ihn sprechen, sie vermeidet es sogar, seinen Namen zu erwähnen oder gar mit ihm von zu Hause aus zu telefonieren. So muss die Fünfzehnjährige warten, bis sie bei ihrem Bruder oder ihrer Schwester zu Besuch ist, von da aus kann sie dann ihren leiblichen Vater anrufen. Die älteren Geschwister haben regelmäßigen Kontakt zu ihm. Von diesem heiklen Thema abgesehen hat das Mädchen ein gutes Verhältnis zur Mutter und zum Stiefvater. Die Trennung der leiblichen Eltern wirkt nach. Viele Kinder vollziehen die Trennung ihrer Eltern innerlich nicht mit, und es fällt ihnen schwer, die weiter bestehende Bindung an beide Eltern mit deren Zerwürfnis irgendwie in Einklang zu bringen oder, schlimmer noch, Partei zu nehmen. Lehrreiche Sonderfälle Die folgenden drei Beispiele regen zum Nachdenken an. Das erste macht deutlich, dass hinter einer Übersiedlung nach Deutschland mehr stecken kann als nur ein Verwaltungsakt, das zweite mutet wie ein Experiment an, als habe jemand das Thema Gleichberechtigung sehr wörtlich genommen, das dritte zeigt ein familiendynamisches Phänomen, das nicht selten ist. Junge (15) – Zwischen zwei Welten Der Junge stammt aus Polen. Als er noch klein war, ist der Vater nach Deutschland gegangen, um dort Arbeit zu suchen, die Mutter ist dann mit ihrem Jungen nachgereist. In dem polnischen Dorf, aus dem sie 149 Jugendliche Situation zu Hause kommen, war alles knapp und alle waren arm, in Deutschland gab es viel mehr und alles war besser, richtig cool. Erst einmal war es schwer, Fuß zu fassen. Der Junge kam in die deutsche Grundschule, fand schnell Anschluss und lernte die deutsche Sprache in einem halben Jahr von ganz allein. Dann fand die Familie eine richtige Wohnung, und so ist seit sieben Jahren das Leben angenehm. Zu seinen Eltern hat der Junge ein gutes Verhältnis, nur manchmal, wenn sein Zimmer nicht aufgeräumt ist oder er zu spät nach Hause kommt, gibt es Streit mit der Mutter. Aber sie vertragen sich schnell wieder, und in letzter Zeit gibt es gar nicht mehr so viel Anlass zum Streit. Manchmal fahren sie nach Polen. Dort ist es schön. Man kann dort weit laufen oder mit dem Fahrrad zum See fahren und schwimmen, die Landschaft ist viel schöner als hier, wo die Wohnsiedlung bald nicht mehr allein steht, sondern von noch mehr neu gebauten Häusern umgeben ist. In Polen hat der Junge ein Moped, das gehört ihm ganz allein, und er genießt es, damit herumzufahren und Freunde zu besuchen. Wenn er dort einmal genug Geld verdienen könnte, so wie sein Vater hier in Deutschland, dann wäre es vielleicht gut, wieder nach Polen zurückzugehen. Schöne Landschaft in Polen, viel Geld in Deutschland – zwei Welten im Kontrast. Aha, wird man sagen, so sind sie, die Wirtschaftsflüchtlinge, sie lieben Deutschland nicht, sie wollen nur den Wohlstand. Doch kann man wirklich nicht verstehen, wie dem Jungen zu Mute ist ? Wie jedes Kind hat er von der Grundschule an danach gesucht, wo er so leben kann wie er es für sich selber am besten findet. Aus der Entscheidung seiner Eltern, nach Deutschland zu gehen, musste er das Beste machen. Wenn er wirklich eines Tages nach Polen zurückkehrt, wird er seine Erfahrungen aus Deutschland mitnehmen und damit die Welt wieder ein wenig offener machen. Junge (16) – Vollständige Rollenumkehr Der Sechzehnjährige lebt in einer ungewöhnlichen Familie. Der Vater ist ein allein erziehender Hausmann, die Mutter – von ihm getrennt – eine Karrierefrau, die den Unterhalt der Familie verdient. Vier Brüder teilen mit dem Jungen und seinem Vater den Haushalt. Das hat seine 150 Jugendliche Situation zu Hause Geschichte. Der Vater hat ein Studium begonnen, aber nicht beendet. Er hat es vorgezogen, für den Haushalt zu sorgen, während seine Frau sich auf ihren Beruf konzentrierte und draußen im Wirtschaftsleben Karriere machte. Problemlos war das nicht. Die Eheleute stritten sich, und vor zwei Jahren zog die Mutter in eine andere Stadt, wo sie auch arbeitet. Von dort aus telefoniert sie täglich mit ihren Söhnen, sie weiß über alles Bescheid, und wenn der Junge Probleme in der Schule hat, vertraut er sich seiner Mutter an und nicht seinem fürsorglichen Vater. Die Mutter zeigt Zuwendung, der Junge hat das Gefühl, von ihr richtig verstanden zu werden. Die Trennung der Eltern brachte auch die fünf Jungen aus dem seelischen Gleichgewicht. Die Vertrauensperson, bei der sich der Junge hätte „ausheulen“ können, war ja selber verwickelt. Mit Freunden konnte er darüber nicht reden, eher schon mit Mädchen, die er vorübergehend als Freundinnen hatte. Jetzt aber hat sich alles gut eingespielt. Der Vater ist ein Kumpel, Verbote spricht er nicht aus. Er spendiert auch schon mal Bier, wenn der Junge und seine Freunde zu Hause vor dem Fernseher sitzen, um ein Fußballspiel zu verfolgen. Kürzlich ist der Vater auf den Gedanken gekommen, sein begonnenes Studium zu beenden. Der Junge sieht dies mit gemischten Gefühlen, ihm scheint es, als sei der Karrierezug für den Vater längst abgefahren. Der Sechzehnjährige selber erkennt sich in seiner Mutter wieder, und er möchte nicht so leben wie sein Vater, sondern selber ehrgeizig sein und in der Berufswelt etwas erreichen. Die Mutter bekräftigt ihn darin. Als vor zwei Wochen das Scheidungsurteil rechtskräftig wurde, kamen alle Erinnerungen noch einmal hoch, doch jetzt ist wieder alles im Lot. Das Lob modern denkender Menschen ist dieser Rollenumkehr gewiss. Dennoch hat sie ihre Tücken. Der fortschrittliche Vater erntet jedenfalls nicht nur Lob von dem Jungen, dem das männliche Identifizierungsangebot fehlt. Die Mutter bietet ihm mehr. Hat der Vater eine undankbare Rolle ? Wer das meint, sollte daran denken, dass auch im traditionellen Rollenbild ein Elternteil den entsagungsvollen Teil übernehmen muss – die Mutter. Was, wenn beide es nicht wollen ? Wer kümmert sich dann um die Kinder ? Diese Überlegung führ zu der Forderung, der Staat solle dafür sorgen, dass die Kinder möglichst lange außer Haus betreut werden. Das ist kurzsichtig. 151 Jugendliche Situation zu Hause Junge (16) – Nur Mädchen helfen im Haushalt Ein wiederkehrendes Thema im Leben des Jungen ist die Verteilung der Rollen zwischen Mann und Frau. Sein Vater gibt den Ton an und stellt die Regeln auf, doch er ist kaum zugänglich, und der Sechzehnjährige weiß nicht, was der Vater denkt. Die Mutter hat Verständnis und ein offenes Ohr für die Sorgen ihres Sohnes. Der Vater hat einen Vollzeit-Beruf, die Mutter eine einfache Tätigkeit im Stundenlohn, und sie versorgt den Haushalt zusammen mit der jüngeren Schwester des Jungen, dabei hilft weder der Junge noch sein Vater. Die Schwester hat gegen diese Arbeitsteilung protestiert, doch die Eltern haben ihr klar gemacht, dass sie im Haushalt helfen muss, weil sie ein Mädchen ist. Dies findet auch der Junge richtig. Wenn er später eine Frau hat, soll sie wie jetzt seine Mutter den Haushalt allein versorgen und außerdem arbeiten gehen, Vollzeit wenn möglich, so lange keine Kinder da sind. Der Sechzehnjährige bereitet seinen Eltern viel Kummer. Er verbringt seine Freizeit mit Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Zusammen haben sie sich, als sie noch jünger waren, in der Wohnsiedlung durch Herumstreunen und Randalieren unbeliebt gemacht und Zigarettenautomaten geknackt. Dann gab es eine Initiative, die damit endete, dass die Jugendlichen sich unter Anleitung ein Holzhaus bauen durften, das seit einigen Wochen fertig und benutzbar ist – zum Zeitvertreib. Das Rollenklischee in diesem Beispiel ist Ausdruck eines festgefügten, unflexiblen Familienmodells. Der Vater hat das Sagen, und der Sohn will diese Rolle erben. Die geringe Zugänglichkeit des Vaters erlaubt dem Sohn nicht, sich mit ihm auseinanderzusetzen und dadurch eigene Denk- und Sichtweisen zu entwickeln. So bleibt dem Sechzehnjährigen nur die Gruppe der Gleichaltrigen aus der Gegend. Wo die Eltern schwer zugänglich sind, orientieren sich Jugendliche aneinander – ein Phänomen, das besonders bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund häufig zu beobachten ist und dort normalerweise auch von den Eltern toleriert und gutgeheißen wird. Die Situation zu Hause ist, wie wir gesehen haben, von großem Einfluss auf die Entwicklung der Jugendlichen. Diese Situation zu verbessern, und sei es auch nur durch gute Ratschläge an die Eltern, könnte lohnen. 152 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Schule und Berufseinstieg Einführung Viele Schulkarrieren erinnern uns daran, wie konsequent das Schulsystem vom Grundsatz der Selektion durchdrungen ist – die Guten zu den Guten, die Schlechten zu den Schlechten, die Behinderten zu den Behinderten und die Bösen zu den Bösen. So ist die Schulform für manche ein Stigma. Nicht in allen Ländern Europas und der Welt ist das so, und die Diskussion über den Sinn dieser Selektion ist gerade wieder aufgeflammt – contra und pro. Doch, natürlich gibt es auch ein pro ! Sollen denn wirklich die Überflieger auf diejenigen warten, die es nicht oder nur langsam blicken ? Und was ist mit der Disziplin ? Wir hören von so vielen Schülern, dass man erst richtig lernen kann, wenn – sagen wir in der Neun – die Chaoten endlich weg sind, wohin auch immer. Und das Dealen und die Schlägereien ? Sind die nicht an bestimmte Schulformen gebunden ? Und die Gesamtschule ? Können wir an ihr vielleicht sehen, wie es ist, wenn man alle zusammenwirft ? Unsere Interviews haben gezeigt, dass die Gesamtschule zumindest bei den Eltern älterer Kinder beliebt ist, bei vielen der Schüler und Schülerinnen ebenso, Kritik kommt eher von den Jugendlichen. Die amtliche Sprachregelung kennt keine höheren Schulen, sondern nur „weiterführende“. Weiter führen sie alle, von Klasse 5 an, doch das dumme Volk will nun einmal nicht begreifen, dass die Wertung „Gymnasium oben, Hauptschule unten, Realschule geht so, Sonderschule schlimm“ nicht gilt. Und mancher Lehrherr will nicht begreifen, dass man Bewerbungen auch dann lesen sollte, wenn Hauptschüler / innen sie geschrieben haben. Vielleicht, schlagen manche Planspieler vor, könnte man alles dadurch entschärfen, dass man der Grundschule einfach zwei Jahre mehr Zeit gibt, bis Klasse 6, nicht 4. Aber halt – hätte man dann nicht im Alter von zwölf die Verunsicherung durch den Schulwechsel und die Verunsicherung durch die Pubertät im Doppelpack ? Und werden die Schüler aus den Klassen 5 und 6 die mit den Jüngeren noch handhabbare Kuschelpädagogik nicht durch Abgebrühtheit und Radau stören ? Oder gar die Kleinen prügeln ? Wer immer die verzwickten Fragen klären muss – er ist nicht zu beneiden. 153 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Vielleicht kann man sich erst einmal helfen, indem man die Diskussion sich selber überlässt und sich – in welcher Schulform auch immer – Mühe gibt, gut zu erklären, menschenfreundlich mit Schülern und Schülerinnen umzugehen, anregende Lern– und Erprobungsangebote zu machen und chaotische Handlungsweisen im Ansatz einzudämmen, indem man Regeln setzt und durchsetzt. Besser, man sucht das Heil nicht im Zurechtzimmern von Rahmenbedingungen, sondern in der Verbesserung der Inhalte. Im Grunde wollen – so zeigen die Interviews – die Jugendlichen darin unterstützt und ermutigt werden, Bereiche eigener Kompetenz zu finden, aus denen sie einen Zukunftsentwurf gewinnen können, der glaubhaft ist und auch den Übergang von der Schule zum Beruf übersteht. Ermöglicht man ihnen das, braucht man sich um Motivation und Disziplin nicht mehr ganz so viele Sorgen zu machen. Zur Zeit jedenfalls haben viele Jugendliche „Stress“ mit den Leistungen, die sie in der Schule bringen sollen. Schon unsere statistisch gesehen recht kleine Stichprobe lässt diese Tendenz deutlich werden. Ob nun unter allen Jugendlichen im Kreis Gütersloh jede(r) dritte oder jede(r) vierte Probleme mit der Schulleistung hat oder hatte, ist aus unseren Daten nicht genau erkennbar. Wir wissen, dass dieser Anteil ungefähr so groß, vielleicht sogar größer ist, denn viele der Interviewpartner haben sich dazu nicht geäußert. Gewiss ist aber, dass vielen Jugendlichen – etwa einem Drittel – die Schule schwer fällt, sie schafft Angst und Selbstzweifel statt Neugier, Freude und Selbstvertrauen. Besser, sie wäre die Startrampe eines Flugs ins Abenteuer. Jugendliche, die Probleme mit der Schulleistung haben jetzt Leistungsprobleme früher Leistungsprobleme alles in Ordnung [keine Angabe] 26 % 15 % 17 % 42 % von 78 Wenn die Schule zur Last wird, wirkt sich dies überall im Leben aus, doch es gibt persönliche Probleme, deren Ursache woanders zu suchen ist, zum Beispiel bei der Familie, den Freunden, dem Partner oder sich selber. 154 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Solche Probleme, die wir ungenau persönliche Probleme nennen wollen, werden erzeugt oder verstärkt durch den Umgang mit den hohen Hürden, die dem Erwachsenwerden im Weg stehen. Kein Wunder, dass rund vier von zehn Jugendlichen zum Ausdruck bringen, sie seien davon betroffen. Jugendliche, die persönliche Probleme haben jetzt persönliche Probleme früher persönliche Probleme alles in Ordnung [keine Angabe] 42 % 9% 4% 45 % von 78 An wen aber wendet man sich, wenn man doch gerade dabei ist, sich von den Eltern zu lösen ? Die nur auf den ersten Blick überraschende Antwort : an die Eltern. Sie sind, wie wir auch aus anderen Jugendstudien wissen, oft nach wie vor immer die wichtigsten Vertrauenspersonen der Jugendlichen. Die Eltern als Vertrauenspersonen männlicher Jugendlicher nur die Mutter nur der Vater beide Eltern kein Elternteil [keine Angabe] 14 % 11 % 49 % 8% 18 % von 78 Die Eltern als Vertrauenspersonen weiblicher Jugendlicher nur die Mutter nur der Vater beide Eltern kein Elternteil [keine Angabe] 29 % 5% 39 % 12 % 15 % von 78 155 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Auf gutem Weg Die meisten Schüler und Schülerinnen kommen mit der Schule zurecht, von einigen bewältigbaren Problemen abgesehen. Viele gehen sogar gern zur Schule und sehen in ihr eine Herausforderung, der sie sich stellen, weil sie damit ihre Lebenschancen verbessern wollen. Führen wir uns zu Beginn drei Fälle vor Augen, in denen die Schule ein sinnvoller Teil des Lebens ist und offensichtlich dabei hilft, die individuellen Möglichkeiten auszubauen. Junge (14) – Was soll schon schiefgehen ? Der Vierzehnjährige fährt gern Fahrrad, und damit legt er seinen Weg zu seiner fünf Kilometer entfernten Hauptschule zurück, jeden Tag. In der Schule fühlt er sich wohl, auch wenn ihm nicht alles leicht fällt. Deutsch und Englisch kosten ihn Mühe, Mathematik macht ihm Spaß. Im Sportunterricht wird meistens Fußball gespielt. Das beherrscht er, und so gewinnt er Ansehen. In die Klassengemeinschaft ist er gut eingebunden. Seine Stärken in der Schule und seine Hobbys passen zueinander – Mathematik und Technik. Sein Berufsziel hat er schon jetzt klar bestimmt : er will Fernmeldetechniker werden. Damit er einen guten Berufseinstieg findet, will er nach dem Abschluss seiner jetzigen Schule das Fachabitur anstreben. Das wird schon klappen, meint er. Beide Eltern sind im Beruf als Kaufleute tätig und kommen erst gegen Abend heim. Oft besucht er nach der Schule seine Oma, dort kann er zu Mittag essen. Seine Lieblingsbeschäftigung ist, nachmittags in Läden nach CDs zu stöbern. Sorgen bespricht mit keinem seiner Freunde, sondern mit seinen Eltern, zu denen er eine Vertrauensbeziehung hat. Die Berufstätigkeit der Eltern führt dazu, dass diese nachmittags nicht verfügbar sind, sondern erst gegen Abend. Das schadet aber nichts, eher schafft es dem Vierzehnjährigen einen willkommenen Freiraum, zumal es eine Oma gibt, die als Reserve–Anlaufstelle gut in den Tagesablauf passt. Manchen Kindern und Jugendlichen fällt die Schule leicht. Man darf sie darum beneiden. Vielleicht hatten sie schon an ihrem ersten Schultag, mit der Schultüte im Arm, einen Vorsprung, der nie wieder verloren ging ... ? 156 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Mädchen (15) – Die Sorge, unterfordert zu sein Die 1,85 m große Fünfzehnjährige wirkt sehr reif, ein wenig altklug, und sie geht in die zehnte Klasse eines Gymnasiums. Sie hat ein Jahr gewonnen, denn sie hat die achte Klasse übersprungen, weil sie sich sonst zu sehr gelangweilt hätte. Denn schon seit ihrer Einschulung ist das Mädchen eine Einserschülerin, die sich ständig unterfordert fühlt. Die Eltern und die Schulleitung haben miteinander über sie gesprochen und es als das Beste für das Mädchen angesehen, eine Klasse zu überspringen. So ist es geschehen. Das hat ihre Leistung jedoch nur wenig beeinträchtigt. Am Ende des Schuljahres war der Notendurchschnitt schon wieder bei 2,0. Das Mädchen fühlte sich endlich ein wenig gefordert. Zur Zeit sind Latein und Chemie ihre Lieblingsfächer, aber das kann sich rasch ändern, weil Sympathien für die Lehrer mitspielen. Bestimmt ist es verführerisch, wenn man erfährt, dass einem Wissen und Können gleichsam in den Schoß fallen. Vielleicht spürt man dann zu wenig Widerstand und möchte weg von dieser Verwöhnung, hin zu einer echten Herausforderung, damit man später damit umgehen kann, wenn es irgendwann, irgendwo doch einmal schwerer wird, damit man also kämpfen lernt, und dazu ist das Überspringen einer Klasse manchmal ein geeignetes Mittel. Jede Schule hat einerseits Angebote, deren man sich bedienen kann, und andererseits Mängel und Ärgernisse, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Wieviel Initiative bringt man nun auf, um mit dieser vorgefundenen Alltagswelt zurechtzukommen und aus ihr Nutzen zu ziehen ? Die Schule ist ein Modell der Welt draußen, und an ihr kann man üben – für später. Junge (14) – Engagiert in der Schulumwelt Ein Schulwechsel war der Grund, dass der Junge eine Klasse wiederholen musste. Jetzt ist er in der achten Klasse eines Gymnasiums. Dort gefällt es ihm, die Atmosphäre ist gut – in der Klassengemeinschaft und in der ganzen Schule. Selten nur fällt der Unterricht aus, Lehrer gibt es an dieser Schule offenbar genug. Mit den Lehrern und mit vielen Mitschülern hat er gute Kontakte, auch ist er Schülervertreter in einer 157 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Fachgruppe, in der Eltern, Lehrer und Schüler sind, und deren Aufgabe es ist, die Anschaffung von Lehrmitteln passend zu den Unterrichtsinhalten vorzubereiten. Nie hat er Gewalt an der Schule beobachtet, und auch Drogen sind dort kein Problem. Unzufrieden ist er damit, dass das Rauchverbot für diejenigen, die unter sechzehn Jahre alt sind, nicht ernst genommen wird. Früher war ein Lehrer dafür zuständig, heute kümmert sich niemand mehr darum. Die Schule hat interessante Angebote für Freistunden und Pausen, darunter eine Mediothek mit Computerarbeitsplätzen und Internet-Zugang, außerdem viele Bücher. Da stöbert der Junge gern herum. Auch gibt es einen Platz für Ballspiele. Der Vierzehnjährige hat sich viele Gedanken über seine Zukunft in der Berufswelt gemacht. Studieren will er, das steht fest. Vielleicht Meeresbiologie, Archäologie oder Geschichte. Der Erdkundeunterricht hat ihn darauf gebracht, dass er nach dem Studium seine Kenntnisse einsetzen könnte, bedürftigen Menschen in den Entwicklungsländern zu helfen. Zum Beispiel könnte er Brunnen oder Schulen für sie bauen. Es ist ihm bewusst geworden, wie gut wir es in Deutschland haben. Vielleicht hätte man die Lehrmittel anschaffen können, auch ohne eine Fachgruppe zu nutzen, die einen Schülervertreter einbezieht, und vielleicht wird der Junge später gar kein Entwicklungshelfer. Doch die Gelegenheit, sich selber in einer Kommission mitmachen zu sehen, und die Anregung, sich als Fachmann und Menschenfreund zu entwerfen, ist Teil einer Selbsterprobung, die später in dieser oder jener Form aufgegriffen werden kann. Alles ist möglich, eines Tages könnte es ja etwas werden mit den Brunnen und den Schulen in einem Entwicklungsland ... Selbstfindung und Motivation Wozu soll ich denn das alles machen, wozu brauche ich es ? Hat es Sinn ? Hat es Sinn mit mir ? Wozu ist es gut, dass ich auf der Welt bin, und wozu soll ich mich anstrengen ? Was habe ich oder was hat irgendwer davon ? Solche Zweifel sind legitimer Teil einer normalen Entwicklung, und sie sind keinem bestimmten Jahrzehnt oder Land vorbehalten. Eng mit ihnen verbunden ist die Motivation, die so leicht verloren geht und so launisch und wählerisch ist, und ohne die man so gut wie nichts erreichen kann. 158 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Junge (17) – Wider Willen die Zukunft verbaut ? Den größten Stress hatte der Siebzehnjährige vor zwei Jahren, als er in der achten Klasse der Realschule wegen Faulheit nicht mehr mitkam. Da fand er sich auf der Hauptschule wieder und musste die achte Klasse noch einmal durchlaufen. Die Eltern machten ihm Vorwürfe. Das hätten sie sich sparen können, denn die Vorwürfe machte er sich schon selber. Dabei wollte er immer etwas tun und sich anstrengen, aber nur der Geist war willig ... Er konnte sich einfach nicht aufraffen, und als es immer schlimmer wurde, steckte er den Kopf in den Sand und tat gar nichts mehr. Er hätte das alles schon gekonnt, es war nicht zu schwer. In den ersten Jahren auf der Realschule waren die Noten gut, aber immer wieder sackte er ab. Als es in der Realschule mit ihm bergab ging, begannen die Eltern, sich untereinander zu streiten und sich gegenseitig die Schuld daran zu geben. Dann war es soweit, und er musste wechseln. Da hatte er Angst, denn die Hauptschule hatte nicht gerade den besten Ruf. Kriminelle Sachen und Schlägereien gab es da, so hörte man, und er ist nicht der Typ, der Gewalt mag. Jetzt kann er aufatmen, denn so schlimm war es dann doch nicht. Er fühlt sich recht wohl dort, wenn auch die meisten Freunde noch immer aus der alten Zeit auf der Realschule stammen. Auch das Zeugnis kann sich sehen lassen. Gedanken und Bilder quälen ihn, er hätte sich die Zukunft verbaut. Dabei ist gar nichts verloren, denn es gibt immerhin die 10 b, das ist die Hauptschulklasse, in der man den qualifizierten Realschulabschluss erreichen kann, wenn man zumindest in Mathe, Deutsch und Englisch befriedigend ist und auch sonst nicht schlecht. Doch was ist, wenn die unerklärliche, ungewollte Faulheit wiederkommt ? Zur Zeit ist nichts davon zu spüren. Mediengestalter – das wäre ein Beruf für ihn ! Darauf ist er gekommen, als im Unterricht über Firmen gesprochen wurde. Die Schüler durften sogar eigenständig eine Internet-Website erstellen, und das liegt ihm sehr, denn mit Computern kommt er gut zurecht. Nun hat er sich schon um dazu passende Praktika beworben. Es gibt noch mehr Möglichkeiten. Psychologe – das wäre ein Beruf für ihn, denn er hätte Spaß daran, Leuten zuzuhören und ihnen zu helfen. Sowieso unterhält er sich lieber mit Mädchen, das obercoole Getue 159 Jugendliche Schule und Berufseinstieg vieler Jungen seines Alters stört ihn. Astronaut – daran hat er auch schon gedacht, aber das kann er nicht werden, denn er hat von Geburt an Bronchialasthma, keiner weiß, warum ... An die Nordsee hat man ihn geschickt und ihm Asthmaschulungen verschrieben. Früher, als er noch jünger war, bekam er oft Anfälle mit Luftnot und Panik, und da musste er einmal als Notfall in ein Krankenhaus gebracht werden. Jetzt kommen die Anfälle nur noch selten. Dann hebt er die Arme hoch und hockt sich auf den Boden, so hat er das gelernt. Die Mutter hat oft große Panik bekommen, wenn er einen Anfall hatte. Es gab da auch einen Spray mit Dosieraerosol, doch jetzt kann er Sport treiben, ohne den Spray zu benutzen. Wenn er an die Zukunft denkt, kommen ihm Vorstellungen, alles sei schon verbaut, dann ist er traurig und weint. Das weiß auch seine Freundin, mit der er sich gut versteht. An ihr sind ihm die Augen aufgefallen, die sind so warm und freundlich. Später will er selber eine eigene Familie haben und ein Kind. Darüber macht er sich keine Sorgen. Das Kind wird bestimmt viel zu verwöhnt sein ... Ist vielleicht einer unter uns (Erwachsenen), der sich in diesem Interview im Rückblick wiedererkennt, oder sind wir inzwischen auch, auf unsere Art, obercool ? Manches taucht auf, das ganz individuell ist, und vieles, das sich auch bei anderen Jugendlichen findet. Nicht normgerecht ist diese seltsame Arbeitshemmung, nicht normgerecht sind die Selbstzweifel, nicht normgerecht ist die Verunsicherung der Eltern. Nicht normgerecht, aber normal. Die meisten Jugendlichen gehen irgendwann Umwege, in diesem Fall als Rückläufer. Die Hauptschule ist wieder einmal besser als ihr Ruf, man darf froh sein, dass jemand die 10 b erfunden hat. Es ist nicht ungewöhnlich, dass mancher Jugendliche denkt, mit ihm allein stimme etwas nicht, er sei anders als die anderen und fern des geordneten Funktionierens, aber mit den Altersgenossen stimme alles. Doch die haben vielleicht nur die bessere Show abgeliefert. Der Geist des Erfolgs ist launisch – grapscht man allzu gierig nach ihm, verflüchtigt er sich. Suchen, versuchen, zweifeln und Umwege gehen, verzweifeln und am Ende den Mut wiederfinden, all das gehört zum Leben. Der Mensch ist eben kein programmierbarer Automat. Die Jahre des Erwachsen–Werdens haben ihre eigenen Gesetze – für jeden Jugendlichen und jede Jugendliche andere. 160 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Am Ende findet man seinen Weg, wenn die Erwachsenen nicht zu eifrig dazwischenfunken. Andererseits dürfen sie sich auch nicht heraushalten, sondern müssen Angebote machen. In diesem Interview wird sehr schön deutlich, wie die Suche nach einem eigenen Platz in der Berufswelt langsam vorankommt. Unerwartete Erfolge sind es – hier die Internet-Gestaltung –, die zu der Frage führen, ob da nicht noch mehr zu machen wäre, vielleicht ließe sich ein Berufsweg auftun ... Oder lieber Psychologe ? Mit Menschen reden wie mit der Freundin, zuhören, helfen ... Astronaut, leider, geht nicht. Das ist ein Suchprozess, dessen Bedeutung unterschätzt wird, gerade weil er nebenbei geschieht. Man will eine Brücke schlagen von dem, was man auf der Suche nach der eigenen Kompetenz gefunden hat, zu dem, was sich draußen in der Welt einordnen, ausbauen und tragfähig machen lässt. Jede Hilfe ist willkommen – Ausprobieren im Unterricht, Praktika in Betrieben, Kontakt mit Leuten, die es schon geschafft haben ... Die Schule unterstützt dieses „Matching“, unabhängig von der Schulform durch Anregungen, Schulpraktika und andere Zugänge, und das ist sehr verdienstvoll. Wie wäre es, die Anstrengungen dazu weiter zu steigern, sie zu verdoppeln oder zu verdreifachen, sie früher zu beginnen ? Kompetenz ist alles, Kompetenz suchen alle Jugendlichen (und nicht nur die), und für manche ist eine Kompetenz im Prügeln und in der Delinquenz noch immer besser als gar keine. Hoffen wir also auf einen Lehrer, Kaufmann, Handwerker oder Berufsberater, der zuhören, mitdenken und Rat geben kann, wenn es Jugendlichen darum geht, bei sich selber etwas Besonderes zu finden, das sie können und gern tun und auf dessen Brauchbarkeit im Beruf sie hoffen. Ein solcher Helfer kann die Jugendlichen dabei unterstützen, den störanfälligen Prozess der Entdeckung eigener Kompetenz auf den Weg zu bringen, einen Weg, der lang sein wird und vielleicht in einer chaotischen Berufswelt versandet, die fast jeden auf lange Umwege schickt und kaum jemanden willkommen heißt, es sei denn, sein Können liege im Trend und sei (eine Weile) gut zu verkaufen. Doch auf Glück und Zufälle zu vertrauen ist zu wenig. Wer für Jugendliche etwas tun will, das viel nutzt und bewegt, der sollte genau hier – in der Unterstützung des schwierigen Wegs von der Identitätsund Kompetenzfindung zur Berufsintegration – die Ärmel hochkrempeln 161 Jugendliche Schule und Berufseinstieg und zeigen, was er kann. Das zarte Pflänzchen des „Wer bin ich und was kann ich ?“ am Beginn, der knallharte Kampf ums Überleben in einer missgünstigen, volatilen Berufswelt am Ende – was für eine Aufgabe ! Der Lehrer, der Berufe und Chancen in der Schule anschaulich macht, und der Schulpraktika so organisiert, dass sie auch wirklich etwas bringen, ist jedenfalls auf dem richtigen Weg. Andere, möglichst viele, sollten helfen. Nicht alle Jugendlichen wollen sich dem Lebenskampf in seiner vollen Härte stellen, nicht alle haben Ehrgeiz, nicht alle wollen gewinnen. Manche wollen einfach nur ungeschoren davon kommen und sich einigermaßen wohl fühlen dabei. Mit etwas Glück gelingt das. Junge (15) – Gute Schule, guter Kumpel Er hat viel Scheiß gemacht auf der Realschule in Klasse 7, herumgeschrieen im Klassenraum, Hausaufgaben einfach bleiben lassen, und natürlich schlechte Noten bekommen. Da hat man ihn vor die Wahl gestellt, die Klasse 7 zu wiederholen oder zur Hauptschule zu gehen, ohne Wiederholung gleich in Klasse 8. Einige „Leute“ kannte er dort schon, er konnte sich leicht eingewöhnen, trotzdem war es peinlich. In der Hauptschule gibt es eine Konfliktschlichterstelle. Ein Lehrer wartet in einem „Trainingsraum“ auf die, die etwas angestellt haben, und gibt ihnen einen Zettel, auf den sie erst einmal schreiben müssen, welche Folgen ihre Untat für Mitschüler wohl habe. Dann geht es ans Nachdenken, wie man das wieder gutmachen und dann in Zukunft besser machen könnte, auch das muss man schriftlich in Worte fassen. Vor dem nächsten Unterricht will der Lehrer im Trainingsraum dann den ausgefüllten Zettel haben. Ist er damit zufrieden, darf man wieder am Unterricht teilnehmen, andernfalls muss man den Zettel nochmal ausfüllen, diesmal besser. Zweimal bisher musste der Fünfzehnjährige in den Trainingsraum, beim ersten Mal hatte er im Unterricht mit seinem Banknachbarn geredet, beim zweiten Mal Papier im Klassenraum herumgeworfen. Inzwischen fühlt er sich auf der Hauptschule wohl, die Noten sind leidlich, aber er will sich bemühen, dass sie noch besser werden, die Klasse 10 b lockt ihn, weil er da einen qualifizierten Abschluss bekommen kann. Demnächst wird er ein Schulpraktikum 162 Jugendliche Schule und Berufseinstieg in einer Tischlerei beginnen, da kennt er einen Kumpel, der Tischler ist, außerdem kommt er gut dort hin und wieder zurück. Er weiß noch nicht recht, was er werden will, Dachdecker wäre auch ein guter Beruf. Eine Lehre möchte er machen und während dieser Zeit weiter bei seinen Eltern wohnen, wo es ein wenig eng ist, aber einen schönen Garten gibt, danach will er in eine eigene Wohnung ziehen und selbstständig sein wie sein Kumpel. Der hat es vor kurzem genauso gemacht. Da haben wir also einen von vielen Jugendlichen kennen gelernt, die sich nicht allzu viel vornehmen und am Ende leidlich zurechtkommen. Was soll man von dem Trick mit dem Trainingsraum halten ? Die gute alte Strafarbeit hat sich veredelt. Denn viel unangenehmer als stumpfsinnig irgend etwas hundert Mal abzuschreiben ist doch das Nachdenken und Formulieren von Einsicht, gleichgültig ob sie vorgeschoben oder echt ist. Vielleicht ist der Trainingsraum eine einfache, aber wirksame Maßnahme. Allerdings bindet sie die Arbeitskapazität eines Lehrers, der anderswo fehlt. Jugendliche – damit verbinden manche Erwachsene Kraftüberschuss, Ehrgeiz und Aufbruch zur Welteroberung, da projizieren sie ihr eigenes unerlöstes Idealselbst hinein. Wenn wir an die Wirtschaft, das Regulativ unseres ganzen geplagten Lebens, denken, hätten wir die Jugendlichen gern anpassungswillig, lernbereit und strebsam, damit sie, wenn sie erwachsen sind, alles in Schwung halten, der internationalen Konkurrenz trotzen und die „Systeme“ mit Beiträgen beschicken, aus denen Menschen alimentiert werden müssen, die keine Arbeit finden oder nicht (mehr) arbeiten können. Es gibt etliche Jugendliche, die zwar gutwillig sind, aber nur gerade so viel Anstrengung aufwenden wollen wie erforderlich ist, um einigermaßen angenehm zu leben, die nicht nach den Sternen greifen, sondern nur wissen wollen, was sie unbedingt tun müssen. Auch für sie ist die Schule da. . Das Problem ist die Motivation. Woher kommt sie und warum ist sie hin und wieder einfach weg ? Vielleicht wegen der Pubertät ? Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, aber auch nicht von und für Aufsatz und Dreisatz. Vielleicht für das Styling , die Clique ? Rechnen mit Buchstaben – wie öde, Miss-Sixty-Hosen – wie cool ! Die Rahmen-Lehrpläne wissen nichts davon. 163 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Mädchen (14) – Wimperntusche und Jogging Die Vierzehnjährige huscht durch ihre Hausaufgaben, gleich wenn sie zu Hause ist. Fertig ! Oder doch nicht ? Dann wird sie morgen schon jemanden finden, von dem sie abschreiben kann. Die Mutter kann ihr ohnehin nicht helfen, vielleicht deren neuer Lebenspartner, ab und zu, in Englisch. Jetzt jedenfalls kann sie sich verabreden. Überhaupt ist es nicht mehr weit her mit der Motivation, wenn man in der Acht ist. Hausaufgaben, keine Lust, Unterricht, keine Lust. In der Neun wird es wieder besser. Das sagen alle. Auf dem Zeugnis stehen nur Dreien und Vieren. Die Mutter sieht das mit Missfallen. Dem Mädchen genügt es. Wichtiger ist ihr die Freundin, ihr Vorbild. Die war immer schon cool gekleidet, weil ihre Eltern Geld haben, die Vierzehnjährige eifert ihr nach, will mehr aus ihrem Typ machen. Breite Hosen, Schlaghosen, Miss-Sixty-Hosen, Schminke, Kajalstift, Wimperntusche, kürzere Haare mit Strähnchen – sie findet sich gut. Vielleicht blond gefärbte Haare ? Die Mutter erlaubt das nicht. Wenn nur der Po nicht so dick wäre ... Also abnehmen ! Wie denn ? Weniger essen, nichts essen ? Ein Mädchen in der Klasse erbricht, was sie isst, und sieht schlank aus. Lieber nicht ! Besser ist Joggen, das tut sie jetzt, jeden Morgen und jeden Abend in der Siedlung. In der Schule gibt es Arbeitsgemeinschaften für alles und jedes : Cheerleading, Klettern, Wasserski fahren, Mofa fahren, Personal Computer bedienen. Mit der Computer-AG hat die Vierzehnjährige es einmal versucht, aber das brachte ihr nicht viel, am Ende hat sie nur gechattet, und das kann sie ebenso gut im Internet-Café. Die (Haupt-) Schule ist friedlich, das war sie nicht immer. Viele Russlanddeutsche und Türken sind regulär abgegangen und zwei sind von der Schule verwiesen worden, seitdem gibt es kaum noch Schlägereien. Das Schulpraktikum steht bevor, die Vierzehnjährige möchte gern als Friseurin oder Maskenbildnerin oder Floristin Erfahrungen sammeln. Mit ihrem Leben ist sie zufrieden, nur ein wenig traurig, weil sie den Jungen nicht kriegt, den sie gern als Freund hätte. Der Zukunft sieht sie ohne Angst entgegen. Sie will einen Mann und Kinder, nur Jungen, die sind süßer. Vielleicht auswandern. Sie war einmal mit ihren Eltern in einem fernen Land, damals, als die Familie noch komplett war. Da will sie wieder hin. 164 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Wenn man so darüber nachdenkt – vielleicht nimmt die Schule sich viel zu wichtig. Welchen Sinn hat es, Lernstoff zu hubern, wenn die Gedanken ganz woanders sind ? Andererseits – wir sind nicht zu unserem Vergnügen auf der Welt. Irgendwann muss man den Stoff ja reintun, den man später doch braucht. Hoffentlich, vielleicht. Aber es ist schließlich Vorschrift, und wenn man nicht das richtige Abschlusszeugnis hat, geht es bald bergab. Also quält man sich durch, es muss ja sein. Und einer Minderheit begabter Jugendlicher macht es sogar Freude. Wir tun so, als wäre das die Norm. Die Schule ist in mehr als einer Hinsicht ein Ort der Bewährung, und man muss aufpassen, dass nichts schief geht. Stätte des kognitiven Lernens ist die Schule nur nebenbei, das nicht geplante soziale Lernen nimmt einen großen Raum ein. Selektion und Vermeidung gehören zu den Notwendigkeiten des Schulalltags, manche Dinge machen Spaß, manche sind Mühsal und manchen geht man besser aus dem Weg. Ein Bodensatz von Spannung und Aggression ist nicht selten Teil des Schülerdaseins. Ein Beispiel dazu: Mädchen (15) – Licht und Schatten In der neunten Klasse der Realschule hatte die damals Vierzehnjährige einen Leistungsknick, der heute, ein Jahr später, behoben ist. Damals wollte sie noch zum Gymnasium wechseln und setzte sich deswegen unter Druck. Da bekam sie Essstörungen und spürte, das geht nicht. Im Unterricht macht sie entweder mit oder sie schaut gelangweilt aus dem Fenster – ganz oder gar nicht, das ist ihre Art. Die Lehrer, alt, streng und strafbereit, verstehen sie nicht, so empfindet sie es. Doch mit den anderen Schülern kommt sie klar. Sie freut sich auf die Arbeitsgemeinschaft Pop, wo sie in der Vocal Group einer Schülerband singt. Spaß machen ihr die Fächer Sport, Biologie und Kunst. In der Realschule hat sie noch keinen Hinweis auf Drogen erhalten, in der Nähe des angrenzenden Gymnasiums jedoch lungern oft Oberstufenschüler herum und rauchen Marihuana. Die reden dann aggressiv, und deshalb macht die Fünfzehnjährige einen Bogen um sie. An der Realschule gibt es keine Schlägereien, an der angrenzenden Hauptschule jedoch geht es „zur Sache“. Dass man sich wehren muss, hat sie im vorigen Jahr erkannt. Da lauerten ihr drei eifersüchtige Mädchen im Schwimmbad 165 Jugendliche Schule und Berufseinstieg auf, stießen sie in die Brennnesseln und verprügelten sie. Nun verhält sie sich wehrhafter. Nach der Realschule will sie zur höheren Handelsschule. Apothekerin könnte sie werden – vielleicht auch Stewardess. Ein bisschen Gewalt und Delinquenz spielen immer mit im Schüleralltag, sie bilden das normale „Hintergrundrauschen“. Wenn die Feindseligkeit auf Distanz bleibt, ist sie nicht so schlimm. Da prügelt man sich auf dem Hof der Nachbarschule, da rauchen Gymnasiasten Gras – man kriegt es mit und geht seiner Wege. Richtig schlimm aber ist es, wenn die Gewalt hautnah im eigenen Klassenraum ist, und sei es auch nur seelische Grausamkeit wie sie sich im Mobbing ausdrückt. Da werden die Schritte schwer auf dem Weg zur Schule, und die Lust am Lernen schrumpft bis zur Unsichtbarkeit. Mädchen (16) – Ein Lehrer mit und einer ohne Verständnis Bis zur fünften Klasse ging es noch gut, dann aber, in der sechsten, wurden die Leistungen des Mädchens schlechter. Die siebte Klasse musste sie wiederholen. Darüber war sie sogar froh, denn sie war in der Klassengemeinschaft schlecht gelitten und wurde von Mitschülerinnen ihres Namens wegen verhöhnt. In der neuen Klassengemeinschaft ging es weiter mit dem Mobbing, doch dann griff der Klassenlehrer ein und setzte der Qual ein Ende. Da kam die Freude am Lernen zurück, denn der Klassenlehrer verstand und förderte das Mädchen, so dass alle Fünfen vom Zeugnis verschwanden. Der Klassenlehrer, so sagte man, sollte länger als ein Jahr bleiben. Trotzdem gab es am Schuljahresende einen Lehrerwechsel. Der neue Klassenlehrer lehnte das Mädchen ab, überging sie im Unterricht und erklärte, dass er Sorge haben müsse, eine falsche Antwort zu erhalten, wenn er sie aufrufe, und manchmal schickte er sie einfach weg, vor die Tür. Mit der Zeit wurde es immer unerträglicher, am Ende des vergangenen Schuljahres gab sie auf und verließ die Schule ohne Hauptschulabschluss. Ebenso erging es ihren zwei besten Freundinnen, die ebenfalls bei diesem Lehrer in Ungnade gefallen waren. Einen Beruf kann sie nun nicht erlernen, doch das ist nicht schlimm, weil sie bessere Pläne für das Leben hat. Seit eineinhalb Jahren hat sie einen festen Freund, der zwei Jahre älter und Moslem ist. 166 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Wenn sie erst volljährig ist, will sie ihn heiraten. Die allein erziehende Mutter der Sechzehnjährigen ist einverstanden und die beiden Eltern des Freundes sehen die Sechzehnjährige schon als Schwiegertochter an. Darum dürfen die beiden jungen Leute im Haus der Eltern im gleichen Zimmer schlafen, wenn auch nicht im selben Bett. Türkische Jungen und Mädchen werden ohnehin schon früher als erwachsen behandelt. Mit ihrem zukünftigen Ehemann hat die junge Frau vereinbart, dass sie von ihm nicht geschlagen wird, und dass sie arbeiten geht und Geld verdient, wahrscheinlich in derselben Fabrik, in der auch ihre Mutter gearbeitet hat. Die stumpfsinnige, gleichförmige Arbeit und das lange Stehen am Band mit den recht kurzen Pausen hat sie schon kennen gelernt, als sie in dieser Fabrik einen Ferienjob hatte. Es ist ihr schwer gefallen, doch sie wird sich daran gewöhnen. Den Hauptschulabschluss will sie über ein Berufsförderungsjahr versuchen. Außer Reichweite ist ihr Traumberuf, Designerin, und so will sie lieber gar keine Ausbildung. Es kam wie es kommen musste. Wirklich ? Manchmal, wenn die Voraussetzungen schlecht sind wie in diesem Beispiel, darf nicht mehr viel Böses dazu kommen. Mag sein, dass dieses Kind einer allein erziehenden Mutter empfindsamer war als andere Kinder, mag sein dass das Mädchen sich nicht berechtigt glaubte, aufzutrumpfen und Ansprüche zu stellen. MobbingTäter suchen sich gerade die Empfindsamen aus. Da sind Besonderheiten wie hier der Name nur noch ein Vorwand. Pech, wenn in der eigenen Klassengemeinschaft Täter sind, die gern Schwächere oder Empfindsamere an den Pranger stellen. Noch mehr Pech, wenn – wie gar nicht so selten – der Lehrer sich dumm stellt oder gar mit den Wölfen heult und seinen Teil zum Mobbing beiträgt. Der zweite Lehrer hat es getan, der erste hatte Autorität und Verständnis. Wer fatalistisch denkt, erwartet, dass das vorgesehene Schicksal sich seinen Weg sucht, so oder so. Doch seit einigen Jahrzehnten ist das Prinzip „Kleine Ursache, große Wirkung“ auch wissenschaftlich wieder zu Ehren gekommen. Der Zufall eines (ursprünglich nicht vorgesehenen) Lehrerwechsels hat hier gewirkt wie das Umstellen einer Weiche. Der aussichtsreiche Ansatz zur Befreiung aus der Rolle der Verliererin blieb stecken, weil der Förderer verschwand und der Nachfolger Lust am Mitmobben hatte. 167 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Ob die junge Frau sich daran erinnert, wenn sie am Fließband vier Stunden lang Dosen verschließt, dann eine halbe Stunde Pause macht, dann wieder vier Stunden lang Dosen verschließt und abends nach Hause geht ins Eheleben, das, wenn Pech dabei ist, zur Sackgasse wird ? Ein Lehrer in Amt und Würden braucht sich bis zur Pensionierung kaum mehr zu rechtfertigen. Das ist in Ordnung, wenn er ein kluger, vom Schulalltag unangefochtener Menschenfreund ist. Leider gibt es schwarze Schafe, wie in jedem Beruf, und man muss im Schul-Roulette Glück haben, dass man an einen Lehrer von der guten Sorte gerät, der Verständnis hat und wohlwollend hilft. Solche Lehrer gibt es viele, aber auch andere, und beide Sorten können die Schulkarriere und den weiteren Lebensweg eines jungen Menschen durch eine entscheidende Weichenstellung nachhaltig lenken. Die Selbstfindung ist besonders schwer in einer neuen Heimat, die noch fremd ist und nur langsam, wenn überhaupt, vertraut wird. Förderklassen sind der erste Ort der Bewährung und der Hoffnung. Hier ein Beispiel : Junge (16) – Hoffnung auf Deutschland Die meisten Schüler / innen der Förderklasse kommen aus Russland. Der Sechzehnjährige fühlt sich wohl darin, auch weil er dort Partner findet, mit denen er russisch sprechen kann. Da gibt es Mitschüler, die haben niemanden in der Klassengemeinschaft, der ihre Sprache spricht, zum Beispiel ein Araber und ein Kosovo-Albaner, die sich nicht mit Worten, aber auf andere Weise verständigen können, und die so ihre Freundschaft aufrecht erhalten. Alle in der Förderklasse haben das eine Ziel, schnell die deutsche Sprache zu erlernen und in eine Regelklasse zu kommen. Seit zwei Wochen hat der Junge eine Freundin. Auch sie kommt aus Russland, lebt schon seit einigen Jahren in Deutschland und ist in einer Regelklasse. Anfangs wagte er nicht, sie anzusprechen, aber dann traute er sich doch, und nun sind sie ein Paar. Die Beziehung zu ihr ist ihm auch als Brücke zu neuen Kontakten wichtig. Der Junge hat in Russland ein Gymnasium und eine Mittelschule besucht, doch mit dem Schul- und Ausbildungssystem in Deutschland kennt er sich nicht so gut aus. Er weiß jedoch, dass er sehr gut deutsch sprechen muss, wenn er eine Berufsausbildung in einem technischen Beruf 168 Jugendliche Schule und Berufseinstieg machen will, wie er es gerne möchte. Es gab Tage, da glaubte er als einziger Schüler seiner Klasse keine Fortschritte zu machen, und für Stunden überkam ihn Verzweiflung. Die ließ aber nach, wenn er daran dachte, wie vielen Leuten in seiner Lage es wohl ganz ähnlich geht. Nach und nach wächst seine Zuversicht, dass Deutschland für ihn eine Heimat ist. Er sieht in diesem Land Sicherheit und Beständigkeit für sich und seine Familie. In Russland war stets die Angst da, am nächsten Tag werde alles zusammenstürzen. Sport war in Russland ein fester Teil seiner Freizeit. Wenn er sich hier erst eingewöhnt hat, wird er einen Verein in Gütersloh suchen, vielleicht für Volleyball oder Basketball. Vielleicht macht diese Schilderung diejenigen nachdenklich, die gerade in jugendlichen Aussiedlern nur „die Russen“ sehen, die man im Verdacht hat, zu dealen und Schlägereien anzuzetteln. Die gibt es gewiss, aber wie kommt es dazu ? Migranten wie dieser Junge setzen große Hoffnungen auf das neue Land und seine Möglichkeiten. Die Sprache ist die erste Hürde, doch nicht die einzige. Aber schon diese Hürde lässt ihn, wenn auch nur für Stunden, verzweifeln. Er ist gutwillig und anpassungsbereit, er will leisten, was man von ihm erwartet. Manchmal aber machen wir uns nicht klar, wie schwer das alles ist und wie groß die Gefahr ist, dass weniger Motivierte, weniger Begabte unter den Migranten daran scheitern. Was ist, wenn man an diesen inneren und äußeren Integrationshürden scheitert ? Dann fällt man ins Leere, es sei denn, man findet eine Clique, die das aus Enttäuschung geborene Ressentiment mit gewohnten, narzisstisch stützenden Wertvorstellungen aus der alten Heimat zu einer subkulturellen Ersatzidentität vermischt. Diese wieder erscheint dem Rest der Welt in ihrer Misstrauen erzeugenden Abkapselung als Nährboden der Delinquenz, und sie ist dies manchmal wirklich. Ehe man wartet, bis es so weit ist und dann viel Aufwand in cliquenorientiertes Streetworking investiert, könnte man viel effektiver genau an diesem ersten Schritt in die Integration feilen und ihm geduldig die Schärfe nehmen, auch durch orientierende Hilfen zum Verstehen der Gepflogenheiten und Erwartungen in der neuen Heimat Deutschland. Wer Vertrauen fasst und sich willkommen fühlt, wird zur Anpassung ernsthaft bereit sein. 169 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Berufsfindung und das Ende der Schulzeit Was soll ich werden ? Diese Frage ist für niemanden so aktuell wie für die Schulabgänger des laufenden Jahres. Sie sind gut vorbereitet – man hat sie in der Schule auf die Berufswahl eingestimmt, und sie haben Praktika hinter sich. Außerdem hat man ihnen gezeigt, wie man sich bewirbt. Und es gibt auch noch das Arbeitsamt. Da muss es doch klappen. Oder ... ? Mädchen (17) – Lehrstellen Mangelware Wenn sie ihre Schule in zwei Wochen mit dem Hauptschulabschluss verlässt, wartet nirgends eine Lehrstelle auf sie. Einzelhandelskauffrau oder Malerin / Lackiererin, das sind ihre Berufswünsche. 20 Absagen auf 20 Bewerbungen, das ist ihre deprimierende Bilanz. Das Arbeitsamt konnte ihr auch nicht helfen. Ein Trost für die Siebzehnjährige ist, dass es vielen ihrer Mitschüler / innen so geht, nur zwei waren bei ihrer Lehrstellensuche erfolgreich. Sie selber stöbert das Internet durch nach Lehrstellenangeboten, vielleicht findet sie ja doch etwas. Was ihr bleibt, ist ein Berufsgrundschuljahr für Hauswirtschaft und Ernährung, sie hofft, damit ihre Chancen für das nächste Jahr zu verbessern. Sie will sich in der neuen Schule orientieren und parallel weitere Bewerbungen schreiben. Sie will flexibel sein und sich auf keine Branche festlegen. Das klingt nicht gut. Junge Leute voller Hoffnungen, die darauf warten, dass man sie im Berufsleben willkommen heißt. Und die nun erfahren, dass man sie gar nicht so dringend braucht wie immer behauptet wird. Junge (16) – Hauptschule abgeschlossen, und dann ? Wenn das Schuljahr vorbei ist, wird der Sechzehnjährige die Schule mit dem Hauptschulabschluss verlassen und dann keine Lehrstelle haben. Dabei wollte er nichts Utopisches. Industriemechanik, Werkzeugbau, Metallbau – diesen Rahmen hat er sich vorgegeben. 20 Bewerbungen hat er verschickt. Die hat er sorgfältig und liebevoll verfasst, auf Empfehlung seiner Cousine mit einem Softwaresystem „Wie bewerbe ich mich richtig ?“ Das hat nichts genutzt. Alle haben abgesagt, keiner 170 Jugendliche Schule und Berufseinstieg wollte ihn auch nur sehen. Das Arbeitsamt konnte ihm auch nicht helfen. Dabei hat er sich auf die Berufsfindung schon in der Schule vorbereitet und ein Praktikum in einem Holz verarbeitenden Betrieb in Gütersloh gemacht. Dabei wurde ihm klar, dass er gar nicht Holz verarbeiten möchte, sondern Metall. Das hat ihn bereits im Technikunterricht am meisten interessiert. Was bleibt ihm ? Er wird ein Berufsgrundschuljahr machen. Dann, hoffentlich, sind seine Chancen besser. Wie deprimierend ! Da funktioniert alles wie im Bilderbuch. Der Junge hat sich vernünftig orientiert, sein Ziel gefunden und nach allen Regeln, die man ihm hätte nahelegen können, richtig gehandelt. Trotzdem hat er nun keine Lehrstelle. Dabei ist er doch bestimmt leistungswillig. Sollte man da nicht ins Grübeln kommen ? Haben wir nicht gehört, dass viel mehr Kinder geboren werden müssten (oder Einwanderer kommen müssten), damit die Sozialsysteme bezahlbar bleiben ? Was aber würde aus diesen zusätzlichen Kindern bei ihrem späteren Berufseinstieg, wenn schon die jetzt vorhandenen Jungen und Mädchen zum Teil nicht im Berufsleben untergebracht werden können ? Wie kann der Geburtenrückgang unsere Sozialsysteme bedrohen, wenn wir schon jetzt mehr Berufseinsteiger haben als der Arbeitsmarkt aufnehmen kann ? Ist da nicht ein seltsamer Sprung in der Argumentation ? Irgend etwas wurde wohl nicht zu Ende gedacht. Sind es die Betriebe, die sich die Mühe mit der Ausbildung nicht machen wollen ? Oder vergällen Bürokraten den Betrieben die Lust am Ausbilden ? Oder ist es die Konjunktur, die nicht brummt ? Oder sind es die Billiglohnländer oder doch die Automaten ? Oder sind wir zu dumm ? Noch immer, das ist entscheidend, fehlt uns die richtige, umfassende Ursachenanalyse. Nicht alle haben nur Pech mit ihrer Suche nach einem Ausbildungsplatz. Das folgende Beispiel klingt viel ermutigender. Mädchen (15) – Rechtzeitiger Ehrgeiz Noch während das Mädchen zur Grundschule ging, trennten sich ihre Eltern. Sie blieb bei der Mutter und zog mit ihr um. So kam sie in eine neue Grundschule. Die Trennung der Eltern verstörte das Mädchen. 171 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Sie begann, Lügen zu erzählen, erfand Freunde, die es gar nicht gab, und wurde faul in der Schule. Trotzdem wechselte sie nach der Grundschule zur Realschule, doch das ging nur ein Jahr lang gut, danach kam die Hauptschule. Erst vor einem Jahr erwachte in der damals Vierzehnjährigen der Ehrgeiz, und ihre Noten wurden in allen Fächern außer Mathematik besser. Sie hat sogar einen Realschulabschluss geschafft und nach einem Beruf Ausschau gehalten. Gern wäre sie Reisebürokauffrau geworden, dazu müsste sie aber den Abschluss einer höheren Handelsschule vorweisen und außerdem die spanische Sprache lernen. Doch schon Englisch fiel ihr viel zu schwer. Also hat sie sich um eine Ausbildungsstelle als Erzieherin bemüht. Sie war damit erfolgreich und will sich nun mit voller Kraft einsetzen. Ihr Vater hat sich erkundigt, ob sie wohl eine Vergütung über 500 Euro erhielte. Das ist nicht so. Sonst hätte er seine Unterhaltszahlungen eingestellt. So wie er möchte die Fünfzehnjährige nicht werden, sondern so wie ihre Mutter, die stets für andere Menschen sorgt. Das Mädchen möchte die Ausbildung mit Erfolg abschließen und immer mit ihrem Freund zusammenbleiben. Kein Problem sieht auch der Junge aus dem folgenden Beispiel. Er hat, wie seine Herkunft ihm nahelegt, eine Marktlücke im Arbeitsmarkt besetzt. Junge (16) – Kein Problem mit Fleisch Der sechzehnjährige Hauptschüler macht sich keine Sorgen. Warum auch ? Er geht gern zur Schule und ist ein guter Schüler. Dabei hat er weder Lieblingsfächer noch besondere Abneigungen. Mit den Lehrern versteht er sich, und in die Klassengemeinschaft ist er integriert. Unter seinen Mitschülern hat er einige Freunde, mit denen er sich zum Inline Skating oder zum Fußballspielen trifft. Sein Vater ist Fleischermeister, der Junge möchte das auch werden. Schon jetzt überlässt der Vater ihm kleine Entscheidungen, zum Beispiel, wie viele Würste auf eine Stange gehören, vier oder fünf. In seinem zukünftigen Beruf sieht er wenig Konkurrenz, denn in ganz Gütersloh gibt es nur drei Lehrlinge im Fleischereihandwerk. Die Jugendlichen wollen nichts mit Fleisch zu tun haben. Das versteht er nicht, denn er hat damit kein Problem. 172 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Man muss sich nur umsehen. Die Schule jedenfalls bahnt den Zugang, wo sie kann. Immer wieder wird behauptet, der Fortschritt schaffe neue Berufe. Wenn das so ist, müssen diese sich auch irgendwie finden lassen. Der Junge aus dem folgenden Beispiel hat sich daran gehalten. Junge (14) – Zukunftsberuf Mechatroniker Der Vierzehnjährige braucht fünf Minuten zu Fuß, um zur Gesamtschule zu kommen. Dort geht er in die achte Klasse. Seine Lieblingsfächer sind Mathematik, Technik und Sport. Vor einiger Zeit fand in der Schule eine Projektwoche zur Berufswahl statt. Dabei kam er auf den Gedanken, das neue Berufsfeld Mechatronik wäre etwas für ihn. Man kann sagen, dass dieses Berufsfeld sich mit der Verbindung von Mechanik und Elektronik befasst, die man zum Beispiel beim Roboterbau verwendet. Auch die Mutter des Jungen hat sich über das Thema informiert und findet, ihr Sohn habe gute Berufschancen zu erwarten, wenn er Mechatroniker werde. Der Junge selber ist mit seiner Suche noch nicht fertig. Auch der Beruf eines Informatikers passt zu seinen Neigungen. Voraussetzung dafür wäre das Abitur. Dieses zu erreichen traut er sich nicht zu, denn er ist in seiner Schule nur in der Mitte der Leistungsskala. Es ist nicht lange her, da wollte er Schornsteinfeger werden, weil er gehört hat, dies sei der bestbezahlte Handwerksberuf, und man könne sich als Schornsteinfeger später selbstständig machen. Lehrer haben den Vierzehnjährigen getadelt, er mache hin und wieder „Bockmist“. Die Mutter meint dazu, die Lehrer bauschten Kleinigkeiten auf, kümmerten sich zu wenig um Unterrichtsinhalte und zuviel um das Drumherum. Bei Elterntagen werde das besonders deutlich. Im Unterricht fühlt sich der Junge manchmal zu wenig gefordert, weil die Inhalte ihm zu banal erscheinen. An dieser Gesamtschule wird mit Drogen gehandelt, und der Vierzehnjährige weiß, wie das vor sich geht. Einmal hat er gehascht, doch er hat keine Wirkung gespürt. Er war auch schon einmal betrunken, als er es auf der Party eines Freundes mit Alkohol versucht hatte. Jetzt ist er klüger und weiß Bescheid. In der Nähe gibt es eine große Firma, die Mechatroniker beschäftigt. Dort wird der Junge sein Praktikum machen, um Genaues zu erfahren. 173 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Wer weiß, was er will, hat immer die besseren Chancen, besonders wenn er einen familiären Hintergrund hat, der Rückhalt bietet. Der folgende Fall zeigt ganz wunderbar, wie man einen Traumberuf entdecken und ihn mit wacher Zielstrebigkeit Wirklichkeit werden lassen kann. Mädchen (15) – Freude an der deutschen Sprache Vor Jahren ist die Familie aus Kasachstan gekommen – beide Eltern, das damals zweijährige Mädchen und der Bruder. Auch Geschwister, Onkel und Tanten der Eltern sind nach Deutschland übergesiedelt und leben hier, zusammen mit Familienmitgliedern aus der GroßelternGeneration. Sie alle gehören derselben religiösen Gruppe an, aber in der engeren Familie des Mädchens spielt die Religion kaum eine Rolle, der Stil des Hauses ist liberal, und das Mädchen fühlt sich zu Hause geborgen, mit ihren Eltern und mit ihrem Bruder fühlt sie sich liebevoll verbunden. Die Fünfzehnjährige geht in die zehnte Klasse einer Realschule, in der man Kinder aus Familien ihrer Glaubensgemeinschaft zusammengefasst hat, überwiegend Jungen. Sie geht gern zur Schule und mag besonders Deutsch und alles, was mit der deutschen Sprache zu tun hat. Auch Mathematik mag sie, seitdem sie eine neue Lehrerin hat, die weniger nett ist als ihr Vorgänger, aber besser erklären kann. In Englisch fehlen ihr Vokabeln, die sie in den ersten Jahren zu lernen versäumt hat. Davon abgesehen mag sie auch dieses Fach. Sie arbeitet mit an der Schülerzeitung, indem sie Textbeiträge verfasst und Comics zeichnet. Im letzten Jahr fand sie sogar einen Praktikumsplatz bei einer Tageszeitung – das war nicht leicht, denn solche Plätze sind normalerweise Gymnasiasten vorbehalten. Die Fünfzehnjährige will Journalistin werden. Durch ihr Praktikum weiß sie, dass dies nicht ohne Abitur möglich ist. Nun braucht sie einen qualifizierten Abschluss, um zum Gymnasium zu dürfen. Damit sie dieses Ziel erreicht und so ihrem Traumberuf näher kommt, ist sie noch fleißiger geworden. Sie freut sich, dass sie schon weiß, was sie einmal werden will. Die Eltern haben ihr geraten, sich nicht zu sehr darauf zu verlassen, und einen Ausweichberuf für alle Fälle zu suchen. Da kommt für sie nur Buchhändlerin oder Bibliothekarin in Betracht, denn mit Büchern und Sprache muss ihr Beruf etwas zu tun haben. Zur Zeit nutzt sie Gelegenheiten, um ihr 174 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Taschengeld aufzubessern. Sie arbeitet als Babysitterin und gibt einer Cousine Mathematik-Nachhilfeunterricht. Mit Sechzehn will sie dann beginnen, als Kellnerin zu arbeiten. Das ist eine gute Übung, denn ihre Eltern haben nicht genug Geld, um ihr ganzes Studium zu finanzieren, und so will sie etwas dazuverdienen, auch wenn sie BAföG bekommt. Individuelle Probleme Unter den Jugendlichen gibt es manche, die über ein Handicap klagen, das sie nicht aus der Welt schaffen können, das aber ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigt, zum Beispiel eine chronische Krankheit, eine Teilleistungsstörung wie Legasthenie oder das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom oder ein schwerer familiärer Dauerkonflikt. Es sind nicht besonders viele, und sie bilden keine Gruppe mit einheitlicher Thematik. Ihr Leid ist individuell. Die Qualität einer Schule zeigt sich darin, wie sorgsam und rücksichtsvoll ihre Lehrer und Lehrerinnen mit solchen Handicaps umgehen. Im besten Fall gelingt es, die persönliche und schulisch-berufliche Entwicklung trotz des Handicaps zum Erfolg zu führen, manchmal jedoch wird das Handicap zum Anlass von Diskriminierung und Depression. Das folgende Beispiel zeigt, wie ein guter Rückhalt zu Hause einem Problem die Schärfe nimmt. Junge (17) – Legasthenie ist eine Last, aber kein Schicksal Als der Junge zum Gymnasium ging, begann für ihn ein Leidensweg, der dann vier Jahre dauerte. Mit ewig schlechten Noten schleppte er sich von Schuljahr zu Schuljahr. Seine Sommerferien waren ausgefüllt mit Vorbereitungen auf Nachprüfungen, die gerade noch die rettenden Vieren einbrachten, meistens in Fächern, die mit Sprachlichem zu tun hatten. Kein Wunder, denn der Junge ist Legastheniker, eine Lese- und Rechtschreibschwäche macht ihm zu schaffen. Dafür kann er nichts, und weil seine Eltern das erkannten und ihn nicht unter Druck setzten, konnte er sich ein dickes Fell zulegen. Wo er nichts gewinnen kann, bleibt er phlegmatisch. Zum Glück gibt es Bereiche der Kompetenz, in denen die Legasthenie keinen Schaden anrichtet. Der Junge kennt sich mit Computern aus. Es sind nicht die Spiele oder Internet-Chats, 175 Jugendliche Schule und Berufseinstieg die ihn locken. Vielmehr schreibt er Programme, die einen Computer steuern und ihm neue Fähigkeiten verschaffen können. Leider hätte das angesichts seiner schlechten Noten nicht dazu gereicht, ihm eine Lehrstelle zu sichern. Darum verließ er vor einem Jahr das Gymnasium und ging zur Hauptschule. Ein Erfolg ! Das Lernen fiel ihm dort viel leichter, auch weil der Lernstoff anders dargeboten wurde, und bald hatte er gute Noten und endlich einmal die Ferien für sich, weil keine Nachprüfung vorzubereiten war. Jetzt kann er Pläne für seine Zukunft machen. Gern möchte er nun eine technisch orientierte weiterführende Schule besuchen, um das Fachabitur zu machen und dann vielleicht doch zu studieren oder zumindest einen Ausbildungsberuf zu erlernen, selbstverständlich im technischen Bereich. Allerdings möchte er keinen Beruf ergreifen, der ihn zwingt, gleich den ganzen Tag am Computer zu verbringen. Die Arbeit müsste schon etwas handfester sein. Für jemanden, der eine Teilleistungsstörung hat, ist es wichtig, nicht alle Energien auf den Kampf dagegen zu richten, sondern sich auch abzulenken und auf einem ganz anderen, unbeeinträchtigten Feld Erfolge zu suchen. Dann kann die Erfahrung, Erfolg zu haben, und besonders leistungsfähig zu sein, Mut machen und dem Handicap den Wind aus den Segeln nehmen. Manchmal muss die Schule eingreifen, wenn die familiären Probleme so gewaltig werden, dass sie das Leben eines Schülers oder einer Schülerin zugrunde zu richten beginnen. Dies ist die breite Übergangszone zwischen Unterricht und Sozialarbeit. Im folgenden Fall ist die Vertrauenslehrerin Vertrauensperson und Schutzengel zugleich – zum Glück für das Mädchen. Mädchen (15) – Vertrauenslehrerin als Rückhalt Als die Eltern geschieden wurden, blieb das Mädchen bei der Mutter und deren neuem Ehemann in Russland. Die beiden jüngeren Halbschwestern stammen aus dieser zweiten Ehe der Mutter. Als die häusliche Situation dort ins Wanken geriet, schlug die Mutter ihrer ältesten Tochter vor, zu ihrem leiblichen Vater nach Deutschland zu ziehen, dorthin war er nämlich übergesiedelt. Das geschah. Es war ein Glück für die heute Fünfzehnjährige, aber die Erinnerung an die schwere Zeit 176 Jugendliche Schule und Berufseinstieg in Russland und die Sorge um ihre Mutter und ihre beiden kleinen Schwestern reisten mit nach Deutschland. Eine Mischung aus Kummer und Angst lastet auf ihr, sie ist so weit weg von den ihr vertrauten Menschen, deren Schicksal sie nicht teilen und beeinflussen kann, und hier hat sie einen Vater, der ihr nach all den Jahren fremd geworden ist, und dessen Freundin sie gar nicht kennt. Die Mutter des Vaters aber konnte die Rolle einer Vertrauensperson annehmen. Einsam und auf sich gestellt fühlt sich das Mädchen, seit knapp einem Jahr versucht sie, sich in einer Förderklasse mit der deutschen Sprache zurechtzufinden. In die Klassengemeinschaft ist das Mädchen eingebunden, Freundschaften jedoch konnte sie dort nicht schließen. Zu einem Mädchen in der Nachbarschaft entwickelte sich eine Freundschaft, diese wurde aber vom Vater verboten, weil die Freundin rauchte. Die Schule stellt eine Vertrauenslehrerin, die sich um das einsame Mädchen kümmert und eine Unterbringung im Internat vorgeschlagen hat. Dies könnte eine Lösung sein, denn die Gefühle der Fremdheit gegenüber ihrem leiblichen Vater wachsen, und die Sorge um Mutter und Geschwister lässt beinahe keinen anderen Gedanken mehr zu. Wie soll man sich da auf die Schule konzentrieren ? Das Mädchen wagt nicht, jemanden ihre Probleme zu erzählen, sie fürchtet, gerade dann abgelehnt zu werden. Nur die Vertrauenslehrerin weiß alles. Im Internat wären vielleicht Freundschaften möglich, der Vater könnte sie dort nicht unterbinden. Die doppelte Last schwerer Probleme in der Familie und einer schweren Anpassungsaufgabe, die im Zurechtkommen mit einem fremden Land und einer fremden Sprache besteht, ist ohne Hilfe nicht zu tragen und blockiert die altersgemäße Entwicklung. Man muss für diese Jugendliche und ihre Familie hoffen, dass sich die Dinge zum Besseren wenden. Es gibt so viele Probleme, mit denen Jugendliche sich auseinandersetzen müssen – Pubertät, Schule, Berufseinstieg –, dass man meint, jedes Problem mehr müsste jenseits des Bewältigbaren sein. Doch in manchen Fällen ist die Sorge um die Gesundheit dieses zusätzliche Problem, wie im folgenden Beispiel. Wir wollen hoffen, dass sich die Beschwerden, von denen darin die Rede ist, aufklären lassen, damit sie geheilt werden und die Ausbildung nicht weiter belasten. 177 Jugendliche Schule und Berufseinstieg Mädchen (19) – Hoffentlich hält die Gesundheit Das empfindsame Mädchen war eine der besten Schülerinnen ihrer Klasse. Dann kamen der Umzug und eine neue Schule. Da plötzlich war der Lernstoff für sie nicht mehr zu bewältigen, denn aus irgendeinem Grund war man in der neuen Schule weiter vorangeschritten als in der früheren, obwohl die Klassenstufe noch stimmte. Sie kämpfte verzweifelt darum, den Anschluss wiederzugewinnen – es ging nicht. Am Ende gab sie auf und wiederholte die Elf. Doch der Lernstoff war nicht das einzige Problem. Beinahe ebenso schlimm war es, dass sie in die neue Klasse nicht so recht hineinfand. Sie ist schüchtern und bleibt in einer neuen Umgebung erst einmal die Beobachterin, ohne sich aufzudrängen. Die Mitschüler / innen kamen ihr auch nicht entgegen. Alle kannten sich schon seit Jahren, und für die Neue war kein Platz. Sie hat nun das Abitur und auch eine Lehrstelle als Zahnarzthelferin, die ihr gefällt. Gern möchte sie ihre Ausbildung mit Erfolg beenden. Doch da gibt es eine große Sorge : die Gesundheit. Vor vier Jahren hat es begonnen. Von Zeit zu Zeit versagen ihre Muskeln in Armen und Beinen den Dienst. Die Bewegung ist erschwert und die Empfindung gestört. Sie kann sich manchmal kaum noch aufrecht halten. Später ist es wieder weg, und alles ist normal. Noch weiß man nicht, woher das kommt. Die Neunzehnjährige hat Angst, die Ausbildung nicht zu Ende führen zu können, wenn die rätselhafte Krankheit schlimmer wird. Wie dieser Fall sind viele Fälle, jeder für sich, einmalig. Erwähnen wollen wir noch einen 19 Jahre alten Interviewpartner, der durch Spastik fast bewegungsunfähig ist, aber geistig aufnahmefähig und vital. Ohne zu sprechen verständigt der intelligente Junge sich mit Hilfsmitteln. Eine Körperbehindertenschule hatte sich seiner angenommen, doch wurde die Spastik inzwischen so schlimm, dass er ausgeschult werden musste. Er wird von seinen Eltern gepflegt, die von Helfern, ehemaligen Zivildienstleistenden, unterstützt werden. Mit deren Hilfe nutzt der Junge ausgiebig das Internet. Alles ist sehr mühsam, besonders die Nahrungsaufnahme. Doch er kommt zurecht und hat den Lebensmut nicht verloren. Er weiß sich zu helfen – auf seine Art. 178 Jugendliche Freizeit Freizeit Einführung Die Freizeit vieler Jugendlicher ist Leistungsfreizeit. Sie bringt Nützliches durch Extra–Erlebnisse und –Übungen als Vorbereitung für irgendwann. Dass Freizeit auch Muße, Faulheit, Nichtstun und „Abhängen“ sein kann, wobei man sich jedem – auch dem banalsten – Leistungswillen verweigert, wussten „die drei Zigeuner“ aus einem Liedtext von Nikolaus LENAU : „Dreifach haben sie mir gezeigt, wenn das Leben uns nachtet, wie man’s verraucht, verschläft, vergeigt, und es dreimal verachtet.“ Zu sein und zu denken wie sie erscheint uns heute als Anfang vom Ende. Doch verrauchen und mit Drogen vergeigen kann man das Leben auch so. Manchen Jugendlichen ist der Leistungswille zuviel, zumindest ab und zu. Sichtkontakt mit illegalen Drogen bei Jugendlichen in Berührung gekommen nicht in Berührung gekommen [keine Angabe] 30 % 10 % 60 % von 78 Kontakt mit Alkohol bei Jugendlichen nur die Kumpels trinken man selber trinkt (mit) [keine Angabe] 9% 30 % 61 % von 78 Kontakt mit Zigaretten bei Jugendlichen nur die Kumpels rauchen man selber raucht (mit) [keine Angabe] 10 % 26 % 64 % von 78 179 Jugendliche Freizeit Das heißt, einem Viertel bis einem Drittel der Jugendlichen ist Rauchen und Alkohol trinken vertraut, vielleicht sind unter „Keine Angabe“ noch ein paar Prozent zusätzlich versteckt. Unter „Sichtkontakt mit Drogen“ haben wir Aussagen erfasst wie „Ich weiß, wo man Drogen kaufen kann.“ oder „Ich habe gesehen, wie jemand dealt.“ oder auch „Ich habe das selber mal probiert.“. Tiefere Bekenntnisse darf man nicht erwarten. Auch wenn man den unter „Keine Angabe“ versteckten Anteil nicht einbezieht, kann man doch folgern, dass die Drogenszene eine Infrastruktur hat, die kaum weniger zugänglich für die Jugendlichen ist als der öffentliche PersonenNahverkehr, und dass diese Infrastruktur auch genutzt wird. Umso höher muss man die Leistung der vielen Jugendlichen einschätzen, die ihre Freizeit sinnvoll einteilen und dabei ihre Begabungen entdecken und einsetzen. Es sind oft Jugendliche, die in ihrem Leben Rückhalt haben. Ein bedeutsames Phänomen in der Welt der Jugendlichen ist die Clique, in der sich die Welt der Kumpels informell organisiert wiederfindet. Ob es uns gefällt oder nicht, die Clique hat die Kraft, Halt zu geben und Normen zu setzen. Sie tritt in vielen Erscheinungsformen auf, und gerade in sonst nur schwer zugänglichen Problemgruppen ist eine an Cliquen orientierte Jugend- und Sozialarbeit ein Königsweg zum Erfolg. Auch unserer kleine Stichprobe liefert hochsignifikante Ergebnisse zur Bedeutung der Clique : Bedeutung der Clique für Jungen im Alter von 14 bis 17 Jahren große Bedeutung geringe oder keine Bedeutung [keine Angabe] 62 % 16 % 22 % von 41 Bedeutung der Clique für Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren große Bedeutung geringe oder keine Bedeutung [keine Angabe] 180 76 % 12 % 12 % von 41 Jugendliche Freizeit Zeitvertreib Wer sich die Zeit vertreibt, hat zuviel davon. Jedenfalls hat er mehr Zeit, als er sinnvoll unterbringen kann. Bei Jugendlichen hat dies oft etwas damit zu tun, dass niemand etwas anzubieten hatte oder hat, das lockend und lohnend genug wäre, um sich mit Feuereifer darauf zu stürzen. Doch nicht alle, die sich die Zeit vertreiben, würden sich mit etwas Sinnvollem wohler fühlen, auch wenn manche auf der Suche danach sind und dies und jenes ausprobieren. Viele wollen auch einfach nur Spaß. Was ist Spaß ? Vielleicht bedeutet Spaß : Viel Anregung und Aufregung bei wenig Aufwand. Junge (15) – Kumpels und Spaß Sechs Euro pro Stunde bringt die Arbeit in der Fabrik. Der Junge geht nicht nur in den Ferien hin, sondern manchmal auch nach der Schule. Er braucht das Geld für ein eigenes Fernsehgerät. Später einmal soll der Führerschein dabei herausspringen, bald danach ein eigenes Auto. Da wäre ein 3er BMW richtig, den kann man tiefer legen, das ist cool. Eine mächtig laute Musikanlage kommt hinein, dann macht es Spaß, damit herumzufahren. In seiner Freizeit trifft der Junge Kumpels, um gemeinsam mit ihnen CDs zu hören, Videos zu sehen oder zu Partys zu gehen. Dort trinken sie Bier, gelegentlich kommt er betrunken nach Hause, zum Kummer seiner Mutter. Aber was soll sie dagegen tun, verbieten kann sie es nicht. Mit dem Rauchen hat er vor zwei Jahren begonnen, weil die Kumpels das vorher taten, dann hat er immer mehr geraucht. Er merkt, dass er deswegen schneller schlapp macht, aber was soll’s, er treibt sowieso keinen Sport, nur in der Schule. Immerhin liest er ab und zu, Comics, keine Bücher. Mit einem Verein hat er es gar nicht erst versucht. Der Fünfzehnjährige fühlt sich wohl – noch wohler würde er sich fühlen, wenn es in seiner Gegend nicht so viele Türken und Russen gäbe. Mit den Türken kommt er zurecht, nur mit den Russen nicht, denn die zetteln Schlägereien an. Vor einiger Zeit, so berichtet der Junge, ist sein schon betrunkener Kumpel bei einer Party im Jugendheim mit einem deutschen Jugendlichen in Streit geraten. Der Fünfzehnjährige wollte ihn bremsen, aber da war es schon zu spät. Der Gegner hat dann russische Freunde als Verstärkung geholt. Es ist 181 Jugendliche Freizeit zu einer großen Schlägerei gekommen, an der etwa zwanzig Kämpfer beteiligt waren. Zweite Episode: In der Realschule haben drei Russen, die in der Pausenhalle an ihm vorbeikamen, auf ihn eingeschlagen und ihm das Nasenbein gebrochen. Das war dann krumm, aber nur wenig. Auto, Fernsehen, Bier, Comics, Randale. Schlapp macht der Junge auch gegenüber der Anforderung, sich etwas zu suchen, auf das man sich mit Ausdauer einlassen müsste, und das den „Kick“ nicht gleich nach wenigen Minuten liefert. Er braucht ein Vorbild, und vielleicht findet er es in einem Kumpel, die Frage ist aber, wohin ihn eine solche Leitfigur führen könnte. Wer mehr will als Spaß, muss Frust über lange Zeit aushalten können, und dazu muss er wissen, wofür. Vielleicht sollte man sich damit abfinden, dass sich nicht jeder Jugendliche Maximen wie „Rettet die Welt !“ oder „Jugend forscht für die Zukunft“ zu Eigen macht. Einige wollen nur Spaß haben. Mädchen (17) – Party, Party oder Schule ? In ihrer Stadt gibt es für die Siebzehnjährige und ihre Clique zu wenige Angebote – kein Kino, eine Discothek mit zweifelhaftem Ruf und nur Kneipen, die für ältere Leute eingerichtet sind. Was die jungen Leute brauchen, finden sie in Gütersloh und Bielefeld, doch wie kommt man hin ohne Auto ? Das Mädchen und seine Freunde und Freundinnen haben das schon ausprobiert, doch mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist es kompliziert. Ein Führerschein muss her ! Die Siebzehnjährige geht seit einigen Wochen zur Fahrschule. Der achtzehnte Geburtstag kommt bald und mit ihm dann die Mobilität. In einem Jugendheim arbeitet das Mädchen zur Zeit ehrenamtlich mit einer Kindergruppe. Die Schulaufgaben werden betreut und Freizeitangebote ausgearbeitet. Wenn Zeit übrig ist, spielt das Mädchen Tennis. Dies hat sie früher im Verein betrieben, jetzt möchte sie das nicht mehr, weil sie nicht nach einem festen Plan Sport treiben will, sondern wenn sie Lust hat. Die Siebzehnjährige hat zur Zeit keinen Freund. Sie hat zwei Bewerber in Aussicht, zwischen denen sie sich nicht entscheiden kann. Es kann geschehen, dass sich wegen ihres Zauderns beide von ihr abwenden. Sie hat jedoch zwei sehr gute Freundinnen, die ganz verschieden sind. 182 Jugendliche Freizeit Als sie vor einiger Zeit Liebeskummer hatte, hat die eine Freundin ihr ein Gefühl der Sicherheit gegeben. Das kam so : Das Mädchen war einmal mit einem festen Freund zusammen, der irgendwann begann, sich abzuwenden, aber nie einen klaren Schlussstrich zog, obwohl schon längst eine Rivalin im Spiel war, so dass sie immer noch hoffte, es könne alles wieder gut werden. In dieser langen Zeit allmählichen Verlustes konnte sie sich mit ihrem Kummer an die Freundin wenden. Diese half ihr, der Beziehung zu dem Jungen ein Ende zu setzen und den Kummer darüber zu ertragen. Im Gegensatz dazu ist die andere Freundin für das Mädchen eher eine Partnerin, mit der zusammen sie zu Partys geht. Daraus ist ein Konflikt zwischen häufigem Ausgehen und Schule entstanden. Man muss sich entscheiden, zu viele Partys lassen sich mit der Oberstufe des Gymnasiums eben nicht vereinbaren. Die Siebzehnjährige sieht heute klar, dass der Absturz ihrer Leistungen in der Schule wegen Faulheit eine Folge des häufigen Ausgehens war. Ein zweites Problem ist dabei der Alkohol. Die Freundin trinkt zu viel davon und wird unzugänglich, wenn man sie darauf anspricht. Nun ist die Siebzehnjährige der Schule zuliebe bereit, auf die eine oder andere Party zu verzichten, besonders wenn sie weiß, dass dort wieder einmal am Ende alle betrunken sein werden. Doch immer noch braucht sie die Partys sehr, der Konflikt ist nicht bereinigt, sondern schwelt weiter. Die Schule kann schon mit Angeboten, Zielen und Belohnungen locken, doch die Hürden sind alle ziemlich hoch, und im Grunde hätte man es gern ein wenig billiger. Die Schule bedient die Großhirnrinde, aber das limbische System, die emotionale Welt, wird von ihr allenfalls mit Dünnluft beatmet. Da nutzen die schönsten Werte des Abendlandes nichts, sie kommen nicht an gegen die Aussicht auf Spannung, Abwechslung, menschliche Nähe, vielleicht Liebe oder deren physische Vorstufen. Die Party hat schon etwas zu bieten, trotz Suff, Keilereien und Öde. Besser Liebeskummer als nichts, und dann noch eine Freundin, mit der man ihn genießen kann. Traurig sein, ein Drama erleben, Selbstzweifel und Auftrumpfen – das macht lebendig, sogar ohne Dope. Oder doch mit. Die zweite Freundin, in wunderbarer Arbeitsteilung mit der ersten, inszeniert den Konflikt zwischen Party und Schule, so dass das Mädchen ihn studieren und Distanz gewinnen kann. 183 Jugendliche Freizeit Mädchen (15) – Kaum Angebote Montag, Mittwoch und Freitag, nachmittags von vier bis sieben Uhr ist der Jugendtreff des Dorfes geöffnet. Da kann man Billard spielen oder einfach nur zusammensitzen. Viel zu selten gibt es eine Veranstaltung. Manchmal trifft sie sich im Dorf mit Freundinnen, ab und zu fahren sie dann alle mit dem Zug nach Lippstadt, Bielefeld, Dortmund oder Oberhausen, um in Läden und Kaufhäusern zu schauen, was es gibt, und vielleicht etwas einzukaufen. Geld dazu erhält sie von ihren Eltern. Hobbys sind für die Fünfzehnjährige nicht von Bedeutung, sie ist auch nicht mehr in einem Verein. Früher hat sie Tischtennis und Handball gespielt. Zum Handball ist der Vater mitgekommen, um seine Tochter tatkräftig zu unterstützen – vergeblich, denn in diesem Dorf war kein Weiterkommen möglich. Sie hat an einem Trainingslager in Gütersloh teilgenommen, doch es gab zu wenig Anreiz, um mit dem Handball weiterzumachen. Insgesamt hat das Dorf nur wenige Sportangebote, vom so genannten Breitensport einmal abgesehen, der ihr keinen Spaß macht. Also bleibt ihr nur das Joggen, ganz für sich allein. Sie schläft viel und gern, wie alle in der Familie dies tun. In der Schulzeit geht sie manchmal um neun Uhr ins Bett, in den Ferien jedoch später, weil sie dann am Abend Freundinnen zu Besuch hat oder mit ihnen telefoniert. Das kann lange dauern, und am nächsten Tag schläft sie bis zwölf oder gar zwei Uhr. In ihrer Schulklasse gibt es mehrere Gruppen, darunter die „Streber“ und die „Hänger“, keiner davon kann sie sich richtig zuordnen. Drogen gibt es an der Schule auch, und sie weiß, an wen sie sich wenden müsste, wenn sie welche kaufen wollte. Durch ihren letzten Freund, der selber gekifft hat, ist sie mit Drogen in Berührung gekommen. Sie hat es dann auch einmal mit Kiffen versucht, aber sie konnte nichts daran finden und hat es nicht wieder versucht, man kann auch so Spaß haben. Auch das Rauchen geht auf die Zeit mit ihrem Freund zurück, ein ganzes Jahr lang hat sie geraucht. Der Freund hat nach dem Kiffen oft schlechte Laune gehabt. Als er eine Lehre begann, sahen sie sich nur noch am Wochenende, dann trennten sie sich ganz. Mit der Beziehung endete für das Mädchen das Rauchen. Der Freund, so hat sie gehört, kifft jetzt noch mehr, das findet sie nicht in Ordnung. 184 Jugendliche Freizeit Da geht es um mehr als nur Spaß haben. Dieses Mädchen sucht etwas, das weiterführt und trägt, ihr fehlen Angebote. Das Dorf hat kaum welche, und Gütersloh ist weit. So bleibt nur das Joggen. Streber und Hänger – beide sind zu extrem für das Mädchen, und auch von ihrem Freund konnte sie sich trennen, als sie merkte, dass sein Weg mit ihr nicht weit führen würde. Doch nicht nur Angebote entscheiden darüber, ob man etwas Tragfähiges für das eigene Leben findet, sondern mehr noch gute Beziehungen, sei es zur Familie, sei es zu Freunden. Bezugspersonen der Gegenwart und auch der Vergangenheit sind es, die dem Erlebten Sinn und Bedeutung geben. Da brauchen die Vereine, Veranstaltungen und Gruppen gar nicht so toll zu sein – wenn man nur Menschen hat, mit denen man sich gut versteht. Mädchen (17) – Wenig los, trotzdem schön In ihrer Freizeit fährt die Siebzehnjährige gern Rad, und sie ist Mitglied in einem Radsportverein. Früher hat sie dort viel trainiert, jetzt lässt ihr die Schule kaum noch Zeit zum Training. Besonders gern fährt sie mit ihrem Vater zusammen Rad. Sie freut sich, dann ihren Vater allein für sich zu haben, zum Schluss gibt es auch mal ein Eis. Um sich eigenes Geld zu verdienen, gibt sie zweimal pro Woche Nachhilfeunterricht, Englisch für die sechste Klasse. Hier in ihrem Ort zu leben, findet sie schön, obwohl es kaum Freizeitangebote für Jugendliche gibt. Einmal im Jahr ist richtig etwas los – beim Schützenfest. Außerdem finden auf einigen Bauernhöfen Scheunenfeste statt. Jugendliche, die meist noch kein Auto besitzen, haben sonst keine Möglichkeit, einmal auszugehen. Mit ihrer besten Freundin hat sie Spaß, und mit ihr kann sie auch über Probleme reden. Noch besser eignet sich dazu eine ältere Cousine, die fast dreißig Jahre alt ist und viel Erfahrung hat. Sie lebt in einer fernen, großen Stadt, und die Besuche bei ihr sind deshalb sehr unterhaltsam. Die Freundin aber ist die wichtigste Person im Leben des Mädchens. Der folgende Fall steht im Gegensatz dazu. Eine allein erziehende Mutter nimmt einfach alles hin, was ihr vierzehnjähriger Sohn so treibt, als ginge es nur darum, dass es nicht gar zu schlimm kommt. Der Junge streunt herum und probiert mal dies, mal jenes. Vom Zufall hängt es ab, was daraus wird. 185 Jugendliche Freizeit Junge (14) – Mutters lange Leine Der Vierzehnjährige, dessen Eltern sich getrennt haben, lebt bei seiner Mutter. Jeden Tag, wenn die Schule aus ist, geht er zuerst nach Hause und dann ins Jugendzentrum. Da spielt er Billard mit seinen Freunden, beschäftigt sich mit dem Computer oder hängt rum. Am Wochenende, wenn das Jugendzentrum nicht geöffnet ist, sitzt er mit den Freunden vor der geschlossenen Tür, die Polizei kommt ab und zu vorbei und schaut nach, was die Clique so treibt. Seine Mutter weiß nicht genau, was ihr Sohn im Jugendzentrum macht, denn „Mütter haben da keinen Zutritt“. Sie vertraut auf die Vernunft des Jungen und auf das Personal im Jugendzentrum. Der Mutter ist es lieber, wenn ihr Sohn im Jugendzentrum ist, als wenn er sich an Orten herumtreibt, an denen niemand Kontrolle über ihn hat. Um 21 Uhr ist Schluss im Jugendzentrum, und erst dann macht der Junge sich auf den Weg nach Hause, zu spät zum Abendessen. Der Junge hört gern House und Hip–Hop, dabei dreht er den Verstärker manchmal so laut, dass die Nachbarn sich beschweren. In seinem Zimmer sieht er fern, beschäftigt sich mit dem Computer oder spielt mit der Play–Station, der Zeitaufwand hält sich in Grenzen. Freiwillig gelesen hat er noch nie. Gegen halb Elf sagt dann die Mutter ihrem Sohn „Gute Nacht“ und schaltet das Fernsehgerät aus, oft sieht er aber noch länger fern. Am Wochenende darf es später werden, bis Mitternacht bleibt der Vierzehnjährige außer Haus. Dann läuft er mit Freunden in der Stadt herum oder geht in die Disco. Sport, immerhin, treibt er auch, einmal in der Woche geht er zum Handballtraining und an manchen Wochenenden sogar zu Turnieren. Der Junge interessiert sich sehr für Computer, er weiß besser Bescheid darüber als sein Vater, Dazu braucht er das Internet, mehr als vierzig Stunden pro Monat ist er „drin“. Das ist teuer, besonders wenn man ein langsames Modem hat. Wenn der Junge bei seinem Vater ist, spielt er auf dessen Computer stundenlang Spiele im Internet, so dass dieser nur für ihn einen kostengünstigeren Vertrag abgeschlossen hat. Er bezahlt auch eine Call–Ya– Karte für das Handy seines Sohnes, doch der hat kein Interesse daran, viel zu telefonieren. Der Junge fährt gerne mit seiner Mutter in Urlaub, es macht ihm aber auch nichts aus, einmal ohne sie in Urlaub zu fahren. 186 Jugendliche Freizeit Nicht das alterstypische Durcheinander der Interessen ist das Problem, sondern der Mangel an Zielvorstellungen. Zielbindung versus Ziellosigkeit, das ist ein Kriterium, das Voraussagen darüber ermöglicht, wie rosig oder grau die Zukunft eines Menschen aussehen wird. Zielvorstellungen haben etwas mit den Gewichten und Bedeutungen von Inhalten des Handelns und Erlebens zu tun, und dahinter wieder stehen Menschen, die Vorbilder waren und Echo gegeben haben, verlässlich und über lange Zeit hinweg. Der Umgang mit den vielen Möglichkeiten, die man erproben und dann ausbauen oder aufgeben kann, ist im folgenden Fall eingebettet in ein Netz von sinngebenden Beziehungen, und darauf kommt es an. Mädchen (15) – Abwechslung aller Art Nachmittags muss die Fünfzehnjährige erst einmal viel lernen, danach spielt sie mit ihrem kleinen Bruder. Einmal pro Woche geht sie zum Training in den Turnverein ihrer Stadt, und sie spielt auch Handball. Reiten steht auf ihrer Wunschliste, aber dafür ist keine Zeit mehr übrig. Freitags abends trifft sie sich im Jugendkreis mit anderen Jugendlichen aus ihrer Schulklasse. Man redet miteinander, zur Zeit wird ein kleiner Film gedreht, irgendwelche Aktionen stehen fast immer auf dem Plan. Zwei Betreuer sind pro Gruppe tätig. In den Sommerferien war sie mit ihrer Gruppe im Ausland. Ihre Familie verfügt seit einigen Jahren über einen Wohnwagen, mehrmals im Jahr wird er für eine Reise innerhalb von Deutschland genutzt. Die ganze Familie ist im Sport aktiv, sie hat einen Kanadier und zwei Kajaks für Touren auf Flüssen in der näheren Umgebung. Ein Urlaub ohne Sport wäre für die Familie nicht denkbar. Bis vor einigen Wochen hatte das Mädchen einen festen Freund, aber der hat nach drei Monaten plötzlich Schluss gemacht. Dennoch war es eine schöne Zeit, eine gute Erfahrung mit schlechtem Ende. Freizeit ist Zeit zur freien Verfügung, man darf sie zu allem verwenden, sogar zum Trödeln und Schlafen oder zu einem endlosen Telefongespräch oder zu einem Einkaufsbummel. Man ist die Freizeit niemandem schuldig, nicht der Familie, die gern den Müll und die Geschirrspülmaschine versorgt sehen will und keinem Sportverband, der trainierte Leistungsträger braucht. 187 Jugendliche Freizeit Cliquen Eine Clique macht etwas gemeinsam, eine Clique vereinbart, was gut und richtig ist, eine Clique hält zusammen gegen Außenstehende und wenn es sein muss auch gegen die Polizei. Für manche Jugendliche liefert die Clique etwas, das sonst niemand liefern kann, nämlich ein Korsett fürs Leben, das stützt und orientiert. Es gibt Cliquen, die sind Gesetzgeber und können jemanden verurteilen, zum Beispiel wenn sein „outfit“ nicht stimmt, sie strafen mit Ablehnung oder drohen damit. Ansehen spielt eine Rolle in einer Clique, wer gut zum kollektiven Idealbild passt, auf das sich die Clique – ob ausgesprochen oder nicht – verständigt hat, steht groß da, die anderen müssen ihm nacheifern. Wer der Macher (der Macker) ist und etwas „besorgen“ kann, der gilt etwas. Was „geht“ und was nicht, bestimmt die Clique. Warum sollte sich jemand freiwillig in einer Clique ein- und unterordnen ? Weil sie Halt gibt und dazu die Gewissheit, dass man auf dem richtigen Weg ist ! Die Angebote der Älteren und ihrer heiligen Wertewelt müssen erst einmal etwas dagegensetzen können, viele Familien können das nicht, viele Schulen auch nicht, sie bieten keinen Halt. Und oft zimmern sie einen Rahmen, der offensichtlich eher zu ihren eigenen Bedürfnissen passt als zu denen der Jugendlichen. Da ist die Clique glaubhafter – erst einmal. Halt und Abgrenzung also – viele Jugendliche sind in einer Clique, doch kaum eine Clique ähnelt der anderen. Es ist ein buntes Bild. Vom lockeren Freundeskreis, dem ein Jugendlicher vertraut und in dem er sich wohlfühlt, bis zur paranoiden Schlägertruppe reicht das Spektrum. Beginnen wir mit einer sanften Spielart des Phänomens Clique, einem Freundeskreis. Junge (17) – Junge mit Freundeskreis Der Siebzehnjährige gehört zu einem Freundeskreis von fünfzehn bis zwanzig Jungen, die sich seit der Grundschulzeit kennen und nun auf verschiedene Schulen verstreut sind. Sie verbringen den größten Teil ihrer Freizeit zusammen. Sie gehen am Wochenende aus oder spielen Volleyball oder sitzen zusammen und reden. Manchmal bauen sie auch etwas gemeinsam, zur Zeit zum Beispiel eine Terrasse für den Jungen. 188 Jugendliche Freizeit Der Siebzehnjährige bezeichnet nur vier Jungen aus diesem Kreis als wirklich enge Freunde, mit denen er auch Probleme bespricht, noch lieber als mit seinen Eltern, weil Eltern in manchen Dingen doch eine andere Einstellung haben als junge Leute. Diese Freunde haben ihm zugehört und ihn beraten, nachdem seine Eltern eines Nachts einen sehr schlimmen Streit hatten, bei dem auch das Wort „Scheidung“ fiel. Der Gedanke, dass seine Eltern nicht mehr zusammen leben könnten und sich scheiden lassen, kam dem Jungen geradezu unvorstellbar vor. Der Streit machte ihm große Angst, zugleich war er so wütend auf seine Eltern, dass er einige Tage nicht mehr mit ihnen sprechen wollte. Seine Freunde beruhigten ihn damit, dass sie ähnliche Szenen von ihren eigenen Eltern berichteten, die auch nicht zum Bruch führten. Seine Eltern haben ihm dann schon am nächsten Tag zugesichert, sie wollten zusammen bleiben. Der Junge sagt, dieser Streit seiner Eltern sei das schlimmste Erlebnis gewesen, das er je hatte. Obwohl er nicht viel mit seinen Eltern und seiner übrigen Familie unternimmt, meint er, er brauche doch schließlich alle, seine Eltern, seinen Bruder, seinen Hund, der immer bei ihm ist, und seine Freunde. Eigentlich ist er mit seinem Leben zufrieden, nur eine Freundin hätte er gern. Wenn er aber bei anderen Jungen sieht, wie schmerzhaft Liebe sein kann, zögert er. Noch keiner aus der Clique hat eine Freundin länger als drei Wochen behalten. Die Mädchen wollten den Freund nicht mit der Clique teilen. Es ist deutlich, dass der Junge durchaus in seiner Familie Halt sucht, aber die hat ihn verunsichert, und der Freundeskreis fängt ihn auf. Eine wirklich gute Sache ist das, leider gelingt sie nicht allen Jugendlichen. Der folgende Fall handelt von einer Clique, die nach außen „dicht“ ist. Junge (17) – Die Clique bestimmt Bis vor zwei Jahren war der Junge Vereinssportler – Inline Skating hat er betrieben und früher Fußball. Heute ist nur noch Schulsport und Krafttraining übrig. Warum ? Er ist jetzt einfach zu faul, regelmäßig zum Vereinstraining zu gehen. Und außerdem sind die Kumpels auch nicht mehr im Verein. Einige Pflichten im Haushalt haben die Eltern 189 Jugendliche Freizeit ihm auferlegt – die Spülmaschine ausräumen, den Müll sortieren und den Rasen mähen, manchmal auch die Wohnung aufräumen. Das ist nicht zu viel, das macht er gern. An jedem Wochenende erhält er von den Eltern 15 Euro Taschengeld. In den Ferien jobbt er, zum Beispiel sucht er jetzt gerade einen Job an einer Tankstelle. Er ist dabei, seinen Führerschein zu machen, und wenn er das geschafft hat, möchte er gern ein Auto kaufen. Der Junge sucht sich selber seine Kleidung aus, mit Kumpels fährt er dazu nach Bielefeld, und manchmal bestellt er auch Ware bei einem Versandhaus. Markenkleidung braucht er nicht, es genügt, wenn die Kleidung gut aussieht. In seiner Freizeit und auch am Wochenende trifft sich der Siebzehnjährige mit seinen Kumpels. Sie gehen zusammen zu Feuerwehrfesten, zu Schützenfesten oder auch in eine Bielefelder Diskothek. Da auf Festen der Alkohol zu teuer ist, versorgt sich die Clique vorher im Supermarkt. Zur Zeit ist Wodka mit Orangensaft am beliebtesten, der wird getrunken bis zum Abwinken. Rauchen lehnt der Junge ab, Drogen hat er schon probiert, gelegentlich wird gekifft, das ist schon alles. Zur Zeit hat er keine feste Freundin, aber bis vor wenigen Wochen hat er noch eine gehabt. Ob Frauen im Spiel sind oder nicht, ist Cliquenabsprache. Noch vor vier Monaten hatte jeder der Kumpels eine Freundin, jetzt sind sie alle frauenlos. Mädchen und Sex ? Oder gar Liebesabenteuer ? Bei den Kumpels ist man da sicherer. Aber Drogen, Alkohol ... ? Da beginnt es gefährlich zu werden. Wie wichtig es sein kann, sich selber so auszustatten und nach außen darzustellen, dass man wiedererkannt, dass man überhaupt erkannt wird, zeigt das folgende Beispiel einer Lady in Black. Mädchen (15) – Grufties statt Eastpaks Auf die Schule hat die Fünfzehnjährige, nach einer Ehrenrunde, keine Lust mehr. Sie hat keine guten Beziehungen zu anderen Jugendlichen und gehört zu keiner ihrer Cliquen, denn sie ist anders als die Anderen. Die Vorlieben Gleichaltriger lassen das Mädchen kalt. Sie zählt sich zu den „Grufties“ und kommt schwarz gekleidet daher. Sie hört Musik der Band „Deine Lakaien“, und lehnt Statussymbole ab, wie Eastpak- 190 Jugendliche Freizeit Rucksäcke oder teure Markenkleidung. Sie genießt es, wenn Menschen auf ihr Erscheinungsbild aufmerksam werden, sogar dann, wenn diese Menschen befremdet wirken oder unfreundlich blicken. Das Mädchen hat eine Freundin mit ähnlichen Vorlieben und ähnlichem Stil, die aber einen sehr guten Stand in einer Clique in Gütersloh hat und dort sogar als Vorbild gilt. Das Mädchen selber findet jedoch keinen Anschluss an diese Clique und kann sich darum nur hintrauen, wenn die Freundin mitkommt. Sehr gern möchte die Fünfzehnjährige für ihre Freundin die beste Freundin sein, doch sie hat in der Clique zu viel Konkurrenz. u Vielleicht gelingt ja ihr beides – eine beste Freundin zu gewinnen und außerdem eine Clique, die zu ihr passt. All das sind Stationen auf der langen Suche nach sich selber. Fast jede Clique schließt sich mehr oder weniger ab. Dies ruft oft Ärger bei Außenstehenden hervor, der zu Streit und Schlägereien und – wenn es weit geht – sogar zu Polizeieinsätzen führen kann. Cliquen an der Grenze zur Delinquenz haben eine aufgeheizte Binnenstruktur, in der Rachegefühle und Ressentiments mitspielen, jedenfalls aber eine dauernde Gereiztheit. Junge (16) – Immer wieder Streit Vor zwei Wochen hat der Fußballverein den Jungen hinausgeworfen. Der Sechzehnjährige hat seinen Trainer angespuckt. Das war nicht richtig, doch mit Worten konnte er ihn nicht erreichen, als er ihm klar machen wollte, wie ungerecht er sich von ihm behandelt fühlte. Es ist schade, denn er hat dem Verein seit seiner Grundschulzeit angehört und in einer Mannschaft gespielt, im Mittelfeld und in der Abwehr. Traurig war er zuerst, dann verbittert, als er vom Ausschluss erfuhr. Inzwischen hat er sich einen neuen Verein gesucht, bei dem er ab jetzt trainieren und spielen will – Fußballspielen gehört zu seinem Leben. Neben seiner Familie ist seine Clique für ihn sehr wichtig, auch wenn er durch sie schon oft in Schlägereien geraten ist. Er und seine Freunde stehen in dem Ruf, Schläger zu sein. Dabei schlägt er nur zu, wenn es keinen anderen Ausweg gibt, zum Beispiel bei einer Beleidigung gegen ihn selber, seine Familie oder einen Freund. Das Wort „Hurensohn” 191 Jugendliche Freizeit ist die schlimmste Beleidigung. Dann bleibt ihm, wie jedem richtigen Mann, nur die Möglichkeit, seine Ehre durch Schlagen zu verteidigen. Mit seiner Clique geht er oft dorthin, wo man Billard spielen kann. Zwar ist dies auch in einigen Jugendzentren möglich, doch dazu fühlen die Jungen seiner Clique sich zu alt. Ein Jahr lang war der Junge mit einem Mädchen täglich zusammen. Als die zermürbenden Streitereien immer schlimmer wurden, machten sie Schluss. Doch die Freundin fehlte ihm. Nun haben sie neu angefangen. Sie wollen sich aber nicht mehr täglich sehen und hoffen, dass es auf diese Weise besser klappt als beim ersten Mal. Die Eltern des Sechzehnjährigen dürfen nichts von diesem Neuanfang wissen, denn das Mädchen gehört nicht ihrer Religionsgemeinschaft an. Bei den Eltern des Mädchens ist der Junge jedenfalls willkommen, und so belastet ihn das Hindernis, dass er nicht Entsprechendes von den eigenen Eltern sagen kann. Die Geschwister, zu denen er kein gutes Verhältnis hat, wissen Bescheid, haben aber noch nichts verraten. Die jüngere Schwester, Liebling der Eltern, hat ihn mit seiner Freundin gesehen, es aber zum Glück für sich behalten. Der Raum sozialen Handelns engt sich in solchen Cliquen auf das schmale Feld ein, in dem die Maxime gilt „Wehr’ Dich, die Welt ist feindlich !“, und in der Clique passt man aufeinander auf, dass jeder stets kampfbereit ist. Unbekannt, aber doch einer Nachfrage wert ist es, inwieweit die Erlebnisse in der Familie zu der stets empörten, aufgebrachten Reaktionsbereitschaft beigetragen haben – trotz oder auch wegen der religiösen Untermauerung. Vielleicht gelingt es ja der Freundin, die Welt anders aussehen zu lassen. Manche Cliquen wirken destruktiv insofern, als sie zwar Anlehnung und Halt bieten, aber um den Preis betonter Abkapselung von der Außenwelt. Wenn Alkohol im Spiel ist und sogar zum Träger des Gemeinschaftsgefühls wird, sind besonders die verunsicherten, problembeladenen Jugendlichen, die am Rande der Depression leben, in Gefahr, wie in folgendem Beispiel : Mädchen (17) – Party im Freien Wenn sie Freizeit hat, hält sich die Siebzehnjährige oft mit ihrer Clique im Jugendzentrum auf. Alkohol ist im Jugendzentrum verboten, doch meistens setzt sich die Clique hinterher auf irgendeinen Spielplatz, um 192 Jugendliche Freizeit dort Alkohol zu trinken. Sie nennt das Party machen, weil in dem Ort, in dem sie wohnen, ohnehin nie etwas los ist. Bei den Anwohnern sind die Partys Anlass zum Zorn, sie haben auch schon die Polizei gerufen. Zum Glück ist das Mädchen nie von der Polizei nach Hause gebracht worden, denn wenn die Eltern das gesehen hätten, wäre der Ärger schlimm gewesen. Die Eltern wissen, dass ihre Tochter hin und wieder Alkohol trinkt, denn sie merken ja, wenn sie angetrunken nach Hause zurückkommt. Wenn sich dies aber auf die Wochenenden beschränkt, nehmen die Eltern es hin. Weil die Siebzehnjährige zur Hauptschule geht, mit Russen befreundet ist, sich viel im Jugendzentrum aufhält und draußen Party macht, zählt sie nach ihrer eigenen Einschätzung nicht zu den guten Bürgern der Stadt. Ihr ist das gleichgültig. Sie mag ihre Freunde und will auch an ihrer Lebensführung nichts ändern. Viele Vorurteile über die Russen stimmen nicht, so sagt sie. Ihr letzter Freund war ein Russe, und in den war sie sehr verliebt. Die Trennung liegt etwa zwei Monate zurück. Sie hat noch Hoffnung, dass aus ihnen vielleicht wieder ein Paar werden könnte. Mit zwei Mädchen aus ihrer Clique ist sie etwas besser befreundet als mit den anderen, doch diese sind untereinander eng befreundet, so ist sie immer etwas außerhalb. Zu dritt geht das nicht so gut. Sie fühlt sich manchmal einsam, und das war besonders schlimm, als ihr Freund mit ihr Schluss gemacht hatte. Das Gefühl, ausgegrenzt und einsam zu sein, belastet offenbar das Leben dieser jungen Frau. Was sie hier – an der Grenze zur Selbstschädigung – tut, ist nur auf den ersten Blick Leichtsinn, Protest und jugendtypischer Übermut. Es ist viel eher die Hoffnung, irgendwo, und sei es am vermeintlichen Rand der Gesellschaft, jemanden zu finden, der sie wahrnimmt, stützt und aufbaut. Sie will dies auch von ihrem Freund, doch sie setzt sich der Gefahr aus, dass dieser sich damit überfordert fühlt und sie deshalb fallen lässt und aufs Neue einem Gefühl der Leere und der Wertlosigkeit aussetzt. Der Freund, der dann noch bleibt, der Alkohol, ist ein Erlkönig, der sie umbringen will. So wichtig hier eine rechtzeitige Intervention wäre – ein aktionistischer Profi würde mehr Schaden als Nutzen stiften. Was sie braucht, ist Zuwendung mit Verständnis und viel Geduld. Wer immer dieser jungen Frau das bieten kann, schützt sie vor dem sonst absehbaren Weg in die Rolle der ewigen Verliererin. 193 Jugendliche Freizeit Freizeit mit Struktur Hier ein Sportverein, da ein Musikinstrument, als Krönung ein soziales Engagement – so sieht man die Jugendlichen gern. Viele von ihnen, aber sicher nicht alle, entsprechen diesem Bild. Man ist immer wieder erstaunt, wie nahe viele Jungen und Mädchen in ihrer Freizeit an die Grenze dessen gehen, was sie bewältigen können. Was motiviert sie ? Die Überzeugung, dass der eigene Einsatz etwas Gutes bewirkt, ist nicht von heute auf morgen entstanden, sondern früh im Leben dank zugewandter Bezugspersonen, die durch Vorbild und Ermutigung glaubhaft machten : „Es lohnt sich !“ Mädchen (16) – Jede Menge Unternehmungsgeist Musikalisch hat die Sechzehnjährige schon vieles ausprobiert, sie hat Blockflöte gespielt, Altflöte, Klarinette und Gitarre. Auch im Sport ist sie aktiv, sie spielt Fußball in einer Arbeitsgemeinschaft, an der Jungen und Mädchen teilnehmen, außerdem Handball und sogar Eishockey, sie geht zum Ballett und zum Kunstturnen. Einmal pro Woche hat sie eine Theaterprobe, die drei bis vier Stunden dauert, danach ist sie oft fix und fertig. Dann gibt es zu Hause Zoff, weil sie ihre Schulaufgaben machen und obendrein ihrer Mutter bei deren Hausarbeit helfen soll. Die Sechzehnjährige bekommt pro Monat fünfzig Euro Taschengeld von der Mutter, davon muss sie alle persönlichen Ausgaben bestreiten, Kleidung, Kino, Schulmaterial, Call–Ya–Karte, Klarinettenblätter und mehr. Das ist knapp, es reicht so gerade. Für größere Anschaffungen wie Schuhe oder Kleidung erhält sie zusätzliches Geld. Sie würde gern nebenher jobben, aber ihre Zeit reicht dazu nicht, und das Angebot an Jobs für Schülerinnen ist nicht groß. Bei Bekannten hat sie schon gekellnert und sich vom Trinkgeld etwas für knappe Zeiten gespart. Bis vor einem Monat hatte sie einen Freund, drei Monate lang, dann hat er Schluss gemacht. Das hat er ihr über Handy mitgeteilt, mit einer Kurznachricht. Nicht nett – sie hat sich damit abgefunden. Im letzten Jahr war sie mit einer Jugendgruppe im Ausland, der Vater hatte ihr Geld für diese Ferienfreizeit gegeben. Das war ihr schönster Urlaub, sie schwärmt noch heute davon – von den Freunden und dem Land. 194 Jugendliche Freizeit Der nächste Fall zeigt ganz ähnlich, wie ein Junge seine Begabung nutzt. Auch er hat, wie das Mädchen, viele Interessen, anders als sie aber hat er eine davon ganz in den Mittelpunkt gestellt und tut alles dafür, darin Erfolg zu haben. Bemerkenswert ist hier, wie das einigende Band der Kompetenz im Sport die Verschiedenheiten ethnischer Herkunft mühelos überbrückt. Junge (17) – Lebensinhalt Breakdance Seit zwei Jahren ist ein alter Pavillon der Berufsschule Trainingsort für die Breakdance-Gruppe, zu der dieser Siebzehnjährige gehört. Es sind drei bis sieben Jungen und zwei bis drei Mädchen darin – deutsche, russische und türkische Jugendliche im Alter von vierzehn bis siebzehn Jahren aus verschiedenen Schulen. An jedem Tag, außer am Wochenende, beginnt das Training am frühen Nachmittag, es dauert drei bis vier Stunden. Ein Neunzehnjähriger leitet die Gruppe an, an manchen Tagen hat er aber keine Zeit, und dann trainiert die Gruppe ohne ihn. Der Siebzehnjährige ist spezialisiert auf Elektrobuggy – eine Variante des Breakdance, die durch ruckartige Bewegungen gekennzeichnet ist. Er trainiert zusätzlich zu den vereinbarten Trainingszeiten zu Hause vor dem Spiegel nach Musik und Filmen, die er aus dem Internet hat. Zweimal schon hat die Gruppe an einem Wettbewerb teilgenommen, eine dritte Bewährungsprobe steht bevor. Pro Jahr haben die Gruppen drei- bis fünfmal Gelegenheit, sich auf Wettbewerben mit den anderen Gruppen zu messen, außerdem zeigen die Jugendlichen ihr Können bei Schulveranstaltungen, Hochzeiten, Stadtfesten und dergleichen. Der Breakdance dominiert die Freizeit des Siebzehnjährigen, und so bleibt nur wenig Zeit für andere Hobbys. Eines davon ist der Umgang mit Computern. Der Junge hat sich das Programmieren erarbeitet, und außerdem mag er die Play-Station und das Fernsehen. Sport ist für ihn auf vielfältige Weise interessant, und bei Gelegenheit treibt er außer dem Breakdance auch Schwimmen, Basketball, Kickboard-Fahren und Inline Skating. Obwohl der Junge und seine ältere Schwester schon fast selbstständig sind, unternimmt die harmonisch eingestimmte Familie noch gemeinsam Besuche des Safariparks, Kinobesuche und Einkaufsfahrten, und jedes Jahr gibt es eine gemeinsame Urlaubsreise. 195 Jugendliche Freizeit Während der Zeit vor dem Berufseinstieg, parallel zur Schule, sind viele Kinder und Jugendliche auf der Suche nach etwas, das ihrer Begabung entspricht, ihre Aufmerksamkeit bindet und ihre Motivation anregt. Unter vielen erprobten Angeboten schält sich vielleicht eines als tragfähig heraus. Mädchen (15) – Von allem etwas Vor einiger Zeit wurden zwei Pferde angeschafft. Die Fünfzehnjährige versorgt sie morgens mit Heu und Wasser, bringt sie nachmittags auf die Weide, holt sie abends zurück und versorgt sie dann noch einmal. Manchmal hilft die Mutter dabei, manchmal auch deren Lebenspartner. Das Mädchen übernimmt auch sonst kleine Pflichten – Spülmaschine ausräumen, Küche aufräumen, auf die kleinen Geschwister aufpassen. Früher hat sie viel geritten, eine Freundin der Mutter hat es ihr gezeigt. In letzter Zeit ist ihr die Lust dazu allmählich abhanden gekommen. In ihrer Freizeit trifft sie sich mit Freunden, meistens in einer Halle, die für die Jugendlichen offen ist, oder vor der Grundschule, oder sie besucht Freundinnen. Sie liest ungern. Ab und zu unternimmt sie noch etwas mit der Mutter und den kleinen Geschwistern, deren Wünsche im Vordergrund stehen – zum Beispiel Besuche im Zoo oder im Kino. Die Kleinen wollen Harry Potter sehen. Das interessiert die Fünfzehnjährige nicht sehr. Sie hat angefangen, das Buch zu lesen, konnte aber das Interesse daran nicht aufrecht erhalten. Wichtiger für sie ist Sport. Sie spielt seit drei bis vier Jahren Handball in der Kreisklasse. Ziemlich schüchtern berichtet sie, dass sie das gut kann. Sie spielt im Kreis und in letzter Zeit auch als Torfrau. Beim Training gibt sie ihr Bestes, und sie hofft, dass ihre Mannschaft bald in der Regionalklasse spielen kann. Am Wochenende, vor wichtigen Spielen, ist sie aufgeregt und möchte auf jeden Fall gewinnen. Ab und zu geht sie zu Partys bei Freunden oder zu organisierten Veranstaltungen dieser Art. Dort wird Alkohol getrunken. Sie selber trinkt Mixgetränke, Cola oder Bier. Vor einigen Monaten hat sie mit Rauchen begonnen, doch wieder damit aufgehört, erstens weil es zu teuer ist und zweitens, weil sie keine Lust darauf hat. Auch wenn in der Clique geraucht wird, kommt sie nicht in Versuchung. 196 Jugendliche Freizeit Noch wagt dieses Mädchen nicht, alles auf eine Karte zu setzen und einer einzigen Freizeitaktivität den Vorrang vor allen anderen einzuräumen, aber sie ist kurz davor, sich einzugestehen, dass Handball ihr wahrer Sport ist. Der Vierzehnjährige im folgenden Beispiel verteilt seine Bindungen und Hoffnungen gleich auf zwei Vereine, einen Sportverein und einen Freizeitverein. Der Schritt vom einfachen Mitglied zum Betreuer anlässlich einer Reise ins Ausland ist verbunden mit einem allmählichen Hineinwachsen in die Verantwortung für Andere, in diesem Fall Jüngere. Junge (14) – Verein, Verein Der Vierzehnjährige spielt Handball im Verein, und seine Mannschaft hat eine große Bedeutung für ihn. Er fühlt sich wohl darin, und seine Hoffnung ist, er könne dazu beitragen, dass sie aufsteigt. Nach jedem Spiel gehen die Spieler zusammen in ein Lokal, und sie halten auch außerhalb ihres Sports Verbindung miteinander, das gefällt ihm sehr. In diesem Jahr durfte der Junge zum ersten Mal an der Mannschaftsfahrt teilnehmen. Bedeutsam ist außerdem ein anderer Verein für ihn : der Christliche Verein Junger Männer (CVJM). Seit seiner Grundschulzeit gehört er dazu, seitdem fährt er regelmäßig mit zu Ferienfreizeiten. Bisher war er dabei nur Teilnehmer, erstmalig in diesem Sommer aber fährt er als ehrenamtlicher Betreuer mit. Es gibt noch eine zweite Fahrt mit dem CVJM, eine Reise nach Schweden. Als Vierzehnjähriger darf er mit ins Ausland. Sein bester Freund kommt mit. Auch der jüngere Bruder ist im CVJM, er nimmt an Ferienfreizeiten für die Jüngeren teil. Sportvereine sind für einige Kinder und Jugendliche etwas „Amtliches“. Darum trauen sich manche nicht hin, besonders wenn sie die deutsche Sprache nicht gut beherrschen. Sie organisieren sich lieber selber. Mädchen (14) – Sport im fremden Deutschland Die Vierzehnjährige kommt aus Russland, und ihr bisher erworbenes Deutsch reicht nicht aus, um sich überall zu verständigen. Sie und ihr Bruder haben in Russland Sport getrieben, sie war Mitglied in einem 197 Jugendliche Freizeit Volleyballverein und hat in einer Mannschaft gespielt. Nun wäre es sinnvoll, in einem deutschen Volleyballverein weiterzumachen, aber sie traut sich einfach nicht hin, weil sie meint, sie könne dann nicht sagen, was sie will und nichts verstehen. Sie hilft sich anders. Aus der Schule kennt sie einige Mädchen, mit ihnen und ihrem Bruder verbringt sie die Freizeit. Sie haben einen öffentlichen Bolzplatz auf dem Gelände des städtischen Gymnasiums gefunden, auf ihm üben sie nun. An fast allen Abenden der Woche spielen sie dort Volleyball und Tischtennis. Ein Weg, die eigene Freizeit zu strukturieren, ist es, Verantwortung für Andere zu übernehmen. Einige Jugendliche sind selber in der Jugendarbeit tätig. Sie betreuen Kinder und haben vielleicht durch ihr eigenes Alter einen besseren Zugang zu deren Problemen. Zwei eindrucksvolle Beispiele dazu beschließen unsere Ausführungen zur Freizeitgestaltung der Jugendlichen. Junge (17) – Ausgelastet Der Tag beginnt für den Siebzehnjährigen um fünf Uhr, um sechs Uhr fährt der Zug zu seiner Arbeitsstätte, eine halbe Stunde später beginnt der Arbeitstag. Fünfzehn Minuten Frühstückspause, eine Dreiviertelstunde Mittagspause, Feierabend gegen achtzehn Uhr, der Zug fährt eine halbe Stunde später – so sieht sein anstrengender Arbeitstag aus. Danach geht er sofort ins Jugendzentrum, viermal in der Woche, dort leitet er eine Kindergruppe; außerdem ist er Discjockey, und er betreut die mobile Disco. An den übrigen Tagen trifft er sich mit der Clique seiner Freunde, manchmal am Wochenende fahren sie zum Tanzen. Die Jugendarbeit lässt dem Jungen keinerlei Zeit für Sport, auch nicht für Taek Won Do, den Kampfsport, den er betrieben hat, bis sich vor anderthalb Jahren die Gruppe auflöste, weil es mit dem Trainer nicht mehr klappte. Der Siebzehnjährige leidet an Bronchialasthma und ist allergisch gegen Gräserpollen und Katzenhaare. Den Notfallspray gegen Asthmaanfälle hat er immer bei sich. Der Junge hatte schon mehrere Freundinnen, zur Zeit ist er allein. Er möchte später einmal mit Freunden in eine Wohngemeinschaft ziehen, möglichst nicht weit von seinem Elternhaus, jetzt aber reicht das Geld dazu noch nicht. 198 Jugendliche Freizeit Junge (17) – Kümmerer, ein anstrengendes Hobby Der Siebzehnjährige setzt sich ein, er kümmert sich um Politik und um Kinder. Seine Familie hat ihm das vorgemacht. Alle sind sie in ihrem Kulturverein aktiv, gehen zu dessen Veranstaltungen und treffen sich dort mit Freunden und Bekannten. Einiges davon findet der Junge weniger spannend, aber die Konzerte gefallen ihm, oft treten dort prominente Sänger auf. Interessanter ist da schon sein Engagement im Jugendparlament der Stadt Gütersloh, das noch nicht lange besteht. Drei Schüler seiner Schule wurden von den anderen hineingewählt. Nun hat er Interesse an Lokalpolitik gewonnen und neue Menschen kennengelernt. Er ist aktives Mitglied in einem Gütersloher Fußballverein. Bis vor einem Jahr hat er selber in einer Jugendmannschaft gespielt, und jetzt betreut er das Training einer Kindermannschaft. Die Arbeit mit Kindern betrachtet er als Hobby, und er kann sich gut vorstellen, dass daraus ein Beruf wird. Dabei ist es nicht immer leicht, Kinder zu betreuen. Er tut dies ehrenamtlich bei Ferienfreizeiten, die von Jugendorganisationen veranstaltet werden. Dabei hat er sich auch schon Ärger eingehandelt : Die Betreuer, zu denen er gehörte, konnten sich nicht durchsetzen, sie wurden von älteren Kindern beschimpft und sogar bespuckt und geschlagen. Der Junge ist zufrieden mit sich, dass er sich beherrschen und die Ruhe bewahren konnte. Er hat nicht zurückgeschlagen. Am Ende der Freizeit waren die Betreuer nervlich am Ende ihrer Kraft. Der Junge hat über diese Erfahrung nachgedacht. Wenn man Pech hat, treffen sich in einer Ferienfreizeit viele Rabauken, gegen die man machtlos ist, weil man weder Befugnisse und Mittel noch Unterstützung hat, um ihnen entgegenzutreten. Er vermutet, dass unter den Rabauken etliche Kinder sind, die zu Hause streng, aber ohne Zuwendung und Verständnis behandelt wurden. Sind die Eltern außer Sicht, meinen sie sich an keine Regeln mehr halten zu müssen. Sie nutzen dann ihren vermeintlichen Freiraum, um sich auszutoben Wahrscheinlich war dieses Erlebnis eine Ausnahme, und nach wie vor hat der Junge Freude daran, Betreuer zu sein. Die Furcht jedoch bleibt, ein solches Erlebnis der eigenen Ohnmacht könnte sich wiederholen, zumal seine Rolle als Betreuer ihm wichtiger ist als es eine Clique wäre. 199 Jugendliche Fazit Fazit Jugendliche befinden sich oft in einer Übergangszeit, in der sie sich auf die Verantwortung für ihr eigenes künftiges Leben in Partnerschaft und Beruf einstellen müssen. Trotzdem bleiben sie noch sehr auf den Rückhalt in ihrer Herkunftsfamilie angewiesen. Wenn Jugendliche gleich beim Einstieg von der Berufswelt abprallen, entscheidet dieser Frust nachhaltig sehr viel. Eine bedeutsame Rolle im psychischen Haushalt der Jugendlichen spielen Cliquen. Diese übernehmen einige orientierende Funktionen, die bisher von den Eltern besetzt waren. Der Cliquen–Einfluss kann gut oder schlecht sein. Folgende Desiderata erscheinen als vorrangig in der gegenwärtigen Lage : Zielgruppenspezifische Elternschulangebote für Eltern von Jugendlichen einrichten, um Eltern zu befähigen, sich bei Ablösungsproblemen und bei der Interessen- und Berufsfindung der Jugendlichen richtig zu verhalten. Frühe Selbsterprobungs- und Identifizierungsangebote für Jugendliche im Vorfeld der Berufswahl schaffen, die in Zusammenarbeit mit Betrieben die Berufswelt anschaulich zum informellen Kennenlernen bereitstellen. Jugendliche anleiten, einbinden und stärken, die sich zu einem ehrenamtlichen Engagement für Kinder oder andere Jugendliche bereit erklären. Anlaufstellen und Auffangeinrichtungen für demotivierte, depressive oder schulmüde Jugendliche bereithalten, deren persönliche Entwicklung und Ausbildung in Stillstand verharren, ohne dass eine Änderung in Sicht wäre Aufsuchende cliquenorientierte Sozialarbeit für solche Cliquen verstärken, die in einem destruktiven oder delinquenten Gruppenkonsens verharren. Herkunftsnahe Mittler als Brückenbauer zwischen Cliquen jugendlicher Migranten und einheimischen Sozialarbeitern und Institutionen einsetzen. Die innere Ordnung und die inneren inhaltlichen Reformen der Schulen durch Schulberatung stärken, in der es um die Nutzung von Projekten und Ansätzen zur Verbesserung des Schulklimas und des Unterrichts geht. Anlaufstellen zur Verfügung halten, um Jugendliche aufzufangen, deren emotionaler oder realer Rückhalt in der Familie zusammengebrochen ist. 200
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