dynamo Die Zeitung zur Ausstellung ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50er & 60er Jahre 21. 3. – 8. 6. 2015 Martin-Gropius-Bau, Berlin Die Leere mit Bedacht gefüllt Fabian Knecht: Endung, 2014 März 2015 0000000000000000-000 D 0,00 € A 0,00 € B 0,00 € F 0,00 € I 0,00 € NL 0,00 € CH0,00 sFr Foto: Mattijs Visser Daniel Birnbaum im Gepräch mit Mattijs Visser Seite 3 Foto: Daniel Roth © ZERO foundation – Daniel Roth Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist Seite 6 – 8 ZERO ist tot Wir leben in einer Epoche, die von multiplen, simultanen und globalen Verbindungen geprägt ist. Strukturen verlieren sich in Strukturen und wir uns in ihnen. Die klar komponierten Kunst werke von ZERO lassen uns zur Ruhe kommen und wieder tief atmen. ZERO ist ins Gelingen verliebt, und neben der Fähigkeit zur Konzen tration braucht unsere Zeit einen ungebrochen optimistischen Geist. Unsere Gegenwart ist in eine besondere Konstellation mit der Epoche ZERO getreten. Jetzt können wir ZERO wieder entdecken oder – um ein sinnlicheres Bild zu bemühen – jetzt können wir ZERO aufs Neue sehen, schmecken, lieben. Dies ist möglich, weil wir die Vergangenheit durch die Künste unserer Gegenwart neu betrachten. „Ein Kunst werk – sei es ein Gedicht, ein Gemälde oder eine musikalische Komposition – entwickelt sich immer weiter, weil es ständig neu gesehen, ge hört und gelesen wird. Es wird neu interpretiert, fehlinterpretiert und wird so rückwirkend immer wieder neu geboren.“ (Daniel Birnbaum: ZERO aus heutiger Sicht, 2009) ZERO war ein Netzwerk, das auf intensiven Kon takten internationaler Künstler basierte. Durch die gemeinsamen Projekte entstand eine Kunstbewegung, deren Ideen, Energien und Manifestationen bis heute wirken. Der kreative Wandel, die Bewegung und die Suche nach einer besseren Zukunft waren stets zentrale Anliegen von ZERO, die sich im utopischen Traum vom immerwährenden Neubeginn manifestierten. Piene beschreibt diesen philosophischen Kern von ZERO im September 1964 in der Londoner Zeitung The Times: „ZERO ist die unmessbare Zone, in der ein alter Zustand in einen unbe kannten neuen übergeht.“ Geburt und Tod markieren die Grenzen unserer Existenz. Das Wunder Leben liegt dazwischen. Yves Klein und Otto Piene haben ihre Briefe häufig mit dem optimistischen Aufruf „Vive Zéro“ beendet. In diesem Sinn nutzen wir heute unsere einmalige Chance und proklamieren energisch: ZERO lebt! Foto: Tomas Gislason © 2015 Little Sun © Archiv Sarah Wiener Daniel Spoerri und Sarah Wiener Die Küche der Armen der Welt Seite 14 –15 Rem Koolhaas im Gespräch mit Dirk Pörschmann und Mattijs Visser Seite 16 Courtesy of OMA; Foto: Fred Ernst Seitdem ist ein halbes Jahrhundert vergangen, und über eine lange Zeit interessierten sich nur wenige für die Kunst von ZERO. Doch vor rund fünf Jahren bahnte sich eine Renaissance an. Warum gibt es gerade jetzt ein erwachtes Inte resse an ZERO, das sich in den zahlreichen Ausstellungen, Publikationen und Presseberich ten widerspiegelt? Heute gibt es einen direkten Strom in die ZERO-Zeit der 1950er- und 60er- Jahre. Wenn sich kleine Bäche zu einem großen Fluss formieren, sehen wir die Landschaft kla rer und Erkenntnis wird möglich. Wir begreifen unsere Gegenwart im Anblick des Vergange nen. Es ist ein Irrglaube, zu meinen, dies sei zu allen Zeiten möglich. In diesem Sinn war ZERO tatsächlich tot. Wir, die ZERO foundation und unsere Freunde, Unterstützer und Förderer, haben uns entschie den, die Energien von ZERO im Heute zu su chen. Die vorliegende Zeitung ist das Ergebnis dieser Suche in den Bereichen bildende Kunst, Musik, Bildung, Architektur und Wissenschaft. „dynamo“ bedeutet Kraft, Potenz und das Ver mögen, Änderungen herbeizuführen. Von ZERO wurde der Begriff verwendet, um das energe tische Vermögen der Kunst zu beschreiben. Künstler wie Yves Klein, Piero Manzoni, Mack, Piene, Uecker, Jean Tinguely oder herman de vries haben „dynamo“ als Synonym für die Energie verwendet, dem Leben aufs Neue opti mistisch zu begegnen. Dieses Motto haben sie in ihren Werken, aber auch in den zahlreichen Zeitschriften umgesetzt, die sie publiziert haben. Aus diesem Geist ist dynamo geboren: Eine einmalige Zeitung, die das breit gefächerte, zahlreiche Highlights umfassende Begleitpro gramm zur Ausstellung ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50er & 60er Jahre im Martin-Gropius-Bau ergänzt. „Eintrittskarte“ für den ZERO-Mitternachtsball auf der Hand von Heinz Mack, 1966 © Heinz Mack, VG Bild-Kunst 2015 Die Welt, 23. Februar 1967 Dirk Pörschmann Nicht erst gestern, sondern bereits vor einem halben Jahrhundert wurde ZERO für tot erklärt. Nach der Ausstellung ZERO in Bonn gingen die drei Protagonisten Mack, Piene und Uecker Ende 1966 ihre eigenen Wege. Die eingangs zitierten Sätze stammen aus der Einleitung zu einem Interview mit Heinz Mack. Mack be schreibt darin prägnant den Grund für die Auflösung von ZERO: „Wir haben uns voller optimis tischer Empfindungen geeinigt, ausei nanderzugehen: Eine Tür wird geschlossen, damit eine andere aufgeht.“ Ólafur Elíasson im Gespräch mit Annette Bosetti und Dirk Pörschmann Seite 10 –11 Mary Bauermeister im Gespräch mit Sophie-Marie Remig Seite 20 Foto: Johann Camut Die Gruppe ZERO, der in wenigen Jahren der Durchbruch zu internationalem Erfolg gelang, hat sich aufgelöst. Persönliche Spannungen zwischen den drei romantischen Kunstingenieuren, Missverständnisse, nicht zuletzt aber wohl auch ihr ständiges Pendeln zwischen den Ateliers in Düsseldorf und New York, das Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker kaum mehr zusammentreffen ließ, machte die Trennung notwendig. Ein wichtiges Kapitel der modernen Kunstgeschichte ist zu Ende. Foto: David von Becker Foto: Doris Beucker-Tönnes, 2014 Foto: Heinz Mack © Heinz Mack, VG Bild-Kunst 2015 Impressum dynamo erscheint anlässlich der Ausstellung ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50er & 60er Jahre Martin-Gropius-Bau, Berlin 21. 3. – 8. 6. 2015 School’s out for never www.4321zero.com Veranstaltet von der ZERO foundation, Düsseldorf, in Kooperation mit Berliner Festspiele / Martin-Gropius-Bau, Berlin Schirmherr der Ausstellung: Bundestagspräsident Norbert Lammert bestand darin, dass ZERO weiter dieser Traum sein sollte. Herausgeber: ZERO foundation Zollhof 11, D-40221 Düsseldorf Tel +49 (0) 211 / 59 80 59 77 Fax +49 (0) 211 / 59 80 59 76 www.zerofoundation.de MV: Du siehst Otto Piene als einen der wich tigsten ZERO-Experimentatoren: War das Labor für Piene der Ort, wo er an den Realisierungen seiner Träume gearbeitet hat, oder hat er sie dort auch entwickelt? Und glaubst du nicht, dass Pienes Zusammenarbeit mit Studenten, Künstlern und Wissenschaftlern am MIT das eigentliche Kunstwerk ist? Redaktion: Dirk Pörschmann, Mattijs Visser, Tanja Vonseelen (V.i.S.d.P.) ZERO ist schön! dynamo, dynamo, dynamo Jürgen Wilhelm Heinz Mack: Illustration aus ZERO, Nr. 3, Juli 1962 (Detail) ZERO ist zurück. Und wie! Die großartige Guggenheim-Ausstellung in New York mit dem Titel ZERO: Countdown to Tomorrow hat alle Erwartungen übertroffen und wurde von der New York Times zu einer der zehn besten Ausstellungen gekürt. Nicht nur, dass die Präsentation mit der wunderbaren Architektur harmonierte, als habe der Architekt Frank Lloyd Wright seine kühne Konstruktion (im glei chen Jahr wie ZERO entstanden) eigens für ZERO gebaut. Auch die anspruchsvolle New Yorker Gesellschaft nahm das Ereignis mit großer Anteilnahme wahr. Über 70 Jahre nach Ende des Zweiten Welt krieges sind wir dankbar, dass an einem der bedeutendsten Kunstplätze der Welt, dem Solomon R. Guggenheim Museum in New York, eine derartig erfolgreiche Retrospektive europäischer Künstler gezeigt wurde, deren Ini tialzündung vor über 50 Jahren in Düsseldorf durch Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker erfolgte. Die deutsche Hauptstadt wird aber New York in nichts nachstehen und präsentiert die größte und umfangreichste Ausstellung, die es je zu dieser Bewegung gegeben hat. Mit mehr als 200 musealen Werken und Installationen, dem Begleitprogramm mit Musik- und Perfor mance- Abenden, einem Symposium, dem Kinderprogramm und mit einer Reihe an unter schiedlichen Publikationen wird die ZERO- Retrospektive ganz nah an den Puls der Stadt und Zeit rücken. Was ist, abgesehen von dieser Zeitung, dynamo? In einer Nacht, von abends 8.00 Uhr bis mor gens 8.00 Uhr, werden die Ausstellungsräume im Martin-Gropius-Bau für das Publikum geöff net sein. Bei gedimmtem Licht und leiser Musik wird Berlin das sinnliche Vermögen der ZERO- Kunst erleben können: Hier wird ZERO ge gessen, getrunken, geträumt und geschlafen, begleitet von Künstlern, einem Chor und einer Köchin. Aber ZERO ist auch laut und energe tisch: Im Hansaviertel werden sich junge Komponisten und Installationskünstler mit ZERO auseinandersetzen. Hier wird das Experiment nicht gescheut. Und so wird mit dynamo auch die Stadt Berlin positiv aufgeladen: „ZERO ist schön: dynamo, dynamo, dynamo.“ ZERO wird als eine der wichtigsten Künstler bewegungen anerkannt. Es freut und ehrt uns, dass der zweithöchste Repräsentant der Bun desrepublik Deutschland, Bundestagspräsi dent Prof. Dr. Norbert Lammert, für die Berliner Ausstellung die Schirmherrschaft übernommen hat. Und auch Deutschlands älteste Akademie, die Berliner Akademie der Künste, wird sich aktiv mit einem hochkarätigen zweitägigen ZERO-Symposium beteiligen. Wir freuen uns und sind voller Enthusiasmus über die bevorstehenden ZERO-Aktivitäten. Im Namen des Vorstands der ZERO foundation danke ich der Kulturstiftung des Bundes, der RWE Stiftung für Energie und Gesellschaft so wie der Kunststiftung NRW für die Energie, die sie diesem Projekt gegeben haben. Christian Boros, Ute Weingarten und der Firma Wall sei gedankt: Mit ihrer professionellen Unterstüt zung ist es uns möglich, die ZERO-Ideen einem breiten Publikum nahezubringen. Ferner möch ten wir den Berliner Festspielen, der Akademie der Künste und dem Haus der Kulturen der Welt danken, mit deren Unterstützung die ZEROEnergie nach Berlin gebracht werden konnte. • Jürgen Wilhelm ist Mitglied des Vorstandes der ZERO foundation, Düsseldorf. Mit Texten und Beiträgen von: Katharina Apel, Mary Bauermeister, Daniela Berglehn, Daniel Birnbaum, Annette Bosetti, Lucas Buschfeld, Ólafur Elíasson, Wulf Herzogenrath, John Jaspers, Frans Jones, Manfred Kage, Fabian Knecht, Rem Koolhaas, Ari Benjamin Meyers, Stephan Muschick, Hans Ulrich Obrist, Henk Peeters, Sophia Pompéry, Dirk Pörschmann, Sophie-Marie Remig, Susanne Rockweiler, Hans-Joachim Roedelius, Julius Schmiedel, Daniel Spoerri, Spencer Tunick, Mattijs Visser, Tanja Vonseelen, Monya Wasilewski, Pablo Wendel, Christina Werner, Sarah Wiener, Jürgen Wilhelm, Euan Williams, Lothar Wolleh sowie den Kindern der Klasse 2a der Berlin Metropolitan School Otto Piene: The Proliferation of the Sun, 2014, Installationsansicht Neue Nationalgalerie, Berlin Foto: Mathias Schorrmann Heinz Mack und Günther Uecker bei der Eröffnung der ZERO-Ausstellung im Salomon R. Guggenheim Museum, New York Redaktionelle Mitarbeit: Sophie-Marie Remig, Kristin Rieber Übersetzung (EN – DE): Bernhard Geyer (Interview Rem Koolhaas), Nikolaus G. Schneider (Interviews Daniel Birnbaum, Rem Koolhaas, Heinz Mack, Otto Piene, Günther Uecker sowie Texte Frans Jones und Spencer Tunick) Transkription: Catharine J. Nicely (Interviews Daniel Birnbaum, Rem Koolhaas), Stefanie Saier (Interviews Mary Bauermeister, Ólafur Elíasson) Lektorat: Kristin Rieber, Tanja Vonseelen, Jennifer Taylor (englisches Lektorat Interview Daniel Birnbaum) Gestaltung: BOROS – Agentur für Kommunikation Art Direction: Luisa Heinrich Druck: Rheinisch-Bergische Druckerei GmbH, Düsseldorf Konzeption des gesamten Begleitprogramms: Dirk Pörschmann, Mattijs Visser; Symposium Vorträge und Gespräche in Zusammenarbeit mit Daniel Birnbaum und Wulf Herzogenrath, Performance Nacht sowie Musik und Film Abend in Zusammenarbeit mit Stefan Schneider und Felix Schieder-Henninger Projektmanagement dynamo-Zeitung: Tanja Vonseelen Pressearbeit: ARTPRESS – Ute Weingarten Auflage: 60 000 Otto Piene: Sky-Art-Event, 19. Juli 2014, Neue Nationalgalerie, Berlin Alle Rechte für die Texte liegen bei den Autoren und der ZERO foundation. ZERO und die heutige junge Generation – ein Vorbild mit Zukunft? Susanne Rockweiler Ist ZERO eine Kunstströmung, die noch heute junge Menschen in ihren Bann zieht? Diese Frage soll anhand der ZERO-Ausstellung, die vom 21. März bis zum 8. Juni 2015 im Martin- Gropius-Bau zu sehen sein wird, mit Schülern diskutiert werden. Einige der Intensivklassen des Martin-Gropius-Bau stellen daher die Ide en der ZERO-Künstler auf den Prüfstand. Etwa 50 Jungen und Mädchen im Alter von 10 bis 16 Jahren widmen sich ZERO und prüfen die heutige Wirksamkeit der Kunstwerke, die in den 1950er- und 60er-Jahren entstand und die internationale Kunstlandschaft damals nachhal tig veränderte. Dabei besuchen sie etliche Male die Ausstellung, denken, analysieren, diskutie ren, ziehen Querverweise und Vergleiche und arbeiten selbst im Geist der ZERO-Künstler bildnerisch-praktisch. Sie hoffen auf ein Ge spräch mit Heinz Mack oder Günther Uecker. Ist ZERO noch die Rakete wie zu Zeiten der Gründung 1958 durch die beiden „ZEROnauten“ Heinz Mack und Otto Piene? Hat die heutige Jugend ähnliche Träume und Visionen wie die ZERO-Gründerväter? Möchte sie ebenso Ver gangenheit, Schwere der Erde und Konventio nen hinter sich lassen? Oder ist die heran wachsende Generation weitgehend zufrieden und kalkuliert pragmatisch, wie sie ihr Leben meistern kann? Was sagen ihr die Arbeiten und Gedankenwelten von Piene, Mack, Jean Tinguely oder Lucio Fontana? Doch der Reihe nach: 1958 gründeten Heinz Mack und Otto Piene die Gruppe ZERO. Sie forderten nach dem Zweiten Weltkrieg einen radikalen künstlerischen Neuanfang. Die Idee wurde rasch zu einer internationalen Künstler bewegung. Statt mit Farbe und Pinsel ex perimentierten die ZERO-Künstler mit neuen 2 Materialien und mit den elementaren Kräften der Natur: Licht, Bewegung, Wind, Feuer, Luft, Energie. Dem im Juli 2014 im Alter von 86 Jahren verstorbenen Otto Piene ging es in der Nach kriegszeit um „die Übertragung von Energie“ und das Erschaffen dessen „was als Ausdruck der Seele oder der geistigen Verständigung unter Menschen taugt“. Jean Tinguely, 1925 in Freiburg geboren und 1991 in Bern verstorben, knüpfte 1959 bei der Biennale in Paris erste Kontakte zur ZERO-Gruppe. Er stellte mit sei nen automatischen Zeichenmaschinen die Farb-Form-Malerei und den Werkprozess des Künstlers infrage, indem er Gemälde, soge nannte Drip Paintings (getropfte Malerei) oder informelle Arbeiten maschinell herstellte. Sein Grundgedanke: „Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht.“ In den 1960er-Jahren erschuf er Schrott-Assemblagen, die nichts produzierten und stattdessen sinnlose Bewegungen aus führten. Das künstlerische Recycling zielte auf den zeitgemäßen künstlerischen Widerhall des Maschinen- und Wirtschaftswunderzeitalters. Politisch waren die 1950er-Jahre ambivalent. Es waren die Gründerjahre der Bundesrepu blik. Ein Großteil der heutigen politischen und gesellschaftlichen Strukturen wurde entwi ckelt. Vielen Menschen erschienen sie als „gute“ Zeit: Sie hatten ein gemeinsames Ziel, waren optimistisch und verfolgten mit Tatkraft den Wiederaufbau. Anderen galten sie jedoch als „bleierne Zeit“ voller spießigen Muffs, in der sich eine weitgehend unpolitische Bevölkerung für nichts anderes interessierte als für die Meh rung ihres privaten Wohlstandes. Und heute? Einige Schlaglichter: Die Erderwär mung nimmt dramatisch zu. Umweltkatastro phen mahnen zum Umdenken. Die Gesellschaft verändert sich. Laut Statistischem Bundesamt ist im Jahr 2050 die Hälfte der deutschen Bevöl kerung älter als 48 Jahre, jeder Dritte ist sogar 60 Jahre alt oder älter. Gleichzeitig verändert sich die Sozialstruktur der Gesellschaft. Die so ziale Ungleichheit nimmt zu, ebenso der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund. Von den Kindern unter fünf Jahren stammt heute bereits gut jedes dritte Kind (35 Prozent) aus einer Zuwandererfamilie. Die PISA-Studien (Programme for International Student Assess ment) haben erstmals quantitativ belegt, dass Deutschland stärker durch Migranten unter schichtet ist als andere vergleichbare Einwan derungsgesellschaften. Dort, wo einst das klassische Bildungsbürgertum generationsüber greifend Wissen vermittelt, ist in den letzten zehn bis zwanzig Jahren eine Kluft enstanden. Das Resultat zeigt sich im unterdurchschnittli chen Abschneiden der Jugendlichen in Deutsch land bei den PISA-Studien. Und was sagen die Jugendlichen selbst? Ziehen wir die aktuelle 16. Shell-Jugendstudie zurate, dann ist der Blick auf die eigene Zukunft der jungen Menschen – 2 500 Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren wurden befragt – ambivalent: Jugendliche aus bildungsnahen Elternhäusern sehen ihre Zukunft optimistisch, wohingegen Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern weitaus weniger zufrieden sind mit ihrer Zu kunftsperspektive. Und wie politisch ist die junge Generation? 20 Prozent der Jungen lesen eine Tageszeitung, 6 Prozent eine Wochenzeitung und etwa 20 Prozent suchen gezielt im Internet nach Informationen. 66 Prozent der Jugend lichen informieren sich nicht aktiv. 17 Prozent wären bereit, sich in einer politischen Gruppe oder Partei zu engagieren. 16 Prozent der Jugendlichen der unteren Bildungsschichten interessieren sich nicht für Politik. Sie ziehen Computerspiele und Fernsehkonsum sozialen Aktivitäten vor. Der Ansatz von MGB Kunst2 und MGB Impuls2 – „hoch zwei“ steht für eine intensive und nach haltige Vermittlungsarbeit – ist ein universeller. Die Arbeit in der Ausstellung verzahnt sich mit dem Unterricht. So werden die Jungen und Mädchen die ZERO-Bewegung auch im Physik-, Deutsch- und Politikunterricht bear beiten. Im Vorfeld der Arbeit um und über ZERO und im Anschluss an die Beschäftigung mit der Künstlergruppe befragen wir die Schüler zu aktuellen politischen Themen, ihrem Medien verhalten und den für sie wichtigen Fragen. Wie reflektieren die Gropiusbau-Schüler die ZERO-Bewegung? Wir sind gespannt, was dabei herauskommt. Neue Energie. Die Zivil gesellschaft. „Zero“. Die Aufklärung im 21. Jahr hundert. Oder, um Otto Pienes Worte aufzu greifen: „Was taugt (heute) als Ausdruck der Seele oder der geistigen Verständigung?“ • Susanne Rockweiler ist stellvertretende Direktorin am Martin-Gropius-Bau. Einer ihrer Verantwortungsbereiche ist die kulturelle Vermittlung. Das Interview von Hans Ulrich Obrist mit Otto Piene wurde zuerst veröffentlicht in Otto Piene: A Retrospective: Paintings, Ceramics, Light Ballets, Inflatables (Ausst.-Kat. The Mayor Gallery, London, 2012, S. 7–22). Das Interview von Hans Ulrich Obrist mit Günther Uecker wurde zuerst veröffentlicht in Günther Uecker, The Early Years (Ausst.-Kat. L & M Arts, New York, 2011, S. 7–19). Das bisher unveröffentlichte Interview von Hans Ulrich Obrist mit Heinz Mack fand am 4. Oktober 2010 in der Galerie Ben Brown Fine Arts in London statt. Alle drei Interviews wurden gekürzt, redigiert und ins Deutsche übersetzt. Bildnachweis: Sofern nicht anders angegeben, stammt das Bildmaterial von den beteiligten Künstlern. Gefördert durch: Daniel Birnbaum im Gespräch mit Mattijs Visser Mattijs Visser: Ist Kunst eine Maschine, um Erfahrungen für die Öffentlichkeit zu produzie ren? Was etwa Otto Piene betrifft, ist es fantas tisch zu sehen, wenn Besucher aus einem seiner Events mit Inflatables kommen. Sie haben Kunst werke ganz anderer Art gesehen und eine ganz andere Erfahrung gemacht. Aber erzeugt Kunst nichts anderes als Gefühle und Erfahrungen? Daniel Birnbaum: Das ist doch gar nicht so wenig. Wenn ein Kunstwerk Emotionen und Ge fühle hervorruft, dann ist das meines Erachtens durchaus schon etwas, das man ernst nehmen sollte. Kunst geht mit einer emotionalen Ver änderung einher, aber im selben Moment ge schieht das auch auf intellektueller Ebene. Ich würde sagen, der Umstand, dass die ZERO- Gruppe heute wieder für so viele Künstler attraktiv geworden ist, hat etwas mit der inter disziplinären Natur ihrer Aktivitäten und mit ihrem Interesse an Technik und naturwissen schaftlicher Forschung zu tun. Das waren von Anfang an gemeinsame Anliegen. Pienes gan zes Leben steht dafür, auch wenn er viele Jahre lang als Künstler weniger stark in Erscheinung trat. Er hat in den USA am Massachusetts Ins titute of Technology (MIT) geforscht und gelehrt und begriff seine Arbeit als Forschungsprojekt mit offenem Ausgang. Natürlich gab es Ergeb nisse, es entstanden Kunstwerke, aber es ging ihm auch um die Schönheit des Weges, um die Schönheit der Forschung. Dieser unkommerzi elle, nicht marktorientierte Ansatz, der auch die Strukturen der Kunstwelt mit ihren Institu tionen, ihrem Galeriesystem und so weiter her ausfordert, ist etwas, das auf viele Leute eine starke Anziehungskraft ausübt. Ich bin da keine Ausnahme. Die Verbindung zu Wissenschaft und Forschung macht die Kunst von ZERO so besonders, und das ist auch einer der Gründe dafür, warum ZERO für viele heutige Künstler aktuell bleibt. Das hat auch eine philosophische Seite. Es steht ja nicht von vornherein fest, was ein Kunst werk ist, sondern das ist etwas, das zuerst er kundet werden muss. Tief im Innersten steht die ZERO-Bewegung für eine Erkundung der Wahr nehmung, der Erfahrung und dessen, was Kunst sein kann, ja sogar für eine offene Erkundung der Frage, welche Rolle ein Kunstwerk spielen kann. Das hat etwas mit den Grenzen der Wahr nehmung zu tun, den Beschränkungen dessen, was uns durch den Kopf geht, den Beschrän kungen unserer psychologischen Veranlagung und unseres biologischen Wahrnehmungsappa rates, den wir dann mit technischen Mitteln verändern und erweitern. MV: Man kann ZERO als Labor sehen, in das viele Künstlergruppen mit ihren eigenen Labo ratorien einbezogen waren: eigentlich eine Gruppe, die aus Gruppen bestand. Gibt es so etwas auch heute? Gibt es Künstler, die andere auf diese Art und Weise einbeziehen? Und beziehen sie auch die Öffentlichkeit in ihre For schungen und Experimente mit ein? DB: Manchmal wird da mehr geredet als ge tan. Aber die Künstler, über die wir hier disku tieren, weil sie offensichtlich von Bedeutung für die heutige Erkundung von Kunst, Raum und Technologie sind – Leute wie Ólafur Elíasson und Carsten Höller –, haben das in die Tat um gesetzt. Elíassons Atelier ist ein Labor. Künstler seines Typs produzieren große Maschinerien für Ausstellungen, aber sie experimentieren zugleich still und völlig ergebnisoffen mit Archi tekten und Wissenschaftlern. Elíasson war eine Zeit lang Professor und hat eine Menge inte ressanter Gäste in sein Atelier geholt: Theore tiker, Schriftsteller, Philosophen, Soziologen und junge Künstler. Sein Berliner Atelier war Teil einer großen wissenschaftlichen Erkun dung dessen, was Kunst in der Gesellschaft und in Relation zum Publikum und zu anderen Disziplinen sein kann. Es gibt noch weitere Beispiele solcher Künstler kollektive. Carsten Höller bezeichnet seine Arbeit explizit als Labor. Er spricht von einem „Labor des Zweifels“. In vielen seiner Werke geht es um die äußeren Grenzen der Wahrneh mung. Wie passt sich unser Wahrnehmungs apparat an, wenn wir eine Umkehrbrille tragen? Unser Gehirn versucht die Informationen zu verarbeiten und stellt daraus ein normales Bild zusammen. Dann nehmen wir die Brille ab und alles steht wieder auf dem Kopf. Das ist nur ein Beispiel. Höller hat sich öfters mit Destabilisie rung beschäftigt. Otto Piene verkörpert sicherlich mit seiner gan zen Person und seiner Lebensweise am stärks ten dieses anhaltende Träumen, das all die an deren Leute an irgendeinem Punkt früher oder später tatsächlich nicht fortsetzen konnten, weil sie zu irgendeiner Idee eines dauerhaften Stils oder irgendetwas gedrängt wurden, das sich leichter wiedererkennen lässt. Otto Piene hat Werke geschaffen, die wir wiedererkennen können, doch die Stärke seines Ansatzes be steht darin, dass er gewissermaßen nie aus seinen Träumen erwachte. Er machte einfach weiter, sprich, er war stärker mit laborartigen Institutionen wie dem MIT und anderen Kunst hochschulen verbunden. Sein ganzer Ansatz DB: Nun, ich glaube, es war eine Art Traum fabrik, ein Ort, wo die Dinge offen blieben. Ein Labor ist nicht der Ort, wo man mit der Produkti on beginnt, sondern der Ort, wo man forscht und Dinge herausfindet. Wie etwa in der Medizin; ich weiß sehr wenig darüber, aber ich nehme an, dass man in medizinischen Laboratorien sehr aufgeschlossen ist und alles Mögliche aus probiert, und zu einem bestimmten Zeit punkt produziert die Pharmaindustrie die ent sprechende Pille. Das hat Piene nie gemacht, aber die meisten anderen machen es. Deshalb ist das in unserer Welt der totalen Kommerzia lisierung und Mediatisierung vielleicht auch zu nehmend attraktiv geworden, denn die meisten, die mit Kunst arbeiten, glauben nicht, dass es dabei vor allem um Waren, Branding und kom merziellen Erfolg geht. Es ist ein bisschen lang weilig, immer über die Welt des Kommerzes zu sprechen, aber diese Welt des Kommerzes ist nur ein Aspekt dieses Gefühls, dass es dabei eher um Produkte geht und nicht so sehr um einen Ansatz und die Bereitschaft, den Traum weiterzuträumen. Und ja! Pienes Arbeit am MIT war sein größtes Werk. Die Ideen, der freie Austausch von Ideen und Dingen, auch wenn sie nicht erfolgreich sind, denn ein Labor oder ein Experiment, das nichts zulässt, was nicht erfolgreich ist, gibt es nicht oder verdient diesen Namen nicht. Dinge werden getestet, geschaffen und kritisiert. Ich glaube, er hat Jahre, ja Jahrzehnte damit zuge bracht. Ich glaube, es gibt einige andere Künst ler, die eher Lehrer als Schöpfer von Stilen und Karrieren waren und sind. Einige von ihnen tra ten dann irgendwann selbst als Schöpfer von Bildern in Erscheinung, etwa Thomas Bayrle in Frankfurt oder John Baldessari in Los Angeles. Das sind inzwischen große Namen, die jetzt auch von Galerien vertreten werden und Karri ere auf dem Kunstmarkt gemacht haben. Doch viele, viele Jahrzehnte lang war das definitiv nicht der Fall. Piene ist dafür ein extremes Bei spiel. Erst am Tage seines Todes trat er in Deutschland als bedeutender, unverkennbarer Künstler in Erscheinung. In der Neuen Natio nalgalerie, mit großartigen Visuals, ein total überzeugender Moment. MV: Alle haben den starken Wind beim Sky-Art- Event auf dem Dach der Neuen Nationalgalerie, Berlin (2014) beklagt. Niemand wusste, dass es Piene auch ohne Wind noch nie gelungen war, diese spezielle Himmelsskulptur steigen zu lassen: Er hatte trotzdem den größten Inflatable ausgewählt, den er je gemacht hatte, ob wohl dieser bis dato nie ganz zum Fliegen gebracht werden konnte. In Berlin wollte er es noch einmal versuchen. Piene hat die National galerie als sein größtes Labor betrachtet. DB: Ganz genau, weil es nicht richtig geklappt hat. Allerdings klappte es insofern, als das alle über das „fantastische Ereignis“ schrieben. Doch selbst in diesem allerletzten Moment, zwei Tage nach seinem Tod, gab es unvorher sehbare Dinge. Was ist der Unterschied zwischen einer Kunst messe und einer Kunsthochschule? Was ist der Unterschied zwischen einem Museum, das im Wesentlichen Dinge sammelt, und einem Ort im Stil eines Labors? Das sind Dinge, die uns vielleicht helfen zu verstehen, warum ZERO als Bewegung für etwas Besonderes in der Kunstgeschichte steht. Viele Leute kamen damit in Berührung. Atmosphärisch war das Ganze vage und amorph. Das ist typisch, denn es ließ sich nicht genauer beschreiben. Aber wir wissen, was es nicht war. In dem Moment, in dem Personen, die daran beteiligt waren, sich davon verabschiedeten, um wiederer kennbare Stile zu produzieren, wissen wir, dass sie nicht mehr Teil der Bewegung waren. Ich glaube, letztlich hat sich jeder früher oder später davon verabschiedet. Die einzige mir bekannte mögliche Ausnahme ist Otto Piene selbst. MV: Gibt es einen Unterschied zwischen dem Labor Ólafur Elíassons und dem Otto Pienes? DB: Ich weiß nicht. Es geht doch darum, dass Kunsthochschulen und Orte des nicht-kom merziellen, nicht-kommodifizierten Experimen tierens auch ein Traum oder eine Art Utopie sind, in die viele Menschen investieren, weil das irgendwie eine Alternative zu all den Din gen ist, die wir nicht mögen, etwa eine Kunst messe in Dubai. Es ist etwas anderes. Selbst die Präsentation von Kunstwerken, die gewis sermaßen ergebnissoffen, experimentell und nicht abgeschlossen sind, ist möglicherweise zu einem eigenen Stil geworden. Ich sage nicht, dass Elíasson das anstrebt, aber man könnte vielleicht sagen, wenn man kritisch sein möch te – nicht gegenüber Ólafur, sondern gegen über unserer Zeit –, dass selbst das zu einer Art Ware werden kann. Das heißt, die heutige Er lebnisökonomie, bei der ein neues Produkt mit großem kommerziellem Getöse eingeführt wird, ähnelt möglicherweise auf seltsame Weise ei nem ZERO-Event aus den 1960er-Jahren. MV: Sind die Akademien nach wie vor offene Laboratorien? Gibt es da immer noch dieses Ideal der Offenheit? DB: Wie du weißt, war ich selbst über ein Jahr zehnt lang an der Städelschule in Frankfurt tätig. Ich glaube, die wirklich wichtige und be deutende und daher für mich attraktive Seite der Sache war, dass das einer der wenigen Orte war, wo es diese Offenheit geben konnte. Ich sage nicht, dass es immer so war. Kunst hochschulen sind auch in eine Welt hineinge zogen worden, in der immer Neues produziert wird. Einige der alten deutschen Kunstakade mien haben ein altmodisches Problem. Es gab da etwa große, berühmte Künstler, deren Schüler fast dasselbe machten wie sie, und so entstanden Schulen wie etwa die Düsseldorfer Schule oder die Leipziger Schule. Daraus kann etwas werden, das kann die Dinge einfacher machen, aber wenn das der Fall ist, ist es natürlich auch ein Problem. Andererseits be steht das Problem in anderen Schulen, ich glaube auch an der, an der ich tätig war, eigent lich eher darin, dass der Markt selbst, und zwar sowohl der intellektuelle als auch der kommer zielle Markt, neue und unbekannte Dinge ver herrlicht und fetischisiert. Das, was noch nicht völlig ausformuliert ist, ist das Begehrteste. Das ist vielleicht einfach nur ein Teil unseres menschlichen Wesens; wir suchen immer nach etwas Neuem. Das ist an sich nicht verwerflich, aber es ist etwas, auf das wir achten sollten. An dieser Stelle sollten wir vielleicht Selbstkritik üben. Was ist es, das wir an diesen im Laborstil arbeitenden Künstlern mögen, die kollektive und ergebnisoffene Produktionssituationen ge schaffen haben, bei denen es nicht nur um die Herstellung vorhersehbarer Objekte, sondern um einen Ansatz geht? MV: Glaubst du, dass die ZERO foundation, die wir gemeinsam mit den Künstlern aufge baut haben, diese Rolle spielen, sprich, ein Labor sein könnte, statt ausschließlich für die Forschung und für Museen zu arbeiten? DB: Ich glaube sogar, sie muss das geradezu, denn sonst wäre sie einfach nur ein weiteres Archiv. Es gibt wichtige Archive, und Archiv arbeit kann, obwohl sie konservativ oder sehr altmodisch ist, dennoch sehr produktiv sein, wenn plötzlich neue Leute auftauchen. Sie möchten sich alte Sachen ansehen, und diese werden dadurch wieder zu neuen Dingen, wenn sie mit anderen Augen gesehen werden. Man stellt sie in einen neuen Kontext, man schreibt die Geschichte neu, indem man das Alte aus neuen Blickwinkeln betrachtet. Es spricht also nichts gegen die Bibliothek oder ein Archiv. Aber wenn die ZERO foundation mehr als das sein möchte, also eher eine Pro duktionsstätte für Ideen, nicht zwangsläufig für Objekte oder Karrieren, eine Produktionsstätte, ein Labor für sich ständig ändernde, wechseln de, neue Ansätze gegenüber der Frage, was es heute heißt, lebendig zu sein – das klingt jetzt sehr hochtrabend –, was es heißt, künstlerisch bewusst und selbstbewusst zu sein, dann soll te sie das sein. Ich glaube, ZERO könnte das sein, nicht für eine kleine Gruppe sehr wichtiger Künstler, sondern für einen ganzen Ansatz. Dann geht es darum, diese Leute zu finden; aber vielleicht auch andersherum, sprich, diese Leute müssen die ZERO foundation finden, denn wenn sie nicht wissen, warum sie daran beteiligt sein sollten, dann werden es auch nicht diejenigen sein, nach denen gesucht wurde. • Daniel Birnbaum war von 2000 bis 2010 Rektor der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste (Städelschule) in Frankfurt / M. Seit November 2010 ist er Direktor des Moderna Museet in Stockholm. Als Leiter des Akademischen Beirats der ZERO foundation veranstaltet Daniel Birnbaum gemeinsam mit Wulf Herzogenrath (Akademie der Künste, Berlin) und Dirk Pörschmann (ZERO foundation) im Rahmen des Begleitprogramms dynamo ein Symposium, bei dem am 1./2. Mai 2015 in der Akademie der Künste Fragen zur Aktualität von ZERO diskutiert werden. 3 VISIT – Artist in Residence Programm der RWE Stiftung Visitors Welcome Ein Gespräch mit Daniela Berglehn, der Kuratorin des VISIT-Programms Seit 2010 fördert die RWE Stiftung junge Künst ler, die sich mit dem Thema Energie beschäf tigen. Sie erhalten ein Stipendium für sechs Monate, das ihnen ermöglicht, ihre eingereichte Idee auszuarbeiten und in einem Katalog und einer Ausstellung zu präsentieren. Mitte Juni werden die Arbeiten der zehn Stipendiaten aus den ersten fünf Jahren im Kunstmuseum Bo chum präsentiert. Zeit für eine Zwischenbilanz. Lucas Buschfeld Lucas Buschfeld, geboren 1983 in Köln, studiert seit 2009 freie Kunst an der Kunsthochschule für Medien Köln und verbrachte 2013 ein Gast semester am Institut für Raumexperimente in der Klasse von Ólafur Elíasson. Während seines VISIT-Stipendiums der RWE Stiftung (2013 / 2014) realisierte er die Werkkomplexe Mendy (unten) und Stream (Seite 5), die auf poetische und mediative Weise das Wesen elektrischer Energie sinnlich erlebbar machen. Buschfelds Installationen und Performances wurden in zahlreichen Ausstellungen und Institutionen präsentiert, etwa im Rahmen des Festival of Future Nows in der Neuen Nationalgalerie, Ber lin (2014), auf der transmediale, Berlin (2013), im Museum of Contemporary Art Tokyo (2012) oder im ZKM / Zentrum für Kunst und Medien technologie, Karlsruhe (2011). Lucas Buschfeld lebt und arbeitet in Köln und Berlin. Tanja Vonseelen: Die Künstlerförderung durch Stipendien ist an sich positiv. Aber warum gibt es eine Themenvorgabe? Muss die Arbeit nicht frei sein? www.lucasbuschfeld.com Daniela Berglehn: Als Stiftung eines Ener giekonzerns standen wir anfangs unter Ver dacht, die Künstler in eine bestimmte Richtung zu drängen. Das ist nicht der Fall und das wäre auch nicht klug. Die im Rahmen der Stipendien entstehenden Arbeiten zeigen, wie vielfältig das Themenfeld ist und dass es stetig an Relevanz gewinnt. Viele Künstler haben zuvor bereits zum Thema Energie gearbeitet. Aber das Vertrauen musste erst wachsen und wir erarbeiten es uns mit jedem Projekt neu. TV: Sie laden die Künstler ins Unternehmen ein. Wie empfinden das beide Seiten, eher als Belastung oder als Chance? DB: Beides. Die Arbeit zwischen Mitarbeitern und Künstlern ist nicht immer konfliktfrei, aber sie ist immer spannend. Für uns ist das ein wichtiger Teil des Prozesses. Es erfordert Ge duld und Toleranz auf beiden Seiten. Ob ein Künstler auf einer Bohrinsel arbeitet wie Lukas Marxt, im Archiv recherchiert wie Axel Braun oder in seinem Atelier eine kinetische Skulptur entwickelt wie Lucas Buschfeld (im Bild rechts die Arbeit Stream) – am Ende steht immer das gemeinsame Projekt und der Respekt vor der Arbeit des anderen. TV: Dennoch: Sie verfolgen mit der Förderung ein Ziel. DB: Ja, wir fördern nicht Kunst um der Kunst willen. Wir wollen viel mehr. Wir glauben an die Kraft der Kunst und erhoffen uns von ihr neue Perspektiven auf unsere Themen, d. h. Antwor ten auf die Frage, wie wir mit Energie umgehen, Ideen für die Zukunft – zumindest aber den Anstoß zum Dialog darüber. www.rwestiftung.com /visit Lucas Buschfeld: Mendy, 2014 VISIT 2010–2015: die Stipendiaten der RWE Stiftung, ab 13. Juni 2015 im Kunstm useum Bochum. Arbeiten von Lucas Buschfeld sind im Rahmen des Musik und Film Abends am 6. Juni 2015 in der Akademie der Künste zu sehen. ZERO: Alles oder nichts Stephan Muschick Was bedeutet „Zero“ im 21. Jahrhundert? Null Emissionen? Vielleicht. Null Wachstum? Wohl kaum, jedenfalls nicht als erklärtes Ziel der eta blierten Wirtschaftswissenschaften. Null Kalo rien im Joghurt und in der Cola? Schon eher, nimmt man Supermarktregale oder Ernäh rungsratgeber in Augenschein. Null Bock? Von der üblichen Montagmorgendepression einmal abgesehen – einer ganzen Generation kann man dieses Etikett längst nicht mehr anheften. Das belegen einschlägige Studien. Allerdings: Null Bock auf die große Politik (und dafür ein Rückzug ins Private und Achtsamkeit gegen über dem Selbst), null Bock auf eine Achtzig stundenwoche (und dafür eine ausgewogene Work-Life-Balance) – daraus wird schon eher ein Schuh. Eine programmatische „Null“ für das 21. Jahr hundert ziert den Titel des 2014 erschienenen Buches von Jeremy Rifkin. Der amerikanische Starökonom spricht darin von der „Null-Grenz kosten-Gesellschaft“: Fallende Produktions kosten, oder genauer: Grenzkosten, sorgen für praktisch gegen null fallende Preise für Güter wie Tonträger, Universitätsvorlesungen oder Strom. Und am Ende auch für Autos und Häu ser. Die Folge: Die althergebrachte Marktwirt schaft, die dann als effizient galt, wenn sie auf den Grenzkosten basierende Preise hervor brachte, ist tot. Rifkin gibt dem Ganzen aber eine Perspektive: Derartig produzierte Güter („kooperative Commons“) werden dann eben nicht mehr gewinnorientiert verkauft, sondern – geteilt. 4 Der allgegenwärtige technologische Fortschritt – das „Internet der Dinge“ oder, auch ein Rifkin- Schlagwort, die „dritte industrielle Revolution“ in der Kombination aus erneuerbaren Energien und Internet – sorgt mithin nicht nur für eine fundamentale Änderung des Wirtschaftens, sondern beeinflusst unser Zusammenleben in Gänze. Was sich als „Null“ tarnt, meint mithin praktisch „alles“ oder „nichts“. Hieraus entsteht Unsicherheit. Wie immer, wenn sich das Neue Bahn bricht. Denn das Neue kommt janusköpfig daher. Was einen Rifkin ins Schwärmen geraten lässt – die neue Welt des Teilens nämlich –, lässt andere erschauern: Taxifahrer, die sich vom Transportdienst Uber bedroht fühlen, Musikmanager und Verleger, die ihre Gewinne dahinschmelzen sehen oder sahen, Gewerkschafter, die den Abbau sozialer Standards fürchten, und manchen Energiewirt schaftler, weil der Strom aus den erneuerbaren Energien die Netze flutet und ein ganzes Ge schäftsmodell hinwegspült. Sie alle beklagen, dass die alten Regeln unterlaufen werden, dass neue Standards – ob bei der Verkehrssicher heit oder an der Strombörse, im Sozialen oder im Urheberrecht – fehlen, dass es nicht mehr, sondern weniger Gerechtigkeit gibt. Es treten jedoch nicht nur neue Technologien in unser Leben. Ein neuer Gemeinsinn bricht sich hier und dort Bahn, oder schlichtweg ein neues Lebensgefühl, das die einen euphorisiert und die anderen ängstigt. „Der Zukunfts-Mensch ist ein Horror-Mensch“, schreibt Bild-Kolumnist Franz-Josef Wagner an der Schwelle zum Jahr 2015. „Ich mag den vergangenen Menschen mehr“, räumt er ein und verrät dabei unfreiwil lig, was Sache ist: Der vergangene Mensch gehört bereits der Vergangenheit an. Aufhalten lässt sich die Zukunft nämlich längst nicht mehr. Sie ist schon mitten unter uns. „Zero“ lebt, indem sich alles verändert. Eine dezentrale, „null“ Kohlendioxid emittierende Stromproduktion? Trägt immerhin heute schon einen gewaltigen Teil zum Gesamtstrommix bei. Vorlesungen an Elite-Unis, für jeden jeder zeit zugänglich? Gibt es schon. Massive Open Online Courses, MOOCs, heißt das Stichwort. Vernetzte Mobilität und neue Carsharing-Mo delle? In manchen Metropolen bereits Alltag. Das selbstfahrende Auto und das automatisier te Heim? Nicht der Traum von übermorgen, sondern die Realität von morgen. Aber auch: Überwachung, Selbstausbeutung, Volatilitäten und Unsicherheiten, Datensam melwut und die Allmacht neuer Konzerngigan ten. Das Ende der Privatsphäre. Das Ende der Demokratie? Das Ende des Menschen, wie wir ihn kennen und lieben: frei und selbstbe stimmt? Manchen mag es ängstigen, wenn nicht freie Willensentscheidungen oder demokratische (und damit oft langwierige) Aushandlungsprozesse unser Leben bestimmen, sondern Algorithmen, die auf der Bearbeitung riesiger Datenmengen („Big Data“) beruhen: Die Politik – denn sie kommt nicht mehr hinterher und läuft Gefahr, im 21. Jahrhundert die Rolle des Gestalters von gesellschaftlichem Zusammenleben vollends zu verlieren. Manche Unternehmen, die davon bedroht sind, von einer schöpferisch-zerstöre rischen Welle disruptiver Innovationen wegge spült zu werden. Den Einzelnen, der vom Mitglied einer demokratischen Gemeinschaft zum bloßen Datenlieferanten degradiert wird. Aber Angst ist ein schlechter Ratgeber. Und der nostalgisch verklärte Blick in die Vergan genheit hilft wenig, wenn es gilt, Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Denn darum geht es: neu zu denken. „Zero“ nicht als das Ende, son dern einen permanenten Anfang zu begreifen. Radikal Altes infrage zu stellen, um radikale Antworten auf die Frage zu finden, wie wir im 21. Jahrhundert leben wollen. Denn wo viel Schatten ist, muss es irgendwo auch eine Lichtquelle geben, oder genauer: viele Licht quellen. Schon am Ende des 20. Jahrhunderts haben uns die Theoretiker der Postmoderne gelehrt, dass die „großen Erzählungen“ ausge dient haben, zum Teil, weil sie sich selbst dis kreditiert haben. Sind nun, nach den Totalitarismen des 20. Jahr hunderts und dem „Ende der Geschichte“, das Erbe der Aufklärung und der Humanismus an der Reihe? Oder kann „Zero“ im 21. Jahrhundert das genaue Gegenteil bedeuten? Mehr Licht, aber nicht das eine helle Licht, sondern ein Leuchten aus vielen dezentralen Quellen? Nicht die eine Steuerungsinstanz, die die neue Gesellschaft am Reißbrett entwirft, sondern die Kraft vieler dezentraler Gemeinschaften? Nicht die eine Lieferkette, sondern die Kollaboration vieler? Nicht die eine „Mehrheitsgesellschaft“, sondern ein Zusammenleben in tatsächlicher Vielfalt? Alle diese Fragen sind bislang unbe antwortet. Aber es brodelt und gärt. Der Ruf nach Klarheit und Patentlösungen bei gleich zeitiger Resignation – das ist nur die eine Seite. Auf der anderen Seite stehen: das Labor, das Experiment, die Offenheit. Die Kunst. Stephan Muschick diskutiert mit Pablo Wendel im Rahmen des Symposiums Vorträge und Gespräche am 1./2. Mai 2015 in der Akademie der Künste am Pariser Platz. Lucas Buschfeld: Stream, 2014 5 Heinz Mack im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist Otto Piene im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist Hans Ulrich Obrist: Beginnen wir mit den Anfängen, damit, wie alles losging, sofern es denn damals eine Epiphanie gab. Wie sind Sie zur Kunst gekommen? Heinz Mack: Es gab gar keine Alternative. Das klingt vielleicht ein wenig übertrieben, aber es ist eine Tatsache, dass die Bildungssituation nach Kriegsende richtig schlecht war. Ich war von Ruinen umgeben, und es gab jede Menge Probleme. Meine Ausbildung war miserabel, denn einige der Lehrer kehrten nicht aus dem Krieg zurück, und manchmal waren die Schul gebäude zerstört worden. Trotzdem hatte ich die Chance, auf dem Gymnasium eine mehr oder weniger gute Abschlussprüfung abzule gen. Aber schon vor dieser Prüfung war ich als Student an der Kunstakademie in Düsseldorf aufgenommen worden, sodass ich die ersten Jahre in Düsseldorf verbrachte. HUO: Es ist ja faszinierend, dass Sie, obwohl die Kunstwelt damals viel isolierter war und es in Deutschland nach dem Krieg nicht viele In formationen gab, schon sehr früh mit einer internationalen Kunstwelt Kontakt hatten. Wie fing das alles an? Wie kam es, dass Sie schon so früh Lucio Fontana und so viele andere Künstler kennenlernten? HM: Wir fühlten uns damals verloren. Es gab keine Informationen, keine Bücher, keine Lite ratur, keine Beispiele in den Museen, alles war zerstört oder in einem schlechten Zustand. Und die Leute hatten ganz andere Probleme, Kultur spielte damals keine vorrangige Rolle. Ich spreche ungefähr von den Jahren zwischen 1950 und 1960. Natürlich gab es in der Aka demie eine Art Ausbildung, aber die war sehr konservativ, und die Lehrer, die dort unterrich teten, waren ebenfalls im Krieg gewesen. Letz ten Endes mussten wir – sprich meine Freunde, Otto Piene und Günther Uecker, und ich – uns irgendwie selbst aus- und weiterbilden. HUO: Wie war Ihre Situation Mitte der 1950er- Jahre in Düsseldorf? HM: Unser Atelier befand sich in einem Hof, und es war damals gefährlich, diesen Hof zu betreten, denn dort gab es eine vom Krieg stark beschädigte Mauer, die ständig vom Ein sturz bedroht war. Wir fanden, wir sollten etwas tun, um die Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, dass wir dort lebten und arbeiteten. Wir reinigten das Atelier – es wurde weiß gestri chen –, und wir stellten dort einen Abend lang unsere Werke aus. Wir nannten das Abendausstellung. Und natürlich luden wir unsere Freun de ein, und unsere Freunde wiederum luden ihre Freunde ein. Es war eine Art Kettenreakti on, und nach einigen Wochen und Monaten war es jedes Mal etwas ganz Besonderes, wenn es eine kleine Abendausstellung gab. Ganz wichtig war damals für uns übrigens auch die Entdeckung des Jazz. Nach all den blöd sinnigen Liedern im Dritten Reich war das eine richtige Sensation für uns. Ich habe keine Worte dafür, das war wirklich extrem. Es bewegte sich etwas: Es war eine Sache des Temperaments, der Entwicklung, einer Energie von Klängen, Musik und Licht. HUO: Neulich habe ich mit Ólafur Elíasson über Sie gesprochen. Er ist sehr stark von Ihnen und, wie er sagte, dieser ganzen Idee Ihres permanenten Experiments inspiriert. HM: Das darf ich vielleicht an dieser Stelle erwähnen, dass zu dieser Zeit meine ersten Rotoren entstanden. Die wichtigsten waren aus Metall. Ohnehin habe ich damals viel experi mentiert. Das war die Zeit, in der unser damali ger Bundeskanzler Konrad Adenauer bei der 1957 anstehenden Bundestagswahl mit dem Slogan „Keine Experimente“ für sich warb, der überall in der Stadt auf den Wahlplakaten zu lesen war. Ich war damals noch jung und voller Widerspruchsgeist, sodass ich mir einen Topf mit schwarzer Farbe nahm, zu all diesen Litfaß säulen ging und die Zeile „Keine Experimente“ mit schwarzer Farbe übermalte. Das habe ich eine ganze Weile gemacht, bis mich die Polizei daran hinderte. HM: Das erste Museum, das ich in meinem Leben besucht habe, war der Louvre – un glücklicherweise erinnere ich mich nicht mehr an das Datum. HUO: 1964 haben Sie gemeinsam mit Piene und Uecker einen Lichtraum auf der documenta 3 in Kassel präsentiert. In welcher Verbindung stand diese Installation mit Lucio Fontana? HM: Das war eine Hommage an Fontana, und es war die wichtigste Zusammenarbeit zwi schen Günther Uecker, Otto Piene und mir. In teressanterweise war zunächst nur Uecker auf die documenta eingeladen, aber er beharrte darauf, dass wir ebenfalls eingeladen würden, sonst hätte er seine Einladung nicht angenom men. Das war wirklich eine moralische Aussage von ihm, eine moralische Aufrichtigkeit, zu sagen: „Ohne meine Freunde mache ich das nicht.“ Wir haben das ganze Werk gemeinsam in allerletzter Minute installiert, und wir hatten Otto Piene, porträtiert von Lothar Wolleh, 1968 Hans Ulrich Obrist: Zunächst möchte ich Sie fragen, ob Sie mir etwas über Ihre Anfänge als Künstler erzählen können, da ich sehr neu gierig bin, wie alles begann, wie Sie zur Kunst kamen und wie die Kunst zu Ihnen kam. Heinz Mack: I like, 1965 (Aus: Mackazin, 1967) keinen schönen Raum bekommen, sondern nur das Dachgeschoss im Fridericianum, es war völlig zugemüllt und verdreckt, sodass wir erst alles reinigen mussten, bevor wir unser Werk dort aufbauen konnten. Die Wände waren ebenfalls unverputzt. Um dem Publikum klar zu machen, dass es sich um eine Hommage an Fontana handelte, hatte ich die Idee, mit einem Projektor ein Bild Fontanas mit einem Schnitt darin an die Wand zu werfen. Fontana war also Teil unserer Ausstellung, aber auf eine ganz immaterielle Weise, und das mochte ich so sehr daran. Er war da und gleichzeitig nicht da. HUO: Aber wir sollten auch ein wenig über die Wüste sprechen, denn das Sahara-Projekt ist für viele junge Künstler heute extrem relevant. In den letzten Jahren haben zum Beispiel viele Künstler Expeditionen unternommen, von Pierre Huyghe bis zu Philippe Parreno. Sie selbst haben sich ja schon sehr früh auf Expeditionen in die Arktis und in die Wüste begeben, die auch in ökologischer Hinsicht interessant sind. Kön nen Sie uns darüber vielleicht noch etwas erzählen? Heinz Mack, porträtiert von Lothar Wolleh, um 1970 6 ZERO hatte etwas Magisches HUO: Welches war das erste Museum, das Sie als Kind besucht haben? Erinnern Sie sich daran? © Oliver Wolleh, Berlin HUO: Das war eine Art autodidaktische und selbstorganisierte Bildung? HM: Ja, und zugleich gab es den extrem star ken Wunsch, ja das Begehren, die Grenzen in Europa zu überqueren. Das war damals schwie rig: Bei meiner ersten Parisreise brauchte ich einen ganzen Tag, um von Düsseldorf nach Paris zu kommen. Und was erwähnt werden muss, ist die Tatsache, dass das die erste Stadt ohne Ruinen war, die ich je gesehen hatte. Sie können sich also vorstellen, wie beein druckt ich war, eine Stadt zu betreten, die nicht zerstört war. Und diese Absicht, eine bessere Vorstellung von der Welt zu gewinnen, indem ich mich au ßerhalb meines eigenen Landes umsah, führte mich unter anderem nach Paris, Belgien, Amster dam, Antwerpen, Mailand und Wien. Auf diese Weise machten wir die Bekanntschaft anderer Künstler. In Paris etwa lernte ich 1958 Yves Klein kennen, um nur einen heute berühmten Namen zu nennen. © Oliver Wolleh, Berlin Es gab gar keine Alternative HM: Das Sahara-Projekt war vielleicht das wichtigste von allen, und ich hatte bereits lange Zeit davor, im Jahr 1959, darüber nachgedacht. Die erste Publikation erschien zwei Jahre später in der dritten und letzten Nummer von ZERO. Allgemein hatte ich die Idee, aus der Welt der Museen herauszugehen und diese Furcht vor Galerien und marginalisierten In stitutionen und all diese Dinge hinter mir zu lassen. Ich wollte mich von den Regeln der kommerziellen Kunst befreien, und ich hatte die Absicht – was wesentlich wichtiger war –, neue Erfahrungen in neuen Räumen zu sammeln. Ich beschwerte mich über den Raum, der uns umgibt, empfand ihn als „völlig übertrieben, überladen mit Möbeln, mit der Zivilisation“. Wenn ich heute mit dem Taxi durch London fahre, habe ich wieder genau dasselbe Gefühl; alles ist völlig überfüllt, und ich weiß gar nicht, wohin ich schauen soll. Und fragen Sie mich danach, was ich dort gesehen habe, nun, dann wird es schon schwierig, denn ich habe Tau sende einzelner Bilder gesehen. Was ich sagen möchte, ist: Diese übertriebene, diese mit allen möglichen menschlichen Erfindungen überla dene Welt bereitete mir große Angst, und daher verspürte ich den dringenden Wunsch, ja die Sehnsucht, diese Welt zu verlassen und mich in eine Welt zu begeben, in der die Zivilisation keine Spuren hinterlassen hat, denn was immer man um sich herum sieht, ist voller Spuren der Zivilisation. Dieser Wunsch war so stark, dass ich zu träumen begann und ein gewisses Kon zept der Arbeit in der Kunstwelt entwickelte, das sich nur in einem völlig unberührten Gebiet, in einem völlig offenen Raum verwirklichen ließ. Für mich ist das Sahara-Projekt also eine Art Fata Morgana. Es ist wirklich wie eine Epiphanie. HUO: Eine letzte Frage: Rainer Maria Rilke hat ein hübsches kleines Buch geschrieben, in dem er einem jungen Dichter Ratschläge erteilt. Welchen Rat würden Sie, mit Ihrer gewaltigen Erfahrung, einem jungen Künstler erteilen? HM: Arbeiten Sie nicht zu viel, denn sonst ist das Leben zu kurz! • Auszüge aus einem Gespräch, das im Oktober 2010 in London geführt wurde. Otto Piene: Ich glaube, meine Mutter und meine Großmutter haben mich zum Zeichnen ermutigt, und meine Großmutter hat die erste Leinwand für mich aufgezogen. Da war ich un gefähr 10. Während des Zweiten Weltkrieges herrschte Mangel an allem. Einer meiner Onkel war Architekt und Professor an der Techni schen Hochschule Breslau. Er besorgte mir Öl farben, sodass ich mein erstes Ölbild auf Lein wand malen konnte. Meine Familie fand großen Gefallen an meinen Zeichnungen und Gemälden. HUO: Welche Werkreihe ist die erste, bei der Sie das Gefühl hatten, Ihre eigene Sprache ge funden zu haben? OP: Das waren die Rasterbilder, die ich 1956/ 1957 in Düsseldorf gemacht habe. Sie entstan den im Zusammenhang mit den Entwürfen und Leuchtkästen, die Teil meiner Arbeitstechniken waren, also nicht nur Gemälde und Zeichnun gen, sondern Metall- und einige Emaille-Arbei ten. Ich perforierte das Metall und ließ Licht durch die perforierten Messingplatten fallen. Das inspirierte mich zur Herstellung von Ras tern aus Pappe, die ich benutzte, um Ölfarbe auf Leinwände zu filtern. So entstanden die Rasterbilder. Ich ließ aber auch Licht durch die Pappsiebe fallen, und das war der Beginn der Lichtzeichnungen und Lichtballette. Im Som mer 1957 stellte ich 40 solcher Platten her. Als nächstes benutzte ich sie, um Rauch hindurch zublasen, was mich wiederum zu den Rauch zeichnungen und Rauchgemälden führte. Ein weiterer Schritt war die Verwendung von Feu er. Das ist eine recht plausible Abfolge von Schritten, die auch durch die ökonomische Verwendung der Rasterkartons bedingt war. Indem ich Licht durch sie hindurchfallen ließ, wurde mir klar, dass überall im Raum, an den Wänden, auf dem Boden und, am wichtigsten, an der Decke, Lichtformen erschienen. HUO: Es gibt ja auch dieses Interesse an den Naturwissenschaften. Wann setzte das bei Ih nen ein? OP: Nun, mein Vater war Physiker und Gym nasialdirektor und arbeitete mit physikalischen Gegenständen, die für mich Lehrmittel waren. Er spielte für mich mit Dingen und Phänomen wie Neon- und Argonlicht, denn das faszinierte ihn, und er dachte offenkundig, dass es auch für mich interessant sein würde. Auch der Krieg und all das, was damit einherging, prägten mich. Es hatte auch mit Phänomenen zu tun, die keine gelenkten oder akademischen waren, wie Leben und Tod, mit Sensationen am Him mel oder Sensationen, die ihrer Zeit voraus wa ren und die ich aus der Ferne betrachten konn te. Mein Interesse richtete sich aber auch auf Phänomene in meiner unmittelbaren Nähe, zum Beispiel auf Feuer. In ästhetischer Hin sicht übten diese sogar eine angsteinflößende Faszination auf mich aus. HUO: Das führt uns zu der Frage, in welcher Beziehung der Krieg zu Ihren Erfindungen im Jahr 1956 stand. Günther Uecker hat mir erzählt, dass die Nägel, die er 1956 verwendete, für den Versuch standen, seine Schwestern und seine Mutter im Krieg durch Vernagelung der Türen und Fenster zu beschützen. In welchem Verhältnis steht Ihr Werk zur Kriegserfahrung? OP: Meine Faszination für Licht ist wahr scheinlich eine Folge des Krieges, denn im Krieg gab es die gesetzliche, also vom Kriegs recht vorgeschriebene Verdunkelung. Als der Krieg 1945 vorbei war, war eine der ersten Ver änderungen, dass die Leute wieder Licht ein schalten durften und das Licht durch die Fens ter und auf den Straßen scheinen konnte. Das bedeutete also einen existenziellen Wandel und war eine wirklich wichtige Erfahrung. Der Krieg ließ den heiteren Himmel verschwinden: Wenn der Himmel am schönsten war, dann war er auch am gefährlichsten, denn gutes Wetter bedeutete Bombenangriffe und das total Ne gative. Während des Krieges verkehrte sich die Bedeutung von Licht und Dunkelheit gewisser maßen ins Gegenteil: Dunkelheit war gut und Licht schlecht. Die Rückkehr zur Normalität nach dem Ende des Krieges war wichtig für meine ganze Gene ration, von Joseph Beuys über Karlheinz Stockhausen und ZERO bis zu Nam June Paik, der schrieb, die Erfahrung meines Lichtballetts habe ihn dazu bekehrt, bildender Künstler zu werden. HUO: Tatsächlich haben Sie 1957 zusammen mit Heinz Mack die Gruppe ZERO gegründet, der sich dann 1961 Uecker anschloss. Könnten Sie dazu und zu den Anfängen von ZERO et was erzählen? OP: Den Anstoß zu ZERO gab die Entstehung der Rasterbilder im August 1957. Ich erinnere mich, wie ich damals an der Modeschule in Düsseldorf unterrichtete und drei Wochen Feri en hatte, die ich ausschließlich in meinem Ate lier verbringen konnte, abgesehen von der Zeit in einem Krankenhaus, wo meine Tochter Claudia zur Welt kam. Ich konnte konzentriert arbeiten und begann mit den Rasterbildern. Mein Atelier befand sich in der Nähe von Macks Atelier, der aber damals gerade verreist war. Im September zeigte ich die ersten Rasterbilder dann in der Abendausstellung: Brüning, Mack, Piene, Salentin in meinem Atelier, die ich zu sammen mit Mack organisiert hatte. Ich glau be, es war die 4. Abendausstellung, mit vier Leuten. Meine Bilder sorgten für ziemliches Aufsehen. Kurz darauf – im November oder vielleicht im Dezember – beschlossen Peter Brüning, Mack und ich, eine Gruppe zu grün den und eine Publikation herauszubringen. Und so veröffentlichten wir im April des darauf folgenden Jahres ZERO 1. Das war der Beginn einer etwas systematischeren Präsentation meiner Ideen, unserer Ideen zu Beginn von ZERO. Auf den Namen ZERO hatten wir uns aber bereits im September 1957 geeinigt. Als wir die Zeitschrift ZERO 1 publizierten, wurde der Name öffentlich. HUO: Interessant ist ja auch, dass wir in einer Zeit leben, in der es weniger künstlerische Be wegungen gibt. Sie haben einmal in einem In terview gesagt, dass das Ganze eigentlich nicht so sehr als eine Bewegung oder Gruppe gedacht war, sondern eher aus Ihrer Freund schaft heraus entstanden war. Sie und Mack waren Ateliernachbarn und hatten ähnliche Einstellungen gegenüber der Kunst, zum Bei spiel den historischen Avantgarden wie Dada und dem Surrealismus und deren Manifesten. In welchem Maße war ZERO eher eine pragma tische Verbindung und keine ideologische wie etwa bei den japanischen Metabolisten? OP: Es konnte beides sein, aber die geistige Verbindung war der wichtigste Teil. Nachdem wir ZERO gegründet und die Zeitschrift ZERO 1 publiziert hatten, wurden die Leute allmählich aufmerksam auf uns. Wir luden Künstler aus Nachbarländern, genauer gesagt aus Paris und Mailand, ein. Wir unterhielten uns mit ihnen und der Austausch war richtig hitzig. Spontan ent standen Freundschaften. In dieser Hinsicht ist es also wahr, dass ZERO auf Freundschaft be ruhte, doch sie führte zu gemeinsamen Ideen und einer gemeinsamen Begeisterung, Energie und Vision, wenn ich dieses Wort benutzen darf. Und das ging dann während einer sehr in tensiven Anfangszeit so weiter, bis die Leute in der Kunstwelt Fuß gefasst hatten, mehr herum reisten und dann auch immer erfolgreicher wurden. Doch am Anfang hatte das Ganze eine reale, ganz persönliche und menschliche Seite und orientierte sich weniger an weltlichem Er folg und organisatorischen Fertigkeiten oder Ähnlichem; jedenfalls haben wir eine Menge gelernt. Seinen Anfang genommen hatte alles in diesem Atelier in der Gladbacher Straße 69, einem ungewöhnlichen, gastfreundlichen Ort für eine halböffentliche Tätigkeit. Die Leute in Düsseldorf mochten die nächtlichen Ausstel lungen, weil sie sich von denen in den neu ent stehenden Kunstinstitutionen unterschieden. HUO: Gibt es irgendwelche nicht realisierte Architekturprojekte von Ihnen oder anderen Architekten, utopische Projekte oder Städte, die Sie gern bauen würden? OP: Ja, beides. Ich habe Paolo Soleri noch ge kannt. Er gehört zu den Architekten, die mich von dem Augenblick an interessierten, da sie am Architekturhorizont in Erscheinung traten. Einige meiner eigenen bislang nicht realisierten Architekturprojekte sind Sky-Art-Projekte. Mit Sky Art meine ich auch die Kunst der mobilen und fliegenden Architektur. Ich interessiere mich für anthropomorphe Gebäude und städ tische Organisationen wie etwa tragbare Medi enkomplexe, Medienviertel, fliegende und unter irdische Klangstädte und Lichtstädte. HUO: Die Verbindung zur Architektur führt auch zu Yves Klein, der mit den Architekten Claude Parent und Werner Ruhnau zusam menarbeitete. Raymond Hains erzählte mir von diesem unbändigen Trieb Yves Kleins, über kosmische Architektur zu sprechen. OP: Yves und ich waren sehr eng befreundet. Die Freundschaft entwickelte sich zunächst in Düsseldorf, aber auch durch Ruhnau, der ebenfalls viel mit Yves zusammenarbeitete; er war einfach ein faszinierender Mann und je mand, der sehr gut kommunizierte und eine Leidenschaft für zwischenmenschlichen Aus tausch hatte. Yves und ich schlossen daher ei nen Pakt, dass wir einander nicht in die Quere kommen würden, weil wir beide Feuer als Me dium benutzten. Dieser Pakt hat wirklich sehr gut funktioniert. Das kosmische Element wurde natürlich durch meine Kriegserfahrungen ver stärkt. Wissen Sie, wenn man die Nächte damit zubringt, in den Nachthimmel zu starren mit all dem, was sich darin abspielt, dann wird der gute Kosmos und der böse Kosmos – das weiß man dann halbwegs und versucht es zu verste hen – das Leben insgesamt. Und diese Liebe zum Kosmos, die Achtung ihm gegenüber, die ses gewaltige Gestirn, dieser Kosmos war das, wovor ZERO Ehrfurcht hatte und was auch ein wichtiges Element für Yves, seine Philosophie, seine „Themen“ und seine Kunst war. Die Künstler der Gruppe ZERO widmen sich der Liebe und Bewunderung für den Kosmos. HUO: Eine letzte Frage zu ZERO. Wissen Sie, wie der Name „ZERO“ gefunden wurde? Erin nern Sie sich daran, was der Anlass war? OP: An den Anlass erinnere ich mich sehr gut. Es hatte mit Gedanken über eine mögliche Ausstellung und Publikation zu tun und fand in Fatty’s Atelier statt, einem Künstlerrestaurant in der Düsseldorfer Altstadt gegenüber der Ga lerie Schmela, wo Heinz Mack, Hans Salentin, ein Fotograf namens Wehling und ich über ei nen Namen für diese Ausstellung sprachen. Das war im September 1957. Ich schlug zu nächst so etwas wie „chiaro“ oder „puro“ vor, und dann sagte ich, ich würde es „ZERO“ nen nen, doch das könne man leicht als einen Aus druck von Nihilismus und Negativismus deu ten, sodass wir diese Idee für 20 Minuten oder eine halbe Stunde lang wieder fallen ließen. Doch dann, eine halbe Stunde später, sagte ei ner von uns wieder, wie wäre es denn mit ZERO? Wir wussten, dass man es mit allem Möglichen, sentimentalem Existenzialismus oder so, assoziieren konnte, aber wir beschlos sen, nun sei es gut, nehmen wir dieses Wort. Die Zeitschrift sollte also ZERO heißen. Mack und ich machten uns an die Arbeit, und 1958, im April, kam ZERO raus. Nachdem der Name ZERO einmal eingeführt war, sprachen wir nur noch von der „Gruppe ZERO“ und so wurden wir zur Gruppe ZERO und wurden auch so ge nannt. Die Gruppe war nie formell organisiert, es gab keinen Gründungsakt. ZERO entstand einfach, weil wir das Wort in Katalogen, auf Plakaten und Einladungen wie eine Handels marke benutzten; es klang richtig und hatte et was Magisches. Der Name setzte sich sofort durch. HUO: Welchen Rat würden Sie einem jungen Künstler geben? OP: Die Naturwissenschaften zu studieren wie Leonardo, aber über alle Begeisterung für die Naturwissenschaft und die neuen Erfindungen die Kunst nicht zu vergessen. Bei den neuen Künsten müssen Wissenschaftler und Künstler Hand in Hand arbeiten und die Poesie und die Intelligenz der Wissenschaft gemeinsam verfol gen. Sie sind gleichermaßen intelligent, doch Intelligenz tritt in unterschiedlichen Formen zu tage. Junge Leute sollten im Mittelpunkt von allem stehen. Ich sehe immer wieder, wie naiv einige Künstler sind. In einer Zeit voller Intelli genz sind wir wegen einer schlimmen Wirt schaftslage, schlimmen Kriegen und einer schlimmen Verwirrung von starken Bedrohun gen und dem Unbehagen der Welt umgeben. Ich meine also, dass unsere jungen Künstler auf intelligentere Weise ausgebildet werden sollten. Der Ausbildungsstandard in den Küns ten sollte wesentlich höher sein, als er es derzeit ist. Institutionen wie die Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) und das ZKM / Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe sind erstklassig. Sie haben sich beide am Vorbild des Center for Advanced Visual Studies (CAVS) am Massachusetts Institute of Technology (MIT) orientiert, mit dem Unterscheid, dass das CAVS klein ist und diese neuen Institutionen um eini ges größer sind und mehr Geld haben; doch darum geht es gar nicht. Wir benötigen mehr Kunst- und Technologieeinrichtungen, um auch intelligentere Künste fördern zu können. • Auszüge aus einem Gespräch, das im Februar 2011 in London geführt wurde. 7 HUO: Ich finde interessant, dass Sie in mehre ren Interviews, die ich gelesen habe, auf die Frage nach Ihrer Epiphanie – als 1956 erstmals Nägel in Ihrem Werk erschienen sind – gesagt haben, der Nagel stehe in einer Beziehung zu Kriegsereignissen und verbarrikadierten Häusern. Könnten Sie das noch etwas näher erläutern und schildern, wie das zu den Nagel- Werken führte? GU: Das war der Versuch, meine Schwestern und meine Mutter zu beschützen. Als die Front näher rückte, habe ich unser Haus von innen verbarrikadiert, was natürlich nur eine illusionä re Sicherheit war. Aber nichtsdestoweniger vermittelte es einem emotional das Gefühl, ge schützt zu sein. Und das repräsentieren die Nägel in meinem Werk: einerseits eine Abwehr, wie gesträubtes Haar, wie ein Igel, der sich zu einer Kugel zusammenrollt, und andererseits Zärtlichkeit. Diese taktilen Wahrnehmungen können sehr fragil und in Bezug auf ihre visuelle Wahrnehmung poetisch nachhaltig sein. Das hat mit dem Finden einer Sprache im allge meinsten Sinne zu tun. Für mich ist die Zumu tung des Eindringens eines Nagels in ein Werk der nicht-alphabetische Moment eines kreati ven Ausdrucks, den ich in den folgenden Jah ren entwickeln konnte, indem ich Möbel und ganze Innenräume benagelte. Wie in der Gale rie von Rochus Kowallek in Frankfurt, wo ein ganzer Raum möbliert wurde – einschließlich eines Fernsehers, Einbauten mit Teppichen und Bildern – und ich anschließend alles ben agelt habe. Die einzelnen Gegenstände als Überschreitung, ein Überfluten der Welt mit Kunst. Diese Alltagsobjekte wurden plötzlich sakrale Gegenstände. HUO: Und welche Verbindung gab es damals zur historischen Avantgarde? Man kann ja sagen, dass Ihre Arbeit ein Teil der Neoavant garde der 1960er-Jahre war. Die Verbindung zwischen der Neoavantgarde und der Avant garde des frühen 20. Jahrhunderts ist extrem interessant. Vor allem weil man beim Anblick eines solchen Werks an die kinetischen Skulp turen von Marcel Duchamp, László Moholy-Nagy oder Naum Gabo denkt. In welcher Beziehung standen Sie als Teil der Neoavantgarde zur his torischen Avantgarde? War das Wiederholung oder Differenz? GU: Tatsächlich war es eine Entdeckung, denn wir hatten keine Lehrer. Die meisten Lehrer waren Nazis, außer denjenigen, die in die DDR einge wandert waren, wo ich aufwuchs. Diese Lehrer waren die ersten, die uns mit den kulturellen Er eignissen des erwachenden Geistes des frühen 20. Jahrhunderts konfrontierten. Das gab uns das Gefühl, lebendig zu sein, und war für uns so etwas wie eine Renaissance des 20. Jahr hunderts selbst, das die Katastrophe einer Selbstzerstörung und kulturellen Auslöschung bestimmter Ereignisse durchlief. Es handelte sich um die Zerstörung dessen, was die Men schen irritierte, um ihre Furcht zu überwinden. Und das waren existenzielle Ereignisse, die sich nicht kunsthistorisch erklären lassen mit dem formalen Einfluss von Naum Gabo oder anderen. Ich habe das in den 1950er- und 1960er-Jahren ausführlich mit Jean Tinguely und Yves Klein diskutiert. Es war, so könnte man sagen, die Entdeckung künstlerischer Möglichkeiten, um auf schöpferische Weise die tiefste existenzielle Emotion zum Ausdruck zu bringen. Denken und Handeln ist eine Sache, und diese ist Teil der Gegenwart. Es geht nicht 8 über der Welt zum Ausdruck zu bringen, in diesem Fall auf künstlerische Weise. Ich ver wendete feuchte Farbe, sodass die Leute, die darüberliefen, sie mit sich durch die Innenstadt schleppten. Joseph Beuys war so begeistert, dass er den Kübel mit der weißen Farbe umtrat und lachte. Es gibt viele Fotos von meiner Aktion. Das war für mich ZERO. Davor gab es eine Gleichzeitigkeit ähnlicher künstlerischer Ansät ze, fast wie bei einer telepathischen Kommuni kation, wie zum Beispiel in der Ausstellung Vision in Motion—Motion in Vision 1959 im Hessenhuis in Antwerpen. Yves Klein blies Rauch in die Luft und Tinguely fing sogar eine Schlä gerei an. Die Spannung war einfach so groß, denn dort kam diese ganze Kunst zusammen. Man hätte beinahe sagen können: „Mann, das Ein Überfluten der Welt mit Kunst Wir verspürten das Bedürfnis, den Emigranten zu begegnen, die die Erinnerung an das Erwa chen des 20. Jahrhunderts um 1910 mit sich trugen. Das waren die entscheidenden Gestal ten, die ich in England und New York traf, an gefangen mit Willem Sandberg in Antwerpen und Amsterdam. Dieses Bedürfnis veranlasste mich, woanders hinzugehen und etwas über meine Identität der kulturellen Konditionierung zu lernen, die ich gerade erst wiederentdeckt hatte. Nicht im Sinne akademischer Studien, sondern durch die Entdeckung von Büchern, die man in einem Antiquariat oder im Ausland, in Belgien, Holland oder England, fand. HUO: Aber erst müssen wir über die Anfänge sprechen. Wie entstand ZERO? hat er von mir abgekupfert!“ oder: „Der künst lerische Ausdruck ist bei uns allen ziemlich ähnlich“, was in der Ausstellung eine spürbare Spannung erzeugte. Das war sicherlich die schockierendste Erfahrung, die man machte, doch man erlebte sie als einen positiven Schock. Man konnte sagen, wir seien eine Familie, doch zugleich spornte uns dieser künstlerische Im puls an: „Ja, das hat er von mir abgekupfert.“ Vielleicht war das beim Kubismus ähnlich, die Spannung zwischen uns, das unabhängige Entdecken und die Vergleichbarkeit mit ähnli chen Entdeckungen. HUO: Das führt zu mehreren, vielleicht utopi schen, Projekten, die auch mit Land Art zu tun haben. Ein fast utopisches Projekt im Kontext von ZERO war 1965 ZERO op zee. GU: Mein Gott, dass Sie mich an alle diese Dinge erinnern! Das waren natürlich alles Ide en, die sich auf ZERO beziehen. Ich wollte Dia manten auf dem Strand abladen und sie dort ausbreiten, sodass es auf dem Strand ver schiedene Spiegelungen gegeben hätte, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man die Diamanten in der Sonne betrachtet hätte. HUO: Ein anderes Projekt, das mich fasziniert, ist das, bei dem sie zusammen mit Gerhard Richter 1968 in der Kunsthalle Baden-Baden wohnten. Die Idee war, dass Museen bewohn bare Orte sein und die Unterschiede zwischen Kunst und Leben unscharf werden können. Können Sie mir etwas über die Zusammenarbeit mit Gerhard Richter erzählen? GU: Klaus Gallwitz, der damalige Direktor der Kunsthalle Baden-Baden, hatte mich eingela den, an einem neuen Programm teilzunehmen, bei dem 14 Künstler 14 Ausstellungen nachei nander machten. Da sagte ich als erster, ich würde lieber noch jemand anderen dazuneh men. Und dann schufen Gerhard Richter und ich das Manifest Museen können bewohnbare Räume sein. Die Kultur ist bewohnbar, nicht unsichtbar, sondern bewohnbar. Und daher haben wir keine Werke ausgestellt, auch wenn andere das getan haben. Ich brachte mein Terrororchester und führte es auf, und Richter malte weiter seine pastosen Alpen. Wir wohn ten in dieser Zeit im Kunstmuseum, hatten dort unser Schlafzimmer und die Möglichkeit, zu kochen und zu essen. Und wir hatten – das war wirklich eine nette Geschichte – die Konsolen, die an den Wänden entlangliefen, die heute aber nicht mehr da sind. Richter hängte seine Schneelandschaften darüber. Dann veranstal tete er mithilfe eines Ballons „Flüge“ über die Alpen und sprang von der Konsole in den Saal. Er wiederholte das den ganzen Tag, bis die Leute wieder gingen. All das geschah während der normalen Öffnungszeiten des Museums. Viele Besucher wollten ihr Geld zurück, weil sie dachten, die Ausstellung würde noch aufge baut (lacht). gemacht und ausgestellt wurde, als Thema für den Besucher zu erkennen war. HUO: Eine letzte Frage: Rainer Maria Rilke hat ein Buch geschrieben, in dem er jungen Dich tern Ratschläge erteilt. Was würden Sie einem jungen Künstler raten? GU: Nun, nicht alles, was man gelernt hat, als die vollständige Grundlage für den künstleri schen oder schriftlichen Ausdruck zu nehmen, sondern sich stattdessen an den Fehlern zu orientieren, die wiederholt werden und die man geheim halten möchte. Häufig ist es nur eine Verkleidung, eine Travestie von Fehlern. Am wichtigsten ist es, sich auf das zu konzentrie ren, was nicht verkleidet werden muss, sich selbst zu entblößen und ein Ventil für Fehler und die Existenz des Lebens zu finden. • Auszüge aus einem Gespräch, das im Februar 2011 in London geführt wurde. HUO: Mich interessiert, dass man jedes Mal, wenn man etwas über ZERO liest, auf diese Idee eines Neuanfangs, die Idee einer Tabula rasa stößt. Könnten Sie das kommentieren? Hatten Sie damals auch dieses Gefühl? GU: Nun, die Galerie Alfred Schmela lud mich 1961 zu ZERO. Edition, Exposition, Demonstra tion ein. Ich malte die Straße vor dem Haus weiß an, um zu veranschaulichen, dass es da einen weißen Bereich gibt, der die Grundlage für wahren künstlerischen Ausdruck ist. Ich gehörte nicht zur Generation der Schuldigen, sondern zur Generation der Erben der Schuld. Und das Akzeptieren dieses Erbes brachte die Notwendigkeit mit sich, andere Prinzipien auf zustellen, um die eigene Wahrhaftigkeit gegen Ari Benjamin Meyers, geboren 1972 in New York, erkundet in seinen Werken Strukturen, welche die performative, partizipative und im materielle Seite der Musik neu definieren. Aus gebildet als Komponist und Dirigent an der Juilliard School, New York, der Yale University, New Haven, und dem Peabody Institute, Balti more, gilt er als Spezialist für sparten über greifende Produktionen in den Bereichen Film, Kunst und Theater. Neben unterschiedlichsten Produktionen für diverse Opernhäuser und Theater arbeitete er u. a. mit den Einstürzenden Neubauten, La Fura dels Baus und Morton Subotnick und entwickelte die Musikreihe Club Redux. Für die von Hans Ulrich Obrist und Philippe Parreno kuratierte Künstler-Oper Il Tempo del Postino (Manchester International Festival, 2007, und Art Basel, 2009) erarbeitete Meyers mit Künstlern wie Ólafur Elíasson, Dominique Gonzalez-Foerster, Matthew Barney, Anri Sala und Tino Sehgal eine Serie von musikalischen Performances. Weitere Kollaborationen folgten u. a. mit Dominique Gonzalez-Foerster (K.62/K.85, 2009), Saâdane Afif (The Fairytale Recordings, 2011), Anri Sala (The Breathing Line, 2012) oder Sora Kim (Ghost Radio, 2014). In Berlin war 2013–2014 Meyers Komposition Chamber Music (Vestibule) im Eingangsbereich der Berlinischen Galerie zu erleben. www.aribenjaminmeyers.com Ari Benjamin Meyers wird seine Komposition Untitled for choir (Beating Time) zusammen mit dem 30-köpfigen Chor der Kulturen der Welt am 11. April 2015 im Rahmen der Performance Nacht im Martin-Gropius-Bau aufführen. HUO: Es war also im Grunde ein Happening? GU: Ja, es war eine Art Happening. Es war ein fach ein Versuch, das Alltagsleben eines Künstlers in ein Museum zu übertragen, in ei nen Museumsraum. Sodass die Art, wie Kunst GU: Zunächst war ich damals, als ich aus der DDR kam, sehr ehrgeizig, doch in West deutschland fühlte ich mich einsamer und iso lierter. Daher trampte ich an die Côte d’Azur, weil ich in Vallauris Pablo Picasso und Fernand Léger sehen wollte. Dort habe ich damals dann gelebt und 1954, 1955 und 1958 die wichtigs ten Erfahrungen gemacht, lange vor ZERO. Dort habe ich auch Arman kennengelernt und durch diesen Yves Klein. Das war schon 1956, als ich mir ehrfurchtsvoll Picassos umfangreiche Arbeiten im Keramikatelier Madoura oder in der Töpferei in Vallauris, wo er arbeitete, ansah. Ich bewunderte aber auch die ganzen Widerstands kämpfer, die in diesen Städten lebten. Léger in Biot und Jean Cocteau mit seinen Filmen schu fen diese Atmosphäre. Aber ich gehörte nicht dazu. Ich war sozusagen nur ein Voyeur, der mit großem Respekt zu den Widerstands kämpfern aufblickte, die ihre künstlerischen Werke um 1940 herum aus der Niedergeschla genheit befreiten. Es gibt einen großen Unter schied zwischen Picassos Werken in Vallauris und denjenigen, die er 1942 in Paris schuf, wo er noch sehr graue Bilder malte. Ich begriff, dass jede Generation ihre eigene Identität hat. Aus diesem Grund hinterließen die Beziehun gen zu Martial Raysse, Arman und Yves Klein auch einen wichtigen und bleibenden Eindruck. Da gehörte ich hin. Als ich dann 1958 in Düssel dorf war und Werke von mir zeigte, lud Mack mich zu einer ZERO-Ausstellung in seinem Atelier und dem von Piene ein. Georges Mathieu und Yves Klein waren ebenfalls da, und auf diese Weise kam auch ich mit dieser Bewe gung in Berührung. Vielleicht lag das an den Beziehungen, die wir für uns wählten und die wir untereinander (an)erkannten, wie bei Piero Manzoni, der ständig zwischen Paris, Antwer pen, Düsseldorf und Kopenhagen herumreiste. Auch später bei Arthur Köpcke spürten wir im mer diese wechselseitige Faszination, bei der wir uns fragten: „Was macht denn eigentlich der andere da?“. Wir suchten ganz bewusst die Ateliers der anderen auf, und gerade, als ich nach Frankreich ging, kam eine stattliche Zahl französischer Künstler aus Paris nach Düssel dorf und fand dort das Echo, das ihnen in Paris noch nicht zuteil geworden war. Ari Benjamin Meyers Untitled (Beating Time) von Ari Benjamin Meyers ist Zeichnung und Ergebnis der Vorbereitung auf die Performance Nacht im Kontext des ZERO-Begleitprogramms dynamo gleichzeitig. Ein sogenanntes „Conducting Drawing“, entstanden auf altem Notenpapier durch das Dirigieren eines fünfteiligen Taktes über einen Zeitraum von 57 Minuten in einem gleichbleibenden Tempo von 86 bpm. Deutlich entsteht so die Schlagfigur 5-4-3-2-1 aus der Perspektive des Dirigenten und zugleich eine dynamische Zeichnung, die in der Lage ist, Musik und Zeit zu konservieren. Foto: Hans-Joachim Roedelius Günther Uecker: Das erste Werk, das sich übrigens in der Neuen Nationalgalerie in Berlin befindet, war eine Art Matschgemälde. Als würde man einem Kind sagen, es solle gefäl ligst seinen Brei aufessen, obwohl der faktisch ungenießbar ist, oder als würde ich mich in meinen eigenen Ekel hineinstürzen, in meinem eigenen Erbrochenen ausrutschen. Ich habe versucht, die Frage der Farbe mithilfe von Nägeln in den Griff zu bekommen. Es gibt ein ganz ähnliches Bild, Malereiübernagelung von 1957. Die Idee war, dass alles, was man in sich aufnimmt, eine Querung hat. Es besteht eine Dialektik zwischen dem Beobachten der Welt und den Emotionen, die sich aus dem subjekti ven Verhältnis zur Welt ergeben. Die Wider sprüche, die ein Mensch in sich vereint, sind ein Ausdruck seiner Poesie. Beim Prozess des Zeichnens gibt es nicht nur die gezeichnete Linie auf dem Papier, sondern auch den Blei stift als ein lebendiges dreidimensionales Ob jekt, das einen Schatten aufs Papier wirft. Bei den Nägeln handelt es sich um ein ähnliches Phänomen wie bei dem Bleistift. In der Vielfalt ihrer Sequenzen oder Verdichtungen oder Gruppierungen tritt eine komplexe Struktur zu tage, die es mir erlaubt, Licht zu formen. Durch Lichtquanten, wie diejenigen, die man norma lerweise in der Farbe oder anderswo in der Form der Malerei findet, aus der ich hervorge gangen bin, und durch dieses Strukturieren und Gruppieren entsteht ein realer Raum, sodass man sagen könnte, dass sich die Gemälde dem Auge stärker annähern, so wie man mit einem Finger auf Leute zeigt. um das kunsthistorische Gefühl des „Aha, das hatten wir schon mal“. Es ging um Wahrneh mung. In diese Richtung bewegte sich Alexander Rodtschenkos Werk. Das war für mich beson ders wichtig, ebenso wie Alberto Giacometti, der den Menschen auf seine Existenz reduzier te. Sterblichkeit ist so offenkundig, dass man sich ihrer bis zum Überdruss bewusst ist. Wir sprechen hier nicht von einem kulturellen Fort schritt im klassischen Sinn, sprich, dass etwas auf etwas anderem aufbaut. Es war dieser Bruch, ein Notfall, in dem wir uns wiederfan den, umgeben vom Schweigen der Älteren, die einerseits Mörder waren und andererseits auf betrügerische Weise versuchten, sich selbst eine neue Identität zu verschaffen. Als junge Leute waren wir einsam, ich ganz besonders. © Oliver Wolleh, Berlin Hans Ulrich Obrist: Wo würden Sie Ihr Werkverzeichnis beginnen lassen? Das ist ja immer ein interessanter Übergang. Was zählt zum Frühwerk oder zu den studentischen Ar beiten, und welches wäre das erste Werk in Ihrem Werkverzeichnis? Courtesy: Ari Benjamin Meyers und Esther Schipper, Berlin Günther Uecker im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist Günther Uecker 1969 in den Trümmern seines Düsseldorfer Ateliers, porträtiert von Lothar Wolleh Die Gruppe Human Being in der Akademie der Künste 1968 vor dem großen Aufruhr Vom Zodiak zum Aufruhr in der Akademie der Künste Hans-Joachim Roedelius In welchem Monat des Jahres 1968 das Zodiak seine Pforten öffnete, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass mich Conni Schnitzler und Horst Rainer (Boris) Schaak eines Tages in Paris anriefen, wo ich freiberuflich als Masseur arbei tete, um mir mitzuteilen, dass sie ein Lokal ge funden hätten und sie dabei wären, es zu einem Ort der Begegnung für alle freischaffenden Künstler Berlins umzugestalten; ich hätte doch versprochen, als Gründer mitzumachen, ob ich nicht sofort kommen wolle. Ich hatte zuvor ja schon – neben meinem Beruf als Masseur – zuerst mit Schnitzler und später auch mit Boris bei allen möglichen Gelegen heiten musikalisch-aktionistisch in der freien Berliner Kunstszene agiert. Dabei waren wir auch immer wieder auf das Thema der Grün dung eines eigenen Clubs zu sprechen gekom men, und ich hatte damals gesagt, dass ich gerne dabei wäre. Conni Schnitzler hatte nach intensiver Suche dieses im Souterrain der Schaubühne am Halleschen Ufer gelegene, seit Langem leer ste hende Lokal gefunden und vom Berliner Senat angemietet, um es mithilfe seiner Freunde für seine und unsere Zwecke nutzen zu können. Das Zodiak öffnete also seine Tore und war von Beginn an gerammelt voll an jedem einzel nen Programmtag. Hier traf sich alles, was in der freien Berliner Kunstszene zu der Zeit zu gange war. Schnitzler beschloss bereits kurz nach der Eröffnung des Clubs, wieder auszu steigen, und überließ uns, Human Being, einer Gruppe von Leuten aus verschiedensten Ge nerationen und Kulturkreisen, das Feld zur wei teren Kultivierung. Dazu gehörte eben auch der Ausflug zu einem Auftritt in der Akademie der Künste, dem einzigen außerhalb des Zodiaks, wenn ich mich recht erinnere. An jenem historischen Abend wollten wir in großer Besetzung spielen, d. h. zu uns, dem Nukleus der Gruppe, der aus Boris Schaak, mir, Elke Lixfeld, Christoph Sievernich, Beatrix Rief, Verena Schirz und Broderick Price be stand, gesellte sich noch ein aus Marokko stammender junger Berber hinzu, der Gedichte auf Schwedisch schrieb und wie wir alle kein Instrument richtig spielen konnte. Möglicher weise waren aber auch noch andere Mitspieler dabei. Joseph Beuys befand sich jedenfalls als Gast im Saal. Ich weiß nicht, wie lange wir ungestört aufspie len konnten. Irgendwann fing das Publikum an, uns auszubuhen und schließlich die Bühne zu stürmen, auf unsere gerade mit einem Kredit der Stadt angeschaffte teure Tonanlage und die Instrumente einzuschlagen und vieles da von zu zertrümmern, Kabel zu zerschneiden, bis die Saalordner die wütende Menge von der Bühne vertreiben konnten. Nach diesem Ereignis begann der Niedergang des Zodiaks, das am Beginn des folgenden Jahres vor allem wegen des ungenierten, in aller Öffentlichkeit zelebrierten Umgangs von Künst lern und Publikum mit Drogen seine Pforten schließen musste. Human Being wollte aber weiterhin als Gruppe aktiv bleiben und entschloss sich, einen Aus flug nach Marokko zu unternehmen. Wir reisten in zwei alten gelben Opel-Blitz-Postbussen und einem VW-Bus, spielten in großen Städten auf dem Weg nach Afrika immer wieder auf Straßen und Plätzen, um die Reisekasse aufzu füllen, trennten uns aber für immer voneinan der, als wir in Casablanca nach einer langen, anstrengenden und höchst abenteuerlich ver laufenen Reise angekommen waren. Meine da malige Freundin und ich kehrten stante pede um und fuhren nach einem Ausflug auf die Insel Korsika, wo wir den Sommer verbrachten, und nach kurzen Zwischenaufenthalten in Paris und London nach Berlin zurück, wo ich Ende 1969 mit Conni Schnitzler und Dieter Moebius die Gruppe Kluster gründete, die sich nach dem Ausstieg Schnitzlers im Jahr 1971 in Cluster umbenannte, um unter diesem Namen weiter hin bis 2010 den Globus zu bespielen. Die Fahne des von Schnitzler ins Leben gerufe nen Spielprinzips der freien Improvisation wird mittlerweile von mir und Onnen Bock unter dem Namen Qluster weiter hochgehalten: Kluster, Cluster und Qluster oder die Treue zum Prinzip, dem ich aber persönlich auch mit anderen Mitspielern – wie etwa mit Christopher Chaplin am 6. Juni 2015 im Martin-Gropius- Bau – die Treue halte, oder mit Stefan Schneider oder Morgan Fisher oder Werner Moebius oder Leon Muraglia, alles Kollegen und Freunde im Geiste, mit denen zusammen ich gelegentlich auftrete. Am 6. Juni 2015 tritt Hans- Joachim Roedelius zusammen mit dem Musiker Christopher Chaplin und dem VJ Florian Tanzer im Rahmen des Musik und Film Abends in der Akademie der Künste auf. 9 Utopien des Alltags Dirk Pörschmann: Ich möchte direkt mit dem Aspekt Raum beginnen, denn diesen hast du zusammen mit deinen Kollegen und den Studierenden am Institut für Raumexperimente intensiv erforscht. Bei ZERO expandierte die Malerei – von Reliefs über Rauminstallationen bis hin zur Kunst im Himmel, der Sky Art von Otto Piene, oder den utopischen Projekten in den Sand- und Eiswüsten von Heinz Mack. Warum gehen Künstler mit ihren Werken aus dem Atelier heraus in die Welt? Es gibt ja bis heute auch den klassischen „Atelierkünstler“. DP: Oder in der kommerzialisierten Welt. OE: Ja! Oder betrachten wir die Welt der Politik, wo Ideen ebenfalls fast nur mit Worten vermittelt werden. Vielleicht sollten die Politiker mehr tan zen, damit man sie besser verstehen kann. DP: Eine schöne Idee! OE: Aber vielleicht tanzen sie ja auch jetzt schon, und wir sehen es nur nicht (alle lachen). DP: Experimente, die sich mit Wirklichkeiten auseinandersetzen, sind ganz zentral in deinem Schaffen. Im Experiment steckt ganz essenziell – sonst wäre es kein Experiment – die Möglich keit des Scheiterns. Worin liegt die Chance im Scheitern? OE: Man sollte dem Prozess des Experimen tierens mehr zutrauen als den Ergebnissen, die dabei herauskommen. Oft steht ja das Ziel als Kriterium des Erfolgs im Vordergrund – und Foto: Studio Ólafur Elíasson © 2012 Little Sun Ólafur Elíasson: Ich würde das nicht so klar trennen und sagen, dass sich auch Atelier künstler in einem generativen Teil der Welt be wegen. Ich glaube, Kunst ist als Sprache im mer weltproduzierend und weltverändernd. Das grundsätzliche Potenzial liegt im künstleri schen Vertrauen in die Tatsache, dass die Welt veränderbar ist. Sie ist relativ und steht zur Ver handlung. Hier gibt es mehrere Fragen. Eine lautet: Nimmt man die Welt überhaupt als rela kulturellen Sektor hinaus – dann funktioniert, wenn diese Idee eine Verkörperung findet. In der Kunst würde man sagen: Es geht nicht nur um die theoretische Konstruktion einer Idee, sondern auch darum, wie sich diese Idee emo tional und physisch anfühlt. Die Überzeugungs kraft der Kunst ist oft so stark, weil es hier um eine körperliche Auseinandersetzung geht. Und das Vertrauen in den kulturellen Sektor ist auch deshalb so hoch, weil wir hier ganz anders angesprochen werden als in der verba lisierten Welt. einen starken Beitrag dazu, den öffentlichen Raum neu zu durchdenken. Wir wollen ja, dass der öffentliche Raum in Deutschland die ge sellschaftlichen Werte nicht nur repräsentiert, sondern auch tatsächlich bei der Umsetzung dieser Werte hilft. Und wir wissen ja, dass der öffentliche Raum unter großen Problemen leidet: Er wird sehr stark privatisiert und kontrolliert. Deshalb traut man dem öffentlichen Raum nicht mehr zu, inklusive, nicht polarisierende Werte umzusetzen. Wer soll da den Weg weisen? Wie bekommen wir in die Debatte über den öffentlichen Raum wieder mehr Vertrauen hin ein? Ich meine, da kann Kunst sehr gut Wege weisen. Zum Beispiel das Festival of Future Nows, ein Projekt in der Neuen Nationalgalerie, das wir mit dem Institut für Raumexperimente im letzten Jahr realisiert haben und das im Rahmen der Ausstellung Sticks and Stones von David Chipperfield stattfand. Über hundert Künstler haben dort gezeigt, was aus einem fünfjährigen Experiment der Kunstausbildung entstehen kann – für mich der beste Beleg, dass Kunst eine Wirklichkeitsmaschine sein kann, in der Stadt, im öffentlichen Raum. DP: Eine gute Überleitung zu meiner nächsten Frage: Ist Kunst in diesem Verständnis erlern bar beziehungsweise lehrbar? OE: Auf jeden Fall! Dadurch, dass der Lernpro zess ja nicht bedeutet, in einen Fremdkörper hineinzusteigen. Lernprozesse sind eine Form von Selbstuntersuchung und dadurch die Aus einandersetzung und Übung mit der Sprache, die aus einem selbst kommt. Sonst würde es ja Ólafur Elíasson wird an dem am 1./2. Mai 2015 in der Akademie der Künste stattfindenden Symposium Vorträge und Gespräche teilnehmen. OE: Ja, das würde ich absolut so sehen. Und das gilt ja nicht nur für die Künstler, sondern auch für ihre Werke: In ihnen begegnet man sich als Zuschauer oder als Nutzer eines Werks. Ich gehe in ein Werk hinein, und diese Auseinandersetzung und der Vertrauensauf bau, der dabei passiert, braucht Zeit und eine gewisse Übung, damit man etwas Wichtiges für sich erfahren kann. Von Erfolg kann man dann sprechen, wenn sich jemand im Werk selbst sieht oder sich über das Werk „beim Se hen sieht“ und so die Möglichkeit hat, sich selbst zu kontextualisieren. Erst wenn wir uns wenigstens in Teilen von außen betrachten, se hen wir auch, in welchem Kontext, in welchem Zusammenhang wir stehen. Genau das lassen utopische Reflexionen oft zu: dass wir uns in einem Gesamtrahmen wahrnehmen können. Das halte ich für sehr interessant, denn da durch ist nicht nur eine individuelle Selbsteva luierung oder Selbstpositionierung möglich, sondern auch, sich innerhalb eines sozialen Systems zu repositionieren. Ich denke gerade darüber nach, ob meine Überlegungen in den Kontexten, in denen ich mich bewege, auch die richtigen sind. DP: Danke Ólafur! Du hast gerade schon meine letzte Frage beantwortet. Die wäre gewesen: Was bedeutet Erfolg für dich? Ich möchte an dieser Stelle zu Annette und konkreten Projek ten von dir überleiten. Annette Bosetti: Es geht mal wieder um die Sonne. Ist Little Sun (2012) eigentlich noch ein relevantes Projekt für dich? Oder ist das schon abgehakt? OE: Nein, Little Sun wird jeden Tag größer. Wir hatten gerade – nach unserem Austausch über Kommerzialisierung traue ich mich das kaum zu sagen – einen unglaublich erfolgreichen Monat Dezember, weil Little Sun wohl ein sehr beliebtes Weihnachtsgeschenk war. Das hat uns einen finanziell robusten Monat geschenkt. 2013 war das noch nicht so, aber 2014 war ein wahnsinnig erfolgreiches Jahr. Ich beschäftige mich jeden Tag ein bisschen mit Little Sun. Das Projekt wächst stetig. AB: Du hattest ja deine große Sonne in der Tate Modern in London gezeigt (The weather project, 2003), die alles überstrahlt hat. An schließend hast du diese kleine Sonne mit dem Ingenieur Frederik Ottesen zusammen entwi ckelt. Was bedeutet eigentlich die Sonne für dich als Künstler? Ólafur Elíasson: Little Sun Sunlight Graffiti, 2012 tiv wahr? Für viele Menschen scheint die Welt dies ja genau nicht zu sein. Das ist auch ver ständlich, denn diese Leute sind vielleicht in einer Situation, in der sie sich von der Welt aus geschlossen, marginalisiert und sozial unter drückt fühlen. Dann erscheint die Welt natürlich weniger relativ. Es ist interessant, dass die Kunst die Welt seit Langem als eine Konstruktion sieht, als ein Modell. Das war auch bei ZERO der Fall. Nicht nur die Welt, sondern auch unse re Wahrnehmung oder unsere Wahrnehmungs kapazitäten sind kulturell bedingt. Letztlich ent steht die Idee, dass die Welt veränderlich ist, natürlich nicht unbedingt aus ihr selbst, sondern mehr aus einem Anschauungsmodell, wie man mit der Welt umgehen kann. Das Vertrauen in die Kunst muss man im Zusammenhang mit dieser Idee, dass die Welt eine Konstruktion ist, betrachten. DP: Hat Kunst auch ihre Grenzen in der Welt? OE: Sicher hat Kunst in gewisser Weise ihre Grenzen. Eine Grenze ist sicher, dass die Kunstwelt oft sehr naiv und selbstverherrli chend unterwegs ist und in gewisser Weise auch elitär ist. Die Grenze liegt aber nicht unbe dingt in einem fehlenden Potenzial der Kunst, sondern in der Selbstauffassung der Kunst welt. Der Impact der Kunst und die dynami schen Qualitäten der Welt sind meiner Meinung nach nicht wirklich voneinander zu trennen. Kunst ist eine Sprache, mit der man etwas sa gen kann, das man mit keiner anderen Sprache ausdrücken könnte. Natürlich ist die Welt kein passiver, objektiver, neutraler Raum, in dem nichts gesagt wird. Es wird ja ohnehin unglaub lich viel gesagt und verändert. Doch gerade hier kann die Kunst Ideen beitragen, die sonst in der Diskussion nicht zu finden sind. Kunst allein kann wahrscheinlich nur begrenzt einen Beitrag zu großen Veränderungen leisten, aber wenn Kunst Wirklichkeit gestaltet, dann grund sätzlich auf eine andere Art und Weise, als es sonst geschieht. DP: Haben Künstler ein besonderes Gespür für gesellschaftliche Probleme? OE: Ich glaube, Künstler können Phänomene anders betrachten, weil sie sich in ihrer Arbeit permanent mit Wahrnehmungsmodellen be schäftigen. Allgemein hat das ja leider keine besondere Priorität in unserer Gesellschaft. Natürlich denke ich hier nicht nur an bildende Künstler. Man muss den gesamten kulturellen Sektor auf diese Weise betrachten, also Thea ter, Musik, Literatur, Tanz und so weiter. Das hat damit zu tun, dass die Kommunikation einer politischen oder sozialen Idee – auch über den 10 zwar in allen Bereichen unserer Gesellschaft, in der Produktion genauso wie in der Bildung und so weiter. Dabei ist gerade die Auseinanderset zung mit dem Momentum des Experimentierens extrem wichtig und kann selbst ein Erfolgs kriterium sein. Heutzutage gibt es verschiede ne Arten von fehlendem Vertrauen in den Pro zess. Eine liegt in der starken Kommodifizierung der kulturellen Szene. Etwa in der ökonomi schen Quantifizierbarkeit des Erfolgs eines Kunstwerks. Dadurch haben sich die Bedin gungen für die Entwicklung von prozessualen, zeitbasierten Projekten leider sehr verschlech tert. Nicht nur in den Zeiten von ZERO wurden zeitgenössische Künstler von der Gesellschaft marginalisiert. Es ist auch heute schwer, sich als junger Kulturproduzent zu etablieren – wobei die Situation in Europa noch gut ist, denn in sehr vielen Ländern der Welt kommen Künstler gar nicht zu Wort. Die fehlende Inklusion in die Ge sellschaft führt oft dazu, dass Künstler denken, ihre Arbeit hätte keinen Wert und damit keine Relevanz für die Gesellschaft. DP: Kann denn Kunst zwischen unterschiedli chen Weltansichten vermitteln? Das ist natürlich gerade in unserer aktuellen politischen Situation eine sehr große Frage. Sie steht sowohl in Zu sammenhang mit dem, was du gerade gesagt hast, als auch mit der Frage der Selbstwahr nehmung von Künstlern. Kann Kunst helfen, etwas über unsere Welt zu erfahren? Kann Kunst wirklich zwischen unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt vermitteln? OE: Ich würde behaupten, was Kunst unter stützt oder leistet oder produziert, ist ein Raum, der in gewisser Weise ein idealer Raum ist. Ide al im Sinne von: Ich besuche den Raum und ich nehme ihn wahr. Für mich war der Raum blau. Dann kommt mein Freund oder meine Freundin in den Raum und meint: Nein, der ist nicht blau, der Raum ist rot. Das heißt aber nicht sofort, dass ich mit meinem Freund einen Konflikt habe. Ich respektiere die Wahrnehmung des anderen als Beitrag und vielleicht sogar als Verstärkung oder Erfolg meiner Wahrnehmung. Das klingt vielleicht etwas didaktisch, aber ei gentlich geht es um Folgendes: Als parlamen tarisches oder demokratisches Modell eignet sich Kunst ganz hervorragend, denn Kunst ist extrem inklusiv. Sie bezieht ihren Erfolg nicht aus der Exklusion des anderen. Deswegen ist der kulturelle Sektor so interessant: Er hat ein hohes Inklusionspotenzial und bezieht seine Argumente nicht aus Polarisierungen. Das ist natürlich eine Generalisierung, aber ich würde sagen, das soziale Konstrukt Kunst bietet die Möglichkeit, individuell und pluralistisch zu gleich zu sein. Deswegen leistet die Kunst auch eher um Handwerk gehen, was absolut nicht abwertend gemeint ist. Grundsätzlich formu liert meine ich, dass Kunstlehrer ihren Schülern vermitteln sollten, mit welchen Mitteln sie sich in ihren Arbeiten der Gesellschaft zuwenden können. Das kann meiner Meinung nach jeder. Es geht nur darum, dass man die richtigen Mittel oder die richtige Sprache dafür finden lernt. DP: Das ist interessant, denn somit ist Kunst eine sehr individuelle Sprache, die trotzdem kollektiv verstanden werden kann. OE: Ja! Natürlich ist das nicht immer so, und sicher gibt es Leute, die klarer sprechen als andere. Deswegen ist es auch sehr komplex. Aber grundsätzlich bin ich der Meinung, dass Kreativität nicht auf eine kleine Gruppe be schränkt ist. Das können alle. Andererseits ist es verständlich, dass nicht alle daran interes siert sind. DP: Welchen Stellenwert haben für dich Utopi en in der Kunst? OE: Ich glaube, man kann überall Utopie finden. Aber in den Zeiten, in denen wir leben, sind ein fach sehr wenige Räume übrig, in denen wir träumen können und unsere Gedanken nicht sofort rechtfertigen müssen. Für mich ist Utopie auch die Möglichkeit, etwas zu denken, was nicht sofort erfolgsverheißend ist. An die klas sische Utopie mit dem Glück am Ende des Tunnels glaube ich nicht. Aber ich glaube, die Utopien des Alltags haben auch einfach damit zu tun, dass wir uns zutrauen, Sachen zu ma chen, die nicht in den allgegenwärtigen, extrem engen Normalitätsbegriff passen. Man traut sich für einen Moment, überhaupt nicht normal zu sein. Dafür braucht man kleine Plattformen, wie zum Beispiel das spielerische Potenzial des utopischen Denkens. DP: Das ist spannend, vor allem der Aspekt des Tagtraums. Ernst Bloch hat es in seinem Buch Das Prinzip Hoffnung (verfasst 1938 – 1947) ähnlich analysiert: Es gibt die nächtlichen Träume, die sich auf das Erlebte und damit die Vergangenheit beziehen, und es gibt die Tagträume, die durch das „Noch-Nicht- Bewusste“ gespeist werden. Im „Traum nach vorwärts“ entsteht etwas Neues. Wie du sagst, werden in unserer so stark ökonomisierten und reglementierten Welt die hierfür notwendigen freien Räume immer enger. Künstler haben wirklich die Chance und damit vielleicht auch die Aufgabe, diese Räume zu schaffen und zu nutzen. OE: Ich glaube, die Sonne leistet etwas, dass ich bereits im Zusammenhang mit der Utopie er wähnt habe. Sie hat historisch in jeder Glau bensrichtung, in jeder Religion, in jedem gesell schaftlichen System eine zentrale Rolle gespielt. Und natürlich ist die Sonne auch für so grund legende Prozesse wie Landwirtschaft, Essen und Verdauen von zentraler Bedeutung. Die Sonne ist unglaublich demokratisch im Sinne von: Alle haben etwas über die Sonne zu sa gen, niemand sagt genau das Gleiche, und je der meint, das, was er zu sagen hat, sei rele vant. Die Sonne ist in sozialer Hinsicht einfach ein unglaublich starkes Konstrukt, sie berührt aber auch spirituelle, wissenschaftliche oder energietechnische Fragen. Als Thema ist sie unendlich vielfältig. AB: Little Sun ist berühmt geworden. Ich sah sie jetzt mit Ai Weiwei. Sie hat eine eigene Internetseite. Sie ist auf Facebook und wurde über 12 000 mal geliked. War es wichtig, dass sie so prominent wird? War das Teil deiner Intention? OE: Ich versuche natürlich, mein Netzwerk, das ich im Laufe von 20 Jahren über meine Kunst aufgebaut habe, beim Little-Sun-Projekt zu nutzen. Es ist interessant, weil mir dabei aufge fallen ist, dass das Netzwerk eines Künstlers nicht nur Prominente kennt, sondern extrem vielfältig ist. Ich kenne natürlich viele Leute aus dem öffentlichen Sektor, aus der Politik, Bürger meister und Politiker und so weiter, überall auf der Welt. Ich kenne aber auch aus dem Privat sektor viele Menschen, weil Kunst sehr stark vom privaten Sektor unterstützt wird. Und ich kenne überall Leute, die in Museen und im kul turellen Sektor arbeiten. Ein kulturelles Netz werk ist extrem gemischt, etwa im Vergleich zu einem Netzwerk aus dem Finanzsektor. AB: Es gab ein Gespräch in der FAZ mit dir, da wurde dir vorgeworfen, dass das Projekt ja ei gentlich kommerziell sei. Ihr würdet zwar mit dem Verkauf hier in Europa dafür sorgen, dass es in Afrika preiswerter wird, aber es ginge doch im Grunde um deine Verdienstspanne. Ist Little Sun für dich mehr ein spirituelles oder eher ein kommerziell geprägtes Projekt? OE: Die Methode, mit der Little Sun einen messbaren Erfolg haben soll, muss sich meiner Meinung nach auf ein ökonomisches Modell beziehen. Das heißt, den Gewinn, den wir in Europa und den USA mit dem Verkauf der Lampe erzielen, investieren wir in den Vertriebs aufbau in den Gegenden Afrikas, in denen es keine flächendeckende Stromversorgung gibt. Das ist der richtige Weg. Würde man Little Sun als Hilfsprogramm verschenken, dann würde man die Polarisierung der Welt nur noch ver stärken. Little Sun ist deshalb im Grunde auch Courtesy: neugerriemschneider, Berlin, und Tanya Bonakdar Gallery, New York; Foto: Andrew Dunkley und Markus Leith © Ólafur Elíasson Ólafur Elíasson im Gespräch mit Annette Bosetti und Dirk Pörschmann ein spirituelles Projekt, denn die Methode, mit der wir Little Sun vorantreiben, ist kein Hilfs programm. Es geht um Social Entrepreneuring, das heißt, ich selber verdiene nichts daran, der Gewinn fließt zurück in das Projekt. AB: Du hast über die Kraft der Sonne im Allge meinen gesprochen. Du hast diese kleine Lam pe wie eine Blume gebaut. Wie kam es zu dieser Idee? Weißt du das noch? Wie ist die Form in deiner Werkstatt entstanden? OE: Im Prinzip ist Little Sun nicht in meinem Studio entstanden. Ich war mit meinem Freund Frederik Ottesen, mit dem ich die Lampe ent wickelt habe, in Äthiopien, wo wir die Lampe mit Solarpaneelen in elektronischer Rohform getestet haben. Wir hatten verschiedene Käs ten, in denen die Elektronik lag, mit der Solar zelle oben drauf. Ein Kasten sah aus wie ein Eishockey-Puck, ein anderer war rund und einer ganz bunt. Man konnte sie sich um den Hals hängen, weil wir sie tagsüber längere Zeit herumtragen mussten. Dann haben wir mit Leuten gesprochen, und niemand hat nach dem schwarzen Eishockey-Puck gefragt. Ein paar Leute haben nach der Schachtel gefragt. Aber nach dem, was ganz bunt war und ein bisschen aussah wie ein kleines Kunstwerk, danach haben alle gefragt. Das war sehr inte ressant. Wir haben verstanden, dass der emo tionale Zugang zur Energie einfach viel über zeugender ist als der rationale. Würden wir eine praktische Lampe machen, wäre es sicher auch toll, aber für uns war entscheidend, dass das Medium ein emotionales ist: eine Sonne, eine Blume, eine kleine Lotusblüte oder so et was. Für mich war einfach wichtig, etwas zu machen, bei dem ein Erwachsener oder ein Kind denkt: Wow, das ist ja unglaublich toll, ich habe ein kleines Kraftwerk in meiner Hand. Ich bin über die emotionale Ebene sozusagen zum Kraftwerk geworden. In dieser Hinsicht hat Design und Kunst ein gewisses Potenzial. AB: Du beschreibst Little Sun so liebevoll. Ich habe das ganze Haus voller Little Suns, ich horte sie, ich sammle und verschenke sie. Aber meine Frage: Du hast doch auch Kinder. Habt ihr auch „kleine Sonnen“ zu Hause und benutzt sie? OE: Selbstverständlich. Wir haben ganz viele davon, ja. Vielleicht ein bisschen zu viele, denn wir entwickeln ja auch neue Modelle. Wir sind fast fertig mit einem Solarmodul-Aufladegerät für Mobiltelefone. Das liegt momentan überall bei mir zu Hause auf den Fensterbänken. Gera de ist das ein bisschen langweilig, denn im Winter scheint die Sonne in Dänemark nicht so viel. AB: Aber in Afrika funktioniert das ja zum Glück besser. Man kann dir als Künstler viele Attribute geben. Zum Beispiel bist du auch ein Lichtkünstler – nicht nur wegen Little Sun –, oder? OE: Mich beschäftigt nicht so sehr, in welche Schublade ich gehöre. Aber Licht ist ein tolles Medium und ich bin sehr dankbar, dass ich so viel damit arbeiten durfte und konnte. Letzt endlich glaube ich, Licht ist eine Sprache, und das, was man mit dieser Sprache sagt, ist das, worum es geht. Licht hat ein ganz besonderes Potenzial. Trotzdem würde ich mich selber nicht als Lichtkünstler bezeichnen, denn dann würden Leute, die sich nicht für Lichtkunst in teressieren, meine Ausstellungen vielleicht nicht besuchen wollen. AB: Ist Little Sun das einzige Projekt, mit dem du dich sozialpolitisch engagierst? Oder planst du mit diesem Solarmodul, von dem du gerade gesprochen hast, ähnliche Projekte? OE: Wir haben schon ähnliche Projekte reali siert, zum Beispiel das Institut für Raumex perimente in Berlin. Für mich war diese Kunst schule auch ein sozialpolitisches Experiment. Außerdem bin ich ja als Mensch in verschiede nen Zusammenhängen unterwegs, in denen ich versuche – mal mehr und mal weniger er folgreich –, Themen aufzugreifen und auf sie zu reagieren. So bin ich zum Beispiel seit zehn Jahren in Äthiopien stark mit verschiedenen Projekten engagiert. Ich habe dort eine Profes sur an der Alle School of Fine Arts and Design in Addis Abeba. AB: Hat das mit deinem Erfolg zu tun, oder hättest du die verschiedenen Projekte auch realisiert, wenn du nicht so berühmt wärst? OE: Ich glaube, der Erfolg hat es mir eher er möglicht. Aber mir ist aufgefallen: Das hätte ich auch schon früher machen können. Es hat in sofern mit Erfolg zu tun, dass mich meine Aus stellungen in Länder gebracht haben, die ich sonst nicht besucht hätte. Die physische Aus einandersetzung, das tatsächliche Da-Sein und die Beschäftigung mit den Menschen vor Ort lassen das Leben dort viel realer werden, als wenn man einfach darüber in der Zeitung liest. Insofern hat mich der Erfolg in die Welt ge bracht, und darüber habe ich mir unterschiedli che Themen auch erarbeitet. AB: Vielen Dank für das Gespräch Ólafur! Ólafur Elíasson: The weather project, Tate Modern, London, 2003 11 Fünf Jahre Institut für Raumexperimente „Wir haben gerade erst begonnen“ Fotos © Institut für Raumexperimente und Ólafur Elíasson Christina Werner Ólafur Elíasson ist bekannt für seine vielfältigen und oftmals experimentellen Installationen. Mit spiegelnden Materialien, farbigem Glas, künst lich erzeugten Naturphänomenen wie Wind, Wasser, Licht oder Nebel zieht er sein Publi kum in den Bann und macht es gleichzeitig zum Akteur in seinen an subtile Versuchs anordnungen erinnernden Kunstwerken. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist Berlin neben Kopen hagen eine zweite Heimat für den 1967 gebore nen dänisch-isländischen Künstler. Etwa 75 Architekten, Wissenschaftler, Kunsthistoriker, Köche, Filmemacher, Grafikdesigner und Künstler arbeiten im Studio Ólafur Elíasson im Berliner Prenzlauer Berg an der Recherche, Vorbereitung, Konzeption und Realisierung neuer Projekte. Hier, im obersten Stockwerk der ehemaligen Pfefferberg-Brauerei, konnte er im Rahmen seiner Professur an der Universität der Künste auch das Institut für Raumexperimente realisieren, ein Modellprojekt der künstlerischen Forschung und Lehre, das er zusammen mit Eric Ellingsen und mir als Kodirektoren von 2009 bis 2014 leitete. Im Mittelpunkt der Arbeit mit Studierenden und Stipendiaten stand das Experiment als Metho de: Das Experimentieren stellt Gewissheiten – Normen, Werte, Strukturen – zur Disposition. Dadurch wird Realität verhandelbar. „Ich woll te“, so Elíasson, „eine Schule der Fragen und nicht der Antworten gründen, eine Schule der Unsicherheit und des Zweifelns. Indem wir Un sicherheit Raum geben, stärken wir unsere Fä higkeit, unsere Umgebung neu zu verhandeln.“ Als Ort des produktiven Zweifelns war das Insti tut für Raumexperimente im ständigen Dialog mit anderen Wissenschaftsdisziplinen und Wissenstraditionen: Studierende, Stipendiaten und rund 400 Gäste – von Experten für gewalt freie Kommunikation, veganen Köchen, Kompo nisten, Anwälten, Philosophen, Sozialwissen schaftlern, Astrophysikern, Architekten, Dichtern, Parcours- und Slackline-Spezialisten, Choreo graphen, Künstlern bis hin zu einem Reh-Imitator, einem Kung-Fu Meister und einem Politiker – nahmen in den vergangenen fünf Jahren an Experimenten und Workshops teil. „Zusammen haben wir Schritte vom Denken zum Handeln unternommen und die Welt, in der wir leben, mitgestaltet. Diese Erfahrung hat meine Über zeugung bestärkt, dass es bei Kunst in erster Linie um die Produktion von Wirklichkeit geht. Kunst existiert nicht bloß in der Wirklichkeit, sie schafft Wirklichkeit.“ Ziel war es, Kunst auf ihre Vermittlungsverantwortung und ihre heutige gesell schaftliche Funktion hin zu befragen. „Alle Teilnehmenden, die schließlich zum ‚Insti tut für Raumexperimente‘ wurden, hatten ein Interesse daran, welche Konsequenzen ihre künstlerischen Entscheidungen haben und wie Kreativität die Welt mitgestaltet. Wir haben mit unterschiedlichen Kunstsystemen gearbeitet; damit, wie sich künstlerische Ideen kommu nizieren lassen; damit, in welchen Kontexten Kunstproduktion stattfindet. Denn weil diese Kontexte so eng mit den Kunstwerken verbun den sind, werden sie Teil von ihnen“, erklärt Ólafur Elíasson. • Die Projekte des Instituts werden vorgestellt unter www.raumexperimente.net sowie im sechsten Band der Reihe Take Your Time (TYT [Take Your Time], Vol. 6: Institut für Raumexperimente, 2009–2014. How to Make the Best Art School in the World, Hrsg.: Studio Olafur Eliasson, 2014, 302 Seiten, Broschur, 29,80 €). Ólafur Elíasson bei der Abschlussveranstaltung des Instituts für Raumexperimente, 2014 Eröffnung des Festival of Future Nows, Neue Nationalgalerie, Berlin, im Kontext der Ausstellung Sticks and Stones von David Chipperfield Workshop des Instituts für Raumexperimente mit dem kanadischen Autor und Architekturtheoretiker Sanford Kwinter Für dynamo haben sich vier ehemalige Studierende des Instituts für Raum experimente mit den Ideen der ZERO- Bewegung beschäftigt. Die daraus ent standenen Arbeiten von Fabian Knecht, Sophie Pompéry, Nina Schuiki und Euan Williams finden Sie an verschiedenen Stellen der vorliegenden Zeitung. Seite 1 Seite 6–15 Seite 12 Seite 17–22 Fabian Knecht Nina Schuiki Euan Williams Sophia Pompéry Endung (Aktion), 2014 Kurator: Ursula Ströbele Stunt: Fred Hardy, Volkhardt Buff Kamera: Andreas Greiner, Jonas Wendelin Borrowed Time (After this deluge I wish to see), 2015 Rekonstruktion eines Kaffeefleckes aus einer Ausgabe von ZERO, Nr. 1, 1958; Zeitpunkt und Akteur der originalen Intervention unbekannt 5 texts from over 5 years. Re-transcribed in one place – in one day, 2015 Zwei Meter II (Fotografie), 2015 Fabian Knecht, geboren 1980 in Magdeburg, studierte an der Universität der Künste Berlin, am California Institute of the Arts, Los Angeles, und an der Alle School of Fine Arts and Design, Addis Abeba (Äthiopien). Von 2009 bis 2013 gehörte er zu den Teilnehmern am Institut für Raumexperimente. 2012 war er Mitarbeiter im Studio von Matthew Barney. Er lebt und arbeitet in Berlin. Der Aktionskünstler verfolgt in seiner Kunst einen „kompromisslosen Weg, der Irritationen hervorruft, im monotonen Fluss des Alltags einen Ausnahmezustand markiert und an ge sellschaftlichen Denkweisen kratzt“ (Ursula Ströbele). Mit temporären Aktionen, realisiert an spezifischen, teils historisch konnotierten Orten im urbanen Raum oder in (landschaftlichen) Grenzgebieten, bespielt Knecht die Grenze zwischen Alltag und Ausnahmezustand. Seine Intervention Freisetzung im Rahmen des Festival of Future Nows (2014), eine weiße Rauch- und Nebelskulptur, die am 1. November 2014 von Weitem sichtbar für ungefähr eine Stunde über dem Dach der Neuen Nationalgalerie in Berlin schwebte, manipulierte eindrucksvoll das ver traute urbane Umfeld und zeigte gleichzeitig die Ambivalenz von Schönheit und Schrecken und die unbestrittene Macht der Bilder, die kontextbedingt unterschiedlichen semantischen Aufladungen unterliegen. www.fabianknecht.de Nina Schuiki, geboren 1983 in Graz, studierte bildende Kunst in der Meisterklasse von Óla fur Elíasson an der UdK Berlin und zuvor bei Gabriele Rothemann an der Universität für an gewandte Kunst Wien. Von 2012 bis 2014 nahm sie am Institut für Raumexperimente teil. 2011 schloss sie ihr Studium der Archi tektur bei Kari Jormakka an der Technischen Universität Wien ab. Arbeiten von Nina Schuiki waren in zahlreichen Gruppen- sowie Einzelausstellungen und Pro jekten zu sehen. Darunter: Flüchtiges (Bruch & Dallas, Köln, 2014), Festival of Future Nows (Neue Nationalgalerie, Berlin, 2014), Räumen, within your eyes are windows to a land where (SOX, Berlin, 2014), Walk-In-Progress (Vitamin Creative Space, Guangzhou, 2014), Sounds of Change (Modern Art Museum, Addis Abeba, 2014), Schlossgeist (Städtische Galerie Wolfs burg, 2014), Mit der Spur beginnen (Museum für Fotografie, Berlin, 2013), left before (Roodkapje, Rotterdam, 2012), My Dear Cargo (Kunstverein Bremerhaven, 2011). „Was ist das Material der Kunst? Diese so grundlegende Frage verhandelt Nina Schuiki mit ihren subtilen Installationen und ephemeren Interventionen. Resultierend aus ihrer Fähigkeit, sich ganz auf den jeweiligen räumlich-tempo ralen und historischen Kontext einlassen zu können, entlockt sie den Orten und Situationen etwas, was ihnen zwar eingeschrieben ist, sich aber oftmals unserer Aufmerksamkeit entzieht.“ (Akiko Bernhöft) Euan Williams, geboren 1987 in Großbritanni en, studierte Kunst und Design an der Norwich School of Art and Design in England und setzte sein Kunststudium mit anschließendem Master in Deutschland an der Universität der Künste Berlin bei Ólafur Elíasson fort. Von 2009 bis 2014 nahm er am Institut für Raumexperimente teil. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen inter nationalen Ausstellungen präsentiert u. a. im Museum of Contemporary Art Tokyo (Japan Berlin 2000–2011: Playing amongst the Ruins, 2011–2012), Reykjavik Art Museum (Without Destination, 2011), im Jan Meda, Addis Abeba (Grosses Feld, 2012), in der Galerie Vitamin Crea tive Space, Guangzhou (Walk-In-Progress, 2014), und der Neuen Nationalgalerie, Berlin (Festival of Future Nows, 2014). Euan Williams lebt und arbeitet in Berlin. Als Redakteur und Publizist war er an verschiedenen Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen beteiligt. Im Verlag der Buchhandlung Walther König er schien 2014 sein in Zusammenarbeit mit Diana Sprenger entstandenes Kunstbuch A collection of shadows in the folds of books taken over the course of a year from around the world. www.euanwilliams.com Sophia Pompéry, geboren 1984 in Berlin, stu dierte von 2002 bis 2009 Bildhauerei an der Kunsthochschule Berlin Weißensee bei Karin Sander und Antje Majewski, bevor sie Teilneh merin des Instituts für Raumexperimente wur de. Nach Abschluss des Studiums war sie 2011/2012 Atelierstipendiatin des Freundes kreises der UdK. Als DAAD-Stipendiatin war sie zudem in St. Petersburg (2005) und Istanbul (2012). 2013 erhielt Sophia Pompéry den Diffring-Preis zur Förderung der bildenden Künste und das Projektstipendium der Stiftung Kunstfonds. Sophia Pompéry lebt und arbeitet in Berlin. Ihre Werke waren u. a. im ARTER Istanbul (The Silent Shape of Things, 2012), im Nassauischen Kunstverein Wiesbaden (ATÖLYE, 2013), im Stedelijk Museum (BYTS, 2013), in der Akademie der Künste, Berlin (Schwindel der Wirklichkeit, 2014) und in der Neuen Natio nalgalerie, Berlin (Festival of Future Nows, 2014) zu sehen. Sophia Pompérys Konzeptkunst bewegt sich auf der Schnittstelle zwischen Alltagspoesie und Physik. Sehen, was kaum zu erkennen ist, zeigen, dass das Alltägliche unter unserer Be obachtung seine Banalität abstreift, um ein Versatzstück unserer eigenen Geschichte zu werden: Diese Motivation bestimmt Pompérys Arbeitsweise. Anhand von physikalischen Phä nomenen lässt sie ein Spiel mit Naturgesetzen, Sehgewohnheiten und Erwartungen entstehen. So werden mit möglichst wenigen Mitteln mög lichst viele Assoziationsebenen eröffnet. Es sind Bilder hinter dem Bekannten, die die Be trachter auf poetische Weise tiefer in ihre per sönliche Geschichte hineinziehen – konzentriert, ganz still, ganz ohne zu kompromittieren. www.sophiapompery.de www.ninaschuiki.org 13 © Archiv Spoerri Die mehlhaltigsten Körner und Getreidesorten, welche nichts anderes als trockene Samen sind: Wohl zuerst alle Hunderte von Reissorten, von denen sich ganz Asien aber auch ein Gut teil der übrigen Welt ernährt, dann alle Getreidesorten, als da hauptsächlich sind Weizen, Gerste, Roggen, Hafer, Buchweizen, und die daraus hergestellten Brote, Tortillas, Pasta, Teigwaren oder auch Bulgur oder Couscous. Dann die Hirsesorten, von denen sich ganz Afrika ernährt, oder die Maissorten aus Südund Nord-Amerika, die sich über die ganze Welt verbreitet haben, sodass Polenta oder Mămăligă zu National-Gerichten in der Lom bardei oder Rumänien wurden. Als nächstes wären die anderen trockenen Hülsenfrüchte zu nennen, wie alle vielfarbigen Bohnen, die schwarzen, weissen, roten, grünen, gesprenkelten, schweinsdicken, oder kleinen Sojas. Die grünen, roten oder gelben Linsen, die alle Armen und Reichen der Welt gekocht, püriert, gebacken, mit viel oder wenig Fett und Fleisch, scharf oder süss zubereiten. Erst jetzt kommt die schon feuchtere Erdknolle, die Kartoffel dran, auch sie erst seit exakt 500 Jahren in Europa denkbar, aber erst vor ca. 200 Jahren wurde uns der gute Geschmack und die Gewohnheit eingeprügelt; mit Polizeige walt (von Friedrich dem grossen Preussen, z. B.). Heute kann ein Franzose ohne seine täg lichen Steak-Frites mit Baguette nicht leben, auch dies schon ein Armen-Essen, wenn auch aufgrund des armseligen Geschmackes, was immer die grosse Drei-Stern-Küche hervorbrin gen mag, die mit Hunger-Sättigung etwa so wenig zu tun hat wie Formel-Eins-Rennen mit der täglichen Fahrt zur Arbeit. Fett wird, sofern nicht gebraucht, gespeichert, weil es die kompakteste, kalorien- (von calore = Wärme) reichste Reserve ist (etwa dreimal so hoch). Dass die Fette besonders reichhaltig in Nüssen vorhanden sind (übrigens auch als erste, so zusagen eiserne Ration der ersten Sprossen einer aufkeimenden Pflanze), sei es nun in Erd-, Cashew-, Palm- oder Kokosnüssen, ist allen bekannt. Da Nüsse neben den Fetten auch re lativ hohe Kohlenhydratprozente aufweisen, sind sie besonders geeignet, als Pasten oder breiige Beilagen die eigentlich fettlosen Körner zu begleiten, so sei nun als Beispiel die geras pelte Kokosnuss als Beilage untermischt zum Reis erwähnt oder der Erdnussbrei, der fast alle afrikanischen Gerichte begleitet. In Europa aber denken wir meistens bei Fett nicht an vegetabilische, sondern an animali sche Substanzen wie Butter oder Speck, wobei Schmalz oder Nierenfett, mit dem früher nörd lich der Alpen fast ausschliesslich gekocht wurde, aus der Mode gekommen sind, ge schweige denn Gänse- oder Hühnerschmalz und Grieben, die in unserer Küche fast keine Rolle mehr spielen. Hier wäre auch zu bemerken, dass die Fette, oder auch der am schnellsten vom Körper ver brennbare Alkohol, früher eine Heizfunktion hatten, die heute durch unsere überhitzten Räume fast gänzlich wegfällt, und deshalb in Form von Kalorien wieder gespeichert werden. Diese zwei Gruppen von Nahrungsmitteln sind also die Energie-Erzeuger. Eine dritte Gruppe, die man Eiweiss oder Proteine nennt, ist für den Baustoffwechsel, also die Erneuerung der Zellen, verantwortlich und ebenso wichtig für eine vollwertige Ernährung – Die Küche der Armen der Welt Daniel Spoerri: Fotocollage mit Szenen aus der Ausstellung Restaurant der Galerie J, Paris, 1963 Vom Einfachen das Gute Sarah Wiener Es gibt nur wenige Menschen, von denen ich ein wirklicher Fan bin. Daniel Spoerri ist solch ein Mensch. Ich schätze mich glücklich, dass ich seit vielen Jahren seine gastronomische Assistentin sein darf. Wir haben uns vor etwa 15 Jahren in Voralberg kennengelernt, wo Daniel Spoerri das Palindromische Travestie- Menü präsentierte, das ich umsetzen durfte: Daniel hat die Speisen und den Ablauf erfun den und ich habe die dazugehörigen Rezepte entwickelt, die Gerichte gekocht sowie an gerichtet. Das Palindromische Travestie-Menü ist ein ess bares Palindrom. Also so etwas wie ein Diner verkehrt herum. In acht Gängen ging es ge schmacklich nach der normalen Menüfolge, angefangen mit einem Horsd’œuvre bis zum Dessert. Optisch jedoch scheint es in umge kehrter Reihenfolge zu verlaufen: Das heißt, der erste Gang, ein Espresso mit einer Zigarre, war in Wirklichkeit eine Pilz-Consommé in einer Espressotasse serviert mit einer Zigarre aus Brot. Der zweite Gang bestand aus kleinen mit Velouté überzogenen und mit Senffrüchten garnierten Fleischlaibchen, die aussahen wie Petit Fours. Die Arbeit war intensiv und sehr befriedigend. Sie forderte meine Kreativität. Der Witz und die Intelligenz von Daniel Spoerri inspirieren mich. Ich bin immer wieder Feuer und Flamme für seine Ideen. Mit Begeisterung habe ich mich mit seiner Erfindung, der Eat Art, und seinem Werk auseinandergesetzt. Mit der Zeit hat sich die Zusammenarbeit zu einer langjährigen Freund schaft entwickelt. Wir haben ganz verschiedene spannende Projekte zusammen verwirklicht, in denen es immer um die Kunst des Essens ging, etwa das Happening mit dem Titel Rien ne va plus – les oeufs sont faits oder ein Diner zum Thema „Arm und Reich“. 14 Es ist großartig, dass wir in diesem Jahr wieder gemeinsam einen Kunstabend mitgestalten dürfen. Im Rahmen der Performance Nacht zur ZERO-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau kochen wir die von mir viel geliebte Küche der Armen. Was Die Küche der Armen auszeichnet, ist die Kreativität, mit den einfachsten verfügbaren Mitteln (meist Getreide oder Hülsenfrüchten) ein schmackhaftes, sättigendes, sinnlich be friedigendes Mahl herzustellen. Das ist oft eine größere Herausforderung, als mit den teuers ten Zutaten eine Galantine zu wickeln oder eine besondere Creme aufzuschlagen. Es sind doch meist genau diese einfachen, regionalen Gerichte, die in uns die wildesten und schönsten Erinnerungen im Geschmacks gedächtnis zurücklassen. Das, was unsere Kindheit, unseren Geschmackssinn und unsere Sehnsucht nach Heimat prägt, sind nicht die verfeinerten kulinarischen Abenteuer eines fast unbezahlbaren Luxus, sondern es ist die Grau pensuppe mit einem Schweinsohr von der Großmutter oder der angeröstete Knödel mit dem Häuptelsalat von der Mutter. Ich freue mich, dass ich durch Daniel Spoerri die Mög lichkeit habe, unser beider Freude und Ideen in der Performance Die Küche der Armen umzusetzen. Im Rahmen der Performance Nacht am 11. April 2015 wird Sarah Wiener im Martin-Gropius-Bau eine Variation der Gerichte aus der Küche der Armen zubereiten. Sarah Wiener und Daniel Spoerri 2005 in der Hamburger LEVY Galerie beim Palindromisches Travestie-Menü „Alles dieses berechtigt mich, die Brodtsuppe als die Ursuppe zu betrachten und jeder anderen voranzustellen.“ Friedrich von Rumohr Wobei ich kein Rezept geben will, sondern nur z. B. auf eine französische Soupe à l‘Oignon verweise, die ja auch eine Brotsuppe ist, allerdings in gute Fleischbrühe getunkt und mit Käse überbacken. 2a. Eine Bündner Gerstensuppe, deren Rezept man in jedem Schweizer Kochbuch findet, mehr oder weniger reich mit Würsten, geräuchertem Schweine- oder Rindfleisch angereichert (c’est le cas de le dire) – oder auch ganz billig mit einem ausgebeinten Schinkenknochen, den man für fast nichts beim Metzger abpassen muss. In diese Suppe kann ausser jedem Gemüse auch der ausgetrocknete Rest von Bündner fleisch, mit dem man sonst nichts anzufangen weiss, mitgekocht werden. 2b. Russisch-Kaukasische Spass-Suppe Aber auch eine Russisch-Kaukasische Spass-Suppe ist köstlich: 50 Gramm Perlgraupen 45 Minuten in Salzwasser weichkochen. Mit kaltem Wasser durchspülen und abtropfen. 1 Liter Wasser oder echte Hühnerbouillon und 4 Becher Joghurt (1/2 Liter) mit einem Besen verrühren. In einem Kochtopf 4 Eier mit einem Löffel Mehl verrühren – die Joghurtmischung darunterschlagen, mit Bouillonwürfel würzen und bei ständigem Rühren fast bis zum Siedepunkt bringen. Einige Mi nuten unter dem Siedepunkt weiterrühren, bis die Mischung eindickt. Die Graupen dazugeben. Mit frischer Butter (30 g), frischer kleingehackter Minze und rohen (neuen) Zwiebeln bestreuen. Sofort heiss essen oder in Portionen im Eisschrank kalt stellen. Viel Spass! 3. Hirse mit Pilzen Getrocknete Pilze: Champignons, Waldpilze oder natürlich Steinpilze (da, wo sie wachsen, sind sie natürlich auch ein Armen-Essen) in Wasser und Milch einweichen. Die Pilze mit Butter oder Oel, Petersilie, Knoblauch und Zwiebeln dünsten, die Hirse im eingeweichten Pilzwasser (doppelte Menge wie Hirse) garkochen (Achtung auf den sandigen Satz am Boden des Wassers!). Hirse zu den gedünsteten Pilzen geben. Hirse ist eine vollwertige Nahrung, da sie bei 70% Kohlenhydraten auch 10% Eiweiss und 3,5% Fett beinhaltet und außerdem manche Vitamine und Mineralien. 4. Torta di Polenta Daniel Spoerri Aber zurück zu den Kartoffelarten bis hin zu den Süsskartoffeln (Yamfrüchte), die andernorts das Brot ersetzen und die in Neuguinea mit ihren bis zwei Meter langen und körperdicken Exem plaren als Reinkarnation der Ahnen gelten, ihre eigenen Familienmasken tragen und die man deshalb nicht essen darf, sondern tauschen muss. Um bei den feuchten, fast fettlosen Knollen zu bleiben, sollten wir hier den Maniok (eigentlich Manihot), Wurzel des Cassave- Strauches, erwähnen, der für Millionen von Südamerika über Afrika bis Ozeanien das tägli che Brot ersetzt; der bei uns keine Rolle spielt, abgesehen von den etwas altmodischen Tapioka-Kügelchen in der Suppe, die ich aber nur noch als eine Jugenderinnerung kenne. Wenn man die heute nur noch als Winterspiel zeug, zum Händewärmen benutzte Kastanie oder Marone dazuzählt, und noch die bei uns quasi unbekannte Canna-Knolle nicht vergisst, die wir nur als Stärkemehl unter dem Namen Arrowroot kennen, wären die hauptsächlich sten Stärke- und mehligen Körner, Früchte, Knollen oder Wurzeln aufgezählt, ohne die der Körper nicht funktioniert. Alle diese Kohlenhy drate verarbeitet der Körper zu Dextrinen und Glucosen, also Traubenzucker, und verbrennt sie, je nach dem, wie aktiv wir sind. Diese Sub stanzen sind sozusagen die Treibstoffe, ohne die unser Motor nicht läuft. Aber wie der Ver brennungsmotor auch Oel braucht, um ge schmiert zu werden, brauchen wir Fette. Zwar viel weniger, als wir Überernährten und Über hitzten zu uns nehmen, aber ohne geht‘s auch nicht. Darum kommen wir zu der zweiten wich tigen Abteilung, die allen Unterernährten beson ders abgeht, weil der Körper diese Substanzen auch speichern kann. Alles, was er nicht sofort verbrennt, wird in Fett verwandelt, oder das 1. Eine Brotsuppe: und für die Armen am schwierigsten zu be schaffen, weil sie am teuersten ist. Es handelt sich um tierische Stoffe wie Fisch, Fleisch, Eier, Käse etc. ... oder auch pflanzliches Eiweiss, das weniger häufig und nicht so vollwertig ist (Vegetarier, erhebt Euch und rebelliert!), das aber in Soja, Nüssen, Haferflocken etc. immer hin so reichlich vorhanden ist, dass es dem täglichen Bedarf genügen kann, wenn die Nah rung ausgewogen ist. Eine weitere Eigenart be steht darin, dass Fett als Energie gespeichert werden kann – Eiweiss aber nicht –, sodass eine gewisse Menge täglich in der Nahrung enthalten sein sollte. Wenn wir jetzt noch die berühmten Vitamine, Spurenelemente, Mineral-, Ballast- und Aromastoffe erwähnen, haben wir etwa den Rund gang beendet, der unseren Ernährungs-Kreis lauf bestimmt, wobei nur schnell gesagt sein soll, dass Vitamine etwa wie eine Zündung funktionieren, wenn wir beim Motoren-Beispiel bleiben wollen, weil sie chemische Prozesse in Gang bringen, Umwandlungen und Transakti onen bewirken, die erst eine Ernährung voll wertig machen. Ähnlich braucht der Körper auch winzigste Spuren von Mineralien: Eisen, Kupfer, ja sogar Gold, die für den Aufbau von z. B. Knochen wichtig sind. Aus diesem Grund haben viele Kulturen die scheinbar seltsamsten Traditionen entwickelt, wie das Verzehren von Käfern oder Würmern, oder bei uns z. B. Schnecken, weil jedes ganze Tier ein vollständiger Organismus ist, der auch seine Spurenelemente und Mineralien aufweist. 100 Gramm Steak z. B. enthalten nur Proteine, 100 Gramm Termiten oder Heuschrecken sind ungleich wertvoller in allen anderen Aufbau stoffen. Jetzt noch ein Problem, das uns Überfütterte zu schaffen macht. Da Aromastoffe durch Fette gebunden werden, sind sie leider für eine schmackhafte Zubereitung notwendig, obwohl wir sie möglichst vermeiden sollten. Wie schon Friedrich von Rumohr 1822 in seinem Geist der Kochkunst bemerkte: „Die Begüterten, welche bei weitem mehr animalische als vegetabili sche Stoffe zu verzehren pflegen, sollen also, um das Gleichgewicht herzustellen, in ihren Küchen den Gebrauch des Fettes in eben dem Masse zu vermeiden trachten, als die Armen wünschen müssen ihn zu vermehren.“ Um die Küche der Armen vorzustellen, habe ich mir je eine der auf der Welt am häufigsten gegessenen stärke-, also zuckerhaltigsten Ge treide oder Hülsenfrüchte ausgesucht, die mit einem fetthaltigen Stoff schlüpfrig gemacht werden und durch Gemüse oder Früchte die notwendigen Vitamine erhalten. – Das für Arme am schwierigsten weil am teuersten zu be schaffende tierische Eiweiss, sprich Fleisch, habe ich auf das in der ganzen Welt am häu figsten vorkommende Hühner-, Schweine- und Schaffleisch beschränkt. Auf die uns abstrus scheinenden Exotika hab ich verzichtet, erstens weil ich sie früher oft ge nug benutzt habe (eben weil man alles essen kann und auch muss) und zweitens weil sonst meine Ernsthaftigkeit in diesem Detail erstickt wäre. Eine Polenta, das ist ein Maisgriesspudding (in Rumänien: Mămăligă), entweder nur in Salzwasser gekocht oder in einer Mischung aus halb Milch halb Wasser, mit etwas Butter oder Oel – zuletzt geriebener Pecorino untergeschoben – oder auch das Interessanteste, aber auch Teuerste: eine Dose ganzes Maiskorn mit dem Saft hineingerührt. Diese Polenta oder Mămăligă auf ein gefettetes Blech gestürzt, einige weichgekochte Eier hinein gedrückt, Hackfleischsugo darübergestrichen oder einige Scheiben Salami daraufgelegt und dann noch mit Käse bestreut, 5 Minuten im Ofen überbacken, hat mit Armen-Essen schon nichts mehr zu tun, obwohl Polenta in Italien, wie etwa in Frankreich oder in Deutschland die Gelben Rüben, gleichbedeutend mit Armut ist. 5. Reis Aus den unzähligen Reisgerichten, die jeder kennt, könnten wir die Paëlla herauspicken, weil sie, wie viele andere Nationalgerichte, beispielhaft den seltenen Überfluss der Armenküche darstellt. Sei es nun die Berner Platte, das Cous-Cous, die Sauerkrautplatte, das Lombardische Bollito misto, immer ist es der Überfluss, d. h. alle Fleischsorten und Gemüse zusammen, die sonst gesondert und spärlich auf den Tisch kommen. So gibt es auch nicht ein Paëlla-Rezept, sondern unzählige, immer aber ist es die riesige, bis zu 2 Meter im Durchmesser grosse Pfanne, die dem Eintopf den Namen gab, und immer ist es ein Safran-Reis, der nachgenetzt wird, in dem ausser allen Gemüsen wie Tomaten, Paprika, Knoblauch, Zwiebeln, Erbsen und Artischocken, kleine vorgebratene Hühner stücke, alle denkbaren gewürfelten Fleischsorten (ebenfalls vorgebraten) und dazu Muscheln, Crevetten, Langustinen und die scharfen Chorizos miteinander konkurrieren und sich zu einem herrlichen Aroma steigern. Nach diesen Gräser-Samen, denn nichts anderes sind diese haupt sächlichsten Getreidearten, kommen wir zu den Hülsenfrüchten und nehmen die drei weltweit häufigsten, nämlich Bohnen, Linsen und Erbsen. 6. Bohnen, das sicher auf der ganzen Welt typischste Armen-Essen: Als Prinzip gilt immer dasselbe, die Früchte werden eingeweicht, gekocht (oft in zwei Wassern, weil das erste wegen seiner Giftigkeit weggeschüttet wird) und dann mit einer landesüblichen fetthalti gen Substanz und einem oder mehreren Gemüsen vermischt, z. B. brasilianisch: Weissbrotwürfel in Butter angebraten, mit eingedicktem Tomatenmus vermischt. Italienisch: Pasta e fagioli, etc. etc. Aber nehmen wir hier ebenfalls ein klassisches Nationalgericht: Ich meine Chili con Carne – das mittlerweile schon amerikanischer ist als mexikanisch. Also geben wir auch ein Rezept auf ameri kanische Art: 2 Büchsen Red Kidney Beans in Heavy Stock 1 Büchse Marzano Tomaten ganz, geschält (länglich) 1 Büchse Maiskörner 400 Gramm Hackfleisch oder 3 × 150 Gramm Schwein, Rind, Schaf durch den Wolf gedreht oder das Fleisch ganz fein geschnitten mit zwei scharfen Messern, die sich kreuzen, was ein noch feineres Geschnetzeltes (franz. = émincé) ergibt 50 Gramm feingeschnittener geräucherter Speck 2 feingehackte Zwiebeln 2 Knoblauchzehen feingehackt 1–2 Kartoffeln Chili-con-Carne-Gewürz (McCormick) Zwiebeln, Knoblauch und Speck anbraten, Fleisch mit Mehl bestäuben und dazugeben, auf starker Hitze anbraten, alle Büchsen dazugeben, mit Rotwein oder Guinnessbier ablöschen und kochen, bis das Fleisch gar ist. Hier sein eigenes Rezept, dem er ein ganzes Kapitel in seinen in Englisch geschriebenen Essais Philosophiques widmete, die übersetzt 1796 in Genf erschienen: Zutaten: 2 Viertel Perlgraupen, 8 Viertel Kartoffeln, Schnitte von feinem Weizen brot, Salz, 24 Maaß schwacher Bier-Weinessig oder vielmehr sauer gewordenes Bier, Wasser ongefähr 560 Maaß. Das Wasser und die Gerstengraupen werden zusammen in einen Kochkessel gethan und zum Kochen gebracht; dann werden die Erbsen hinzugethan und das Kochen wird über mäßigem Feuer zwey Stunden lang fortgesetzt; dann werden die Kartoffeln (die ungekocht oder gekocht schon geschält sind) hinzugethan, und das Kochen wird noch eine Stunde lang fortge setzt. Während dieser Zeit wird die Flüssigkeit im Kessel fleißig mit einem großen hölzernen Löffel umgerührt, um die Kartoffeln gänzlich zu zerreiben und die Suppe zu einer gleichförmigen Masse zu machen. Sobald dies geschehen ist, werden Weinessig, Salz und zuletzt, wenn die Suppe aufgetragen werden soll, Brodschnitte hinzugethan. So berühmt war seine Suppe, dass sie nicht nur bei Rumohr 1822 Erwähnung findet, sondern noch im Linzer Kochbuch von 1852 unter den Fleischsuppen aufgeführt ist: Rumforter Suppe Nimm in ein Zewymaß-Hafen 1 Seidel Erbsen, 1 Seidel gerollte Gerste, weiche solche den Tag zuvor mit einer Rindsuppe, die nicht gesalzen ist, ein, 3 Stunden vor dem Anrichten gib alles in einen Hafen, welcher ungefähr 3 Maß hält, fülle ihn mit Rindsuppe an, setze ihn zum Feuer, laß es gut kochen, rühre es öfters um, daß es sich nicht anbrennt; eine Stunde vor dem Anrichten gib geschälte und gewürfelt geschnittene Erdäpfel, auch so geschnittene gelbe Rüben, Petersil, Zellerie, Buri (Lauch), überbrühtes Schweinfleisch, Ey groß Butter, Essig nach Belieben, Salz, was nothwendig ist, darein, und laß solches gut sieden; dann röste gewürfelt ge schnittene schwarze Brotbröckeln in Fett oder Schmalz; und gib es auch dazu. Man kann auch statt Schweinfleisch ein anderes Saftfleisch hineingeben. Das Erstaunlichste aber ist, dass sie noch heute in S. Wolf: Wörterbuch des Rotwelschen (1953) (d. h. Gaunersprache) unter „Rumfutsch“ das Synonym für reglementiertes Gefängnis-Essen bedeutet. Dies wäre also der lange Exkurs von der Erbse und um sie herum. Klassischer wäre es gewesen, die Deutsche Erbsensuppe mit Speck und Wurst zu nehmen, die übrigens auch am Anfang der Konserven-Suppen steht, denn vor 1878 erfand ein Berliner Koch Grünberg die in Pergament ge rollte Erbswurst, die es noch vor kurzem oder sogar noch heute als Knorrwurst gibt und die den Deutsch-Französischen Krieg 1870–1871 entscheidend beeinflusste, weil jeder Soldat diese nahr hafte Suppe selbst herstellen konnte. 8. Linsen Die Linsen, eine der ältesten Speisen, die über die Aegypter und Hebräer nach Europa kamen, sind – der Soja-Bohne vergleichbar – heute eines der wichtigsten Volksnahrungsmittel auch wegen ihres Eiweiss-Gehaltes, das nur noch eine fetthaltige Substanz erheischt, um eine vollwertige Er nährung zu gewährleisten, weshalb sie auch meistens mit Speck oder Wurstbeilage angerichtet werden. Als Beispiel aber gebe ich hier ein Rezept, das heute ganz besonders nach Armenspeise tönt, um die Jahrhundertwende in Norddeutschland aber ein häufiges Essen war: Linsen mit Steckrüben 1/2 Liter Linsen werden gelesen – (das musste ich auch noch als Kind in Rumänien: Die guten ins Töpfchen …): Linsen mit Steckrüben, auf norddeutsche Art 1/2 – 3/4 Liter Linsen werden gelesen, eingewässert, in kaltem Wasser zugesetzt und weichgekocht; etwas Sellerie, Petersilienwurzel und Porree (Lauch) schneidet man in kleine Stücke, kocht sie in Fleischbrühe weich und verdickt die Brühe dann mit einer hellgelben Mehlschwitze, thut die durchgegossenen und abgetropften Linsen hinzu und dämpft sie noch eine Weile damit durch. Während man die Linsen auf diese Art bereitet, putzt man eine beliebige Anzahl Steckrüben, schält sie, schneidet sie in kleine Würfel, kocht sie in siedendem Wasser mit Butter oder Fett zwei Stunden lang, schüttet sie zu den Linsen, verkocht die Brühe mit etwas Ein brenne, in der einige gehackte Chalotten geröstet sind, salzt sie gehörig, dünstet das Ganze noch eine Weile und gibt das Gericht zu Rauch- oder Pökelfleisch, Schweinefleisch, Wurst etc. 9. Zum Schluss noch die Kartoffel Für uns und seit van Gogh das eigentliche Armen-Hauptnahrungsmittel. Ausgesucht habe ich dazu ein Rezept, das ausserdem eine Mehlsorte benutzt, die wir fast in Vergessenheit geraten liessen, nämlich der Buchweizen. Kartoffel-Klösse, holsteinische, mit Buchweizenmehl (das in Russland für Blinis verwendet wird und in Israel als Kaschagrütze mit Gänseschmalz ein Nationalgericht ist): Zu einem gehäuften Suppenteller voll am Vortage gekochter und geriebener Kartoffeln gibt man 125 Gramm gewürfelten ausgebratenen Speck, zwei Eier, etwas Mehl, Salz und soviel Buchwei zenmehl, dass die Masse sehr fest wird, worauf man runde Klösse daraus macht und sie in kochen des Salzwasser gibt, bis sie an der Oberfläche schwimmen. 10. Kastanien Und weil ich kein Ende finde, und weil zehn eine runde Zahl ist, und weil wir mit der Kartoffel unter der Erde waren, gehen wir in die Luft und sprechen noch kurz von der Kastanie, die hier bei uns in der Toskana wächst, obwohl sie aus Kleinasien stammt. Und da wir mit den mehligen Speisen, die die Grundlage aller Armen-Essen sind, am Ende sind, suchen wir uns ein Dessert aus, und zwar einen Kastanienauflauf oder Puste-Kuchen, wie Friedrich von Rumohr sagen würde (weil er Soufflee wörtlich übersetzte): 1 Kilo Kastanien einschneiden und 5 Minuten kochen, dann Schale und braune Haut abziehen und weitere 20 Minuten im Dampfsieb weiterkochen (oder gleich 20 Minuten und dann schälen). Pürieren und mit 4 Eidottern, 100 Gramm Zucker, 100 Gramm Semmelbrösel, geriebener Zitronen schale, 1/2 Liter Milch und 50 Gramm Butter und einem Schuss Maraschino vermischen. Zuletzt unter diese gut verrührte Masse den festen Schnee aus den 4 Eiweiss unterheben, alles in eine gebutterte Auflaufform geben und bei mittlerer Hitze im Ofen backen. Damit will ich diesen ersten stärke- und mehlhaltigen Teil der Armen-Küche abschliessen, bis ich vielleicht bei Gelegenheit auf die Gemüse, Früchte und animalischen Produkte, zu denen man auch Insekten und Meerestiere zählen muss, eingehen werde. Guten Appetit! … Daniel Spoerri, Seggiano, Toskana, Italien 17. – 24. November 1992 7. Als Erbsspeise wähle ich: Die Rumford’sche Armensuppe Graf Rumford, 27. 3. 1753 – 21. 8. 1814, geboren als Benjamin Thompson Aus dem Sohn eines amerikanischen Farmers, unweit von Boston, Massachusetts geboren, wird ein Major der englischen Armee in Amerika, nach zwielichtiger Haltung im Unabhängigkeitskrieg ein engl. Staatsekretär für amerikanische Angelegenheiten, ein grosser experimentierender Physiker, ein Kriegs- und Polizeiminister Bayerns, wo er das Bettler-Problem erledigt, unter anderem mit der Erfindung seiner Rumford-Suppe und eines brennstoffsparenden, nicht qualmenden Ofens. Mit Öfen hatte er schon am Anfang seiner Karriere (ca. 1782) zu tun, wo er auf der Seite der Englän der gegen die eigenen Leute kämpfte; Auszug aus einem Bericht eines Gerichtsschreibers aus Long Island: „Ich habe oft alte Leute erzählen hören, dass sie selbst mitansahen, wie frisch gebackenes Brot aus den Backöfen des Forts (die Thompson angeblich aus den Grabsteinen des Friedhofs von Huntington bauen liess) mit dem Reliefnamen ihrer verstorbenen Freunde in Spiegelschrift auf der unteren Kruste herausgezogen wurde.“ Aber dies so eindrücklich sentimentale Detail nur am Rande, da wir auch von Brot sprachen. • Die Küche der Armen der Welt wurde erstmals im Juni 1972 in Bochum realisiert. Der hier in leicht redigierter Form abgedruckte Text wurde von Daniel Spoerri für ein Diner am 3. Dezember 1992 in der Baseler Galerie Littmann verfasst und diente ebenfalls als Grundlage für ein Essen, das von Traute und Thomas Levy am 28. April 2013 in Hamburg veranstaltet und von Sarah Wiener, „der freundlichen Freundin“ (Daniel Spoerri), begleitet wurde. 15 Dirk Pörschmann: Wir sollten mit dem his torischen Teil beginnen. Ich war überrascht, als ich erfahren habe, dass du bei der Haagse Post als Redakteur gearbeitet und dort auch Artikel geschrieben hast. Rem Koolhaas: Ich habe dort 1963 als eine Art Praktikant begonnen. Nach neun Monaten durfte ich für das Magazin auch schreiben. Der Nul-Künstler Armando war der Redakteur des Kunstteils. Ich arbeitete für ihn und konnte aber auch Sport und viele andere Dinge machen. Vier Jahre lang habe ich das Layout des Maga zins gestaltet und mich auch um den Druck gekümmert, was damals noch eine richtige körperliche Tätigkeit war. Unser großes Vorbild für die Haagse Post war damals übrigens Der Spiegel. Im Grunde wollten wir wie Der Spiegel sein: Diese Form von neutraler Stimme und der Journalismus. Wir alle lernten, so zu schreiben, wie es die Journalisten beim Time-Magazin oder beim Spiegel taten, ohne die Beiträge na mentlich zu kennzeichnen. Natürlich versuch ten wir eine persönliche Note reinzubringen, und ironischerweise war genau das Neutrale unsere eigene Handschrift. Mattijs Visser: Ich nehme an, du hattest da mals viele Freiheiten. Es war die Zeit, als man Grafikdesign poetisch einsetzte und als eine neue Art der Kommunikation begriff. RK: Nun, ich glaube, die visuelle Kommunikati on ist ein verbreitetes und sehr wichtiges Thema in den 1960er-Jahren. Damals ging es aber nicht nur um Freiheit, sondern auch um Organisation und darum, eine gewissermaßen strenge, aber glamouröse Version der Nachkriegsmodernität zu finden. Wenn man sich beispielsweise italie nische Filme dieser Zeit ansieht, dann geht es darin nicht nur um Freiheit, sondern um Moder nität an sich. Es geht in ihnen um Anzüge und Krawatten, coole Autos, Lampen und den Gla mour dieser Lebensweise. MV: Hattest du eine gewisse Freiheit hinsicht lich dessen, worüber du schreiben wolltest? RK: Wir konnten Sachen vorschlagen. Ich habe Interviews mit dem Schriftsteller Willem Frederik Hermans oder dem Regisseur Federico Fellini gemacht, die politische Bewegung PROVO in terviewt oder auch den Architekten Constant. Für mich war es spannend, über alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens schreiben zu können, nicht nur über Kunst und Kultur. MV: Welchen Einfluss hatten deine Eltern auf deine ästhetische Ausbildung? RK: In puncto bildender Kunst hatten meine Eltern einen ziemlich konservativen, figurativen Geschmack. Daher hatte ich das Stedelijk Museum Amsterdam als meine „Schule“ ge wählt. Seit ich 12 Jahre war und bis ich etwa 18 war, bin ich fast jeden Tag dorthin gegangen. Es war wirklich erstaunlich, wie leicht man da mals Zugang zu den Museumsleuten bekam. Mit 14 habe ich zum Beispiel Skulpturen ge macht. Die habe ich dann in einen Koffer ge packt, bin zum Stedelijk gegangen und habe sie dem Direktor Willem Sandberg gezeigt. Man konnte da einfach hingehen. Also das ist wahrscheinlich der größte Unterschied im Ver gleich zu heute, wie zugänglich alles war und wie fließend die Strukturen. Im Prinzip kann man sagen, dass meine ganze Bildsprache, meine visuelle Sensibilität wirklich durch die Kunst dieser Jahre geprägt worden ist. DP: Wir haben oft mit herman de vries über die Bildsprache der späten 1950er- und frühen 60er-Jahre gesprochen. Diese besondere Art des Experimentierens oder des Ordnens von Flächen und Dingen unter Einbeziehung des Zufalls ist interessant und charakteristisch in diesen Jahren. RK: Das stimmt, aber entscheidend ist, dass ich dies völlig verinnerlicht habe. Meine Gene ration ist wahrscheinlich gar nicht imstande, das als etwas Besonderes zu begreifen. Das ist zu einem festen Bestandteil der eigenen Sensibili tät geworden, unsere DNA. Wie eine Art Mari nade, die haften geblieben ist. Im Rückblick betrachtet war es auch deshalb eine wichtige Phase, weil sie einem die Energie gibt, das Utopische nicht völlig aufzugeben und Geld nicht zu überschätzen. Courtesy of OMA; Foto: Fred Ernst Rem Koolhaas im Gespräch mit Dirk Pörschmann und Mattijs Visser sich im Grunde um Stahl, der in eine Gummi haut gehüllt ist. Der Witz besteht darin, dass sich sein Aussehen jedes Mal, wenn man ihn umdreht, verändert, obwohl es ein einziger Gegenstand ist. MV: Gibt es eine utopische Ästhetik? DP: Heinz Mack veröffentlichte in der dritten Ausgabe der Zeitschrift ZERO (1961) seinen Text Das Sahara-Projekt. Er beschrieb darin ein künstlerisches Konzept, an dem er bereits seit 1959 arbeitete. Mack hatte die konkrete Vorstel lung, in der Sahara 13 Stationen zu errichten, mit Lichtstelen, Pyramiden usw. – ein Wahn sinnsprojekt! Und natürlich stand es mit sei nem utopischen Charakter in einer modernen Tradition. RK: Ja, aber das ist natürlich der Punkt, wo alle Kunst der Nachkriegszeit sehr stark vom Krieg beeinflusst ist. Niemand konnte nach dem Krieg so tun, als ob er denselben Optimismus hätte. Es ist also immer irgendwie ironischer oder extremer oder skeptischer. Man kann nach dem Krieg eher ein skeptischer als ein unschuldiger Utopist sein. Die Art und Weise wie ich Architekt wurde, stand in einem Zu sammenhang mit utopischem Gedankengut, da ich mit Anfang 20 – also noch vor meinem Architekturstudium – in Russland den Konstruk tivismus für mich entdeckte. Ich hatte einen Freund, der mich damit bekannt machte, indem er mich nach Russland mitnahm. Dort haben wir unter anderem die Familie von Alexander Rodtschenko getroffen. Das war unglaublich eindrucksvoll, aber natürlich wurde es erst durch Stalin zunichte gemacht und dann durch den Zweiten Weltkrieg. Obwohl es mein erster Impuls war, Architekt zu werden, war ich mir immer völlig im Klaren darüber, dass nichts von all den frühen modernistischen Ideen zurück kehren würde, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Um nicht zu enttäuscht zu sein, habe ich mir dann New York angesehen und entdeckt, dass dort viele der Ambitionen, die es in Russ land gegeben hatte, tatsächlich realisiert wor den waren. Dann habe ich das Buch Delirious New York geschrieben, das man als eine Ver teidigung des utopischen Denkens bezeichnen könnte, aber eben anhand der Baupraxis in New York. Ich habe mich damals sehr intensiv damit befasst. Ich habe Verbindungen entdeckt zwischen Moskau und New York, die vorher niemandem bewusst gewesen waren. In den 1930er-Jahren gab es einen Zusammenhang zwischen sowjetischem und amerikanischem Denken, sogar auf der Ebene der Unterhaltung. Die Radio City Music Hall in New York etwa ba siert auf einer Art utopischem Projekt für die Erholung von erschöpften Arbeitern in Moskau. DP: Ist der Traum ein Teil von Utopia? RK: Nun, man könnte sagen, es ist eine Art Raum, in dem Utopia stattfinden kann, ja. Aber andererseits möchte ich die Traumqualität nicht betonen. Ich habe mir New York vor allem we gen der Art, wie die Dinge dort realisiert wurden, angesehen. Architektur hat eine enorme Band breite, vom Banalen zum Erhabenen, vom Pragmatismus zur Utopie; die Utopie und das Erhabene sind also ein Teil dieser Bandbreite und keine isolierte, unwirkliche Ausnahme. Es gibt Gelegenheiten, bei denen man versucht, das zu erreichen. DP: Siehst du den Prada Transformer als ein utopisches Projekt? RK: Er hat sicherlich eine utopische Ästhetik. Abstrakt gesehen, ist er in der Tat ein utopi sches Projekt. Aber wenn man sich ansieht, wofür er benutzt wird, scheint mir das nicht be sonders utopisch. Es handelt sich im Grunde um eine Skulptur, und diese ähnelt einer Pyra mide, aber sie hat vier verschiedene Grund flächen: Die eine ist ein Kreuz, die andere ein Kreis, ein Hexagon und ein Pluszeichen. Im Grunde kann man den Transformer nehmen und ihn so drehen, dass er jedes Mal einen völlig anderen Grundriss hat: einen Plan für eine Ga lerie, einen Plan für eine Ausstellung, für einen Shop oder einen Plan für ein Kino. Es handelt RK: Ja. Utopien waren in der Architektur lange Zeit eine Frage des Maßstabs. Es musste so groß sein, dass es nicht zu verwirklichen war. Außerdem waren sie auch eine Frage der Per fektion. Alles musste so perfekt sein, dass es sich nicht verwirklichen ließ – eine ideale Kugel zum Beispiel, etwas Überirdisches. Der Prada Transformer fällt sicherlich in diese Kategorie, mit seinen reinen Formen, seiner über- oder außerirdischen Erscheinung, so ein weißes Ob jekt, das, wenn es von innen erleuchtet wird, aussieht wie ein Raumschiff von einem ande ren Planeten. Ich denke, dass es eine Verbin dung zwischen Schönheit und Utopie gibt. Das Erhabene und das Utopische stehen sich auf jeden Fall sehr nahe. DP: Kann man mit Architektur eine bessere Welt schaffen? RK: In meinem Text Utopia Station (2004) habe ich geschrieben, es wäre obszön, wenn es nicht in jeder Architektur ein utopisches Ele ment gäbe. Ich glaube, es wäre auch obszön, wenn nicht jeder Architekt und jedes Architek turprojekt zumindest bis zu einem gewissen Grad die Absicht hat, die Welt zu verbessern. Andererseits muss man schon sehr naiv sein, wenn man glaubt, man könne heute einfach utopische Veränderungen oder Verbesserun gen durchziehen. Die Situation ist sehr zwie spältig, sehr zerrissen. Im Grunde praktizieren Architekten einen utopischen Beruf in einer aggressiv anti-utopischen Welt. Ich sehe meine gesamte Praxis als Architekt als ein utopisches Projekt, das unentwegt bis in seine Grundfeste von einem nicht-utopischen Skeptizismus in frage gestellt wird, teilweise von mir, teilweise von der Gesellschaft. Dieser Spagat ist wahr scheinlich das, was mir von meiner Beschäfti gung mit ZERO geblieben ist. Ich war total von Yves Klein fasziniert und bin es immer noch. Fast jede utopische Architektur übt eine unwi derstehliche Anziehung auf mich aus. Klein ist meines Erachtens deswegen so faszinierend, weil er es eher auf künstlerische Wirkungen anlegte, die infolgedessen radikaler sind. Uto pien in der Architektur und in der Stadtplanung wirken auf mich weitaus weniger attraktiv als Utopien in der Kunst. Ich denke schon, dass Architektur den Status quo verbessern kann. Aber anders betrachtet: Wenn du heute eine Konferenz im Silicon Valley besuchst, dann wirst du dort keinen einzigen Menschen treffen, der dir nicht sagt: „Ich möchte die Welt verbessern.“ Das ist zum tota len Klischee geworden. Alle betonen: „Wir schaffen eine bessere Welt. Wir wollen eine bessere Welt.“ Das ist wie ein Werbeslogan. Und dieser Slogan dient als Vorwand, hinter dem sich alle möglichen Interessen verbergen. Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass um die zentrale Frage der Utopie ein ganzer Haufen schwieriger, offener Fragen kreist. Das 20. Jahr hundert war doch ein Katastrophengebiet des Utopismus, wo alles entsetzlich danebenging. 60 Jahre später klopfen sich alle auf die Brust und sind furchtbar stolz auf ihren utopischen Geist. Diese Bruchstelle, diese Polarität wird äußerst schwer zu bewältigen, zu artiku lieren sein. Jeder, der heute arbeitet, besonders in der Archi tektur, muss unheimlich vorsichtig sein, denn niemand ist allein und niemand hat volle Kontrolle über die Ziele und Produkte seiner Arbeit. DP: Wenn ich auf die 1950er-Jahre zurückbli cke, habe ich den Eindruck, dass der Aufbruch in eine „bessere Welt“ für die meisten ZERO- Künstler eine sehr ernste Intention war. Das war kein Marketing, wie du es gerade für heute beschrieben hast. RK: Richtig, aber man sollte dabei nicht ver gessen, dass ZERO in einer Welt aktiv war, die Fotos: Iwan Baan © OMA Rem Koolhaas wird als Keynote-Speaker am Symposium Vorträge und Gespräche am 1./2. Mai 2015 in der Akademie der Künste teilnehmen. noch halb in Schutt und Trümmern lag. Sie haben nach dem totalen Zusammenbruch ver sucht, wieder etwas aufzubauen. Das ist ein di rekterer Bezug zur Weltverbesserung, als er uns zumindest heute in unserem Teil der Welt zur Verfügung steht. DP: ZERO entstand Ende der 1950er-Jahre. Da war das Wirtschaftswunder bereits in vollem Gang. ZERO kritisierte den starken Materialis mus. Die Befriedigung der materiellen Bedürf nisse allein macht ja noch keine „bessere Welt“. Die Künstler suchten nach einer neuen Gesin nung und einer neuen Sensibilität. RK: Ich finde es fast beneidenswert, wie ein fach damals noch alles war. Der Wiederaufbau schaffte Möglichkeiten. Es verlief damals natür lich nicht alles nach Plan, und dadurch entstand ein echter Anreiz, über Alternativen nachzuden ken. Es war eine einfache Welt mit einer klaren Trennung in Schwarz und Weiß. Davon sind wir heute sehr weit entfernt. Man kann nicht an satzweise mehr bestimmen, wo die gute Seite ist, wo das Wort „Mut“ am richtigen Platz ist und was genau dazugehört. DP: Nun, es gab den klaren Wunsch nach ei nem Wiederaufbau und den Kalten Krieg, der die Welt in zwei Zonen trennte. Dennoch muss man aufpassen: Aus einer historischen Sicht sieht oft alles schön säuberlich getrennt aus. MV: Außerdem war die Welt viel kleiner als heute. Das half wahrscheinlich auch. RK: Der Horizont der ZERO-Künstler war im Wesentlichen auf die westliche Welt beschränkt. Heute hat sich das auf Afrika und Asien, auf po litische, ideologische und kulturelle Kontexte, auf Wertsysteme und Umweltbedingungen von fast unvorstellbarer Vielfalt ausgedehnt. In dieser Hinsicht ist die Vernetzung um einige Größenordnungen komplexer geworden. DP: Durch das lang ersehnte Kriegsende und die Möglichkeiten des Reisens erlebten viele eine Erweiterung ihres realen aber auch geisti gen Horizonts. Passierte möglicherweise da mals innerhalb Europas dasselbe wie heute auf der ganzen globalisierten Welt? RK: Was du für die Nachkriegszeit beschreibst, sind unglaublich aufregende Ereignisse, durch die sich ganz scharf definierte Möglichkeiten für junge Menschen auftaten. Die Euphorie, die sie durch das Kriegsende empfanden, wurde durch den Kontakt mit Gleichgesinnten, die man überall traf und die sich zu Gruppen zu sammenschlossen, nur noch verstärkt. All das geschieht in der Gruppe, man merkt, dass man ähnlich denkt, dass man ähnliche Werke pro duziert, und das verstärkt den Zusammenhalt. Darum geht es im Prinzip in einer Kunstbewe gung: um gegenseitige Unterstützung und Soli darität. So etwas gibt es heute nicht mehr, im Gegenteil: Jeder ist eine Insel für sich. Es gibt auch keine Architektengruppe mehr, die kollek tiv Projekte entwickelt und realisiert. Jeder ist auf sich allein gestellt. Es ist ein knallharter Wettbewerb. DP: Besitzen Architekten ein besonderes Ge spür für soziale Probleme? OMA: Prada Transformer 16 RK: Viele Architekten des 20. Jahrhunderts ha ben ein starkes soziales Bewusstsein gehabt, und sie pflegten enge Beziehungen zu sozialis tischen Regimes, sei es in Russland, Deutsch land oder Holland. Das hörte ab der Mitte der 1960er-Jahre langsam auf. Die Architekten be schäftigten sich mit sozialen Fragen, aber das heißt nicht, dass sie dafür besonders talentiert waren. Man erteilte ihnen den Auftrag, gesell schaftliche Probleme zu lösen, und unvermeid licherweise waren die Architekten ganz beses sen von dieser Rolle. So wie die Sache heute steht, würde ich sagen, dass es nur sehr weni ge Architekten gibt, die ein solches soziales Feingefühl für sich in Anspruch nehmen würden. Ja, ich glaube, die meisten würden sogar strikt abstreiten, dass sie irgendetwas in dieser Rich tung besitzen. MV: Als du den Auftrag erhalten hast, ein neu es Bürohaus für den Springer-Verlag in Berlin zu entwerfen, wollten die Bauherrn einen neuen architektonischen Rahmen, der völlig neue Ar beitsbedingungen zulässt, also im Prinzip eine utopische Idee. RK: Ich glaube, unser Entwurf sagte dem Ver lag deshalb so zu, weil wir seine Auflagen sehr ernst nahmen. Wir haben ein Gebäude konzi piert, das verschiedene Arten des Arbeitens er möglichen und fördern wird, und das entspricht den Plänen des Unternehmens, intern einen ra dikalen Strukturwandel zu vollziehen. Wir haben also einen Kunden gefunden, der selbst zur Veränderung bereit war. Aber ich glaube nicht, dass du bei Springer jemanden finden würdest, der sagt: „Wir haben den Architekten gebeten, eine bessere Welt zu gestalten.“ Sie würden es eher so formulieren: „Wir haben jemanden ge funden, der dem von uns angestrebten Wandel eine physische Form verleihen kann.“ MV: Ich möchte noch einmal auf die Frage zu rückkommen, welche Rollen du dir selbst zu schreibst. Gibt es Projekte in deiner Laufbahn, über die man sagen könnte: Das hat sich über längere Zeiträume entwickelt und Form ange nommen und ist trotzdem unfertig geblieben, das ist eine utopische Vision, die ich mal hatte und die sich nie verwirklichen lassen wird? RK: Nein, so läuft das nicht bei mir. Erstens befinde ich mich in der glücklichen Lage, dass wir bereits mehrere Male äußerst persönliche Vorhaben verwirklichen konnten, die in hohem Maß als Statement zu werten sind. Manchmal bringen diese Statements einen völlig neuen Aspekt in die Architektur ein – eine neue Art der Architektur, wenn schon nicht unbedingt eine neue oder sogar bessere Welt. Das China Central Television Headquarter in Peking ist für mich solch ein Beispiel: Ein sehr hohes Gebäude, das instabil wirkt und aus jeder Blickrichtung anders aussieht. Ich denke, das hat es früher nicht gegeben – fast wie ein kinetisches Kunst werk oder ein dynamisches Element im Stadt körper. Im ästhetischen Sinn könnte man ein solches Experiment utopisch nennen. Für mich persönlich ist das sicher ein Grund dafür, warum mir dieses Projekt besonders am Herzen liegt. Oder das Gebäude De Rotterdam, das mir ebenfalls sehr viel bedeutet. Da haben wir et was ganz anderes versucht. Wir machten die Unschlüssigkeit des Bauherrn, der unablässig seine Meinung änderte, zur Methode. Es gibt eine Reihe von Räumen, die ständig ihre Pro portionen und Relationen wechseln. In Peking hatten wir einen künstlerischen Ansatz. In Rot terdam wurde ein pragmatischer Prozess in eine mehr oder weniger künstlerische Konzep tion übertragen. „Ich habe einen Traum.“ Kann ich ihn realisieren oder nicht? Die Suche nach der Antwort auf diese Frage führt zu einer Reihe von Erkennt nissen, aus denen wiederum spezifische Ziele hervorgehen. In den meisten Fällen lässt sich zumindest ein Teil davon verwirklichen. Und die Ziele oder Elemente, die übrig bleiben, finden dann in anderen Gebäuden ihren Platz. Das ist also wirklich ein kontinuierlicher Prozess. Zehn Antworten von Pablo Wendel Pablo Wendel: Testudo Solaris, 2013 Fotos: Performance Electrics Das irritierende Moment der Intervention im öffentlichen Raum ist Teil der subversiven Strategie von Performance Electrics. Der erste Zusammenschluss einer Gruppe zu einer Testudo Solaris erfolgte im Dezember 2013 gemeinsam mit Schülern in der Stuttgarter Innenstadt. Die handgemachten SolarzellenSchilde wurden in einem eigens dafür entwickelten Siebdruckverfahren gestaltet und sind nach ihrer Aufladung durch die Performance als limitierte Edition erhältlich. Für mich definiert sich Kunst kontinuierlich neu. Auch bei jedem neuen eigenen Projekt steht die Frage im Raum, was Kunst sein kann. Für mich ist das ein Qualitätsmerkmal von Kunst: Wenn sie keine neuen Sichtweisen mehr anbieten könnte, würde ich wohl keine Kunst mehr machen. Das bedeutet nicht bloß subjektiv, dass ich selbst etwas Neues durch die Kunst entdecken möchte, sondern dass Kunst in irgendeiner Form gesellschaftlich rele vant sein sollte. Ich würde Funktionalität und Ästhetik trennen. Die Funktion entsteht für mich aus dem sozialen Kontext, die ästhetische Kompo nente dagegen in einem selbst. Die Frage ist, ob man etwas funktional oder ästhetisch wahr nimmt. Das Spannende an Performance Electrics ist, dass wir die Funktion von den Objekten ablö sen. Der Fokus wird damit auf die Ästhetik von Objekten gelenkt, die wir normalerweise nicht so betrachten würden. Die intensive Auseinandersetzung mit der Natur und ihren verschiedenen Materialien haben mich in meiner Kindheit und Jugend geprägt. Ich wuchs auf der Schwä bischen Alb auf und absolvierte dort eine Aus bildung zum Steinbildhauer. Diese führte auch zu einem Interesse an Dekonstruktion und an Prozessen, die mir meist wichtiger sind als das jeweilige Ergebnis beziehungsweise Endprodukt der Arbeit selbst. Die große Begeisterung für Elektrizität, aus der die Idee für Performance Electrics entstand, war immer schon vorhanden. In meiner Kind heit habe ich gemeinsam mit einem Elektriker Lötarbeiten durchgeführt und an Schaltkreis läufen gearbeitet, was bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Heute würde ich sagen, dass es jeweils die Er fahrungen aus den vorangegangenen Projek ten sind, die meine Arbeit beeinflussen. Kunst und Wissenschaft unterscheiden sich in ihrer Arbeitsweise manchmal weniger, als man denkt. Ich würde mir da her eine ähnliche gesellschaftliche Akzeptanz für künstlerische Grundlagenforschung wün schen. Performance Electrics sehe ich in diesem Zu sammenhang als ein richtungweisendes Pro jekt: Es ist als Experiment an der Gesellschaft angelegt und das Ergebnis bleibt offen. Auch dass Performance Electrics an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft arbei tet, ist dabei ein wichtiges Element. Diese Ko operationen existieren noch viel zu selten und sollten ein größeres Thema werden. Wissenschaftliche Methodik ist nicht für alle Entwicklungen von Vorteil. Oft braucht es gerade die Leichtigkeit der Kunst, mit der man andere Perspektiven eröffnet und mit einfachen Mitteln Neues entdeckt. Zentrale Fragen sind für mich die Energieprobleme der Welt und deren politische und gesellschaftliche Dimension. Eigentlich hat die Welt genug Energie, die Probleme in der Verteilung und Art der Nutzung liegen in unse ren Köpfen. Ich wünsche mir, dass Performance Electrics weiter wächst und sich weiter entwickelt. Performance Electrics gGmbH soll nicht mehr nur Stromanbieter sein, sondern zu einer Schnittstelle zwischen Architektur, Ma terialentwicklung und Lebensforschung werden. Generell sind Künstler sehr sensibel für soziale Tendenzen, manche können diese aber auch gut ausblenden und daraus eine eigene künstlerische Qualität entwickeln. Mit bloßem Gespür für die Probleme lassen sich diese jedoch nicht lösen. Ich mag künstle rische Positionen, die Verantwortung überneh men, ohne dabei moralisch zu wirken. Utopien haben in der Kunst einen hohen Stellenwert. Eine Kunst ohne Utopie wäre utopisch. Pylonen symbolisieren die Rotornarben etc. Wendel selbst begreift seine Langzeitperfor mance als CEO eines Stromanbieters als Ver such, der technokratisch geführten Debatte um die Energiewende durch einen künstlerischen Impuls eine andere Perspektive zu geben. Mit dem Verbrauch von Kunststrom der Perfor mance Electrics gGmbH umgibt sich der Kunde mit einem immateriellen Kunstwerk, sobald er Energie verbraucht. Zugleich autonomisiert Performance Electrics durch die künstlerischen Stromgewinnungsanlagen nicht nur den inter nationalen Kunst- und Kultursektor, der derzeit zu den Hauptabnehmern des Kunststroms gehört, von industriellen Stromproduzenten, sondern schafft ein Netzwerk, das die Kunst strom-Abnehmer über das Stromnetz mit einander verbindet. Jeder baut sich in seinem Alltag eine bestimmte Lebenseinstellung. Das Angebot durch die Kunst ist sehr kraftvoll und kann jeden zum Nachdenken anregen. Kunst ist für mich eines der wichtigsten Werkzeuge für den Umgang mit dem alltäglichen Leben, und sie kann das für jeden sein, nicht nur für den Künstler selbst. Sie sollte daher allgemein anwendbar und zu gänglich sein. Die gesellschaftspolitische Kraft zeitgenössischer Kunst liegt darin, dass Kunst einen anderen Standpunkt einnehmen kann und eine andere Perspektive anbietet. Die Menschen reagieren auf meine Arbeit extrem unterschiedlich. Es gibt sehr pragmatische Anwender meiner Kunst, die ihren alltäglichen Strombedarf damit decken und ihre Waschmaschine mit Kunststrom betreiben. Viele haben aber Schwierigkeiten mit meiner Arbeit, da es kein Objekt gibt, das man besitzen kann. Die Arbeiten bleiben oft rein konzeptuell und immateriell. Häufig gibt es erst nach vielen Jahren Rückmeldungen, zum Beispiel dass je mand verstanden habe, wieso ich auf diese Weise arbeite. • PABLO WENDEL, geboren 1980 im baden- württembergischen Tieringen, studierte von 1999 bis 2002 Bildhauerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart u. a. bei Werner Pokorny und Christian Jankowski. Die Verknüpfung von Leben und Kunst ist eines der Hauptmerkmale in den Werken von Pablo Wir alle sind Frau John Jaspers Spencer Tunick Martin Hesselmeier und Andreas Muxel: the weight of light, 2015 Ivan Navarro: Traffic, 2015 International Light Art Award – The Future of Light Art, Preisträgerausstellung des International Light Art Award 2015, bis zum 28. Juni 2015 im Zentrum für Internationale Lichtkunst Unna. Wendel. Internationale Bekanntheit erlangte er durch seine Performance als Terracotta Warrior in der streng bewachten Terrakottaarmee im chinesischen Xi’an (2006). Seine Arbeiten wa ren in zahlreichen nationalen und internatio nalen Gruppen ausstellungen zu sehen, etwa im Württembergischen Kunstverein (Oh, My Complex, 2012), im ICA London (New Contemporaries, 2010) oder im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid (Les Rencontres Internationales, 2008). Das Kunstmuseum Stuttgart widmete ihm 2007 eine Einzelausstel lung (Frischzelle_07). Zur Ausstellung erschien ein Katalog (Frischzelle_07: Pablo Wendel, Hrsg.: Kunstmuseum Stuttgart, 2007. Mit einem Text von Marion Ackermann. Deutsch/Englisch, 36 Seiten, Broschure, 5,00 €). Pablo Wendel lebt und arbeitet in Stuttgart und London und ist Gründer und Geschäftsführer der Perfor mance Electrics gGmbH. Pablo Wendel diskutiert mit Stephan Muschick, Geschäftsführer der RWE Stiftung für Energie und Gesellschaft, im Rahmen des Symposiums Vorträge und Gespräche am 1./2. Mai 2015 in der Akademie der Künste am Pariser Platz. Pablo Wendel: Off Road, A40 bei Dortmund, Juni–September 2014, sowie Skulpturenpark Katzow bei Greifswald, seit Dezember 2014 Die Straßenwindinstallation Off Road besteht aus einem Ensemble von sieben je acht Meter hohen Windskulpturen und einer Power Station. An der Forschung und Entwicklung zu Off Road beteiligte sich ein transdisziplinäres Team; wissenschaftliche Unterstützung leistete das IAG – Institut für Aerodynamik und Gasdynamik der Universität Stuttgart. 18 The Future of Light Art, so heißt die Ausstellung zum International Light Art Award 2015 (ILAA), dem ersten internationalen Wettbewerb für junge Künstlerinnen und Künstler, die die Lichtkunst innovativ und kreativ weiterentwickeln. Auf Initia tive des Zentrums für Internationale Lichtkunst Unna und der RWE Stiftung für Energie und Ge sellschaft wurde der mit 10 000 Euro dotierte Preis im Januar erstmals verliehen und im Rah men eines Festakts im Haus der Berliner Fest spiele übergeben. Die Preisverleihung bildete zugleich den Auftakt für das von der Unesco ausgerufene International Year of Light. Aufgabe der Wettbewerbsteilnehmer war es, Ideen für die zehn Meter unter der Erde gelege nen Kühl- und Lagerräume der ehemaligen Linden brauerei in Unna auszuarbeiten. Unter allen Teilnehmern wurden drei Finalisten aus gewählt, die ihre Entwürfe realisieren konnten. Das Ergebnis sind drei Installationen, die auch andeuten, in welche Richtung sich die Licht kunst in Zukunft bewegen könnte. Der erste Platz ging an das deutsch-österrei chische Künstlerduo Martin Hesselmeier und Andreas Muxel. In ihrem Werk the weight of light spielen sie mit den physikalischen Eigen schaften von Licht und knüpfen damit an As pekte der kinetischen Kunst an. Ihre Installation bringt die Schwerkraft des Lichts zum Ausdruck und schafft für den Betrachter ein bewegtes Licht- und Klangerlebnis. Der in Chile geborene Iván Navarro ist der Zweitplatzierte des Wettbewerbs. In seiner In stallation Traffic verbindet er Skulptur mit Be wegung und hinterfragt erlernte und kodierte Verhaltensweisen. Sein der Konzeptkunst zu zuordnendes Werk ist aus zahlreichen ameri kanischen Ampeln konstruiert. Es kreiert und spielt mit einer Irritation sozialer Prägung und konfrontiert den Betrachter mit Signalen, die aus ihrem üblichen Kontext gelöst sind, deren Wirkung er sich jedoch nicht entziehen kann. Dritter wurde der Nordrhein-Westfale Dirk Vollenbroich. Er beantwortet das ILAA-Motto The Future of Light Art mit einer LichtkunstInstallation, die erst durch eine Vernetzung mit den Hirnströmen des Betrachters ihre Existenz entfaltet. © KAGE MIKROFOTOGRAFIE, Institut für wissenschaftliche Fotografie Manfred P. Kage und Christina Kage, Lauterstein Foto: Kai Fischer Tanja Vonseelen Um mehr über Pablo Wendel und sein Projekt Performance Electrics zu erfahren, braucht man eine gewisse Fähigkeit zum Multitasking. „Bitte den Mauszeiger bewegen, um Energie zu produzieren“, annonciert die Homepage des Projekts unter www.performance-electrics.com. Andernfalls wird der Bildschirm dunkel, die Er klärungen zum Projekt entschwinden. Also rührt man etwas hektisch auf der Seite herum und bringt im wahrsten Sinne Licht ins Dunkel, um die Informationen lesen zu können, die die Home page bereithält, und wird augenblicklich Teil eines außergewöhnlichen Kunstprojekts. Das Unternehmen Performance Electrics gGmbH wurde 2012 von dem Künstler Pablo Wendel gegründet und produziert seitdem in Zusammen arbeit mit Künstlern, Designern, Architekten und Wissenschaftlern Strom mithilfe von per formativen Prozessen und skulpturalen Instal lationen. So entsteht etwas, das Wendel selbst als „Kunst aus der Steckdose“ bezeichnet. Wie herkömmliche industrielle Stromanbieter speist auch Performance Electrics den produzierten Strom in das öffentliche Stromnetz ein. Die ei gentliche Stromgewinnung geht im öffentlichen Raum vonstatten – und setzt nicht selten auf guerillaartige Taktiken. Die Varta Bande (seit 2012), eine Gruppe von Performancekünstlern, sammelt zum Beispiel in Geschäften oder Banken mit sogenannten Akku-Rucksäcken Strom ein und speist ihn im Anschluss als „Kunststrom“ in das Netz. Für Testudo Solaris (Performance, Stuttgart, und Edition, 2013) reiht sich eine Gruppe von Performern in Anlehnung an die römische Militärformation Schildkröte (Testudo) mit Schildern aus Solarzellen auf und bewegt sich als „Notstromformation“ durch den Stadtraum. Die Skulpturengruppe Off Road setzt hingegen auf Recycling. Sie wurde erstmals im Sommer 2014 entlang der Autobahn A 40 im Rahmen von Urbane Künste Ruhr für das Projekt B 1 | A 40 – Die Schönheit der großen Straße realisiert und ist seit Ende 2014 im Skulpturenpark Katzow bei Greifswald zu sehen. Pablo Wendel ließ hier, unterstützt durch die Kulturstiftung des Bundes und die RWE Stiftung für Energie und Gesell schaft, einen ganzen Windpark entstehen, des sen einzelne Windkraftanlagen skulpturengleich aus recycelten Autobahnfragmenten zusam mengesetzt sind: Laternenpfähle bilden Mas ten, Straßenleitpfosten und Vorfahrtsschilder fungieren als Rotorblätter, rot-weiß gestreifte Von rasenden Lichtern und tanzenden Ampeln Fotos: Frank Vinken | dwb für die RWE Stiftung © Zentrum für Internationale Lichtkunst Eine Kunst ohne Utopie wäre utopisch Manfred P. Kage: Ammoniumsulfat, 1957 Ein Leben für das Experiment Dirk Pörschmann Die Philosophie des Werks bezieht sich auf die Idee des heiligen Weiblichen. Ich hoffe damit anzudeuten, dass Frauen eine Reflexion und Verkörperung von Natur, Sonne, Himmel und Land sind. Wir alle sind Frau. Wir alle sind Natur. Ich möchte meine Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass wir uns auf die Stärke, Intuition und Weisheit fortschrittlicher und aufgeklärter Frauen stützen werden, um unseren Platz in der Natur zu finden und das Gleichgewicht in ihr zu rückzugewinnen. Mich beunruhigt, wie weit wir davon entfernt sind und wie sehr wir um ihren Erhalt kämpfen, sie dabei aber zugleich weiter zerstören. Der Spiegel teilt uns mit, dass wir eine Reflexion unserer selbst, voneinander und der ganzen Welt sind, die uns umgibt. • SPENCER TUNICK, geboren 1967 in Middle town, New York, ist berühmt für seine temporä ren Landschaftsskulpturen, die er aus nackten Menschen komponiert und oftmals in gesell schaftliche oder politische Kontexte einbettet. Der Fotokünstler formt seit 1992 Menschen in zumeist urbanen Zusammenhängen zu neuen Silhouetten. Dabei variiert die Anzahl seiner Modelle von einzelnen Personen bis hin zu 18 000 Freiwilligen, die im Mai 2007 in Mexiko- Stadt für ihn posierten. Manfred P. Kage, geboren 1935 in der Nähe von Leipzig, experimentiert zeit seines Lebens mit der Mikroskopie. Bereits in den 1950er-Jahren kristallisierte er mehr als 2 500 anorganische und organische Verbindungen, um sie auf ihre „Bildfähigkeit“ hin zu testen und zu fotografie ren. Der Kontakt zur Wiesbadener Künstler gruppe 56 ermöglichte ihm 1957 seine erste Ausstellung mit dem Titel Fotografie informell im Atelier der Malerin Christa Möhring. In Live-Vorführungen wurden gesteuerte Kristall wachstumsvorgänge gezeigt. Nach diversen Ausstellungen im In- und Ausland folgte 1961 eine Ausstellung zusammen mit Otto Piene in der Stuttgarter Galerie Müller. Im Sommer 1963 erhielt er gemeinsam mit Gotthard Graubner, Oskar Holweck, Heinz Mack, Henk Peeters, Otto Piene, Uli Pohl, Günther Uecker und wei teren ZERO-Künstlern den großen Preis der IV. Biennale Internazionale d’Arte Contemporanea von San Marino. Im Verlauf seines Schaffens arbeitete Kage mit vielen renommierten Künstlern zusammen. Ne ben seiner Beteiligung an ZERO realisierte der Mikrofotograf gemeinsame Projekte mit John Cage, Walter Haupt, Karlheinz Stockhausen und Salvador Dalí, für dessen Film Impressions de la Haute Mongolie – Hommage à Raymond Roussel er die Spezialeffekte realisierte. Zu dem war er an bedeutenden internationalen Ausstellungen wie etwa den Weltausstellungen in Montreal (1967) und Osaka (1970) oder ver schiedenen Ausgaben der Ars Electronica in Linz beteiligt. Um eine ästhetische Farbgestaltung bei mikro skopischen Aufnahmen zu ermöglichen, entwi ckelte der gelernte Chemielaborant den soge nannten Polychromator, einen Filter, der aus mehreren drehbaren Kristallschichten besteht und über ein gigantisches Farbspektrum ver fügt. Ein weiterer Schritt zur Ästhetisierung von Kristallstrukturen war 1968 die Konstruktion eines Repro-Kaleidoskops. Manfred P. Kage, der Pionier künstlerischer Projektionstechni ken, wird im Rahmen der Performance Nacht am 11. April im Martin-Gropius-Bau das breite Spektrum seines Schaffens präsentieren. Ei nen „Vorgeschmack“ auf Kages Performance bietet ein kurzer Auszug aus seinem Text „Zur Realisation des optischen Konzerts“, der in der dritten und letzten Ausgabe der Zeitschrift ZERO (Juli 1961) veröffentlicht wurde: Was mich fasziniert, ist der Versuch einer ungewöhnlichen Synthese aus den im Allge meinen als isoliert betrachteten Bereichen der gesetzmäßigen Naturvorgänge, dem Bereich physikalisch-technischer Methoden, mit deren Hilfe die Vorgänge sichtbar gemacht werden, und der ästhetischen Produktion, dem zweck freien Umgang mit dem, was in Erscheinung getreten ist. In diesem Grenzgebiet lässt sich durch sinnvolle Kombination dieser zunächst verschiedenen Disziplinen meine Absicht ver wirklichen: die Idee der total veränderbaren ästhetischen Objektivation. Solch ein ästhetisches Ereignis kann bei sei nem diaphanen Charakter nur immaterieller Natur sein – jedenfalls, soweit ich das überse hen kann. Denn es ist nicht nur in Farbe und Form, sondern auch in der Größenausdehnung veränderbar. Es kann daher nur aus gelenkten Lichtspielen – aus optischen Projektionen – be stehen. Die optische Rhythmisierung folgt zwar anderen Regeln als die Rhythmisierung von Geräuschen in der Musik. Trotzdem liegt es nahe, derartige Demonstrationen in Anlehnung an die Zeithaftigkeit der Musik als „optische Konzerte“ zu bezeichnen. [...] Es zeichnen sich schon jetzt konkrete Möglich keiten ab, mit mehreren Solisten und verschie den arbeitenden optischen Geräten und Vor gängen das „total veränderbare Ästhetikum“, das optische Konzert zu realisieren. So fremd es den Ohren auch klingen mag, die Integration und Summe dieser Überlegungen sind ein Bei trag zu einer „Allchemie“ oder besser Kosmo gonie des 20. Jahrhunderts. (Manfred P. Kage, 12. April 1961, in: ZERO, Nr. 3, 1961, o. S.) Projektionen von Manfred P. Kage sind im Rahmen der Performance Nacht am 11. April 2015 im Martin-Gropius-Bau zu sehen. 19 SMR: Bei Piene ist es nicht wie in der konkre ten Kunst, wo sich ein sehr rationales Zufalls prinzip wie etwa bei Gerhard von Graevenitz oder auch herman de vries durchsetzt. Bei Otto Piene kann es seriell sein, aber man spürt, da steckt noch Leben drin. Da spürt man den Atem, den Rhythmus und die Variabilität. MB: Der verbrennt noch Sachen. Da spürst du den Schaffensprozess. SMR: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es den Drang, das Subjekt aus der Kunst rauszuhal ten. Wieso war diese „Entsubjektivierung“ so wichtig? Mary Bauermeister, 2014 Sophie-Marie Remig: Wie kam es zu der Freundschaft zwischen Otto Piene und Karl heinz Stockhausen? Mary Bauermeister: 1960 fand in meinem Atelier in der Lintgasse 28 die erste Aufführung des Lichtballetts von Otto Piene in Köln statt. Und weil mein Atelier dieses schräge Dach hat te, hat sich das Lichtballett nicht wie in einem viereckigen Raum gebärdet, stattdessen waren die Lichter unglaublich lang und verzerrt, wor auf Karlheinz Stockhausen völlig begeistert ausgerufen hat: „Boah, das muss ich musika lisch machen!“ Es gibt ein Werk von Stockhau sen, Kontakte, da hat er diese Erfahrung schon eingebaut. Da ist ein Ton, eigentlich eine Tone bene (imitiert die Töne), die löst sich auf in Bro cken, dann werden die Brocken immer wieder länger (imitiert die Töne) und es endet wieder in der Fläche. Grandios. Es ist im Grunde die Übersetzung von dem, was er mit Piene in mei nem Atelier erlebt hat. SMR: Das ist die Entstehungsgeschichte von Kontakte – das Werk basiert also auf einem visuellen Eindruck. MB: Ja. Dem visuellen Eindruck der Verzerrung des Lichtes. Das hat Stockhausen in Kontakte umgesetzt. Es wurde erstmals zum Festival der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) im Sommer 1960 aufgeführt; im März 1960 hatte Stockhausen Pienes Lichtballett gesehen. SMR: Piene und Stockhausen planten ein Ge meinschaftsprojekt für die Weltausstellung 1970 in Japan. Wie kam es dazu? MB: Durch ihre Freundschaft, die 1960 in mei nem Atelier begonnen hat, haben sie immer Kontakt gehalten, haben sich gegenseitig Kon zertprogramme oder Einladungen geschickt. Im Jahr 1970 – das heißt, es war im Grunde schon im Vorfeld, als man wusste, dass in Osaka der Deutsche Pavillon gebaut wurde – hat Stockhausen dann vorgeschlagen, ein Riesenkugel-Auditorium zusammen mit Piene zu bauen, weil er sich natürlich dachte, dass in solch einem Kugelauditorium eine Lichtprojek tion noch spannender wäre. Nun waren aber das deutsche Auswärtige Amt und die Geld geber sehr zögerlich und haben im letzten Mo ment dann nur Stockhausen den Zuschlag ge geben. Für Piene war kein Platz und auch kein Geld mehr da. Da die beiden das Projekt zu sammen konzipiert hatten, hätte man denken können, jetzt gibt es einen großen Konkurrenz kampf. Überhaupt nicht! Piene hat gesagt: „Okay, mein Freund, mach du es alleine. Ich wünsche dir viel Glück.“ Eine solche Geste unter Künstlern, gerade unter männlichen Künstlern – die sind ja „platzhirschinstinktgeschädigt“ – ist etwas ganz, ganz Besonderes. Stockhausen kreierte daraufhin einen riesengroßen blauen Innenraum, in dem nur noch einzelne Glühbir nen waren. Das sah ein bisschen aus wie ein Sternenhimmel. Aber diese wunderbare Mög lichkeit, die Musik, die sich durch den Raum 20 MB: Sagen wir mal so: Piene und Stockhausen entstammen einer ähnlichen Generation. Ich bin ein bisschen jünger, aber Piene war auch nicht im Krieg, oder? bewegte, auch noch mit Lichtern zu begleiten, die wurde vertan. Die beiden waren grandiose Denker, und die Reduzierung von ZERO entspricht schon den späten Auswüchsen der seriellen Kunst. Die serielle Musik kommt ja von Arnold Schönberg, der allen Halbtönen die gleiche Wertigkeit ge geben hat. Das hat dann Anton Webern weiter getrieben, indem er sagte: Nicht nur die Halb töne, sondern alle Parameter, also Rhythmus, Lautstärke etc. sind seriell zu komponieren. Daraus folgten dann Skalen, zwölf Halbtöne, zwölf verschiedene Rhythmen, zwölf verschie dene Instrumente, zwölf verschiedene Laut stärken usw., und sie haben dann eigentlich überhaupt nicht mehr komponiert, indem sie etwas innerlich Gehörtes aufgeschrieben ha SMR: Doch. Als Kindersoldat, als letztes Auf gebot. ben, wie es eigentlich in der Musik üblich war. Sie haben einfach einen Konstruktionsprozess zu Papier gebracht. nur drei Jahre Unterschied sind. Die, die nur Flakhelfer waren oder nur die Verwundeten auf einen Haufen geschleppt haben oder wie wir im Keller den Krieg erlebt haben, das sind ganz wenige Jahre, und trotzdem ist die Lebensein stellung dieser Generation von Kindern völlig anders als die, die noch getötet hat. Ich kann da nur von mir erzählen: Es war Ende des Krie ges, und ich war in der „Kinderlandverschlep pung“ [Kinderlandverschickung] in Kufstein. Wir haben noch gehamstert. Die ganzen Ge schäfte haben ihr Essen weggegeben, weil es ja sonst in die Hände des Feindes gefallen wäre. Dann stehst du in langen Schlangen mit einer Milchkanne und denkst, du kriegst Milch. Und dann kriegst du vorne Bier. Als Kind. Was willst du mit Bier? Das sind alles so Dinge, wo man als Kind die gesamte Absurdität des Menschseins hinterfragt. Dafür wird getötet? Jetzt stehen wir hier wegen Bier, ich habe aber eigentlich Hunger. Dann musst du schnell in den Keller, weil schon wieder Fliegeralarm ist. Dann kommst du raus, und es ist schon wieder ein Haus kaputt. Später wanderte der Feind ein. Es war helllichter Tag, und wir saßen immer noch im Keller. Draußen schien die Sonne und ich hörte Jubel. Ich bin raus aus dem Keller und weggerannt, die Straße runter. Dann kamen die Amerikaner und mit ihnen ein Riesenpanzer. Auf dem Panzer saß ein Farbiger mit blitzeblan ken weißen Zähnen und schmiss Bonbons. SMR: Also vom Geschmack, vom subjektiven Eindruck des Komponisten befreit? MB: Deshalb hat das Karel Goeyvaerts „Selbstlose Musik“ genannt, weil er sagte: „Wir müssen weg vom Subjekt, vom persönlichen Geschmack.“ Er nannte das dann „reinen Got tesdienst“. Man könnte sagen: nur noch kos misch angebunden, nicht mehr an den persön lichen Geschmack, das menschliche Gefühl gekoppelt. Klangmäßig war das natürlich span nend, denn das konnte keiner mehr nachvoll ziehen. Schönberg hatte noch gesagt: „Ach, in 50 Jahren werden meine Melodien auf der Straße gepfiffen.“ Er hat sich vertan. Du kannst eine nicht hierarchisierte Musik nicht erfassen, wenn weder Rhythmus noch irgendeine Har monik vorkommen. In der bildenden Kunst war das der Goldene Schnitt. Das wurde aufgelöst, ZERO, kein Goldener Schnitt, kein Hauptwerk mehr, keine Proportionen, was John Cage ja dann auch umsetzte. SMR: Die Zufallsoperation. Er hat versucht, sich als Komponisten zurückzunehmen, und nach anderen Kräften zu ordnen. MB: „If you want music“, sagte Cage, „open the window.“ Ja, alles ist Musik. Es gibt einen Ausspruch von Cage, da war er in Amerika mit Allan Kaprow in einem Konzert von einem eu ropäischen Musiker: „It was good music, but it had one European mistake, it had a climax.“ Und Höhepunkte waren verboten. Das war nicht mehr „in“. Die Problematik dieser ganzen Geschichte konnte man in der visuellen Kunst besonders gut erfahren. Man sieht ein Bild, das aus lauter Pünktchen besteht. Dann geht man vorbei. Wenn man das musikalisch für eine Dreiviertelstunde aushalten muss, ist das eine andere Herausforderung. Da wird man fast wahnsinnig. Es gibt keinen Bezug mehr. Das war am Ende eine Überspitzung einer Metho dik, die nicht nachvollziehbar und nur sehr schwer aufführbar war. Es war eigentlich wie ein Zu-Tode-Laufen. Es gibt solche Sack gassen. MB: Stockhausen war als Kind Lazaretthelfer, aber er hat keinen erschossen. Er hat die Toten auf einen Haufen getragen. Ich weiß nicht, ob Piene noch schießen musste? SMR: Nur mit Flugabwehrkanonen. Er musste also noch gewaltig schießen, aber nicht mit dem Gewehr an der Front, sondern mit der Flak. MB: Das macht einen großen Unterschied. Die, die aus dem Krieg nach Hause kehrten, die selber getötet und geschossen haben, das ist eine völlig andere Generation. Auch, wenn es Und dann die Frauen, deren Männer noch im Krieg waren! Wir sind ja mit den Heldensagen und der Nibelungentreue aufgewachsen. Viele dieser Frauen wurden zu sogenannten Ami- Liebchen. Die Männer waren im Krieg und spä ter in Gefangenschaft. Also gingen die Frauen mit den alliierten Soldaten, um ein bisschen Es sen für ihre Kinder und ein paar Zigaretten für den Schwarzmarkt zu bekommen. Da geht die zweite Illusion dahin: Die Vorstellung vom Feind geht kaputt, die Vorstellung von Treue geht kaputt. Nur das nackte Überleben zählte. Ich war Gott sei Dank nicht zu Hause, ich war ja in Kufstein. Ich brauchte das nicht auf meine Eltern zu projizieren. Die konnte ich noch in meinem Idealismus retten. Aber die gesamte Welt mit ihren Vorstellungen, was man tut, was erlaubt ist, was Gut und Böse ist, war komplett über den Haufen geworfen. SMR: Das hat sich dann auf deine Kunst über tragen? MB: Natürlich. Auf alles Gestalterische. Dann kamen die Bilder aus den Konzentrationslagern nach dem Krieg. Da siehst du plötzlich die Fo tos von Leichenbergen, von Juden, die „unser Hitler“ umgebracht hat. Dann geht noch einmal etwas kaputt. Dafür sind unsere Soldaten zer stört nach Hause gekommen? Die Väter waren doch stumm, keiner redete mehr, keiner war schuld. Alle haben sie Stauffenbergs Akten tasche getragen. Keiner hat zugegeben: Ich war Teil des Hitler-Regimes, ich habe daran geglaubt, ich bin mitschuldig. Da kannst du doch keinem Erwachsenen mehr etwas abneh men. Und du kannst auch keiner Kunstform mehr etwas glauben, wenn Beethoven gespielt wurde und gleichzeitig Juden abgeschlachtet wurden. Daher fingen wir an, alles zu hinterfra gen. Das, was die Nazis verboten hatten, näm lich die „Entartete Kunst“, das musste es sein; also versuchte man, da wieder anzusetzen. Aber auch da war bei mir noch ein Misstrauen gegenüber allem „Abbildnerischen“. Ich hatte das Glück, mit 14 Unterricht bei Günther Ott (1915 – 2013) zu bekommen, dem späteren Direktor des Außenreferats der Kölner Museen. Er unterrichtete damals als Zeichenlehrer an der Höheren Schule, auf die ich ging. Als Bau hausschüler hat er nicht mit dem repräsentati ven Abbild angefangen. Wir brauchten kein Rotkäppchen mehr zu malen oder so einen Un sinn, sondern er forderte „kalte, warme Farben, Kampf der Formen“. Also ganz abstrakte The men! Damit war ich in meinem Element, ich konnte neu anfangen. Um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Ich kann es nur vergleichen. Wer in meinem Alter war oder ist, der hat ähnli che Erfahrungen gemacht, wo auch immer. Die Erlebnisse derer, die im Krieg waren und auf Menschen schießen mussten, waren dramati scher. Die Kunst hatte bei ihnen einen persön lichen Leidenshintergrund. SMR: War das Überleben des Krieges ein Frei heitsmoment für dich? MB: Ja, das war der absolute Neuanfang. SMR: Die ZERO-Künstler waren stark von den Kriegserlebnissen geprägt, und sie schufen eine Kunst, die eigentlich nur durch die Kollek tiverfahrung des Zweiten Weltkriegs entstehen konnte. SMR: Absurd. MB: Stell dir das vor! Als Kind! Zwei Großeltern tot, zwei Häuser kaputt, der Vetter gefallen, der Onkel ohne Bein nach Hause gekommen. Der Feind, der an allem schuld sein sollte, kommt und schmeißt Bonbons. Da denkt eine Zehn jährige, die Welt ist meschugge. Natürlich ha ben die Erwachsenen gesagt: „Die Bonbons sind vergiftet.“ Wir haben sie trotzdem einge sammelt. Wir waren ein kleiner Kindertrupp. Dann hieß es, jetzt müssen wir gucken, ob die wirklich giftig sind. Es wurde nach Kinderart ausgezählt und die Wahl fiel auf mich. Also habe ich an dem Bonbon geleckt. Da haben sie mir in die Augen geguckt, ob ich schon vergif tet wäre. Nichts. Wir haben sehr schnell her ausgefunden, dass die Süßigkeiten nicht ver giftet waren, haben aber die anderen Kinder in dem Glauben gelassen. Otto Piene während der Vorbereitungen zum Lichtballett im Atelier von Mary Bauermeister in der Lintgasse 28 in Köln am 26. März 1960 MB: Das ist eine Beobachtung, die sich aus dehnen lässt: Das Cabaret Voltaire beispiels weise, ebenfalls eine internationale Künstler bewegung, ist in der Zeit des Ersten Weltkrieges entstanden. Während sich die Nationen be kämpften, arbeiteten die Künstler bereits an et was Gemeinsamen. Brauchen wir den Krieg für einen Neuanfang? Brauchen wir die totale Katastrophe? Brauchen wir jetzt wieder einen Zusammenbruch, um neu anzufangen? Das frage ich mich. Es muss wahrscheinlich einen totalen Kollaps geben – wirtschaftlich, ökono misch, in jeder Hinsicht –, damit überhaupt neu angefangen werden kann. Wir sind ja alle gegen den Kapitalismus gewesen, aber heute leben wir in einem irren Widerspruch. Ich lebe vom Kapitalismus. Wer außer dem, der Geld hat, der sein Geld für sich arbeiten lässt, kann sich meine Bilder leisten? Das müsste ich ei gentlich verhindern, eigentlich dürfte ich das gar nicht mitmachen, wenn ich meinen Jugend idealen treu bliebe. SMR: Es gab nur wenige Frauen in der Kunst szene zu dieser Zeit. Gab es denn den Neuan fang in der Kunst nur für die Männer? MB: Ja, da waren wenige Frauen. Die Frauen kommen natürlich in der Kunst vor, aber dann als nackte Frauen auf der Leinwand. Da kom men sie immer vor. So wie ja auch bei den Anthropometrien von Yves Klein. Es gab 2007 diese tolle Ausstellung im Museum of Contemporary Art, Los Angeles (MOCA): WACK!: Art and the Feminist Revolution. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion sagten viele Lesben: „Endlich habe ich mich befreit, wurde lesbisch und zeigte meine Nacktheit.“ Es ging den amerikanischen Frauen darum, zu zeigen, wie frei sie sind. Ich hielt dagegen: „Wir sind eine andere Generation. Unsere Mütter, unsere Frauen haben die Städte aufgebaut. Da waren keine Männer. Die Frauen haben die Kinder er nährt, die haben gehamstert. Wir haben als Frauen keinen Minderwertigkeitskomplex ge habt.“ Das war schon eine deutliche Gegen position. Die europäischen Künstlerinnen, die wenigen, die dabei waren, hatten wirklich einen völlig anderen Ansatz als ihre amerikanischen Kolleginnen. Diese Diskussion war sehr span nend. Es kommt immer darauf an, wo und wie du aufwächst. Bei der Diskussion in New York im MoMA PS1, eine der weiteren Stationen der Ausstellung, wo die weißen Frauen ebenfalls das Zeigen ih rer Nacktheit als Akt der Befreiung betonten, meldete sich eine schwarze Künstlerin mit den Worten: „Wir wurden als Sklaven in unserer Nacktheit missbraucht, für uns heißt Emanzi pation, bekleidet zu sein.“ SMR: Aber was hat dazu geführt, dass diese Frauen, die nach dem Krieg so viel selbst ge leistet haben, trotzdem wieder so gebremst wurden? Sie hatten doch alles Recht, zu den Männern zu sagen: Ihr habt Krieg gespielt, und wir haben hier den Laden zusammengehalten. MB: Es war teilweise persönliche Erschütte rung. Wenn der Vater nach Hause kommt und die Kinder ihn nicht wiedererkennen, er selbst von seiner Frau kaum mehr erkannt wird, er stumm ist, ein Bein verloren hat, ein Auge fehlt oder er schwerstbehindert ist, weil er einen Gehirnschuss erlitten hat, dann bist du so im menschlichen Leid gefangen, dass es dich zu rückzieht. Eine unserer typischen Eigenschaften ist es „to care“, – zu versorgen, zu ernähren, zu pflegen. Da wirken die alten Instinkte. Warum die Frauen nach dem Krieg nicht aufgetrumpft haben? Da brauchte es erst eine nächste Ge neration. Die Töchter dieser Trümmerfrauen, die gesehen haben: Mama, jetzt kommt der Papa nach Hause, schweigt, ist stumm und ist trotzdem der Held hier im Haus. Die Töchter können es hinterfragen. Meine Mutter hat die Kartoffelsäcke nach Hause getragen und hat nachts auf dem Feld gestohlen, während mein Vater gesagt hat: „Ich darf nicht stehlen, ich bin Akademiker, da verliere ich meine Professur.“ „Hier“, hat meine Mutter gesagt, „fünf Kinder müssen ernährt werden. Jetzt wird geklaut. Wie wollen wir denn die Kinder groß kriegen?“ Ich hatte keine Komplexe, eine Frau zu sein. Ich lief allerdings schon von Kind an mit Leder hosen rum und hatte einen tollen älteren Bru der. Und ich fand es auch später in meinem Leben eigentlich spannend, im Windschatten eines ganz berühmten Menschen zu leben. Er hat für den Ruhm gesorgt, und ich konnte in seinem Windschatten wunderbar arbeiten. Ich habe unseren Haushalt bezahlt, er hat das Haus abbezahlt. Ich habe nicht darunter gelit ten, Frau zu sein, weil ich mein Leben ab mei nem zehnten Lebensjahr selbst bestimmt habe. Ich weiß noch, als Piene, Stockhausen und ich einmal in meinem Atelier in ein Gespräch über den Krieg vertieft waren. Das sind Geschichten, die können Leute, die das nicht erlebt haben, nicht nachvollziehen. Die können nur zuhören. Stockhausen musste Leichen und fast tote Soldaten aus einem Lazarett tragen. Es war Winter an der Westwall-Front. Er musste sie auf einen Haufen legen, weil die Betten für die, für die noch Hoffnung bestand, freigemacht werden mussten. Auf diesem Totenhaufen Foto: Peter Fürst © Peter Fürst, VG Bild-Kunst 2015 Bei null ist man bei sich und der Frage: „Wie nehme ich die Welt wahr?“ Foto: Peter Fürst © Peter Fürst, VG Bild-Kunst 2015 Foto: Sophie-Marie Remig Mary Bauermeister im Gespräch mit Sophie-Marie Remig haben ihm dann sterbende Soldaten Zettel chen gegeben oder gesagt: „Such meine Frau, schau, dass du Kontakt findest.“ Stockhausen hatte viele Zettelchen mit Namen und Adressen. Wenn du so etwas erlebt hast, kannst du nach her nicht mehr schön Tatatatammtatatamm- Körpermusik machen. Da geht es elektronisch weiter. Da ist Krach und Lärm und Horror in der Musik. Das geht nicht anders. SMR: Wie kann es dann sein, dass es bei den ZERO-Künstlern gerade keinen Krach gibt. Da ist der Raum erst einmal leer. Ist ZERO denn eine Verweigerung, sich mit der Vergangenheit zu befassen? MB: ZERO kommentiert nicht visuell. Es gibt keine visuelle Kommentierung des Horrors, so viel ist klar. Also muss man einen klaren Schnitt machen. Es ist ein unglaublich guter Name, diesen Cut ZERO zu nennen ist grandios. Ich wüsste in der Musik keinen ähnlichen Begriff, der so klarmacht: Es fängt wieder bei null an. Das habe ich ja gerade eben versucht, am ei genen Erleben klarzumachen: Du machst mit allem, was Vergangenheit ist, Schluss und fängst selber wieder an. Bei null ist man bei sich und der Frage: „Wie nehme ich die Welt wahr?“ Ich habe immer gekritzelt und gemalt und mir mein ganzes Leben lang die Welt zeichnerisch vorgestellt. Meine Welterfahrung ging visuell vor sich, und von daher kann ich das sehr gut nachvollziehen. Es fängt nicht beim lieben Gott an, und es fängt auch nicht bei irgendwas an, was wir gelernt haben, son dern es fängt bei null an. • Mary Bauermeister, geboren im September 1934 in Frankfurt / M., studierte von 1954 bis 1955 an der Hochschule für Gestaltung in Ulm bei Max Bill und von 1955 bis 1956 an der Staatlichen Schule für Kunst und Gestaltung in Saarbrücken bei Professor Otto Steinert. 1960 gründete sie in Köln das Atelier Mary Bauermeister in der Lintgasse 28, das mit den von ihr organisierten Konzerten neuer Musik, Lesungen und Ausstellungen zum Treffpunkt der Avantgarde und zu einer der Keimzellen der späteren Fluxus-Bewegung avancierte. Bei ei nem Kompositionskurs traf Mary Bauermeister 1961 Karlheinz Stockhausen (1928 –2007). Aus dieser ersten Begegnung entwickelte sich eine Beziehung, die beide Persönlichkeiten stark beeinflusste. Mit Originale wurde im Oktober 1961 ihr erstes Gemeinschaftswerk in Köln uraufgeführt. Privat war die Ménage à trois zwi schen Bauermeister, Stockhausen und dessen Mary Bauermeister und Heinz Mack (rechts) 1960 im Treppenhaus des Ateliers in der Lintgasse Ehefrau Doris für das katholische Köln der frühen 1960er-Jahre eine echte Provokation. Gemeinsam zogen sie 1962 in die USA, wo Bauermeister bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1972 erfolgreich arbeitete. Ihre 1967 geschlossene Ehe mit Stockhausen wurde 1973 geschieden. Mary Bauermeister lebt und arbeitet in Rösrath bei Köln. Ihr autobiografisches Buch Ich hänge im Triolengitter. Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen ist 2011 in der Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann erschienen. Mary Bauermeister ist im Rahmen der Veranstaltungsreihe dynamo sowohl während der Performance Nacht am 11. April 2015 im Martin-Gropius-Bau als auch am Musik und Film Abend am 6. Juni 2015 in der Akademie der Künste zu erleben. one is many many is one zero is the gate the gate is here here is everywhere everywhere is nowhere nowhere is now now is here now is this this is here is herman de vries: one is many, 1972 21 Made in Berlin 20 cm 17 cm 17 cm 22 cm Pure Reduktion – so anziehend ist ZERO 110 cm Vorder- & Rückenteil Fotos: Rui Vilela Tanja Vonseelen Das original ZERO-Kleid als Schnittmuster Maßstab 1 : 2,5 Seitennähte und Schultern 1 cm Nahtzugabe Seitennähte und Schultern schließen Mit ZERO oder einer großen weißen Null beschriften Kunst und Mode bilden oft spannende Allian zen. Yves Saint Laurent schrieb 1965 Modege schichte mit der Präsentation eines Etuikleides, dessen Muster von den De-Stijl-Mosaiken des niederländischen Künstlers Piet Mondrian inspiriert war. Wohl jeder kennt die spektakulä ren Entwürfe der italienisch-französischen Modeschöpferin Elsa Schiaparelli, deren enge Zusammenarbeit mit Salvador Dalí in Lobster- Kleid, Schuh-Hut oder der berühmten Lippen stift-Tasche gipfelte. Aquilano Rimondi huldig te Paul Gauguin mit polynesischen Motiven in seiner Frühjahrskollektion 2014, Miuccia Prada widmete sich Dadaismus, Konstruktivismus und Bauhaus, Dries van Noten ließ sich von Gerhard Richter, Mark Rothko, Francis Bacon, Jef Verheyen oder Elizabeth Peyton inspirieren. Umgekehrt designte Tracey Emin für das Mo dehaus Longchamp eine Handtasche – eine Aufgabe, der sich auch Jeff Koons für H&M im Sommer 2014 stellte. Und nicht zu vergessen: Otto Piene dozierte von 1951 bis 1964 an der Düsseldorfer Modeschule, und Heinz Mack entwarf selbst einen silberfarbenen Overall für sein berühmtes Sahara-Projekt. Aktuellster Beweis für die gewinnbringende Li aison der beiden Systeme Kunst und Mode sind die Kollektionen der in Berlin und Paris lebenden Designerin Monya Wasilewski. Ihr Label steht für einen klassischen und minima listischen Stil mit raffinierten und dennoch schlicht wirkenden Schnitten, die sich dank präziser Linienführung und makelloser Verar beitung als zeitlos erweisen. Mark R.(othko), Agnes M.(artin), Slim A.(arons), Hanne D.(arbo ven) – bereits die Titel der Kollektionen verra ten, wer Pate für die jeweiligen Designideen stand. „Während des Gallery Weekends in Berlin habe ich den Kalender der deutschen Konzeptkünstlerin Hanne Darboven von 1970 gesehen. Diese Arbeit hat mich so gefesselt, dass sie zum Hauptthema meiner Sommerkollek tion 2014 wurde. Ein paar Monate später habe ich in der Serpentine Gallery in London ein Buch über das Bild Save The Last Dance For Me von Mary Heilmann entdeckt, welches wie derum zum Konzept für die Winterkollektion 2014 /2015 wurde“, erklärt Wasilewski. So fin den sich auf subtile Art Künstler und Werk im Schnitt, in den Materialien oder den Farben der Entwürfe wieder und klassische Modelle werden neu interpretiert. Wer oder welches Foto: Manfred Tischer © The Estate of Manfred Tischer / www.tischer.org Monya Wasilewski in ihrem Entwurf Otto P. Kunstwerk zum Hauptthema einer Kollektion wird, ist dabei, so die Modeschöpferin, völlig unvorhersehbar. „Es ist plötzlich da und be schäftigt mich und möchte verarbeitet wer den.“ Darüber hinaus entsteht momentan in Zusammenarbeit mit dem Studio für Architek tur Helmut Luck ein neues Label, das künftig auch Gebäude tragbar macht, zum Beispiel in Form der Hausmäntel Peter Z., inspiriert von Zumthors Thermalbad in Vals. Für dynamo hat die Modedesignerin das ZERO-Kleid neu interpretiert. Otto Pienes Mo deschülerinnen und -schüler trugen diese Kre ation 1961 erstmals anlässlich der Präsentation der dritten und zugleich letzten Ausgabe der Zeitschrift ZERO: lange Kleider aus schwarzem Papier, die auf der Vorderseite mit dem weißen Schriftzug „ZERO“ und auf der Rückseite mit einer weißen Null bemalt waren. So gekleidet waren die Studenten Teil einer Performance vor der Galerie Schmela in Düsseldorf. Dass das historische ZERO-Kleid sehr schlicht ist, passt gut zum puristischen Stil der Desig nerin, die sich schon immer für reduzierte Grundformen interessiert hat: „Bei ZERO ist es im Grunde ein einfaches Rechteck, welches angezogen zu einer Art Litfaßsäule wird und mit der Außenwelt über ZERO kommuniziert. Ich habe die Auswahl der Stoffe verfeinert und da bei etwas Weibliches, Modernes und Trag bares kreiert.“ So ist mit dem Entwurf Otto P. ein Kleid entstanden, das ruhig und unaufge regt den ZERO-Geist in das 21. Jahrhundert übersetzt und dessen seitliche Öffnungen auf puristische Art und Weise eine große weiße Null symbolisieren. Das historische ZERO-Kleid kann live im Rahmen der Performance Nacht am 11. April 2015 im Martin- Gropius-Bau bewundert werden. Oder man greift mithilfe des Schnittmusters einfach selbst zu Nadel und Faden. Mit seiner komfortablen Passform eignet es sich als flexibler und stilvoller Begleiter im Berliner Modealltag. Und wer es etwas anspruchsvoller mag: Das Kleid Otto P. kann direkt über die Homepage des Modelabels bezogen werden. Zur Präsentation der dritten und letzten Ausgabe der Zeitschrift ZERO in der Düsseldorfer Galerie Alfred Schmela am 5. Juli 1961 ließen junge Frauen und Männer in schwarzen Kleidern aus Papier Seifenblasen steigen www.monyawasilewski.com 60 cm 23 ZERO ist … ZERO inspiriert – Kinder machen Mode Auf vergleichbare Weise wird auch der Grund zustand eines quantenmechanischen physi schen Systems auf Zero festgesetzt, und bei einer Datenbank ist es möglich, dass sie keinen Wert hat, was wiederum als ein Nullwert be zeichnet wird. Der Nullwert verweist auf den Grundzustand eines Systems und weist seinem Wesen nach eine dreiwertige Logik auf: Eine Bedingung kann wahr oder falsch oder unbestimmt sein. Die Nicht-Initiierten können leicht in die Falle gehen, Zero mit seichter Inhaltslosigkeit oder lächerlicher Leere zu verwechseln, so wie wenn man einen Rennwagen, der gerade nicht fährt, und seinen auf null stehenden Wegstrecken zähler für wertlos erachtet, für etwas ohne Nut zen oder Energie. Zero ist ein Konzept, das sich auf ein meditati ves Bewusstsein bezieht. Durch einen Medita tionsprozess werden die sechs Sinne ermutigt, einen Ort der mentalen Stille zu erreichen, einen mentalen Nullpunkt, wo das Selbst auf ange messene Weise abwesend ist und man sich in einem Wahrnehmungszustand befindet, in dem man weder etwas wegnimmt noch etwas hin zufügt und wo man zu einem Geisteszustand des „Es ist, was es ist“ gelangt. Zero bietet ein elegantes Nichtvorhandensein eines Subjekts, um die Palette der sechs Sinne für einen Null punkt des Bewusstseins freizumachen, der sich während des Interagierens mit der Zero- Weise entwickeln soll. von etwas erscheinen, dann impliziert dies, dass sie von Anfang an keine unabhängige Existenz besaßen. Existenz einerseits und Nihilismus andererseits stehen hier daher definitiv nicht zur Debatte. Die Zero-Weise hat den Kampf zwi schen wahr und falsch, Existenz und Nihilis mus überwunden. Relativität als ein dritter Wert des Zero-Begriffs ist an sich ein relativer Wert, und die Denk schulen, die sich an die Relativität halten, akzep tieren kontingente Objekte oder kontingente Wahrnehmungen als weder wahr noch falsch, etwa ein Ding und seinen Schatten. Die Denkschulen, die sich mit dem Thema der (für ihre Existenz oder Erscheinung) voneinan der abhängigen Dinge befassen, begreifen, dass all das, dessen Existenz oder Erschei nung von etwas abhängig ist, etwa ein Schat ten, nicht wirklich ist. Wäre ein Schatten unver änderlich, bedeutete dies, dass er sich nicht verwandeln ließe. Aber er ist auch nicht falsch, da er mit echten Eigenschaften innerhalb der gesamten Welt erscheint. Zero steht für eine umfassende Relativität, dass es allen Dingen an einer inhärenten Tat sächlichkeit, inhärenten Objektivität, intrinsi schen Identität oder einem inhärenten Grund koeffizienten mangelt. Die Abwesenheit eines sich nicht wandelnden Geistes oder Kerns führt nicht dazu, dass etwas aufhört zu sein, sondern relativiert es durch und durch. Zero ist eine Weise, eine Wahrnehmungsweise, eine Erfahrungsweise, eine Seinsweise, eine Weise des Analysierens und Wahrnehmens, die Zero-Weise der Meditation. Durch die Zero-Weise werden die Sinne gereinigt, ge klärt, und es steht uns ein tieferes Bewusstsein zur Verfügung, und die Dinge, deren wir uns bewusst sind, tauschen Ort und Zeit, und Din ge werden Bewusstsein. Zero ist sowohl für Kenner als auch für Uninitiierte eine Weise des Meditierens. • Die 2004 gegründete Berlin Metropolitan School ist eine internationale Ganztagsschu le. Die Schule legt besonderen Wert auf den kulturellen Austausch und die Interaktion von Menschen verschiedener Nationalitäten. 850 Schülerinnen und Schüler lernen derzeit in Preschool, Primary School und Secondary School. Katharina Apel ist seit 2013 Lehrerin für das Fach Deutsch an der Berlin Metropolitan School. Im Folgenden werden die Begriff Zero und Null um der besseren Lesbarkeit willen synonym gebraucht (A.d.Ü.). Frans Jones beantwortete die Frage „Was ist ZERO?“ am 20. Dezember 2014 auf der Facebook- Seite der ZERO foundation. Wulf Herzogenrath Julius Schmiedel Gemessen am Alter unseres Planeten Erde, auf dessen gesamte Zeitspanne die Menschheit bis her nur einen vergleichsweise kleinen Einfluss gehabt hat, ist es natürlich ungemein schwer, einen konkreten Nachweis für eine Veränderung der Welt durch ZERO zu finden. Stellt man sich nun aber unsere Welt als Hologramm vor, so braucht es nur den richtigen Referenzstrahl (frei nach Piene: den „ZERO Point of View“), um die vielen Spuren sichtbar zu machen, die sich aus der Interferenz mit dem Objektstrahl (den ursprünglichen Werken und Ideen ZEROs) ergeben haben. Erst die Begegnung mit den Arbeiten und die Beschäftigung mit dem Ge dankengut ZEROs ermöglicht es also, den Ein fluss von ZERO auf unsere Welt wahrzunehmen. Von diesem Punkt aus ist es dann abhängig vom Individuum, wie hell und wie klar dieses Bild wird. • Julius Schmiedel, geboren 1984 in Köln, stu dierte Mediale Künste an der Kunsthochschule für Medien in Köln. In seinen Werken beschäf tigt er sich mit Licht, Farbe und ihrer Wahrneh mung im Raum. www.julius-schmiedel.de Eine Arbeit von Julius Schmiedel wird im Rahmen des Musik und Film Abends am 6. Juni 2015 in der Akademie der Künste zu sehen sein. 24 Henk Peeters Es gibt keine Kunst, die diese Welt verändern konnte. Es ist sogar umgekehrt: Kunst sieht an ders aus, nachdem die Gesellschaft sich ver ändert. „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein.“ (Karl Marx) Wenn es die Künstler sein sollen, die diese Welt verändern, sollten sie eine andere Art Kunst machen. Aber leider arbeiten die meisten Künstler nur für das Establishment. Das Etablierte in Frage zu stel len und zu unterminieren, ist der wichtigste Beitrag, den wir als Künstler leisten können. Mit ZERO haben wir damals einen Anfang ge macht, und heute muss man diese Strategie fortsetzen, indem man sein Zelt auf der Wall street aufbaut! Liam: Uniform, 2014 Heinz Mack 1964 in der Galerie d, Frankfurt/M. Am 29. März, 19. April und 3. Mai 2015 jeweils von 14 – 17 Uhr können Kinder im Martin-Gropius-Bau zusammen mit Sophie-Marie Remig und Thekla Zell selbst Lichtobjekte herstellen. Zero ist Form ist Zero; Zero ist nicht Form ist nicht Zero. Was immer Form ist, ist Zero, was immer Zero ist, ist Form. Transzendente Gruppen von Prinzipien und Seinsweisen werden durch einfache abstrakte Bezeichnungen markiert. So ist es auch mit der Idee der Kausalität, weil alles in Abhängigkeit von etwas entsteht. Wenn wir das nicht im Auge behalten, können Objekte als real erschei nen, es eine Weile sein und danach aufhören zu existieren. Wenn Phänomene in Abhängigkeit Auf dem Schulhof der Berlin Metropolitan School in Berlin-Mitte kommen jeden Tag 48 unterschiedliche Nationalitäten zusammen. Genau hier begegnen wir erstmals dem ZERO-Geist, denn eine internationale Gemein schaft ist eine dynamische Gemeinschaft. Kinder unterschiedlichster Nationen, Kulturen und Religionen bekommen hier viel Raum und den perfekten Rahmen für ein inspirierendes Lernumfeld. ZERO fasziniert. Die Schüler der Klasse 2a diskutieren viel: Was ist ZERO? Was wollten die Künstler mit ihrer Kunst verändern? Wie stellten sie sich die Zukunft vor? Schon 1961 prophezeite Heinz Mack: „Morgen werden wir auf der Suche nach einer neuen Dimension der Kunst auch neue Räume auf suchen müssen.“ Mack ging in die Wüste. Nahe der tunesischen Oase Kebili hantierte er fünf Tage lang mit halb technischen, halb fantastischen Kunst gebilden im Sonnenlicht. Es entstand der Film Tele-Mack, in dem er die Energie und die Kraft des Lichts experimentell erforscht und doku mentiert. Inspiriert von den Überlegungen der ZERO-Visionäre und dem von Mack selbst ge stalteten silbernen Anzug, beschlossen die Kinder, Mode zu entwerfen. Funktionale Hüte mit Rasseln und integrierten Kopfhörern. Bei nahe nutzlose, aber sehr ausgefallene Brillen. Kleidsame Umhänge und rüstungsähnliche Wämser. Wie bei den ZERO-Künstlern selbst standen auch bei den Kindern die große Freu de am Experiment und der Spaß im Umgang mit unterschiedlichsten Materialien im Vor dergrund. So entstanden Mode-Ideen für eine neue Zukunft. Fotos: Katharina Apel Für einen zweifelsfreien (in Kelvin berechneten) Wärmegrad etwa ist Null die kleinste wahr scheinliche nummerische Menge. Dies ist ein markanter Unterschied, wenn man es mit Tem peraturen auf der Celsiusskala vergleicht, wo Null willkürlich als jene Stufe definiert wird, auf der Wasser gefriert. Bei der Bestimmung der Intensität von etwas Hörbarem in Dezibel wird die Nullstufe willkürlich an einem Bezugswert festgemacht, etwa an einem Wert der Schwelle der Hörbarkeit. Elsevier’s Weekblad, Amsterdam, 17. März 1962; unten: Flugblatt Zéro der neue Idealismus, 1963 Für viele Phänomene hat Zero/Null eine sehr spezielle Funktion. Bei manchen Phänomenen lässt sich der Nullwert auf natürliche Weise von allen anderen Ebenen aus erkennen, während er im Gegensatz hierzu bei anderen Phänome nen mehr oder weniger zufällig gewählt wird. © Heinz Mack, VG Bild-Kunst 2015 Katharina Apel und Sophie-Marie Remig Frans Jones Die Leistung von Walter Gropius, Oskar Schlemmer, László Moholy-Nagy und ihren Kollegen am Bauhaus der 1920er-Jahre war nicht das utopische Denken allein, sondern das Realisieren in einem eher feindlich agierenden Umfeld. Utopien erträumten sich 1918/1919 viele nach dem Zusammenbruch des Kaiser reichs, den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges und den ersten revolutionären Auf brüchen. Doch die Tat im banalen, rauen Alltag erweist sich immer komplizierter, und die Wi derstände werden immer größer, je näher die Realisierung rückt. Die Manifeste der Schulre formen, die Verbindung von Kunst und Hand werk, ja von Kunst und Industrie, von der Einheit und dem Zusammenklang der Künste – davon träumten viele in den Studios und an den Schreibtischen, doch nur Gropius und seine Mitstreiter realisierten im kleinen, kulturbürger lichen Weimar mit und gegen eine thüringische Bürokratie das Staatliche Bauhaus. Mit diesem Vorspann beziehe ich mich dann auch auf die Situation mehr als 30 Jahre spä ter, als in den 1950er-Jahren die drei ZERO- Künstler, Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker – jeder auf seine spezifische Weise, doch sich untereinander stärkend durch ge meinsame Auftritte, Zeitschriften, Ausstellungen und Pamphlete –, daran gingen, nicht nur eine neue Kunst zu entwickeln in einer sich wan delnden Welt, ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der verzögerten Wahrnehmung des Holocausts, der Taten der Väter-Generation. Da träumten junge Künstler von einer sich der Erdenschwere und Banalitä ten befreienden Kunst. Inmitten restaurativer Politik-Realität und wirtschaftlich prosperieren der Zeit wollten die Künstler in neue Räume vordringen. Die Kunstwerke entstanden nicht für die Wohnzimmer der Wohlstandsbürger, sondern in unberührten Wüstenlandschaften. Oder sie stiegen in den Himmel auf, gestalteten neue Erdformationen, Felder oder Wälder. Sie sollten über die kleine rechteckige Leinwand im Studio des einsamen Künstlers hinausweisen. Die Kunstwerke der ZERO-Künstler veränder ten das Licht, die Farben der Wüste, die sich in neuen Materialien spiegelten. Der Regenbogen wurde real über Hunderte von Metern gespannt Anmeldungen an: [email protected] und halbe Wälder geweißelt – alles, um neue Räume zu erobern, neue Wahrnehmungsformen zu schaffen und ein neues Sehen für einen neu en zukünftigen Menschen zu realisieren. Kunst konnte sich in neuen Feldern ausbreiten, etwa in den Wissenschaften; die Lehre verknüpfte international und intermedial. Und wiederum kaum zwei Generationen später kann eine solche idealistische Haltung anre gendes Vorbild sein, in einer Zeit, in der auf der einen Seite der Kunstmarkt mit all seinen Zwängen und Möglichkeiten vorherrschend scheint, und andererseits der Künstler sich in soziologische Feldforschungen der global sich ausbreitenden Wirtschaftsmächte in neue und andere Zwänge begibt. Bleibt in der Dualität zwischen affirmativem Kunstmarkt und papie rener Politkunst kein Raum mehr für Ideale, Individualitäten, Träume, Spinnereien, Flucht bewegungen aus allen scheinbaren Zwängen und Selbstverständlichkeiten nicht genügend Anregungspotenzial? Sind die neuen virtuellen Welten einer immateriell vernetzten Welt nicht legitime Fortsetzungen der ZERO-Träume um 1960, die sich bewusst an Objekte und persön liche sinnliche Erfahrungen binden wollen? Aber gibt es eine Kunst ohne Sinnlichkeit und Emotion, ohne Vision einer Veränderbarkeit? Der Mensch hat sich nicht wirklich verändert, nur seine Werkzeuge und Gestaltungsmittel wandeln sich. Und seine Visionen? • Wulf Herzogenrath ist Direktor der Sektion für Bildende Kunst an der Akademie der Künste, Berlin. Gemeinsam mit Daniel Birnbaum und Dirk Pörschmann (beide ZERO foundation, Düsseldorf) veranstaltet Wulf Herzogenrath im Rahmen des Begleitprogramms dynamo ein Symposium, das am 1./2. Mai in der Akademie der Künste am Pariser Platz Fragen zur Aktualität von ZERO diskutiert. 25 Uecker 7. 2. – 10. 5. 2015 K20 Grabbeplatz, Düsseldorf Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen widmet Günther Uecker die erste Ausstellung in seiner Wahlheimat Düsseldorf. Die Bandbreite der Ausstellung in der Grabbehalle reicht von Werken mit politischen Aussagen bis hin zu meditativen Schöpfungen, in denen sich der Künstler intensiv mit der Wirkung des Lichts auseinandersetzt. Weitere Themen sind der Stellenwert von Film und Schrift bei Uecker, dessen weltweite Rezeption ebenfalls dargestellt wird. Parallel zu seiner Ausstellung wird Günther Uecker eine neue Arbeit im Labor des K20 zeigen. Olafur Eliasson. Werke aus der Sammlung Boros 1994 – 2015 18. 4. – 18. 10. 2015 Langen Foundation, Neuss Mit rund 40 Werken von Ólafur Elíasson ist die Sammlung Boros in Berlin eine der umfangreichsten Sammlungen von Arbeiten des dänisch-isländischen Künstlers weltweit. Die Ausstellung erlaubt den Blick auf Elíassons Arbeit aus der Perspektive der Sammler und bietet mit Werken, die von 1994 bis in die Gegenwart entstanden sind, zugleich einen repräsentativen Überblick über das Werk des Künstlers seit seinen Anfängen. Zur Ausstel lung erscheint ein Katalog im Distanz Verlag. herman de vries. to be all ways to be 9. 5. – 22. 11. 2015 Niederländischer Pavillon 56. Internationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia, Venedig herman de vries repräsentiert die Niederlande auf der 56. Internationalen Kunstausstellung von Venedig. Unter dem Titel to be all ways to be zeigen die Kuratoren Colin Huizing und Cees de Boer im niederländischen Pavillon neue Skulpturen, Objekte, Papierarbeiten und Fotografien des 1931 geborenen Künstlers. Foto: Thomas Höpker Foto: LWL / Hanna Neander Für einen eigenen Otto Piene einfach zwei Zeitungsseiten übereinander legen, mit einer Nadel die vorge zeichneten Punkte der sechs Kreise nachstechen, eine Taschenlampe hinter die mit Löchern versehenen dynamo-Seiten halten, diese leicht gegeneinander bewegen und sich über das kleine Lichtballett freuen. Foto: Jens Ziehe © 2003 Ólafur Elíasson Nur eine Nadel und eine Taschenlampe benötigt man, um das Lichtballett von Otto Piene selbst ausprobieren zu können. Foto: herman de vries archive … im Museum Foto: Andreas Endermann, 2015 © Kunstsammlung NRW Kunstvoll – eine ZERO-Idee zum Selbstmachen Heinz Mack. Licht Schatten 16. 5. – 20. 9. 2015 Museum Frieder Burda, Baden-Baden Das Museum Frieder Burda widmet Heinz Mack eine besondere Sommerausstellung, die sich auf die Werkgruppe der Reliefs konzen triert. Insbesondere im Relief eröffnet der Künstler dem Licht ungeahnte Möglichkeiten: Durch die plastische Struktur seiner Oberflä chen und die unterschiedliche „Lichthaftigkeit“ der gewählten Materialien wird das einfallende Licht reflektiert, absorbiert und gestreut. Die Ausstellung entsteht in enger Zusammenarbeit mit Heinz Mack und wird von Helmut Friedel kuratiert. Otto Piene. Licht 13. 6. – 20. 9. 2015 LWL – Museum für Kunst und Kultur, Münster Die Ausstellung setzt den Fokus auf die Bedeutung des Lichtes im Werk von Otto Piene, angefangen von frühen Lichtarbeiten der 1950er- und 60er-Jahre bis hin zu aktuellen Kunstwerken, die erstmals in der Öffentlichkeit gezeigt werden. Piene verband seit Jahrzehnten eine enge Beziehung zum LWL – Museum: Seine Lichtarbeit Silberne Frequenz, die er für die Außenfassade des Anbaus von 1972 realisierte und für den Neubau weiterentwickelte, aber auch die für das Museum konzipierte Rauminstallation Geschichte des Feuers sind zwei seiner bedeutenden Arbeiten. Aus dieser freundschaft lichen Verbindung heraus entstand einige Monate vor seinem Tod gemeinsam die Idee zur Ausstellung, die nun durch seine Witwe Elizabeth Goldring Piene umgesetzt wird. … in Berlin … im Buch Christian Megert 19. 3. – 28. 3. 2015 Galerie Volker Diehl, Berlin www.galerievolkerdiehl.com © ITN Source, London © Hessischer Rundfunk (HR), Frankfurt/M. Nanda Vigo 19. 3. – 28. 3. 2015 Diehl Cube, Berlin www.diehl-cube.com ZERO Katalog zur Ausstellung ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50er & 60er Jahre, Martin-Gropius-Bau, Berlin (21.3. – 8.6.2015) sowie ZERO. Let Us Explore the Stars, Stedelijk Museum, Amsterdam (4.7. – 8.11.2015) Hrsg. Dirk Pörschmann und Margriet Schavemaker Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2015 ISBN 978-3-86335-696-5 Mit Texten von Antoon Melissen, Johan Pas, Dirk Pörschmann, Francesca Pola, Margriet Schavemaker, Thekla Zell und einem Interview von Mattijs Visser mit Daniel Birnbaum Die Publikation bietet eine umfassende und reich illustrierte chronologische Dokumentation der Ausstellungen, Aktionen und Publikationen der internationalen ZERO-Bewegung. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die 45 Künstler- Portfolios mit großformatigen Werkabbildungen, Künstlerporträts sowie erstmals übersetzten Künstlertexten. Neben wissenschaftlichen Texten zu zentralen ZERO-Themen runden ein komplett bebildertes Werkverzeichnis sowie der Reprint einer von herman de vries 1964 veröffentlichten Bibliografie das Buch ab. Deutsch/Englisch/Niederländisch, je 560 Seiten, Broschur 45,00 € (Buchhandelsausgabe) nulnu: two reprints nul = 0, serie 1 (no. 1 & no. 2) and three essays ( yccahier 1) Hrsg. Petri Leijdekkers und Mattijs Visser yssel centre for contemporary arts (ycca) und ZERO foundation, Deventer und Düsseldorf, 2014 Reprint von zwei Nummern der Magazine nul = 0, die 1961 und 1963 von den holländi schen Nul-Mitgliedern Armando, Henk Peeters und herman de vries publiziert wurden. Die limi tierte Edition beinhaltet neben den Reprints der Magazine und den Essays ein Kunstwerk von herman de vries und eines von Henk Peeters. Band 1: Essays (Essays von Petri Leijdekkers, Antoon Melissen und Johan Pas und einer Einführung von Mattijs Visser), 30 Seiten Band 2: nul = 0, serie 1, no. 1 (November 1961), Reprint, 17 Seiten Band 3: nul = 0, serie 1, no. 2 (April 1963), Reprint, 22 Seiten Deutsch/Englisch/Französisch, 2 Magazine + Essayband in einer Mappe 27,00 € Limitierte und nummerierte Edition (Auflage 54 Exemplare) 540,00 € ZERO Künstler-Paket: Heinz Mack, Otto Piene, Günther Uecker Hrsg. Jürgen Wilhelm Hirmer Verlag, München, 2015 ISBN 978-3-7774-2383-8 Heinz Mack und Otto Piene werden in biografischen Porträts vorgestellt, die durch Interviews mit langjährigen Weggefährten entstanden. Günther Uecker gibt im Gespräch mit Hans Strelow eine künstlerische Selbstauskunft von einmaliger Intensität. Hunderte von zumeist noch nie gezeigten Fotografien verschaffen Einblicke in das Arbeitsumfeld und die Freundschaften der Künstler. Sie und die Gesprächspartner öffnen ihre privaten Fotoalben. Band 1: Mack (Interviews mit Weggefährten von Heinz Mack, geführt von Annette Bosetti) Band 2: Piene (Interviews mit Weggefährten von Otto Piene, geführt von Christiane Hoffmans) Band 3: Uecker (Gespräche zwischen Günther Uecker und Hans Strelow, Gesprächsleitung Bertram Müller) Deutsch, je ca. 160 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 3 Bände im Schuber ca. 49,90 € The Artist as Curator: Collaborative Initiatives in the International ZERO Movement, 1957–1967 Hrsg. Tiziana Caianiello und Mattijs Visser AsaMER, Gent, 2015 ISBN 978-94-9177-568-0 Das Buch richtet seinen Fokus auf die Frage nach dem Engagement der Künstler als Initiatoren und Organisatoren von Gemein schaftsprojekten innerhalb der ZERO-Bewe gung und greift hiermit einen von der Wissen schaft bislang völlig vernachlässigten Aspekt auf. Zwischen dem Ende der 1950er- und der Mitte der 1960er-Jahre kooperierten Künstler aus Deutschland, Italien, den Niederlanden, Belgien, Frankreich und der Schweiz, um durch gemeinsame Ausstellungen, Aktionen und Publikationen Plattformen für ihre Kunst zu schaffen. In einem weitgehend noch konservativen Kunstbetrieb, der ihnen kaum Präsentationsmöglichkeiten bot, wurden die Künstler selbst als Ausstellungs- und Eventmanager sowie als Herausgeber tätig. Die von der ZERO foundation initiierte Publikation präsentiert das erste gedruckte Ergebnis der mehrjährigen Zusammenarbeit einer internationalen Forschungsgruppe von Kunsthistorikern. Englisch, ca. 482 Seiten, Hardcover ca. 39,90 € Zu bestellen unter [email protected] Der Erlös dieser Publikationen wird in zukünftige Veröffentlichungen oder Projekte von ycca investiert. Hermann Goepfert – Licht als Vision 20. 3. – 18. 4. 2015 Villa Grisebach, Berlin www.villa-grisebach.de Nanda Vigo and ZERO friends 20. 3. – 25. 4. 2015 WeGallery, Berlin www.wegallery.de Adolf Luther – Integration of Light and Space 20. 3. – 30. 5. 2015 401 Contemporary, Berlin www.401contemporary.com Otto Piene 24. 3. – 18. 4. 2015 ARNDT, Berlin www.arndtberlin.com Lothar Wolleh: Die ZERO-Künstler 1. 5. – 7. 6. 2015 pavlov’s dog, Berlin www.pavlovsdog.org … im Film Claudia und Herbert Piene beim Spielen des Lichtballetts, Düsseldorf, 1962 (Filmstill aus Gerd Winkler: 0 × 0 = Kunst. Maler ohne Farbe und Pinsel, Hessischer Rundfunk, Erstausstrahlung 27. Juni 1962) Heinz Mack: Licht Schatten Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Museum Frieder Burda, Baden-Baden (16.5. – 20.9.2015) Hrsg. Stiftung Frieder Burda Hirmer Verlag, München, 2015 ISBN 978-3777424125 Mit Texten von Heinz Mack und Helmut Friedel Deutsch, 168 Seiten, Hardcover ca. 39,90 € Armando. Between knowing and understanding Hrsg. Antoon Melissen nai 010 Publishers, Rotterdam, 2015 ISBN 978-94-6208-186-4 Mit Essays von Niels Cornelissen, Anke Hervol, Antoon Melissen und Yvonne Ploum Englisch/Niederländisch, je 272 Seiten, Hardcover 45,00 € Hermann Goepfert Hrsg. Beate Kemfert Hatje Cantz, Ostfildern, 2015 ISBN 978-3-7757-3983-2 Mit Texten von Beate Kemfert, Francesca Pola und Ulrike Schmitt Deutsch/Englisch, 288 Seiten, Hardcover 49,80 € Uecker Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K20 Grabbeplatz, Düsseldorf (7.2. – 10.5.2015) Hrsg. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Nicolai Verlag, Berlin, 2015 ISBN 978-3-89479-937-3 Deutsch, 156 Seiten, Broschur 34,00 € Stunde Null – die Kunstbewegung ZERO Dokumentarfilm von Anna Pflüger und Marcel Kolvenbach, Deutschland 2014 ARTE EDITION / Kunstverlag Till Breckner ISBN 9-783939-452225 Deutsch/Französisch/Englisch mit Untertiteln, 52 Min., DVD 5 14,90 € Otto Piene bei der Aufführung des Lichtballetts, 1959 (Filmstill aus der Dokumentation zur Ausstellung Dynamo 1, Galerie Renate Boukes, Wiesbaden, in: Fox Tönende Wochenschau, Nr. 71, 1959, Bundesarchiv, Berlin) 26 27 dynamo Die Leere mit Bedacht gefüllt dynamo Begleitprogramm zur Ausstellung ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50er & 60er Jahre 21. 3. – 8. 6. 2015, Martin-Gropius-Bau, Berlin jajaja gestern heute morgen leben welt ich tun sehen malen farbe licht raum bewegung kontinuum ruhe unruhe vibration distinktion reinheit schönheit [...] ZERO hat die Grenzen der bildenden Kunst zur Musik, zum Theater, zur Performance, zur Poesie und zum alltäglichen Leben überschritten. ZERO spricht alle Sinne an. Nach Ideen von Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker wird im Rahmen von dynamo die Leere mit Bedacht gefüllt werden: mit Musik, Stille, Tanz, Ideen, Performances, Worten und Kunstwerken. dynamo entdeckt die künstlerischen Konzepte und Energien der historischen ZERO-Zeit in der Gegenwart. In verschiedenen Veranstaltungen dreht sich alles um die bewusste Verbindung von Kunst und Leben. Viel mehr als der Versuch, eine historische Kunstbewegung zu aktualisieren, sollen die verschiedenen Events Orte eines lebendigen Spiels sein, das die Sinne erregt und Weitere Informationen unter www.4321zero.com den Atem befreit. Heinz Mack, Otto Piene: „dynamo“, in: Nota, Nr. 4, 1960 Performance Nacht Vorträge und Gespräche Foto: Mattijs Visser „Ich esse ZERO, ich trinke ZERO, ich schlafe ZERO, ich wache ZERO …“ (ZERO-Manifest, 1963) – Wer hat nicht schon von einer Nacht im Museum geträumt, davon, einem Tänzer oder einer Opernsängerin in einer Kunstausstellung zu begegnen oder mit Yves Klein zu schlafen? Die Performance Nacht geht von einem Konzept des ZERO-Künstlers Günther Uecker aus: Alle Ausstellungsräume werden zwölf Stunden lang bei gedämpftem Licht für das Publikum geöffnet sein. Die Besucher (idealerweise in Weiß gekleidet) erleben die Architektur, die Kunst und Geräusche auf ganz neue Art. Im Zentrum der Nacht steht kurz vor 0 Uhr die fulminant-monochrome Symphonie Monoton Silence von Yves Klein mit über 80 Orchestermusikern und Chorsängern. Davor und da nach bewegen sich Sänger, Musiker, Tänzer und Besucher spielerisch und frei durch die verschiedenen Räume. Musik und Film Abend ZERO ist Musik. ZERO ist Experiment. ZERO ist Poesie. Die Künstler des Musik und Film Abends kommen aus verschiedensten Richtungen und dennoch eint sie der Gedanke, außerhalb des musikalischen Mainstreams zu stehen. Hauschka oder Hans-Joachim Roedelius spielen auf traditionellen Instrumenten, die sie auf ganz eigene Weise benutzen. Mary Bauermeister erfindet Instrumente, um neue Hörwelten erfahrbar zu machen. Nach einer Idee von Heinz Mack findet der Musik und Film Abend in Werner Düttmanns elegant-minimalistischen Räumen der Akademie der Künste im Berliner Tiergarten statt. Neben Konzerten im großen Studio gibt es, im gesamten Haus verteilt, musikalische Interventionen, Improvisationen, Installationen und Filme zu erleben. In Kooperation mit Akademie der Künste In Kooperation mit Akademie der Künste Akademie der Künste, Pariser Platz 4, Plenarsaal Anmeldung unter [email protected] Eintritt frei, in englischer Sprache Foto: Ute Mack, 2011 1. Mai, 20 Uhr Foto: Florian Tanzer Die ZERO foundation möchte mit internationalen Wis senschaftlern und Künstlern die Frage diskutieren, welche Relevanz die Künste für die Erzeugung von Wirklichkeit haben. Wie kann die Welt positiv gestal tet werden? Welche Verantwortung tragen dabei die bildende Kunst oder die Architektur? Gibt es noch ausreichend Tagträume und Utopien, die uns den Blick zu neuen Horizonten öffnen können? In Koope ration mit der Berliner Akademie der Künste werden renommierte Teilnehmer dieses weite Feld diskursiv in Gesprächen und Vorträgen vermessen. Foto: Sophie-Marie Remig Foto: Nathan Weber Pyrolator The Ray oder Sub Kurt Dahlke ist Mitbegründer des Schallplattenlabels und Musikverlags Ata Tak, Mitglied in den Gruppen Fehlfarben, Der Plan, The Nights sowie a certain frank und tritt solo als Pyrolator auf. Seine Hauptinstrumente sind die vom Synthesizerpionier Donald Buchla gebauten Thunder und Lightning II, bei denen die Steuerung der Musik durch die Bewegung oder den Druck der Hände geschieht. „Inspiriert haben mich neben meiner Liebe zur Musik besonders meine Beziehungen zu Künstlern der Düsseldorfer Kunstakademie. Einige Erlebnisse haben mich besonders geprägt, wie 1977 der Besuch der documenta 6 oder ein Konzert der Gruppe Wire in Düsseldorf. ZERO war mir damals schon ein Begriff, weil mir mein Vater schon früh Werke von Günther Uecker nahebrachte. Schließlich habe ich mich auch mit anderen Künstlern von ZERO beschäftigt, wobei mich besonders die Lichtplastiken und kinetischen Arbeiten von Otto Piene interessieren, auf die sich auch mein Werk The Ray bezieht.“ (Kurt Dahlke, 2015) HERMESensemble mit Mary Bauermeister Prozession (Karlheinz Stockhausen), Grand Unified Theory of Everything (Rolf Gehlhaar) und Improvisations HERMESensemble ist ein in Antwerpen ansässiges Kollektiv für zeitgenössische Musik und Kunst. Es wurde im Jahr 2000 gegründet, hat sieben feste Mitglieder und arbeitet in wechselnden Zusammen setzungen. Das Repertoire und die Aufführungs praxis der klassischen Avantgarde sind die Ausgangspunkte der Produktionen, doch das Ensemble versucht bewusst, künstlerische Grenzen zu überschreiten. Im Verlauf der letzten Jahre ist sehr viel Energie in die Erforschung der Aufführungspraxis des Werks von Karlheinz Stockhausen geflossen. In Zusammenarbeit mit der Stockhausen Foundation wurde dessen Werk Schönheit (2006) erforscht, produziert und mehrfach öffentlich aufgeführt. In der Spielzeit 2015/2016 werden Karin De Fleyt und das HERMESensemble Stockhausens legendäres Werk Prozession (1967) aufführen. Daniel Birnbaum Daniel Spoerri Simultanlesung Im Jahr 1959 realisierte Daniel Spoerri zum ersten Mal bei einer Ausstellung seines Freundes Jean Tinguely eine Simultanlesung. Daraus entwickelte sich seine Arbeit Autotheater, die er kurz darauf erstmals im Hessenhuis in Antwerpen präsentierte. Spoerri wird gemeinsam mit Sarah Wiener, die im Rahmen der Performance Nacht sein Eat-ArtKonzept Die Küche der Armen der Welt realisieren wird, eine Simultanlesung aufführen. Dabei werden selbstverfasste Texte zeitgleich gelesen. Durch die Simultanität und die für den Leseprozess bewusst zu schnell eingestellte Rotationsgeschwindigkeit der motorisierten Textrollen wird die Wahrnehmung der Besucher auf die Probe gestellt. Es entstehen neue und zufällige Sinnzusammenhänge. Eintritt frei Foto und © Filip Van Roe Foto: Daniel Spoerri C. Wilp © bpk / Yves Klein, VG Bild-Kunst / Adagp, 2015 11. April, 20–8 Uhr Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Berlin Eintritt 11,00 € / erm. 8,00 € / in komplett weißer Kleidung Eintritt frei Work in Progress – Berlin and Guests mit Berliner Cappella Symphonie Monoton Silence (Yves Klein) Choreinstudierung: Kirsten Behnke Dirigent: Gerhardt Müller-Goldboom Yves Kleins Symphonie Monoton Silence ist mehr ein musikalisches Phänomen als ein Stück. Sie ist aus dem gleichen Geist wie seine monochromen Bilder geboren. Ein Hörer wird sich seiner tief berührenden harmonischen Wirkung kaum entziehen können. Wichtiger Bestandteil der musikalischen Aufführung ist die sich anschließende Stille. Leere, Stille und Konzentration sind essenzielle Facetten der ZEROKunst. „Mich und die Musiker von Work in Progress – Berlin fasziniert die unmittelbare Urkraft des Klangs, die uns in der nachhallenden Stille wie eine Natur essenz begegnet.“ (Gerhardt Müller-Goldboom, 2015) Noch nie wurde Kleins Symphonie mit so vielen Musikern und begleitendem Chor aufgeführt. 6. Juni, 20–0.30 Uhr Akademie der Künste, Hanseatenweg 10 Foto: David Yamazaki In Kooperation mit Berliner Festspiele / Martin-Gropius-Bau. Mit freundlicher Unterstützung durch Haus der Kulturen der Welt Begrüßung Klaus Staeck Einführung Daniel Birnbaum Keynote Rem Koolhaas 2. Mai, 10–22 Uhr Begrüßung Wulf Herzogenrath Vorträge Tiziana Caianiello Floris Dreesman Maria Finders Dirk Pörschmann Dieter Jung Mark Wigley Semir Zeki u. a. Mireille Capelle Figures (nach einem Gedicht von Otto Piene) Gesangsperformance Elizabeth Goldring Piene und Tomás Saraceno im Gespräch mit Mattijs Visser Chor der Kulturen der Welt Fragen an das Licht Chor-Installation Pablo Wendel im Gespräch mit Stephan Muschick u. a. Foto: Colin Huizing Weitere Highlights: Gespräche Ólafur Elíasson im Gespräch mit Michelle Kuo Manfred P. Kage mit der Musik von Kammerflimmer Kollektief Science-Art Installation und Musik Laurie Young und Johannes Malfatti How is Now – Zero Version Laurie Young, in Toronto geboren, lebt seit 1996 in Berlin und gehörte lange zum Ensemble von Sasha Waltz. Sie arbeitete auch mit Choreografen wie Meg Stuart, Constanza Macras, Benoît Lachambre, Emio Greco und Nasser Martin-Gousset. Ihre erste eigene Kreation, das Solo Brand New Bag, entstand 2000 an der Schaubühne Berlin. Für die Perfomance Nacht überarbeitet sie ihr Duo mit dem Drummer Johannes Malfatti aus dem Jahr 2014. Der Raum wird mit einem Drumset, einer Tänzerin und Licht ausgestattet. Ursprünglich als einstündige Performance konzipiert wird How is Now – Version ZERO auf zwölf Stunden verlängert, damit die Besucher Schleifen, Wiederholungen und Verschiebungen wahrnehmen können. „Wir bewegen uns, bis wir nicht mehr können, bewegen uns, bis wir verschwinden.“ (Laurie Young, 2015) Lukas Ligeti Zero Crossings Choreografien für Drumset Hauschka Abandoned City Der Düsseldorfer Pianist Volker Bertelmann alias Hauschka erforscht seit 2005 die Klangräume, die sich unter dem Einfluss von Tischtennisbällen, Bierdeckeln, Dosen und Radiergummis auftun, wenn man diese zwischen Hammer und Saite legt. Klein kram, Fremdkörper, Fundstücke, wie auch immer man das nennen möchte. Mit den Materialien unserer Welt (Metall, Papier, Holz, Gummi, Filz etc.) schafft Bertelmann ein Universum, das sich weit über die mit seinem Instrument konnotierten Klänge ausdehnt. Das Spiel auf dem präparierten Piano wird bei ihm zu einem über viele Alben fortgesetzten „Adventure in sound“. Die große Lust am Experiment verbindet Hauschka mit den Künstlern der ZERO-Bewegung. Ari Benjamin Meyers mit dem Chor der Kulturen der Welt Untitled for Choir (Beating Time) Performance Rie Nakajima Surface and Evaporation Sound-Performance reboot.fm Live! Radioübertragung Daniel Spoerri mit Sarah Wiener Die Küche der Armen der Welt Eat-Art-Performance Heinz Mack Playing for me and for you – Jazz-Improvisationen der 1960er-Jahre „Ich bin kein Berufsmusiker, aber für meine Genera tion war nach Kriegsende der Jazz eine wunderbare Befreiung. Während der ZERO-Zeit bin ich von folgenden Musikern beeinflusst worden: John Lewis, Erroll Garner, Dave Brubeck, Bill Evans, Horace Silver. Einige dieser Musiker habe ich persönlich in New York erlebt. Kurzum, von dieser Musik angeregt werde ich improvisieren und es geschieht, wie das so ist, manchmal ein Highlight und die Atmosphäre stimmt.“ (Heinz Mack, 2015) Foto und © Mareike Foecking Mary Bauermeister Ready Trouvé / Stille und Krach – Nichts und Überfülle Mary Bauermeister ist seit 60 Jahren als Künstlerin international aktiv. Sie war früh mit der ZERO-Bewe gung verbunden. In ihrem Atelier hat Otto Piene eine seiner ersten Lichtballett-Vorführungen präsentiert. Bauermeister gilt als Mitbegründerin der Fluxus- Bewegung und arbeitet an der Schnittstelle zwischen neuer Musik, Poesie und bildender Kunst. Mit ihrem Echorohr wird die vorgefundene Situation im Ausstel lungsraum durch Geräusch und Wort stetig neu reflektiert. Foto: Raphael Dao Tamas Moricz und Oren Lazovski Zero Struction Tamas Moricz war Tänzer in William Forsythes wegweisendem Frankfurter Ballett. Zudem arbeitete er mit Jan Fabre, Mats Ek, Jiří Kylián, Amanda Miller, Jonathan Burrows, Saburo Teshigawara und vielen anderen renommierten Künstlern zusammen. Anfang des Jahres 2015 wurde Moricz zum Kodirektor des Ballet Vlaanderen in Antwerpen ernannt. Der junge israelische Tänzer und Musiker Oren Lazowski lebt und arbeitet seit acht Jahren in Berlin. Er tanzt weltweit für unterschiedlichste Kompanien und Produktionen. Die von Moricz für ihn entwickelte Performance ist ein spielerischer Versuch, das Nicht-Definierbare neu zu definieren. Elizabeth Goldring Piene Hans-Joachim Roedelius mit Christopher Chaplin und Florian Tanzer Zero × 3 = King of Hearts „Wir hatten sowohl ZERO sowie auch Fluxus als hochaktuelle Konzepte im Sinn, als sich Konrad Schnitzler das spezielle Klusterprinzip ausdachte, auch wenn dieses erst wahrgenommen wurde, nach dem ZERO und Fluxus es schon geschafft hatten, eine Anhängerschaft zu gewinnen. Sie haben mit ihrer Präsenz dafür gesorgt, dass das Klusterprinzip heute – obwohl nur für Tonkunst erdacht – in der Weltkulturszene als gleichwertig angesehen wird. Da ich innerhalb aller Gruppierungen, mit denen ich weltweit – und auch als Solist – zugange bin, für dieses Klusterprinzip der ‚freien Improvisation mit jeglicherlei jeweils verfügbarem Instrumentarium aus den Gegebenheiten des jeweiligen Augenblicks heraus‘ nach all den Jahren, in denen ich und wir den Globus mehrfach ‚musikalisch umkreist‘ haben, immer noch mit großem Enthusiasmus plädiere, lässt sich vielleicht vorstellen, was klanglich in der Akademie zwischen mir und Christopher Chaplin geschehen wird und mit welcher Art von Bildershow sich unser Visualist Florian Tanzer dabei einbringen kann. Wir werden uns in jedem Fall bemühen, den ZERO-Prinzipien und ihren Vertretern die musikali sche und visuelle Ehre zu erweisen.“ (Hans-Joachim Roedelius, 2015) Weitere Highlights: Musik Markus Popp (Oval) Installationen Lucas Buschfeld Julius Schmiedel Kurzfilme Robert Breer Yves Klein Nam June Paik Otto Piene Dieter Roth Günther Uecker Jef Verheyen u. a.
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