Fabian Knecht Zero Foundation

dynamo
Die Zeitung zur Ausstellung
ZERO. Die internationale
Kunst­bewegung
der 50er & 60er Jahre
21. 3. – 8. 6. 2015
Martin-Gropius-Bau, Berlin
Die Leere mit Bedacht gefüllt
Fabian Knecht: Endung, 2014
März 2015
0000000000000000-000
D 0,00 €
A 0,00 €
B 0,00 €
F 0,00 €
I 0,00 €
NL 0,00 €
CH0,00 sFr
Foto: Mattijs Visser
Daniel Birnbaum im Gepräch
mit Mattijs Visser
Seite 3
Foto: Daniel Roth © ZERO foundation – Daniel Roth
Heinz Mack, Otto Piene und
Günther Uecker im Gespräch mit
Hans Ulrich Obrist
Seite 6 – 8
ZERO ist tot
Wir leben in einer Epoche, die von multiplen,
simultanen und globalen Verbindungen geprägt
ist. Strukturen verlieren sich in Strukturen und
wir uns in ihnen. Die klar komponierten Kunst­
werke von ZERO lassen uns zur Ruhe kommen
und wieder tief atmen. ZERO ist ins Gelingen
verliebt, und neben der Fähigkeit zur Konzen­
tration braucht unsere Zeit einen ungebrochen
optimistischen Geist. Unsere Gegenwart ist in
eine besondere Konstellation mit der Epoche
ZERO getreten. Jetzt können wir ZERO wieder­
entdecken oder – um ein sinnlicheres Bild zu
bemühen – jetzt können wir ZERO aufs Neue
sehen, schmecken, lieben. Dies ist möglich,
weil wir die Vergangenheit durch die Künste
unserer Gegenwart neu betrachten. „Ein Kunst­
werk – sei es ein Gedicht, ein Gemälde oder
eine musikalische Komposition – entwickelt sich
immer weiter, weil es ständig neu gesehen, ge­
hört und gelesen wird. Es wird neu interpretiert,
fehlinterpretiert und wird so rückwirkend immer
wieder neu geboren.“ (Daniel Birnbaum: ZERO
aus heutiger Sicht, 2009)
ZERO war ein Netzwerk, das auf intensiven
Kon­
takten internationaler Künstler basierte.
Durch die gemeinsamen Projekte entstand eine
Kunstbewegung, deren Ideen, Energien und
Manifestationen bis heute wirken. Der kreative
Wandel, die Bewegung und die Suche nach einer
besseren Zukunft waren stets zentrale Anliegen
von ZERO, die sich im utopischen Traum vom
immerwährenden Neubeginn manifestierten.
Piene beschreibt diesen philosophischen Kern
von ZERO im September 1964 in der Londoner
Zeitung The Times: „ZERO ist die unmessbare
Zone, in der ein alter Zustand in einen unbe­
kannten neuen übergeht.“
Geburt und Tod markieren die Grenzen unserer
Existenz. Das Wunder Leben liegt dazwischen.
Yves Klein und Otto Piene haben ihre Briefe
häufig mit dem optimistischen Aufruf „Vive
Zéro“ beendet. In diesem Sinn nutzen wir heute
unsere einmalige Chance und proklamieren
energisch:
ZERO lebt!
Foto: Tomas Gislason © 2015 Little Sun
© Archiv Sarah Wiener
Daniel Spoerri und Sarah Wiener
Die Küche der Armen der Welt
Seite 14 –15
Rem Koolhaas im Gespräch mit
Dirk Pörschmann und Mattijs Visser
Seite 16
Courtesy of OMA; Foto: Fred Ernst
Seitdem ist ein halbes Jahrhundert vergangen,
und über eine lange Zeit interessierten sich nur
wenige für die Kunst von ZERO. Doch vor rund
fünf Jahren bahnte sich eine Renaissance an.
Warum gibt es gerade jetzt ein erwachtes Inte­
resse an ZERO, das sich in den zahlreichen
Ausstellungen, Publikationen und Presseberich­
ten widerspiegelt? Heute gibt es einen direkten
Strom in die ZERO-Zeit der 1950er- und 60er-­
Jahre. Wenn sich kleine Bäche zu einem großen
Fluss formieren, sehen wir die Landschaft kla­
rer und Erkenntnis wird möglich. Wir begreifen
unsere Gegenwart im Anblick des Vergange­
nen. Es ist ein Irrglaube, zu meinen, dies sei zu
allen Zeiten möglich. In diesem Sinn war ZERO
tatsächlich tot.
Wir, die ZERO foundation und unsere Freunde,
Unterstützer und Förderer, haben uns entschie­
den, die Energien von ZERO im Heute zu su­
chen. Die vorliegende Zeitung ist das Ergebnis
dieser Suche in den Bereichen bildende Kunst,
Musik, Bildung, Architektur und Wissenschaft.
„dynamo“ bedeutet Kraft, Potenz und das Ver­
mögen, Änderungen herbeizuführen. Von ZERO
wurde der Begriff verwendet, um das energe­
tische Vermögen der Kunst zu beschreiben.
Künstler wie Yves Klein, Piero Manzoni, Mack,
Piene, Uecker, Jean Tinguely oder herman de
vries haben „dynamo“ als Synonym für die
Energie verwendet, dem Leben aufs Neue opti­
mistisch zu begegnen. Dieses Motto haben sie
in ihren Werken, aber auch in den zahlreichen
Zeitschriften umgesetzt, die sie publiziert haben.
Aus diesem Geist ist dynamo geboren: Eine
einmalige Zeitung, die das breit gefächerte,
zahlreiche Highlights umfassende Begleitpro­
gramm zur Ausstellung ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50er & 60er Jahre im
Martin-Gropius-Bau ergänzt.
„Eintrittskarte“ für den ZERO-Mitternachtsball auf der Hand von Heinz Mack, 1966 © Heinz Mack, VG Bild-Kunst 2015
Die Welt, 23. Februar 1967
Dirk Pörschmann
Nicht erst gestern, sondern bereits vor einem
halben Jahrhundert wurde ZERO für tot erklärt.
Nach der Ausstellung ZERO in Bonn gingen die
drei Protagonisten Mack, Piene und Uecker
Ende 1966 ihre eigenen Wege. Die eingangs
zitierten Sätze stammen aus der Einleitung zu
einem Interview mit Heinz Mack. Mack be­
schreibt darin prägnant den Grund für die
Auflösung von ZERO: „Wir haben uns voller
optimis­
tischer Empfindungen geeinigt, ausei­
nanderzugehen: Eine Tür wird geschlossen,
damit eine andere aufgeht.“
Ólafur Elíasson im Gespräch mit
Annette Bosetti und Dirk Pörsch­mann
Seite 10 –11
Mary Bauermeister im Gespräch mit
Sophie-Marie Remig
Seite 20
Foto: Johann Camut
Die Gruppe ZERO, der in wenigen Jahren der Durchbruch zu internationalem Erfolg
gelang, hat sich aufgelöst. Persönliche Spannungen zwischen den drei romantischen
Kunstingenieuren, Missverständnisse, nicht zuletzt aber wohl auch ihr ständiges
Pendeln zwischen den Ateliers in Düsseldorf und New York, das Heinz Mack, Otto
Piene und Günther Uecker kaum mehr zusammentreffen ließ, machte die Trennung
notwendig. Ein wichtiges Kapitel der modernen Kunstgeschichte ist zu Ende.
Foto: David von Becker
Foto: Doris Beucker-Tönnes, 2014
Foto: Heinz Mack © Heinz Mack, VG Bild-Kunst 2015
Impressum
dynamo erscheint anlässlich der Ausstellung
ZERO. Die internationale Kunstbewegung
der 50er & 60er Jahre
Martin-Gropius-Bau, Berlin
21. 3. – 8. 6. 2015
School’s
out for never
www.4321zero.com
Veranstaltet von der ZERO foundation, Düsseldorf,
in Kooperation mit Berliner Festspiele /
Martin-­­Gropius-­Bau, Berlin
Schirmherr der Ausstellung:
Bundestagspräsident Norbert Lammert
bestand darin, dass ZERO weiter dieser Traum
sein sollte.
Herausgeber:
ZERO foundation
Zollhof 11, D-40221 Düsseldorf
Tel +49 (0) 211 / 59 80 59 77
Fax +49 (0) 211 / 59 80 59 76
www.zerofoundation.de
MV: Du siehst Otto Piene als einen der wich­
tigsten ZERO-Experimentatoren: War das Labor
für Piene der Ort, wo er an den Realisierungen
seiner Träume gearbeitet hat, oder hat er sie
dort auch entwickelt? Und glaubst du nicht,
dass Pienes Zusammenarbeit mit Studenten,
Künstlern und Wissenschaftlern am MIT das
eigentliche Kunstwerk ist?
Redaktion:
Dirk Pörschmann, Mattijs Visser,
Tanja Vonseelen (V.i.S.d.P.)
ZERO ist schön!
dynamo, dynamo, dynamo
Jürgen Wilhelm
Heinz Mack: Illustration aus ZERO, Nr. 3, Juli 1962 (Detail)
ZERO ist zurück. Und wie! Die großartige
Guggenheim-Ausstellung in New York mit dem
Titel ZERO: Countdown to Tomorrow hat alle
Erwartungen übertroffen und wurde von der
New York Times zu einer der zehn besten
Ausstellungen gekürt. Nicht nur, dass die
Präsentation mit der wunderbaren Architektur
harmonierte, als habe der Architekt Frank
Lloyd Wright seine kühne Konstruktion (im glei­
chen Jahr wie ZERO entstanden) eigens für
ZERO gebaut. Auch die anspruchsvolle New
Yorker Gesellschaft nahm das Ereignis mit
großer Anteilnahme wahr.
Über 70 Jahre nach Ende des Zweiten Welt­
krieges sind wir dankbar, dass an einem
der bedeutendsten Kunstplätze der Welt, dem
Solomon R. Guggenheim Museum in New
York, eine derartig erfolgreiche Retrospektive
europäischer Künstler gezeigt wurde, deren Ini­
tialzündung vor über 50 Jahren in Düsseldorf
durch Heinz Mack, Otto Piene und Günther
Uecker erfolgte.
Die deutsche Hauptstadt wird aber New York
in nichts nachstehen und präsentiert die größte
und umfangreichste Ausstellung, die es je zu
dieser Bewegung gegeben hat. Mit mehr als
200 musealen Werken und Installationen, dem
Begleitprogramm mit Musik- und Perfor­
mance-­
Abenden, einem Symposium, dem
Kinder­programm und mit einer Reihe an unter­
schiedlichen Publikationen wird die ZERO-­
Retrospektive ganz nah an den Puls der Stadt
und Zeit rücken.
Was ist, abgesehen von dieser Zeitung, dynamo?
In einer Nacht, von abends 8.00 Uhr bis mor­
gens 8.00 Uhr, werden die Ausstellungsräume
im Martin-Gropius-Bau für das Publikum geöff­
net sein. Bei gedimmtem Licht und leiser Musik
wird Berlin das sinnliche Vermögen der ZERO-
Kunst erleben können: Hier wird ZERO ge­
gessen, getrunken, geträumt und geschlafen,
begleitet von Künstlern, einem Chor und einer
Köchin. Aber ZERO ist auch laut und energe­
tisch: Im Hansaviertel werden sich junge
Kompo­nisten und Installationskünstler mit ZERO
auseinandersetzen. Hier wird das Experiment
nicht gescheut. Und so wird mit dynamo auch
die Stadt Berlin positiv aufgeladen: „ZERO ist
schön: dynamo, dynamo, dynamo.“
ZERO wird als eine der wichtigsten Künstler­
bewegungen anerkannt. Es freut und ehrt uns,
dass der zweithöchste Repräsentant der Bun­
desrepublik Deutschland, Bundestagspräsi­
dent Prof. Dr. Norbert Lammert, für die Berliner
Ausstellung die Schirmherrschaft übernommen
hat. Und auch Deutschlands älteste Akademie,
die Berliner Akademie der Künste, wird sich
aktiv mit einem hochkarätigen zweitägigen
ZERO-Symposium beteiligen.
Wir freuen uns und sind voller Enthusiasmus
über die bevorstehenden ZERO-Aktivitäten. Im
Namen des Vorstands der ZERO foundation
danke ich der Kulturstiftung des Bundes, der
RWE Stiftung für Energie und Gesellschaft so­
wie der Kunststiftung NRW für die Energie, die
sie diesem Projekt gegeben haben. Christian
Boros, Ute Weingarten und der Firma Wall sei
gedankt: Mit ihrer professionellen Unterstüt­
zung ist es uns möglich, die ZERO-Ideen einem
breiten Publikum nahezubringen. Ferner möch­
ten wir den Berliner Festspielen, der Akademie
der Künste und dem Haus der Kulturen der Welt
danken, mit deren Unterstützung die ZEROEnergie nach Berlin gebracht werden konnte.
•
Jürgen Wilhelm ist Mitglied des Vorstandes der
ZERO foundation, Düsseldorf.
Mit Texten und Beiträgen von:
Katharina Apel, Mary Bauermeister, Daniela
Berglehn, Daniel Birnbaum, Annette Bosetti, Lucas
Buschfeld, Ólafur Elíasson, Wulf Herzogenrath, John
Jaspers, Frans Jones, Manfred Kage, Fabian Knecht,
Rem Koolhaas, Ari Benjamin Meyers, Stephan
Muschick, Hans Ulrich Obrist, Henk Peeters, Sophia
Pompéry, Dirk Pörschmann, Sophie-Marie Remig,
Susanne Rockweiler, Hans-Joachim Roedelius,
Julius Schmiedel, Daniel Spoerri, Spencer Tunick,
Mattijs Visser, Tanja Vonseelen, Monya Wasilewski,
Pablo Wendel, Christina Werner, Sarah Wiener,
Jürgen Wilhelm, Euan Williams, Lothar Wolleh sowie
den Kindern der Klasse 2a der Berlin Metropolitan
School
Otto Piene: The Proliferation of the Sun, 2014, Installationsansicht Neue Nationalgalerie, Berlin
Foto: Mathias Schorrmann
Heinz Mack und Günther Uecker bei der Eröffnung der ZERO-Ausstellung im Salomon R.
Guggenheim Museum, New York
Redaktionelle Mitarbeit:
Sophie-Marie Remig, Kristin Rieber
Übersetzung (EN – DE):
Bernhard Geyer (Interview Rem Koolhaas),
Nikolaus G. Schneider (Interviews Daniel Birnbaum,
Rem Koolhaas, Heinz Mack, Otto Piene, Günther
Uecker sowie Texte Frans Jones und Spencer Tunick)
Transkription:
Catharine J. Nicely (Interviews Daniel Birnbaum,
Rem Koolhaas), Stefanie Saier (Interviews Mary
Bauermeister, Ólafur Elíasson)
Lektorat:
Kristin Rieber, Tanja Vonseelen,
Jennifer Taylor (englisches Lektorat Interview
Daniel Birnbaum)
Gestaltung:
BOROS – Agentur für Kommunikation
Art Direction: Luisa Heinrich
Druck:
Rheinisch-Bergische Druckerei GmbH, Düsseldorf
Konzeption des gesamten Begleitprogramms:
Dirk Pörschmann, Mattijs Visser;
Symposium Vorträge und Gespräche in
Zusammenarbeit mit Daniel Birnbaum und Wulf
Herzogenrath, Performance Nacht sowie Musik und
Film Abend in Zusammenarbeit mit Stefan Schneider
und Felix Schieder-Henninger Projektmanagement dynamo-Zeitung:
Tanja Vonseelen
Pressearbeit:
ARTPRESS – Ute Weingarten
Auflage:
60 000
Otto Piene: Sky-Art-Event, 19. Juli 2014, Neue Nationalgalerie, Berlin
Alle Rechte für die Texte liegen bei den Autoren und
der ZERO foundation.
ZERO und die heutige junge Generation – ein Vorbild mit Zukunft?
Susanne Rockweiler
Ist ZERO eine Kunstströmung, die noch heute
junge Menschen in ihren Bann zieht? Diese
Frage soll anhand der ZERO-Ausstellung, die
vom 21. März bis zum 8. Juni 2015 im Martin-­
Gropius-Bau zu sehen sein wird, mit Schülern
diskutiert werden. Einige der Intensivklassen
des Martin-Gropius-Bau stellen daher die Ide­
en der ZERO-Künstler auf den Prüfstand.
Etwa 50 Jungen und Mädchen im Alter von 10
bis 16 Jahren widmen sich ZERO und prüfen
die heutige Wirksamkeit der Kunstwerke, die in
den 1950er- und 60er-Jahren entstand und die
internationale Kunstlandschaft damals nachhal­
tig veränderte. Dabei besuchen sie etliche Male
die Ausstellung, denken, analysieren, diskutie­
ren, ziehen Querverweise und Vergleiche und
arbeiten selbst im Geist der ZERO-Künstler
bildnerisch-praktisch. Sie hoffen auf ein Ge­
spräch mit Heinz Mack oder Günther Uecker.
Ist ZERO noch die Rakete wie zu Zeiten der
Gründung 1958 durch die beiden „ZEROnauten“
Heinz Mack und Otto Piene? Hat die heutige
Jugend ähnliche Träume und Visionen wie die
ZERO-Gründerväter? Möchte sie ebenso Ver­
gangenheit, Schwere der Erde und Konventio­
nen hinter sich lassen? Oder ist die heran­
wachsende Generation weitgehend zufrieden
und kalkuliert pragmatisch, wie sie ihr Leben
meistern kann? Was sagen ihr die Arbeiten
und Gedankenwelten von Piene, Mack, Jean
Tinguely oder Lucio Fontana?
Doch der Reihe nach: 1958 gründeten Heinz
Mack und Otto Piene die Gruppe ZERO. Sie
forderten nach dem Zweiten Weltkrieg einen
radikalen künstlerischen Neuanfang. Die Idee
wurde rasch zu einer internationalen Künstler­
bewegung. Statt mit Farbe und Pinsel ex­
perimentierten die ZERO-Künstler mit neuen
2
Materialien und mit den elementaren Kräften
der Natur: Licht, Bewegung, Wind, Feuer, Luft,
Energie. Dem im Juli 2014 im Alter von 86 Jahren
verstorbenen Otto Piene ging es in der Nach­
kriegszeit um „die Übertragung von Energie“
und das Erschaffen dessen „was als Ausdruck
der Seele oder der geistigen Verständigung
unter Menschen taugt“. Jean Tinguely, 1925 in
Freiburg geboren und 1991 in Bern verstorben,
knüpfte 1959 bei der Biennale in Paris erste
Kontakte zur ZERO-Gruppe. Er stellte mit sei­
nen automatischen Zeichenmaschinen die
Farb-Form-Malerei und den Werkprozess des
Künstlers infrage, indem er Gemälde, soge­
nannte Drip Paintings (getropfte Malerei) oder
informelle Arbeiten maschinell herstellte. Sein
Grundgedanke: „Es bewegt sich alles, Stillstand
gibt es nicht.“ In den 1960er-Jahren erschuf er
Schrott-Assemblagen, die nichts produzierten
und stattdessen sinnlose Bewegungen aus­
führten. Das künstlerische Recycling zielte auf
den zeitgemäßen künstlerischen Widerhall des
Maschinen- und Wirtschaftswunderzeitalters.
Politisch waren die 1950er-Jahre ambivalent.
Es waren die Gründerjahre der Bundesrepu­
blik. Ein Großteil der heutigen politischen und
gesellschaftlichen Strukturen wurde entwi­
ckelt. Vielen Menschen erschienen sie als
„gute“ Zeit: Sie hatten ein gemeinsames Ziel,
waren optimistisch und verfolgten mit Tatkraft
den Wiederaufbau. Anderen galten sie jedoch
als „bleierne Zeit“ voller spießigen Muffs, in der
sich eine weitgehend unpolitische Bevölkerung
für nichts anderes interessierte als für die Meh­
rung ihres privaten Wohlstandes.
Und heute? Einige Schlaglichter: Die Erderwär­
mung nimmt dramatisch zu. Umweltkatastro­
phen mahnen zum Umdenken. Die Gesellschaft
verändert sich. Laut Statistischem Bundesamt
ist im Jahr 2050 die Hälfte der deutschen Bevöl­
kerung älter als 48 Jahre, jeder Dritte ist sogar
60 Jahre alt oder älter. Gleichzeitig verändert
sich die Sozialstruktur der Gesellschaft. Die so­
ziale Ungleichheit nimmt zu, ebenso der Anteil
der Menschen mit Migrationshintergrund. Von
den Kindern unter fünf Jahren stammt heute
bereits gut jedes dritte Kind (35 Prozent) aus
einer Zuwandererfamilie. Die PISA-Studien
(Programme for Inter­national Student Assess­
ment) haben erstmals quantitativ belegt, dass
Deutschland stärker durch Migranten unter­
schichtet ist als andere vergleichbare Einwan­
derungsgesellschaften. Dort, wo einst das
klassische Bildung­s­bürgertum generationsüber­
greifend Wissen vermittelt, ist in den letzten
zehn bis zwanzig Jahren eine Kluft enstanden.
Das Resultat zeigt sich im unterdurchschnittli­
chen Abschneiden der Jugendlichen in Deutsch­
land bei den PISA-Studien.
Und was sagen die Jugendlichen selbst? Ziehen
wir die aktuelle 16. Shell-Jugendstudie zurate,
dann ist der Blick auf die eigene Zukunft der
jungen Menschen – 2 500 Jugendliche zwischen
12 und 25 Jahren wurden befragt – ambi­valent:
Jugendliche aus bildungs­nahen Elternhäusern
sehen ihre Zukunft optimistisch, wohingegen
Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern
weitaus weniger zufrieden sind mit ihrer Zu­
kunftsperspektive. Und wie politisch ist die junge
Generation? 20 Prozent der Jungen lesen eine
Tageszeitung, 6 Prozent eine Wochenzeitung
und etwa 20 Prozent suchen gezielt im Internet
nach Informationen. 66 Prozent der Jugend­
lichen informieren sich nicht aktiv. 17 Prozent
wären bereit, sich in einer politischen Gruppe
oder Partei zu engagieren. 16 Prozent der
Jugendlichen der unteren Bildungsschichten
interessieren sich nicht für Politik. Sie ziehen
Computerspiele und Fernsehkonsum sozialen
Aktivitäten vor.
Der Ansatz von MGB Kunst2 und MGB Impuls2 –
„hoch zwei“ steht für eine intensive und nach­
haltige Vermittlungsarbeit – ist ein universeller.
Die Arbeit in der Ausstellung verzahnt sich
mit dem Unterricht. So werden die Jungen
und Mädchen die ZERO-Bewegung auch im
Physik-, Deutsch- und Politikunterricht bear­
beiten. Im Vorfeld der Arbeit um und über ZERO
und im Anschluss an die Beschäftigung mit
der Künstlergruppe befragen wir die Schüler zu
aktuellen politischen Themen, ihrem Medien­
verhalten und den für sie wichtigen Fragen.
Wie reflektieren die Gropiusbau-Schüler die
ZERO-Bewegung? Wir sind gespannt, was
dabei herauskommt. Neue Energie. Die Zivil­
gesellschaft. „Zero“. Die Aufklärung im 21. Jahr­
hundert. Oder, um Otto Pienes Worte aufzu­
greifen: „Was taugt (heute) als Ausdruck der
Seele oder der geistigen Verständigung?“
•
Susanne Rockweiler ist stellvertretende
Direktorin am Martin-Gropius-Bau. Einer ihrer
Verantwortungsbereiche ist die kulturelle
Vermittlung.
Das Interview von Hans Ulrich Obrist mit Otto Piene
wurde zuerst veröffentlicht in Otto Piene: A
Retrospective: Paintings, Ceramics, Light Ballets,
Inflatables (Ausst.-Kat. The Mayor Gallery, London,
2012, S. 7–22). Das Interview von Hans Ulrich Obrist
mit Günther Uecker wurde zuerst veröffentlicht in
Günther Uecker, The Early Years (Ausst.-Kat. L & M
Arts, New York, 2011, S. 7–19). Das bisher
unveröffentlichte Interview von Hans Ulrich Obrist mit
Heinz Mack fand am 4. Oktober 2010 in der Galerie
Ben Brown Fine Arts in London statt. Alle drei
Interviews wurden gekürzt, redigiert und ins
Deutsche übersetzt.
Bildnachweis:
Sofern nicht anders angegeben, stammt das
Bildmaterial von den beteiligten Künstlern.
Gefördert durch:
Daniel Birnbaum im Gespräch mit Mattijs Visser
Mattijs Visser: Ist Kunst eine Maschine, um
Erfahrungen für die Öffentlichkeit zu produzie­
ren? Was etwa Otto Piene betrifft, ist es fantas­
tisch zu sehen, wenn Besucher aus einem seiner
Events mit Inflatables kommen. Sie haben Kunst­
werke ganz anderer Art gesehen und eine ganz
andere Erfahrung gemacht. Aber erzeugt Kunst
nichts anderes als Gefühle und Erfahrungen?
Daniel Birnbaum: Das ist doch gar nicht so
wenig. Wenn ein Kunstwerk Emotionen und Ge­
fühle hervorruft, dann ist das meines Erachtens
durchaus schon etwas, das man ernst nehmen
sollte. Kunst geht mit einer emotionalen Ver­
änderung einher, aber im selben Moment ge­
schieht das auch auf intellektueller Ebene. Ich
würde sagen, der Umstand, dass die ZERO-­
Gruppe heute wieder für so viele Künstler
attraktiv geworden ist, hat etwas mit der inter­
disziplinären Natur ihrer Aktivitäten und mit
ihrem Interesse an Technik und natur­wissen­
schaftlicher Forschung zu tun. Das waren von
Anfang an gemeinsame Anliegen. Pienes gan­
zes Leben steht dafür, auch wenn er viele Jahre
lang als Künstler weniger stark in Erscheinung
trat. Er hat in den USA am Massachusetts Ins­
titute of Technology (MIT) geforscht und gelehrt
und begriff seine Arbeit als Forschungsprojekt
mit offenem Ausgang. Natürlich gab es Ergeb­
nisse, es entstanden Kunstwerke, aber es ging
ihm auch um die Schönheit des Weges, um die
Schönheit der Forschung. Dieser unkommerzi­
elle, nicht markt­orientierte Ansatz, der auch
die Strukturen der Kunstwelt mit ihren Institu­
tionen, ihrem Galeriesystem und so weiter her­
ausfordert, ist etwas, das auf viele Leute eine
starke Anziehungskraft ausübt. Ich bin da keine
Ausnahme.
Die Verbindung zu Wissenschaft und Forschung
macht die Kunst von ZERO so besonders, und
das ist auch einer der Gründe dafür, warum
ZERO für viele heutige Künstler aktuell bleibt.
Das hat auch eine philosophische Seite. Es
steht ja nicht von vornherein fest, was ein Kunst­
werk ist, sondern das ist etwas, das zuerst er­
kundet werden muss. Tief im Innersten steht die
ZERO-Bewegung für eine Erkundung der Wahr­
nehmung, der Erfahrung und dessen, was Kunst
sein kann, ja sogar für eine offene Erkundung
der Frage, welche Rolle ein Kunstwerk spielen
kann. Das hat etwas mit den Grenzen der Wahr­
nehmung zu tun, den Beschränkungen dessen,
was uns durch den Kopf geht, den Beschrän­
kungen unserer psychologischen Veranlagung
und unseres biologischen Wahrnehmungs­appa­
rates, den wir dann mit technischen Mitteln
verändern und erweitern.
MV: Man kann ZERO als Labor sehen, in das
viele Künstlergruppen mit ihren eigenen Labo­
ratorien einbezogen waren: eigentlich eine
Gruppe, die aus Gruppen bestand. Gibt es so
etwas auch heute? Gibt es Künstler, die andere
auf diese Art und Weise einbeziehen? Und
beziehen sie auch die Öffentlichkeit in ihre For­
schungen und Experimente mit ein?
DB: Manchmal wird da mehr geredet als ge­
tan. Aber die Künstler, über die wir hier disku­
tieren, weil sie offensichtlich von Bedeutung für
die heutige Erkundung von Kunst, Raum und
Technologie sind – Leute wie Ólafur Elíasson
und Carsten Höller –, haben das in die Tat um­
gesetzt. Elíassons Atelier ist ein Labor. Künstler
seines Typs produzieren große Maschinerien
für Ausstellungen, aber sie experimentieren
zugleich still und völlig ergebnisoffen mit Archi­
tekten und Wissenschaftlern. Elíasson war eine
Zeit lang Professor und hat eine Menge inte­
ressanter Gäste in sein Atelier geholt: Theore­
tiker, Schriftsteller, Philosophen, Soziologen
und junge Künstler. Sein Berliner Atelier war
Teil einer großen wissenschaftlichen Erkun­
dung dessen, was Kunst in der Gesellschaft
und in Relation zum Publikum und zu anderen
Disziplinen sein kann.
Es gibt noch weitere Beispiele solcher Künstler­
kollektive. Carsten Höller bezeichnet seine
Arbeit explizit als Labor. Er spricht von einem
„Labor des Zweifels“. In vielen seiner Werke
geht es um die äußeren Grenzen der Wahrneh­
mung. Wie passt sich unser Wahrnehmungs­
apparat an, wenn wir eine Umkehrbrille tragen?
Unser Gehirn versucht die Informationen zu
verarbeiten und stellt daraus ein normales Bild
zusammen. Dann nehmen wir die Brille ab und
alles steht wieder auf dem Kopf. Das ist nur ein
Beispiel. Höller hat sich öfters mit Destabilisie­
rung beschäftigt.
Otto Piene verkörpert sicherlich mit seiner gan­
zen Person und seiner Lebensweise am stärks­
ten dieses anhaltende Träumen, das all die an­
deren Leute an irgendeinem Punkt früher oder
später tatsächlich nicht fortsetzen konnten,
weil sie zu irgendeiner Idee eines dauerhaften
Stils oder irgendetwas gedrängt wurden, das
sich leichter wiedererkennen lässt. Otto Piene
hat Werke geschaffen, die wir wiedererkennen
können, doch die Stärke seines Ansatzes be­
steht darin, dass er gewissermaßen nie aus
seinen Träumen erwachte. Er machte einfach
weiter, sprich, er war stärker mit laborartigen
Institutionen wie dem MIT und anderen Kunst­
hochschulen verbunden. Sein ganzer Ansatz
DB: Nun, ich glaube, es war eine Art Traum­
fabrik, ein Ort, wo die Dinge offen blieben. Ein
Labor ist nicht der Ort, wo man mit der Produkti­
on beginnt, sondern der Ort, wo man forscht
und Dinge herausfindet. Wie etwa in der Medizin;
ich weiß sehr wenig darüber, aber ich nehme
an, dass man in medizinischen Laboratorien
sehr aufgeschlossen ist und alles Mögliche
aus­
probiert, und zu einem bestimmten Zeit­
punkt produziert die Pharmaindustrie die ent­
sprechende Pille. Das hat Piene nie gemacht,
aber die meisten anderen machen es. Deshalb
ist das in unserer Welt der to­talen Kommerzia­
lisierung und Mediatisierung vielleicht auch zu­
nehmend attraktiv geworden, denn die meisten,
die mit Kunst arbeiten, glauben nicht, dass es
dabei vor allem um Waren, Branding und kom­
merziellen Erfolg geht. Es ist ein bisschen lang­
weilig, immer über die Welt des Kommerzes zu
sprechen, aber diese Welt des Kommerzes ist
nur ein Aspekt dieses Gefühls, dass es dabei
eher um Produkte geht und nicht so sehr um
einen Ansatz und die Bereitschaft, den Traum
weiterzuträumen.
Und ja! Pienes Arbeit am MIT war sein größtes
Werk. Die Ideen, der freie Austausch von Ideen
und Dingen, auch wenn sie nicht erfolgreich
sind, denn ein Labor oder ein Experiment, das
nichts zulässt, was nicht erfolgreich ist, gibt es
nicht oder verdient diesen Namen nicht. Dinge
werden getestet, geschaffen und kritisiert. Ich
glaube, er hat Jahre, ja Jahrzehnte damit zuge­
bracht. Ich glaube, es gibt einige andere Künst­
ler, die eher Lehrer als Schöpfer von Stilen und
Karrieren waren und sind. Einige von ihnen tra­
ten dann irgendwann selbst als Schöpfer von
Bildern in Erscheinung, etwa Thomas Bayrle in
Frankfurt oder John Baldessari in Los Angeles.
Das sind inzwischen große Namen, die jetzt
auch von Galerien vertreten werden und Karri­
ere auf dem Kunstmarkt gemacht haben. Doch
viele, viele Jahrzehnte lang war das definitiv
nicht der Fall. Piene ist dafür ein extremes Bei­
spiel. Erst am Tage seines Todes trat er in
Deutschland als bedeutender, unverkennbarer
Künstler in Erscheinung. In der Neuen Natio­
nalgalerie, mit großartigen Visuals, ein total
überzeugender Moment.
MV: Alle haben den starken Wind beim Sky-Art-­
Event auf dem Dach der Neuen Nationalgalerie,
Berlin (2014) beklagt. Niemand wusste, dass
es Piene auch ohne Wind noch nie gelungen
war, diese spezielle Himmelsskulptur steigen
zu lassen: Er hatte trotzdem den größten Inflatable ausgewählt, den er je gemacht hatte, ob­
wohl dieser bis dato nie ganz zum Fliegen
gebracht werden konnte. In Berlin wollte er es
noch einmal versuchen. Piene hat die National­
galerie als sein größtes Labor betrachtet.
DB: Ganz genau, weil es nicht richtig geklappt
hat. Allerdings klappte es insofern, als das alle
über das „fantastische Ereignis“ schrieben.
Doch selbst in diesem allerletzten Moment,
zwei Tage nach seinem Tod, gab es unvorher­
sehbare Dinge.
Was ist der Unterschied zwischen einer Kunst­
messe und einer Kunsthochschule? Was ist
der Unterschied zwischen einem Museum, das
im Wesentlichen Dinge sammelt, und einem
Ort im Stil eines Labors? Das sind Dinge, die
uns vielleicht helfen zu verstehen, warum
ZERO als Bewegung für etwas Besonderes in
der Kunstgeschichte steht. Viele Leute kamen
damit in Berührung. Atmosphärisch war das
Ganze vage und amorph. Das ist typisch, denn
es ließ sich nicht genauer beschreiben. Aber
wir wissen, was es nicht war. In dem Moment,
in dem Personen, die daran beteiligt waren,
sich davon verabschiedeten, um wiederer­
kennbare Stile zu produzieren, wissen wir,
dass sie nicht mehr Teil der Bewegung waren.
Ich glaube, letztlich hat sich jeder früher oder
später davon verabschiedet. Die einzige mir
bekannte mögliche Ausnahme ist Otto Piene
selbst.
MV: Gibt es einen Unterschied zwischen dem
Labor Ólafur Elíassons und dem Otto Pienes?
DB: Ich weiß nicht. Es geht doch darum, dass
Kunsthochschulen und Orte des nicht-kom­
merziellen, nicht-kommodifizierten Experimen­
tierens auch ein Traum oder eine Art Utopie
sind, in die viele Menschen investieren, weil
das irgendwie eine Alternative zu all den Din­
gen ist, die wir nicht mögen, etwa eine Kunst­
messe in Dubai. Es ist etwas anderes. Selbst
die Präsentation von Kunstwerken, die gewis­
sermaßen ergebnissoffen, experimentell und
nicht abgeschlossen sind, ist möglicherweise
zu einem eigenen Stil geworden. Ich sage nicht,
dass Elíasson das anstrebt, aber man könnte
vielleicht sagen, wenn man kritisch sein möch­
te – nicht gegenüber Ólafur, sondern gegen­
über unserer Zeit –, dass selbst das zu einer Art
Ware werden kann. Das heißt, die heutige Er­
lebnisökonomie, bei der ein neues Produkt mit
großem kommerziellem Getöse eingeführt wird,
ähnelt möglicherweise auf seltsame Weise ei­
nem ZERO-Event aus den 1960er-Jahren.
MV: Sind die Akademien nach wie vor offene
Laboratorien? Gibt es da immer noch dieses
Ideal der Offenheit?
DB: Wie du weißt, war ich selbst über ein Jahr­
zehnt lang an der Städelschule in Frankfurt
tätig. Ich glaube, die wirklich wichtige und be­
deutende und daher für mich attraktive Seite
der Sache war, dass das einer der wenigen
Orte war, wo es diese Offenheit geben konnte.
Ich sage nicht, dass es immer so war. Kunst­
hochschulen sind auch in eine Welt hineinge­
zogen worden, in der immer Neues produziert
wird. Einige der alten deutschen Kunstakade­
mien haben ein altmodisches Problem. Es gab
da etwa große, berühmte Künstler, deren
Schüler fast dasselbe machten wie sie, und so
entstanden Schulen wie etwa die Düsseldorfer
Schule oder die Leipziger Schule. Daraus kann
etwas werden, das kann die Dinge einfacher
machen, aber wenn das der Fall ist, ist es
natürlich auch ein Problem. Andererseits be­
steht das Problem in anderen Schulen, ich
glaube auch an der, an der ich tätig war, eigent­
lich eher darin, dass der Markt selbst, und zwar
sowohl der intellektuelle als auch der kommer­
zielle Markt, neue und unbekannte Dinge ver­
herrlicht und fetischisiert. Das, was noch nicht
völlig ausformuliert ist, ist das Begehrteste.
Das ist vielleicht einfach nur ein Teil unseres
menschlichen Wesens; wir suchen immer nach
etwas Neuem. Das ist an sich nicht verwerflich,
aber es ist etwas, auf das wir achten sollten. An
dieser Stelle sollten wir vielleicht Selbstkritik
üben. Was ist es, das wir an diesen im Laborstil
arbeitenden Künstlern mögen, die kollektive
und ergebnisoffene Produktions­situationen ge­
schaffen haben, bei denen es nicht nur um die
Herstellung vorhersehbarer Objekte, sondern
um einen Ansatz geht?
MV: Glaubst du, dass die ZERO foundation,
die wir gemeinsam mit den Künstlern aufge­
baut haben, diese Rolle spielen, sprich, ein
Labor sein könnte, statt ausschließlich für die
Forschung und für Museen zu arbeiten?
DB: Ich glaube sogar, sie muss das geradezu,
denn sonst wäre sie einfach nur ein weiteres
Archiv. Es gibt wichtige Archive, und Archiv­
arbeit kann, obwohl sie konservativ oder sehr
altmodisch ist, dennoch sehr produktiv sein,
wenn plötzlich neue Leute auftauchen. Sie
möchten sich alte Sachen ansehen, und diese
werden dadurch wieder zu neuen Dingen,
wenn sie mit anderen Augen gesehen werden.
Man stellt sie in einen neuen Kontext, man
schreibt die Geschichte neu, indem man das
Alte aus neuen Blickwinkeln betrachtet. Es
spricht also nichts gegen die Bibliothek oder
ein Archiv. Aber wenn die ZERO foundation
mehr als das sein möchte, also eher eine Pro­
duktionsstätte für Ideen, nicht zwangsläufig für
Objekte oder Karrieren, eine Produktionsstätte,
ein Labor für sich ständig ändernde, wechseln­
de, neue Ansätze gegenüber der Frage, was es
heute heißt, lebendig zu sein – das klingt jetzt
sehr hochtrabend –, was es heißt, künstlerisch
bewusst und selbstbewusst zu sein, dann soll­
te sie das sein. Ich glaube, ZERO könnte das
sein, nicht für eine kleine Gruppe sehr wichtiger
Künstler, sondern für einen ganzen Ansatz.
Dann geht es darum, diese Leute zu finden;
aber vielleicht auch andersherum, sprich, diese
Leute müssen die ZERO foundation finden,
denn wenn sie nicht wissen, warum sie daran
beteiligt sein sollten, dann werden es auch nicht
diejenigen sein, nach denen gesucht wurde.
•
Daniel Birnbaum war von 2000 bis 2010
Rektor der Staatlichen Hochschule für
Bildende Künste (Städelschule) in
Frankfurt / M. Seit November 2010 ist er
Direktor des Moderna Museet in Stockholm.
Als Leiter des Akademischen
Beirats der ZERO foundation
veranstaltet Daniel Birnbaum
gemeinsam mit Wulf Herzogenrath
(Akademie der Künste, Berlin) und
Dirk Pörschmann (ZERO foundation)
im Rahmen des Begleit­programms
dynamo ein Symposium, bei dem
am 1./2. Mai 2015 in der Akademie
der Künste Fragen zur Aktualität von
ZERO diskutiert werden.
3
VISIT – Artist in Residence Programm
der RWE Stiftung
Visitors
Welcome
Ein Gespräch mit Daniela Berglehn,
der Kuratorin des VISIT-Programms
Seit 2010 fördert die RWE Stiftung junge Künst­
ler, die sich mit dem Thema Energie beschäf­
tigen. Sie erhalten ein Stipendium für sechs
Monate, das ihnen ermöglicht, ihre einge­reichte
Idee auszuarbeiten und in einem Katalog und
einer Ausstellung zu präsentieren. Mitte Juni
werden die Arbeiten der zehn Stipendiaten aus
den ersten fünf Jahren im Kunstmuseum Bo­
chum präsentiert. Zeit für eine Zwischenbilanz.
Lucas Buschfeld
Lucas Buschfeld, geboren 1983 in Köln, studiert
seit 2009 freie Kunst an der Kunsthochschule
für Medien Köln und verbrachte 2013 ein Gast­
semester am Institut für Raumexperimente in
der Klasse von Ólafur Elíasson. Während seines
VISIT-Stipendiums der RWE Stiftung (2013 /
2014) realisierte er die Werkkomplexe Mendy
(unten) und Stream (Seite 5), die auf poetische
und mediative Weise das Wesen elektrischer
Energie sinnlich erlebbar machen. Buschfelds
Installationen und Performances wurden in
zahlreichen Ausstellungen und Institutionen
präsentiert, etwa im Rahmen des Festival of
Future Nows in der Neuen Nationalgalerie, Ber­
lin (2014), auf der transmediale, Berlin (2013),
im Museum of Contemporary Art Tokyo (2012)
oder im ZKM / Zentrum für Kunst und Medien­
technologie, Karlsruhe (2011). Lucas Buschfeld
lebt und arbeitet in Köln und Berlin.
Tanja Vonseelen: Die Künstlerförderung
durch Stipendien ist an sich positiv. Aber warum
gibt es eine Themenvorgabe? Muss die Arbeit
nicht frei sein?
www.lucasbuschfeld.com
Daniela Berglehn: Als Stiftung eines Ener­
gie­konzerns standen wir anfangs unter Ver­
dacht, die Künstler in eine bestimmte Richtung
zu drängen. Das ist nicht der Fall und das wäre
auch nicht klug. Die im Rahmen der Stipendien
entstehenden Arbeiten zeigen, wie vielfältig das
Themenfeld ist und dass es stetig an Relevanz
gewinnt. Viele Künstler haben zuvor bereits zum
Thema Energie gearbeitet. Aber das Vertrauen
musste erst wachsen und wir erarbeiten es uns
mit jedem Projekt neu.
TV: Sie laden die Künstler ins Unternehmen
ein. Wie empfinden das beide Seiten, eher als
Belastung oder als Chance?
DB: Beides. Die Arbeit zwischen Mitarbeitern
und Künstlern ist nicht immer konfliktfrei, aber
sie ist immer spannend. Für uns ist das ein
wichtiger Teil des Prozesses. Es erfordert Ge­
duld und Toleranz auf beiden Seiten. Ob ein
Künstler auf einer Bohrinsel arbeitet wie Lukas
Marxt, im Archiv recherchiert wie Axel Braun
oder in seinem Atelier eine kinetische Skulptur
entwickelt wie Lucas Buschfeld (im Bild rechts
die Arbeit Stream) – am Ende steht immer das
gemeinsame Projekt und der Respekt vor der
Arbeit des anderen.
TV: Dennoch: Sie verfolgen mit der Förderung
ein Ziel.
DB: Ja, wir fördern nicht Kunst um der Kunst
willen. Wir wollen viel mehr. Wir glauben an die
Kraft der Kunst und erhoffen uns von ihr neue
Perspektiven auf unsere Themen, d. h. Antwor­
ten auf die Frage, wie wir mit Energie umgehen,
Ideen für die Zukunft – zumindest aber den
Anstoß zum Dialog darüber.
www.rwestiftung.com /visit
Lucas Buschfeld: Mendy, 2014
VISIT 2010–2015:
die Stipendiaten der RWE Stiftung,
ab 13. Juni 2015 im Kunst­m useum
Bochum.
Arbeiten von Lucas Buschfeld
sind im Rahmen des Musik und
Film Abends am 6. Juni 2015 in der
Akademie der Künste zu sehen.
ZERO: Alles oder nichts
Stephan Muschick
Was bedeutet „Zero“ im 21. Jahrhundert? Null
Emissionen? Vielleicht. Null Wachstum? Wohl
kaum, jedenfalls nicht als erklärtes Ziel der eta­
blierten Wirtschaftswissenschaften. Null Kalo­
rien im Joghurt und in der Cola? Schon eher,
nimmt man Supermarktregale oder Ernäh­
rungsratgeber in Augenschein. Null Bock? Von
der üblichen Montagmorgendepression einmal
abgesehen – einer ganzen Generation kann
man dieses Etikett längst nicht mehr anheften.
Das belegen einschlägige Studien. Allerdings:
Null Bock auf die große Politik (und dafür ein
Rückzug ins Private und Achtsamkeit gegen­
über dem Selbst), null Bock auf eine Achtzig­
stundenwoche (und dafür eine ausgewogene
Work-Life-Balance) – daraus wird schon eher
ein Schuh.
Eine programmatische „Null“ für das 21. Jahr­
hundert ziert den Titel des 2014 erschienenen
Buches von Jeremy Rifkin. Der amerikanische
Starökonom spricht darin von der „Null-Grenz­
kosten-Gesellschaft“: Fallende Produktions­
kosten, oder genauer: Grenzkosten, sorgen für
praktisch gegen null fallende Preise für Güter
wie Tonträger, Universitätsvorlesungen oder
Strom. Und am Ende auch für Autos und Häu­
ser. Die Folge: Die althergebrachte Marktwirt­
schaft, die dann als effizient galt, wenn sie auf
den Grenzkosten basierende Preise hervor­
brachte, ist tot. Rifkin gibt dem Ganzen aber
eine Perspektive: Derartig produzierte Güter
(„kooperative Commons“) werden dann eben
nicht mehr gewinnorientiert verkauft, sondern –
geteilt.
4
Der allgegenwärtige technologische Fortschritt –
das „Internet der Dinge“ oder, auch ein Rifkin-­
Schlagwort, die „dritte industrielle Revolution“
in der Kombination aus erneuerbaren Energien
und Internet – sorgt mithin nicht nur für eine
fundamentale Änderung des Wirtschaftens,
sondern beeinflusst unser Zusammenleben in
Gänze. Was sich als „Null“ tarnt, meint mithin
praktisch „alles“ oder „nichts“.
Hieraus entsteht Unsicherheit. Wie immer, wenn
sich das Neue Bahn bricht. Denn das Neue
kommt janusköpfig daher. Was einen Rifkin
ins Schwärmen geraten lässt – die neue Welt
des Teilens nämlich –, lässt andere erschauern:
Taxi­fahrer, die sich vom Transportdienst Uber
bedroht fühlen, Musikmanager und Verleger,
die ihre Gewinne dahinschmelzen sehen oder
sahen, Gewerkschafter, die den Abbau sozialer
Standards fürchten, und manchen Energiewirt­
schaftler, weil der Strom aus den erneuerbaren
Energien die Netze flutet und ein ganzes Ge­
schäftsmodell hinwegspült. Sie alle beklagen,
dass die alten Regeln unterlaufen werden, dass
neue Standards – ob bei der Verkehrssicher­
heit oder an der Strombörse, im Sozialen oder
im Urheberrecht – fehlen, dass es nicht mehr,
sondern weniger Gerechtigkeit gibt.
Es treten jedoch nicht nur neue Technologien
in unser Leben. Ein neuer Gemeinsinn bricht
sich hier und dort Bahn, oder schlichtweg ein
neues Lebensgefühl, das die einen euphorisiert
und die anderen ängstigt. „Der Zukunfts-­Mensch
ist ein Horror-Mensch“, schreibt Bild-­Kolumnist
Franz-Josef Wagner an der Schwelle zum Jahr
2015. „Ich mag den vergangenen Menschen
mehr“, räumt er ein und verrät dabei unfreiwil­
lig, was Sache ist: Der vergangene Mensch
gehört bereits der Vergangenheit an.
Aufhalten lässt sich die Zukunft nämlich längst
nicht mehr. Sie ist schon mitten unter uns.
„Zero“ lebt, indem sich alles verändert. Eine
dezentrale, „null“ Kohlendioxid emittierende
Stromproduktion? Trägt immerhin heute schon
einen gewaltigen Teil zum Gesamtstrommix
bei. Vorlesungen an Elite-Unis, für jeden jeder­
zeit zugänglich? Gibt es schon. Massive Open
Online Courses, MOOCs, heißt das Stichwort.
Vernetzte Mobilität und neue Carsharing-Mo­
delle? In manchen Metropolen bereits Alltag.
Das selbstfahrende Auto und das automatisier­
te Heim? Nicht der Traum von übermorgen,
sondern die Realität von morgen.
Aber auch: Überwachung, Selbstausbeutung,
Volatilitäten und Unsicherheiten, Datensam­
melwut und die Allmacht neuer Konzerngigan­
ten. Das Ende der Privatsphäre. Das Ende der
Demokratie? Das Ende des Menschen, wie wir
ihn kennen und lieben: frei und selbstbe­
stimmt?
Manchen mag es ängstigen, wenn nicht freie
Willensentscheidungen oder demokratische (und
damit oft langwierige) Aushandlungsprozesse
unser Leben bestimmen, sondern Algorithmen,
die auf der Bearbeitung riesiger Daten­mengen
(„Big Data“) beruhen: Die Politik – denn sie
kommt nicht mehr hinterher und läuft Gefahr, im
21. Jahrhundert die Rolle des Gestalters von
gesellschaftlichem Zusammenleben vollends
zu verlieren. Manche Unternehmen, die davon
bedroht sind, von einer schöpferisch-zerstöre­
rischen Welle disruptiver Innovationen wegge­
spült zu werden. Den Einzelnen, der vom Mitglied
einer demokratischen Gemeinschaft zum bloßen
Datenlieferanten degradiert wird.
Aber Angst ist ein schlechter Ratgeber. Und
der nostalgisch verklärte Blick in die Vergan­
genheit hilft wenig, wenn es gilt, Gegenwart
und Zukunft zu gestalten. Denn darum geht es:
neu zu denken. „Zero“ nicht als das Ende, son­
dern einen permanenten Anfang zu begreifen.
Radikal Altes infrage zu stellen, um radikale
Antworten auf die Frage zu finden, wie wir im
21. Jahrhundert leben wollen. Denn wo viel
Schatten ist, muss es irgendwo auch eine
Lichtquelle geben, oder genauer: viele Licht­
quellen. Schon am Ende des 20. Jahrhunderts
haben uns die Theoretiker der Postmoderne
gelehrt, dass die „großen Erzählungen“ ausge­
dient haben, zum Teil, weil sie sich selbst dis­
kreditiert haben.
Sind nun, nach den Totalitarismen des 20. Jahr­
hunderts und dem „Ende der Geschichte“, das
Erbe der Aufklärung und der Humanismus an
der Reihe? Oder kann „Zero“ im 21. Jahrhundert
das genaue Gegenteil bedeuten? Mehr Licht,
aber nicht das eine helle Licht, sondern ein
Leuchten aus vielen dezentralen Quellen?
Nicht die eine Steuerungsinstanz, die die neue
Gesellschaft am Reißbrett entwirft, sondern die
Kraft vieler dezentraler Gemeinschaften? Nicht
die eine Lieferkette, sondern die Kollaboration
vieler? Nicht die eine „Mehrheitsgesellschaft“,
sondern ein Zusammenleben in tatsächlicher
Vielfalt? Alle diese Fragen sind bislang unbe­
antwortet. Aber es brodelt und gärt. Der Ruf
nach Klarheit und Patentlösungen bei gleich­
zeitiger Resignation – das ist nur die eine Seite.
Auf der anderen Seite stehen: das Labor, das
Experiment, die Offenheit. Die Kunst.
Stephan Muschick diskutiert
mit Pablo Wendel im Rahmen des
Symposiums Vorträge und Gespräche
am 1./2. Mai 2015 in der Akademie
der Künste am Pariser Platz.
Lucas Buschfeld: Stream, 2014
5
Heinz Mack im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist
Otto Piene im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist
Hans Ulrich Obrist: Beginnen wir mit den
Anfängen, damit, wie alles losging, sofern es
denn damals eine Epiphanie gab. Wie sind Sie
zur Kunst gekommen?
Heinz Mack: Es gab gar keine Alternative.
Das klingt vielleicht ein wenig übertrieben, aber
es ist eine Tatsache, dass die Bildungssituation
nach Kriegsende richtig schlecht war. Ich war
von Ruinen umgeben, und es gab jede Menge
Probleme. Meine Ausbildung war miserabel,
denn einige der Lehrer kehrten nicht aus dem
Krieg zurück, und manchmal waren die Schul­
gebäude zerstört worden. Trotzdem hatte ich
die Chance, auf dem Gymnasium eine mehr
oder weniger gute Abschlussprüfung abzule­
gen. Aber schon vor dieser Prüfung war ich als
Student an der Kunstakademie in Düsseldorf
aufgenommen worden, sodass ich die ersten
Jahre in Düsseldorf verbrachte.
HUO: Es ist ja faszinierend, dass Sie, obwohl
die Kunstwelt damals viel isolierter war und es
in Deutschland nach dem Krieg nicht viele In­
formationen gab, schon sehr früh mit einer
internationalen Kunstwelt Kontakt hatten. Wie
fing das alles an? Wie kam es, dass Sie schon
so früh Lucio Fontana und so viele andere
Künstler kennenlernten?
HM: Wir fühlten uns damals verloren. Es gab
keine Informationen, keine Bücher, keine Lite­
ratur, keine Beispiele in den Museen, alles war
zerstört oder in einem schlechten Zustand.
Und die Leute hatten ganz andere Probleme,
Kultur spielte damals keine vorrangige Rolle.
Ich spreche ungefähr von den Jahren zwischen
1950 und 1960. Natürlich gab es in der Aka­
demie eine Art Ausbildung, aber die war sehr
konservativ, und die Lehrer, die dort unterrich­
teten, waren ebenfalls im Krieg gewesen. Letz­
ten Endes mussten wir – sprich meine Freunde,
Otto Piene und Günther Uecker, und ich – uns
irgend­wie selbst aus- und weiterbilden.
HUO: Wie war Ihre Situation Mitte der 1950er-­
Jahre in Düsseldorf?
HM: Unser Atelier befand sich in einem Hof,
und es war damals gefährlich, diesen Hof zu
betreten, denn dort gab es eine vom Krieg
stark beschädigte Mauer, die ständig vom Ein­
sturz bedroht war. Wir fanden, wir sollten etwas
tun, um die Aufmerksamkeit auf die Tatsache
zu lenken, dass wir dort lebten und arbeiteten.
Wir reinigten das Atelier – es wurde weiß gestri­
chen –, und wir stellten dort einen Abend lang
unsere Werke aus. Wir nannten das Abendausstellung. Und natürlich luden wir unsere Freun­
de ein, und unsere Freunde wiederum luden
ihre Freunde ein. Es war eine Art Kettenreakti­
on, und nach einigen Wochen und Monaten
war es jedes Mal etwas ganz Besonderes,
wenn es eine kleine Abendausstellung gab.
Ganz wichtig war damals für uns übrigens auch
die Entdeckung des Jazz. Nach all den blöd­
sinnigen Liedern im Dritten Reich war das eine
richtige Sensation für uns. Ich habe keine Worte
dafür, das war wirklich extrem. Es bewegte sich
etwas: Es war eine Sache des Temper­a­ments,
der Entwicklung, einer Energie von Klängen,
Musik und Licht.
HUO: Neulich habe ich mit Ólafur Elíasson
über Sie gesprochen. Er ist sehr stark von Ihnen
und, wie er sagte, dieser ganzen Idee Ihres
permanenten Experiments inspiriert.
HM: Das darf ich vielleicht an dieser Stelle
erwähnen, dass zu dieser Zeit meine ersten
Rotoren entstanden. Die wichtigsten waren aus
Metall. Ohnehin habe ich damals viel experi­
mentiert. Das war die Zeit, in der unser damali­
ger Bundeskanzler Konrad Adenauer bei der
1957 anstehenden Bundestagswahl mit dem
Slogan „Keine Experimente“ für sich warb, der
überall in der Stadt auf den Wahlplakaten zu
lesen war. Ich war damals noch jung und voller
Widerspruchsgeist, sodass ich mir einen Topf
mit schwarzer Farbe nahm, zu all diesen Litfaß­
säulen ging und die Zeile „Keine Experimente“
mit schwarzer Farbe übermalte. Das habe ich
eine ganze Weile gemacht, bis mich die Polizei
daran hinderte.
HM: Das erste Museum, das ich in meinem
Leben besucht habe, war der Louvre – un­
glücklicherweise erinnere ich mich nicht mehr
an das Datum.
HUO: 1964 haben Sie gemeinsam mit Piene und
Uecker einen Lichtraum auf der documenta 3 in
Kassel präsentiert. In welcher Verbindung stand
diese Installation mit Lucio Fontana?
HM: Das war eine Hommage an Fontana, und
es war die wichtigste Zusammenarbeit zwi­
schen Günther Uecker, Otto Piene und mir. In­
teressanterweise war zunächst nur Uecker auf
die documenta eingeladen, aber er beharrte
darauf, dass wir ebenfalls eingeladen würden,
sonst hätte er seine Einladung nicht angenom­
men. Das war wirklich eine moralische Aussage
von ihm, eine moralische Aufrichtigkeit, zu
sagen: „Ohne meine Freunde mache ich das
nicht.“ Wir haben das ganze Werk gemeinsam
in allerletzter Minute installiert, und wir hatten
Otto Piene, porträtiert von Lothar Wolleh, 1968
Hans Ulrich Obrist: Zunächst möchte ich
Sie fragen, ob Sie mir etwas über Ihre Anfänge
als Künstler erzählen können, da ich sehr neu­
gierig bin, wie alles begann, wie Sie zur Kunst
kamen und wie die Kunst zu Ihnen kam.
Heinz Mack: I like, 1965 (Aus: Mackazin, 1967)
keinen schönen Raum bekommen, sondern
nur das Dach­g­e­schoss im Fridericianum, es
war völlig zugemüllt und verdreckt, sodass wir
erst alles reinigen mussten, bevor wir unser
Werk dort aufbauen konnten. Die Wände
waren ebenfalls unverputzt. Um dem Publi­kum
klar zu machen, dass es sich um eine Hommage an Fontana handelte, hatte ich die Idee,
mit einem Projektor ein Bild Fontanas mit
einem Schnitt darin an die Wand zu werfen.
Fontana war also Teil unserer Ausstellung, aber
auf eine ganz immaterielle Weise, und das
mochte ich so sehr daran. Er war da und
gleichzeitig nicht da.
HUO: Aber wir sollten auch ein wenig über die
Wüste sprechen, denn das Sahara-Projekt ist
für viele junge Künstler heute extrem relevant.
In den letzten Jahren haben zum Beispiel viele
Künstler Expeditionen unternommen, von Pierre
Huyghe bis zu Philippe Parreno. Sie selbst
haben sich ja schon sehr früh auf Expeditionen
in die Arktis und in die Wüste begeben, die auch
in ökologischer Hinsicht interessant sind. Kön­
nen Sie uns darüber vielleicht noch etwas
erzählen?
Heinz Mack, porträtiert von Lothar Wolleh, um 1970
6
ZERO
hatte etwas
Magisches
HUO: Welches war das erste Museum, das Sie
als Kind besucht haben? Erinnern Sie sich
daran?
© Oliver Wolleh, Berlin
HUO: Das war eine Art autodidaktische und
selbstorganisierte Bildung?
HM: Ja, und zugleich gab es den extrem star­
ken Wunsch, ja das Begehren, die Grenzen in
Europa zu überqueren. Das war damals schwie­
rig: Bei meiner ersten Parisreise brauchte ich
einen ganzen Tag, um von Düsseldorf nach
Paris zu kommen. Und was erwähnt werden
muss, ist die Tatsache, dass das die erste
Stadt ohne Ruinen war, die ich je gesehen hatte.
Sie können sich also vorstellen, wie beein­
druckt ich war, eine Stadt zu betreten, die nicht
zerstört war.
Und diese Absicht, eine bessere Vorstellung
von der Welt zu gewinnen, indem ich mich au­
ßerhalb meines eigenen Landes umsah, führte
mich unter anderem nach Paris, Belgien, Amster­
dam, Antwerpen, Mailand und Wien. Auf diese
Weise machten wir die Bekanntschaft anderer
Künstler. In Paris etwa lernte ich 1958 Yves
Klein kennen, um nur einen heute berühmten
Namen zu nennen.
© Oliver Wolleh, Berlin
Es gab gar
keine Alternative
HM: Das Sahara-Projekt war vielleicht das
wichtigste von allen, und ich hatte bereits lange
Zeit davor, im Jahr 1959, darüber nachgedacht.
Die erste Publikation erschien zwei Jahre
später in der dritten und letzten Nummer von
ZERO. Allgemein hatte ich die Idee, aus der
Welt der Museen herauszugehen und diese
Furcht vor Galerien und marginalisierten In­
stitutionen und all diese Dinge hinter mir zu
lassen. Ich wollte mich von den Regeln der
kommerziellen Kunst befreien, und ich hatte
die Absicht – was wesentlich wichtiger war –,
neue Erfahrungen in neuen Räumen zu sammeln.
Ich beschwerte mich über den Raum, der uns
umgibt, empfand ihn als „völlig übertrieben,
überladen mit Möbeln, mit der Zivilisation“.
Wenn ich heute mit dem Taxi durch London
fahre, habe ich wieder genau dasselbe Gefühl;
alles ist völlig überfüllt, und ich weiß gar nicht,
wohin ich schauen soll. Und fragen Sie mich
danach, was ich dort gesehen habe, nun, dann
wird es schon schwierig, denn ich habe Tau­
sende einzelner Bilder gesehen. Was ich sagen
möchte, ist: Diese übertriebene, diese mit allen
möglichen menschlichen Erfindungen überla­
dene Welt bereitete mir große Angst, und daher
verspürte ich den dringenden Wunsch, ja die
Sehnsucht, diese Welt zu verlassen und mich
in eine Welt zu begeben, in der die Zivilisation
keine Spuren hinterlassen hat, denn was immer
man um sich herum sieht, ist voller Spuren der
Zivilisation. Dieser Wunsch war so stark, dass
ich zu träumen begann und ein gewisses Kon­
zept der Arbeit in der Kunstwelt entwickelte,
das sich nur in einem völlig unberührten Gebiet,
in einem völlig offenen Raum verwirklichen ließ.
Für mich ist das Sahara-Projekt also eine Art
Fata Morgana. Es ist wirklich wie eine Epiphanie.
HUO: Eine letzte Frage: Rainer Maria Rilke hat
ein hübsches kleines Buch geschrieben, in dem
er einem jungen Dichter Ratschläge erteilt.
Welchen Rat würden Sie, mit Ihrer gewaltigen
Erfahrung, einem jungen Künstler erteilen?
HM: Arbeiten Sie nicht zu viel, denn sonst ist
das Leben zu kurz!
•
Auszüge aus einem Gespräch, das im Oktober
2010 in London geführt wurde.
Otto Piene: Ich glaube, meine Mutter und
meine Großmutter haben mich zum Zeichnen
ermutigt, und meine Großmutter hat die erste
Leinwand für mich aufgezogen. Da war ich un­
gefähr 10. Während des Zweiten Weltkrieges
herrschte Mangel an allem. Einer meiner Onkel
war Architekt und Professor an der Techni­
schen Hochschule Breslau. Er besorgte mir Öl­
farben, sodass ich mein erstes Ölbild auf Lein­
wand malen konnte. Meine Familie fand großen
Gefallen an meinen Zeichnungen und Gemälden.
HUO: Welche Werkreihe ist die erste, bei der
Sie das Gefühl hatten, Ihre eigene Sprache ge­
funden zu haben?
OP: Das waren die Rasterbilder, die ich 1956/
1957 in Düsseldorf gemacht habe. Sie entstan­
den im Zusammenhang mit den Entwürfen und
Leuchtkästen, die Teil meiner Arbeitstechniken
waren, also nicht nur Gemälde und Zeichnun­
gen, sondern Metall- und einige Emaille-Arbei­
ten. Ich perforierte das Metall und ließ Licht
durch die perforierten Messingplatten fallen.
Das inspirierte mich zur Herstellung von Ras­
tern aus Pappe, die ich benutzte, um Ölfarbe
auf Leinwände zu filtern. So entstanden die
Rasterbilder. Ich ließ aber auch Licht durch die
Pappsiebe fallen, und das war der Beginn der
Lichtzeichnungen und Lichtballette. Im Som­
mer 1957 stellte ich 40 solcher Platten her. Als
nächstes benutzte ich sie, um Rauch hindurch­
zublasen, was mich wiederum zu den Rauch­
zeichnungen und Rauchgemälden führte. Ein
weiterer Schritt war die Verwendung von Feu­
er. Das ist eine recht plausible Abfolge von
Schritten, die auch durch die ökonomische
Verwendung der Rasterkartons bedingt war.
Indem ich Licht durch sie hindurchfallen ließ,
wurde mir klar, dass überall im Raum, an den
Wänden, auf dem Boden und, am wichtigsten,
an der Decke, Lichtformen erschienen.
HUO: Es gibt ja auch dieses Interesse an den
Naturwissenschaften. Wann setzte das bei Ih­
nen ein?
OP: Nun, mein Vater war Physiker und Gym­
nasialdirektor und arbeitete mit physikalischen
Gegenständen, die für mich Lehrmittel waren.
Er spielte für mich mit Dingen und Phänomen
wie Neon- und Argonlicht, denn das faszinierte
ihn, und er dachte offenkundig, dass es auch
für mich interessant sein würde. Auch der Krieg
und all das, was damit einherging, prägten
mich. Es hatte auch mit Phänomenen zu tun,
die keine gelenkten oder akademischen waren,
wie Leben und Tod, mit Sensationen am Him­
mel oder Sensationen, die ihrer Zeit voraus wa­
ren und die ich aus der Ferne betrachten konn­
te. Mein Interesse richtete sich aber auch auf
Phänomene in meiner unmittelbaren Nähe,
zum Beispiel auf Feuer. In ästhetischer Hin­
sicht übten diese sogar eine angsteinflößende
Faszination auf mich aus.
HUO: Das führt uns zu der Frage, in welcher
Beziehung der Krieg zu Ihren Erfindungen im
Jahr 1956 stand. Günther Uecker hat mir erzählt,
dass die Nägel, die er 1956 verwendete, für
den Versuch standen, seine Schwestern und
seine Mutter im Krieg durch Vernagelung der
Türen und Fenster zu beschützen. In welchem
Verhältnis steht Ihr Werk zur Kriegserfahrung?
OP: Meine Faszination für Licht ist wahr­
scheinlich eine Folge des Krieges, denn im
Krieg gab es die gesetzliche, also vom Kriegs­
recht vorgeschriebene Verdunkelung. Als der
Krieg 1945 vorbei war, war eine der ersten Ver­
änderungen, dass die Leute wieder Licht ein­
schalten durften und das Licht durch die Fens­
ter und auf den Straßen scheinen konnte. Das
bedeutete also einen existenziellen Wandel
und war eine wirklich wichtige Erfahrung. Der
Krieg ließ den heiteren Himmel verschwinden:
Wenn der Himmel am schönsten war, dann war
er auch am gefährlichsten, denn gutes Wetter
bedeutete Bombenangriffe und das total Ne­
gative. Während des Krieges verkehrte sich die
Bedeutung von Licht und Dunkelheit gewisser­
maßen ins Gegenteil: Dunkelheit war gut und
Licht schlecht.
Die Rückkehr zur Normalität nach dem Ende
des Krieges war wichtig für meine ganze Gene­
ration, von Joseph Beuys über Karlheinz
Stockhausen und ZERO bis zu Nam June Paik,
der schrieb, die Erfahrung meines Lichtballetts
habe ihn dazu bekehrt, bildender Künstler zu
werden.
HUO: Tatsächlich haben Sie 1957 zusammen
mit Heinz Mack die Gruppe ZERO gegründet,
der sich dann 1961 Uecker anschloss. Könnten
Sie dazu und zu den Anfängen von ZERO et­
was erzählen?
OP: Den Anstoß zu ZERO gab die Entstehung
der Rasterbilder im August 1957. Ich erinnere
mich, wie ich damals an der Modeschule in
Düsseldorf unterrichtete und drei Wochen Feri­
en hatte, die ich ausschließlich in meinem Ate­
lier verbringen konnte, abgesehen von der Zeit
in einem Krankenhaus, wo meine Tochter
Claudia zur Welt kam. Ich konnte konzentriert
arbeiten und begann mit den Rasterbildern.
Mein Atelier befand sich in der Nähe von Macks
Atelier, der aber damals gerade verreist war. Im
September zeigte ich die ersten Rasterbilder
dann in der Abendausstellung: Brüning, Mack,
Piene, Salentin in meinem Atelier, die ich zu­
sammen mit Mack organisiert hatte. Ich glau­
be, es war die 4. Abendausstellung, mit vier
Leuten. Meine Bilder sorgten für ziemliches
Aufsehen. Kurz darauf – im November oder
vielleicht im Dezember – beschlossen Peter
Brüning, Mack und ich, eine Gruppe zu grün­
den und eine Publikation herauszubringen.
Und so veröffentlichten wir im April des darauf­
folgenden Jahres ZERO 1. Das war der Beginn
einer etwas systematischeren Präsentation
meiner Ideen, unserer Ideen zu Beginn von
ZERO. Auf den Namen ZERO hatten wir uns
aber bereits im September 1957 geeinigt. Als
wir die Zeitschrift ZERO 1 publizierten, wurde
der Name öffentlich.
HUO: Interessant ist ja auch, dass wir in einer
Zeit leben, in der es weniger künstlerische Be­
wegungen gibt. Sie haben einmal in einem In­
terview gesagt, dass das Ganze eigentlich
nicht so sehr als eine Bewegung oder Gruppe
gedacht war, sondern eher aus Ihrer Freund­
schaft heraus entstanden war. Sie und Mack
waren Ateliernachbarn und hatten ähnliche
Einstellungen gegenüber der Kunst, zum Bei­
spiel den historischen Avantgarden wie Dada
und dem Surrealismus und deren Manifesten.
In welchem Maße war ZERO eher eine pragma­
tische Verbindung und keine ideologische wie
etwa bei den japanischen Metabolisten?
OP: Es konnte beides sein, aber die geistige
Verbindung war der wichtigste Teil. Nachdem
wir ZERO gegründet und die Zeitschrift ZERO 1
publiziert hatten, wurden die Leute allmählich
aufmerksam auf uns. Wir luden Künstler aus
Nachbarländern, genauer gesagt aus Paris und
Mailand, ein. Wir unterhielten uns mit ihnen und
der Austausch war richtig hitzig. Spontan ent­
standen Freundschaften. In dieser Hinsicht ist
es also wahr, dass ZERO auf Freundschaft be­
ruhte, doch sie führte zu gemeinsamen Ideen
und einer gemeinsamen Begeisterung, Energie
und Vision, wenn ich dieses Wort benutzen
darf. Und das ging dann während einer sehr in­
tensiven Anfangszeit so weiter, bis die Leute in
der Kunstwelt Fuß gefasst hatten, mehr herum­
reisten und dann auch immer erfolgreicher
wurden. Doch am Anfang hatte das Ganze eine
reale, ganz persönliche und menschliche Seite
und orientierte sich weniger an weltlichem Er­
folg und organisatorischen Fertigkeiten oder
Ähnlichem; jedenfalls haben wir eine Menge
gelernt. Seinen Anfang genommen hatte alles
in diesem Atelier in der Gladbacher Straße 69,
einem ungewöhnlichen, gastfreundlichen Ort
für eine halböffentliche Tätigkeit. Die Leute in
Düsseldorf mochten die nächtlichen Ausstel­
lungen, weil sie sich von denen in den neu ent­
stehenden Kunstinstitutionen unterschieden.
HUO: Gibt es irgendwelche nicht realisierte
Architekturprojekte von Ihnen oder anderen
Architekten, utopische Projekte oder Städte,
die Sie gern bauen würden?
OP: Ja, beides. Ich habe Paolo Soleri noch ge­
kannt. Er gehört zu den Architekten, die mich
von dem Augenblick an interessierten, da sie
am Architekturhorizont in Erscheinung traten.
Einige meiner eigenen bislang nicht realisierten
Architekturprojekte sind Sky-Art-Projekte. Mit
Sky Art meine ich auch die Kunst der mobilen
und fliegenden Architektur. Ich interessiere
mich für anthropomorphe Gebäude und städ­
tische Organisationen wie etwa tragbare Medi­
enkomplexe, Medienviertel, fliegende und unter­
irdische Klangstädte und Lichtstädte.
HUO: Die Verbindung zur Architektur führt
auch zu Yves Klein, der mit den Architekten
Claude Parent und Werner Ruhnau zusam­
menarbeitete. Raymond Hains erzählte mir von
diesem unbändigen Trieb Yves Kleins, über
kosmische Architektur zu sprechen.
OP: Yves und ich waren sehr eng befreundet.
Die Freundschaft entwickelte sich zunächst in
Düsseldorf, aber auch durch Ruhnau, der
ebenfalls viel mit Yves zusammenarbeitete; er
war einfach ein faszinierender Mann und je­
mand, der sehr gut kommunizierte und eine
Leidenschaft für zwischenmenschlichen Aus­
tausch hatte. Yves und ich schlossen daher ei­
nen Pakt, dass wir einander nicht in die Quere
kommen würden, weil wir beide Feuer als Me­
dium benutzten. Dieser Pakt hat wirklich sehr
gut funktioniert. Das kosmische Element wurde
natürlich durch meine Kriegserfahrungen ver­
stärkt. Wissen Sie, wenn man die Nächte damit
zubringt, in den Nachthimmel zu starren mit all
dem, was sich darin abspielt, dann wird der
gute Kosmos und der böse Kosmos – das weiß
man dann halbwegs und versucht es zu verste­
hen – das Leben insgesamt. Und diese Liebe
zum Kosmos, die Achtung ihm gegenüber, die­
ses gewaltige Gestirn, dieser Kosmos war das,
wovor ZERO Ehrfurcht hatte und was auch ein
wichtiges Element für Yves, seine Philosophie,
seine „Themen“ und seine Kunst war. Die
Künstler der Gruppe ZERO widmen sich der
Liebe und Bewunderung für den Kosmos.
HUO: Eine letzte Frage zu ZERO. Wissen Sie,
wie der Name „ZERO“ gefunden wurde? Erin­
nern Sie sich daran, was der Anlass war?
OP: An den Anlass erinnere ich mich sehr gut.
Es hatte mit Gedanken über eine mögliche
Ausstellung und Publikation zu tun und fand in
Fatty’s Atelier statt, einem Künstlerrestaurant
in der Düsseldorfer Altstadt gegenüber der Ga­
lerie Schmela, wo Heinz Mack, Hans Salentin,
ein Fotograf namens Wehling und ich über ei­
nen Namen für diese Ausstellung sprachen.
Das war im September 1957. Ich schlug zu­
nächst so etwas wie „chiaro“ oder „puro“ vor,
und dann sagte ich, ich würde es „ZERO“ nen­
nen, doch das könne man leicht als einen Aus­
druck von Nihilismus und Negativismus deu­
ten, sodass wir diese Idee für 20 Minuten oder
eine halbe Stunde lang wieder fallen ließen.
Doch dann, eine halbe Stunde später, sagte ei­
ner von uns wieder, wie wäre es denn mit
ZERO? Wir wussten, dass man es mit allem
Möglichen, sentimentalem Existenzialismus
oder so, assoziieren konnte, aber wir beschlos­
sen, nun sei es gut, nehmen wir dieses Wort.
Die Zeitschrift sollte also ZERO heißen. Mack
und ich machten uns an die Arbeit, und 1958,
im April, kam ZERO raus. Nachdem der Name
ZERO einmal eingeführt war, sprachen wir nur
noch von der „Gruppe ZERO“ und so wurden
wir zur Gruppe ZERO und wurden auch so ge­
nannt. Die Gruppe war nie formell organisiert,
es gab keinen Gründungsakt. ZERO entstand
einfach, weil wir das Wort in Katalogen, auf
Plakaten und Einladungen wie eine Handels­
marke benutzten; es klang richtig und hatte et­
was Magisches. Der Name setzte sich sofort
durch.
HUO: Welchen Rat würden Sie einem jungen
Künstler geben?
OP: Die Naturwissenschaften zu studieren wie
Leonardo, aber über alle Begeisterung für die
Naturwissenschaft und die neuen Erfindungen
die Kunst nicht zu vergessen. Bei den neuen
Künsten müssen Wissenschaftler und Künstler
Hand in Hand arbeiten und die Poesie und die
Intelligenz der Wissenschaft gemeinsam verfol­
gen. Sie sind gleichermaßen intelligent, doch
Intelligenz tritt in unterschiedlichen Formen zu­
tage. Junge Leute sollten im Mittelpunkt von
allem stehen. Ich sehe immer wieder, wie naiv
einige Künstler sind. In einer Zeit voller Intelli­
genz sind wir wegen einer schlimmen Wirt­
schaftslage, schlimmen Kriegen und einer
schlimmen Verwirrung von starken Bedrohun­
gen und dem Unbehagen der Welt umgeben.
Ich meine also, dass unsere jungen Künstler
auf intelligentere Weise ausgebildet werden
sollten. Der Ausbildungsstandard in den Küns­
ten sollte wesentlich höher sein, als er es derzeit
ist. Institutionen wie die Kunsthochschule für
Medien Köln (KHM) und das ZKM / Zentrum für
Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe sind
erstklassig. Sie haben sich beide am Vorbild
des Center for Advanced Visual Studies (CAVS)
am Massachusetts Institute of Technology (MIT)
orientiert, mit dem Unterscheid, dass das CAVS
klein ist und diese neuen Institutionen um eini­
ges größer sind und mehr Geld haben; doch
darum geht es gar nicht. Wir benötigen mehr
Kunst- und Technologieeinrichtungen, um auch
intelligentere Künste fördern zu können.
•
Auszüge aus einem Gespräch, das im Februar
2011 in London geführt wurde.
7
HUO: Ich finde interessant, dass Sie in mehre­
ren Interviews, die ich gelesen habe, auf die
Frage nach Ihrer Epiphanie – als 1956 erstmals
Nägel in Ihrem Werk erschienen sind – gesagt
haben, der Nagel stehe in einer Beziehung
zu Kriegsereignissen und verbarrikadierten
Häusern. Könnten Sie das noch etwas näher
erläutern und schildern, wie das zu den Nagel-­
Werken führte?
GU: Das war der Versuch, meine Schwestern
und meine Mutter zu beschützen. Als die Front
näher rückte, habe ich unser Haus von innen
verbarrikadiert, was natürlich nur eine illusionä­
re Sicherheit war. Aber nichtsdestoweniger
vermittelte es einem emotional das Gefühl, ge­
schützt zu sein. Und das repräsentieren die
Nägel in meinem Werk: einerseits eine Abwehr,
wie gesträubtes Haar, wie ein Igel, der sich zu
einer Kugel zusammenrollt, und andererseits
Zärtlichkeit. Diese taktilen Wahrnehmungen
können sehr fragil und in Bezug auf ihre visuelle
Wahrnehmung poetisch nachhaltig sein. Das
hat mit dem Finden einer Sprache im allge­
meinsten Sinne zu tun. Für mich ist die Zumu­
tung des Eindringens eines Nagels in ein Werk
der nicht-alphabetische Moment eines kreati­
ven Ausdrucks, den ich in den folgenden Jah­
ren entwickeln konnte, indem ich Möbel und
ganze Innenräume benagelte. Wie in der Gale­
rie von Rochus Kowallek in Frankfurt, wo ein
ganzer Raum möbliert wurde – einschließlich
eines Fernsehers, Einbauten mit Teppichen
und Bildern – und ich anschließend alles ben­
agelt habe. Die einzelnen Gegenstände als
Überschreitung, ein Überfluten der Welt mit
Kunst. Diese Alltagsobjekte wurden plötzlich
sakrale Gegenstände.
HUO: Und welche Verbindung gab es damals
zur historischen Avantgarde? Man kann ja
sagen, dass Ihre Arbeit ein Teil der Neoavant­
garde der 1960er-Jahre war. Die Verbindung
zwischen der Neoavantgarde und der Avant­
garde des frühen 20. Jahrhunderts ist extrem
interessant. Vor allem weil man beim Anblick
eines solchen Werks an die kinetischen Skulp­
turen von Marcel Duchamp, László Moholy-­Nagy
oder Naum Gabo denkt. In welcher Beziehung
standen Sie als Teil der Neoavantgarde zur his­
torischen Avantgarde? War das Wiederholung
oder Differenz?
GU: Tatsächlich war es eine Entdeckung, denn
wir hatten keine Lehrer. Die meisten Lehrer waren
Nazis, außer denjenigen, die in die DDR ein­ge­
wandert waren, wo ich aufwuchs. Diese Lehrer
waren die ersten, die uns mit den kulturellen Er­
eignissen des erwachenden Geistes des frühen
20. Jahrhunderts konfrontierten. Das gab uns
das Gefühl, lebendig zu sein, und war für uns
so etwas wie eine Renaissance des 20. Jahr­
hunderts selbst, das die Katastrophe einer
Selbstzerstörung und kulturellen Auslöschung
bestimmter Ereignisse durchlief. Es handelte
sich um die Zerstörung dessen, was die Men­
schen irritierte, um ihre Furcht zu überwinden.
Und das waren existenzielle Ereignisse, die
sich nicht kunsthistorisch erklären lassen mit
dem formalen Einfluss von Naum Gabo oder
anderen. Ich habe das in den 1950er- und
1960er-Jahren ausführlich mit Jean Tinguely
und Yves Klein diskutiert. Es war, so könnte
man sagen, die Entdeckung künstlerischer
Möglichkeiten, um auf schöpferische Weise die
tiefste existenzielle Emotion zum Ausdruck zu
bringen. Denken und Handeln ist eine Sache,
und diese ist Teil der Gegenwart. Es geht nicht
8
über der Welt zum Ausdruck zu bringen, in
diesem Fall auf künstlerische Weise. Ich ver­
wendete feuchte Farbe, sodass die Leute, die
darüberliefen, sie mit sich durch die Innenstadt
schleppten. Joseph Beuys war so begeistert,
dass er den Kübel mit der weißen Farbe umtrat
und lachte. Es gibt viele Fotos von meiner Aktion.
Das war für mich ZERO. Davor gab es eine
Gleich­zeitigkeit ähnlicher künstlerischer Ansät­
ze, fast wie bei einer telepathischen Kommuni­
kation, wie zum Beispiel in der Ausstellung
Vision in Motion—Motion in Vision 1959 im
Hessenhuis in Antwerpen. Yves Klein blies Rauch
in die Luft und Tinguely fing sogar eine Schlä­
gerei an. Die Spannung war einfach so groß,
denn dort kam diese ganze Kunst zusammen.
Man hätte beinahe sagen können: „Mann, das
Ein Überfluten
der Welt mit
Kunst
Wir verspürten das Bedürfnis, den Emigranten
zu begegnen, die die Erinnerung an das Erwa­
chen des 20. Jahrhunderts um 1910 mit sich
trugen. Das waren die entscheidenden Gestal­
ten, die ich in England und New York traf, an­
gefangen mit Willem Sandberg in Antwerpen
und Amsterdam. Dieses Bedürfnis veranlasste
mich, woanders hinzugehen und etwas über
meine Identität der kulturellen Konditionierung
zu lernen, die ich gerade erst wiederentdeckt
hatte. Nicht im Sinne akademischer Studien,
sondern durch die Entdeckung von Büchern,
die man in einem Antiquariat oder im Ausland,
in Belgien, Holland oder England, fand.
HUO: Aber erst müssen wir über die Anfänge
sprechen. Wie entstand ZERO?
hat er von mir abgekupfert!“ oder: „Der künst­
lerische Ausdruck ist bei uns allen ziemlich
ähnlich“, was in der Ausstellung eine spürbare
Spannung erzeugte. Das war sicherlich die
schockierendste Erfahrung, die man machte,
doch man erlebte sie als einen positiven Schock.
Man konnte sagen, wir seien eine Familie, doch
zugleich spornte uns dieser künstlerische Im­
puls an: „Ja, das hat er von mir abgekupfert.“
Vielleicht war das beim Kubismus ähnlich, die
Spannung zwischen uns, das unabhängige
Entdecken und die Vergleichbarkeit mit ähnli­
chen Entdeckungen.
HUO: Das führt zu mehreren, vielleicht utopi­
schen, Projekten, die auch mit Land Art zu tun
haben. Ein fast utopisches Projekt im Kontext
von ZERO war 1965 ZERO op zee.
GU: Mein Gott, dass Sie mich an alle diese
Dinge erinnern! Das waren natürlich alles Ide­
en, die sich auf ZERO beziehen. Ich wollte Dia­
manten auf dem Strand abladen und sie dort
ausbreiten, sodass es auf dem Strand ver­
schiedene Spiegelungen gegeben hätte, je
nachdem, aus welchem Blickwinkel man die
Diamanten in der Sonne betrachtet hätte.
HUO: Ein anderes Projekt, das mich fasziniert,
ist das, bei dem sie zusammen mit Gerhard
Richter 1968 in der Kunsthalle Baden-­Baden
wohnten. Die Idee war, dass Museen bewohn­
bare Orte sein und die Unterschiede zwischen
Kunst und Leben unscharf werden können.
Können Sie mir etwas über die Zusammen­arbeit
mit Gerhard Richter erzählen?
GU: Klaus Gallwitz, der damalige Direktor der
Kunsthalle Baden-Baden, hatte mich eingela­
den, an einem neuen Programm teilzunehmen,
bei dem 14 Künstler 14 Ausstellungen nachei­
nander machten. Da sagte ich als erster, ich
würde lieber noch jemand anderen dazuneh­
men. Und dann schufen Gerhard Richter und
ich das Manifest Museen können bewohnbare
Räume sein. Die Kultur ist bewohnbar, nicht
unsichtbar, sondern bewohnbar. Und daher
haben wir keine Werke ausgestellt, auch wenn
andere das getan haben. Ich brachte mein
Terror­orchester und führte es auf, und Richter
malte weiter seine pastosen Alpen. Wir wohn­
ten in dieser Zeit im Kunstmuseum, hatten dort
unser Schlafzimmer und die Möglichkeit, zu
kochen und zu essen. Und wir hatten – das war
wirklich eine nette Geschichte – die Konsolen,
die an den Wänden entlangliefen, die heute
aber nicht mehr da sind. Richter hängte seine
Schneelandschaften darüber. Dann veranstal­
tete er mithilfe eines Ballons „Flüge“ über die
Alpen und sprang von der Konsole in den Saal.
Er wiederholte das den ganzen Tag, bis die
Leute wieder gingen. All das geschah während
der normalen Öffnungszeiten des Museums.
Viele Besucher wollten ihr Geld zurück, weil sie
dachten, die Ausstellung würde noch aufge­
baut (lacht).
gemacht und ausgestellt wurde, als Thema für
den Besucher zu erkennen war.
HUO: Eine letzte Frage: Rainer Maria Rilke hat
ein Buch geschrieben, in dem er jungen Dich­
tern Ratschläge erteilt. Was würden Sie einem
jungen Künstler raten?
GU: Nun, nicht alles, was man gelernt hat, als
die vollständige Grundlage für den künstleri­
schen oder schriftlichen Ausdruck zu nehmen,
sondern sich stattdessen an den Fehlern zu
orientieren, die wiederholt werden und die man
geheim halten möchte. Häufig ist es nur eine
Verkleidung, eine Travestie von Fehlern. Am
wichtigsten ist es, sich auf das zu konzentrie­
ren, was nicht verkleidet werden muss, sich
selbst zu entblößen und ein Ventil für Fehler
und die Existenz des Lebens zu finden.
•
Auszüge aus einem Gespräch, das im Februar
2011 in London geführt wurde.
HUO: Mich interessiert, dass man jedes Mal,
wenn man etwas über ZERO liest, auf diese
Idee eines Neuanfangs, die Idee einer Tabula
rasa stößt. Könnten Sie das kommentieren?
Hatten Sie damals auch dieses Gefühl?
GU: Nun, die Galerie Alfred Schmela lud mich
1961 zu ZERO. Edition, Exposition, Demon­stra­
tion ein. Ich malte die Straße vor dem Haus
weiß an, um zu veranschaulichen, dass es da
einen weißen Bereich gibt, der die Grundlage
für wahren künstlerischen Ausdruck ist. Ich
gehörte nicht zur Generation der Schuldigen,
sondern zur Generation der Erben der Schuld.
Und das Akzeptieren dieses Erbes brachte die
Notwendigkeit mit sich, andere Prinzipien auf­
zustellen, um die eigene Wahrhaftigkeit ge­gen­
Ari Benjamin Meyers, geboren 1972 in New
York, erkundet in seinen Werken Strukturen,
welche die performative, partizipative und im­
materielle Seite der Musik neu definieren. Aus­
gebildet als Komponist und Dirigent an der
Juilliard School, New York, der Yale University,
New Haven, und dem Peabody Institute, Balti­
more, gilt er als Spezialist für sparten­
über­
greifende Produktionen in den Bereichen Film,
Kunst und Theater. Neben unterschiedlichsten
Produktionen für diverse Opernhäuser und
Theater arbeitete er u. a. mit den Einstürzenden
Neubauten, La Fura dels Baus und Morton
Subotnick und entwickelte die Musikreihe Club
Redux. Für die von Hans Ulrich Obrist und
Philippe Parreno kuratierte Künstler-­Oper Il Tempo del Postino (Manchester International Festival,
2007, und Art Basel, 2009) erar­beitete Meyers
mit Künstlern wie Ólafur Elíasson, Dominique
Gonzalez-Foerster, Matthew Barney, Anri Sala
und Tino Sehgal eine Serie von musikalischen
Performances. Weitere Kollaborationen folgten
u. a. mit Dominique Gonzalez-­Foerster (K.62/K.85,
2009), Saâdane Afif (The Fairytale Recordings,
2011), Anri Sala (The Breathing Line, 2012) oder
Sora Kim (Ghost Radio, 2014). In Berlin war
2013–2014 Meyers Komposition Chamber Music
(Vestibule) im Eingangsbereich der Berlinischen
Galerie zu erleben.
www.aribenjaminmeyers.com
Ari Benjamin Meyers wird seine
Komposition Untitled for choir (Beating
Time) zusammen mit dem 30-köpf­igen
Chor der Kulturen der Welt am 11. April
2015 im Rahmen der Performance
Nacht im Martin-­Gropius-Bau aufführen.
HUO: Es war also im Grunde ein Happening?
GU: Ja, es war eine Art Happening. Es war ein­
fach ein Versuch, das Alltagsleben eines
Künstlers in ein Museum zu übertragen, in ei­
nen Museumsraum. Sodass die Art, wie Kunst
GU: Zunächst war ich damals, als ich aus der
DDR kam, sehr ehrgeizig, doch in West­
deutschland fühlte ich mich einsamer und iso­
lierter. Daher trampte ich an die Côte d’Azur,
weil ich in Vallauris Pablo Picasso und Fernand
Léger sehen wollte. Dort habe ich damals dann
gelebt und 1954, 1955 und 1958 die wichtigs­
ten Erfahrungen gemacht, lange vor ZERO.
Dort habe ich auch Arman kennengelernt und
durch diesen Yves Klein. Das war schon 1956,
als ich mir ehrfurchtsvoll Picassos umfangreiche
Arbeiten im Keramikatelier Madoura oder in der
Töpferei in Vallauris, wo er arbeitete, ansah. Ich
bewunderte aber auch die ganzen Widerstands­
kämpfer, die in diesen Städten lebten. Léger in
Biot und Jean Cocteau mit seinen Filmen schu­
fen diese Atmosphäre. Aber ich gehörte nicht
dazu. Ich war sozusagen nur ein Voyeur, der
mit großem Respekt zu den Widerstands­
kämpfern aufblickte, die ihre künstlerischen
Werke um 1940 herum aus der Niedergeschla­
genheit befreiten. Es gibt einen großen Unter­
schied zwischen Picassos Werken in Vallauris
und denjenigen, die er 1942 in Paris schuf, wo
er noch sehr graue Bilder malte. Ich begriff,
dass jede Generation ihre eigene Identität hat.
Aus diesem Grund hinterließen die Beziehun­
gen zu Martial Raysse, Arman und Yves Klein
auch einen wichtigen und bleibenden Eindruck.
Da gehörte ich hin. Als ich dann 1958 in Düssel­
dorf war und Werke von mir zeigte, lud Mack
mich zu einer ZERO-Ausstellung in seinem
Atelier und dem von Piene ein. Georges Mathieu
und Yves Klein waren ebenfalls da, und auf
diese Weise kam auch ich mit dieser Bewe­
gung in Berührung. Vielleicht lag das an den
Beziehungen, die wir für uns wählten und die
wir untereinander (an)erkannten, wie bei Piero
Manzoni, der ständig zwischen Paris, Antwer­
pen, Düsseldorf und Kopenhagen herumreiste.
Auch später bei Arthur Köpcke spürten wir im­
mer diese wechselseitige Faszination, bei der
wir uns fragten: „Was macht denn eigentlich
der andere da?“. Wir suchten ganz bewusst die
Ateliers der anderen auf, und gerade, als ich
nach Frankreich ging, kam eine stattliche Zahl
französischer Künstler aus Paris nach Düssel­
dorf und fand dort das Echo, das ihnen in Paris
noch nicht zuteil geworden war.
Ari Benjamin
Meyers
Untitled (Beating Time) von Ari Benjamin Meyers ist Zeichnung und Ergebnis der Vorbereitung auf die Performance Nacht im Kontext des ZERO-Begleitprogramms dynamo gleichzeitig.
Ein sogenanntes „Conducting Drawing“, entstanden auf altem Notenpapier durch das Dirigieren eines fünfteiligen Taktes über einen Zeitraum von 57 Minuten in einem gleichbleibenden Tempo
von 86 bpm. Deutlich entsteht so die Schlagfigur 5-4-3-2-1 aus der Perspektive des Dirigenten und zugleich eine dynamische Zeichnung, die in der Lage ist, Musik und Zeit zu konservieren.
Foto: Hans-Joachim Roedelius
Günther Uecker: Das erste Werk, das sich
übrigens in der Neuen Nationalgalerie in Berlin
befindet, war eine Art Matschgemälde. Als
würde man einem Kind sagen, es solle gefäl­
ligst seinen Brei aufessen, obwohl der faktisch
ungenießbar ist, oder als würde ich mich in
meinen eigenen Ekel hineinstürzen, in meinem
eigenen Erbrochenen ausrutschen. Ich habe
versucht, die Frage der Farbe mithilfe von
Nägeln in den Griff zu bekommen. Es gibt ein
ganz ähnliches Bild, Malereiübernagelung von
1957. Die Idee war, dass alles, was man in sich
aufnimmt, eine Querung hat. Es besteht eine
Dialektik zwischen dem Beobachten der Welt
und den Emotionen, die sich aus dem subjekti­
ven Verhältnis zur Welt ergeben. Die Wider­
sprüche, die ein Mensch in sich vereint, sind
ein Ausdruck seiner Poesie. Beim Prozess des
Zeichnens gibt es nicht nur die gezeichnete
Linie auf dem Papier, sondern auch den Blei­
stift als ein lebendiges dreidimensionales Ob­
jekt, das einen Schatten aufs Papier wirft. Bei
den Nägeln handelt es sich um ein ähnliches
Phänomen wie bei dem Bleistift. In der Vielfalt
ihrer Sequenzen oder Verdichtungen oder
Gruppierungen tritt eine komplexe Struktur zu­
tage, die es mir erlaubt, Licht zu formen. Durch
Lichtquanten, wie diejenigen, die man norma­
lerweise in der Farbe oder anderswo in der
Form der Malerei findet, aus der ich hervorge­
gangen bin, und durch dieses Strukturieren und
Gruppieren entsteht ein realer Raum, sodass
man sagen könnte, dass sich die Gemälde dem
Auge stärker annähern, so wie man mit einem
Finger auf Leute zeigt.
um das kunsthistorische Gefühl des „Aha, das
hatten wir schon mal“. Es ging um Wahrneh­
mung. In diese Richtung bewegte sich Alexander
Rodtschenkos Werk. Das war für mich beson­
ders wichtig, ebenso wie Alberto Giacometti,
der den Menschen auf seine Existenz reduzier­
te. Sterblichkeit ist so offenkundig, dass man
sich ihrer bis zum Überdruss bewusst ist. Wir
sprechen hier nicht von einem kulturellen Fort­
schritt im klassischen Sinn, sprich, dass etwas
auf etwas anderem aufbaut. Es war dieser
Bruch, ein Notfall, in dem wir uns wiederfan­
den, umgeben vom Schweigen der Älteren, die
einerseits Mörder waren und andererseits auf
betrügerische Weise versuchten, sich selbst
eine neue Identität zu verschaffen. Als junge
Leute waren wir einsam, ich ganz besonders.
© Oliver Wolleh, Berlin
Hans Ulrich Obrist: Wo würden Sie Ihr
Werkverzeichnis beginnen lassen? Das ist ja
immer ein interessanter Übergang. Was zählt
zum Frühwerk oder zu den studentischen Ar­
beiten, und welches wäre das erste Werk in
Ihrem Werkverzeichnis?
Courtesy: Ari Benjamin Meyers und Esther Schipper, Berlin
Günther Uecker im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist
Günther Uecker 1969 in den Trümmern seines Düsseldorfer Ateliers, porträtiert von Lothar Wolleh
Die Gruppe Human Being in der Akademie der Künste 1968 vor dem großen Aufruhr
Vom Zodiak zum Aufruhr in der
Akademie der Künste
Hans-Joachim Roedelius
In welchem Monat des Jahres 1968 das Zodiak
seine Pforten öffnete, weiß ich nicht mehr. Ich
weiß nur noch, dass mich Conni Schnitzler und
Horst Rainer (Boris) Schaak eines Tages in Paris
anriefen, wo ich freiberuflich als Masseur arbei­
tete, um mir mitzuteilen, dass sie ein Lokal ge­
funden hätten und sie dabei wären, es zu einem
Ort der Begegnung für alle freischaffenden
Künstler Berlins umzugestalten; ich hätte doch
versprochen, als Gründer mitzumachen, ob ich
nicht sofort kommen wolle.
Ich hatte zuvor ja schon – neben meinem Beruf
als Masseur – zuerst mit Schnitzler und später
auch mit Boris bei allen möglichen Gelegen­
heiten musikalisch-aktionistisch in der freien
Berliner Kunstszene agiert. Dabei waren wir
auch immer wieder auf das Thema der Grün­
dung eines eigenen Clubs zu sprechen gekom­
men, und ich hatte damals gesagt, dass ich
gerne dabei wäre.
Conni Schnitzler hatte nach intensiver Suche
dieses im Souterrain der Schaubühne am
Halle­­schen Ufer gelegene, seit Langem leer ste­
hende Lokal gefunden und vom Berliner Senat
angemietet, um es mithilfe seiner Freunde für
seine und unsere Zwecke nutzen zu können.
Das Zodiak öffnete also seine Tore und war
von Beginn an gerammelt voll an jedem einzel­
nen Programmtag. Hier traf sich alles, was in
der freien Berliner Kunstszene zu der Zeit zu­
gange war. Schnitzler beschloss bereits kurz
nach der Eröffnung des Clubs, wieder auszu­
steigen, und überließ uns, Human Being, einer
Gruppe von Leuten aus verschiedensten Ge­
nerationen und Kulturkreisen, das Feld zur wei­
teren Kultivierung. Dazu gehörte eben auch der
Ausflug zu einem Auftritt in der Akademie der
Künste, dem einzigen außerhalb des Zodiaks,
wenn ich mich recht erinnere.
An jenem historischen Abend wollten wir in
großer Besetzung spielen, d. h. zu uns, dem
Nukleus der Gruppe, der aus Boris Schaak,
mir, Elke Lixfeld, Christoph Sievernich, Beatrix
Rief, Verena Schirz und Broderick Price be­
stand, gesellte sich noch ein aus Marokko
stammender junger Berber hinzu, der Gedichte
auf Schwedisch schrieb und wie wir alle kein
Instrument richtig spielen konnte. Möglicher­
weise waren aber auch noch andere Mitspieler
dabei. Joseph Beuys befand sich jedenfalls als
Gast im Saal.
Ich weiß nicht, wie lange wir ungestört aufspie­
len konnten. Irgendwann fing das Publikum an,
uns auszubuhen und schließlich die Bühne zu
stürmen, auf unsere gerade mit einem Kredit
der Stadt angeschaffte teure Tonanlage und
die Instrumente einzuschlagen und vieles da­
von zu zertrümmern, Kabel zu zerschneiden,
bis die Saalordner die wütende Menge von der
Bühne vertreiben konnten.
Nach diesem Ereignis begann der Niedergang
des Zodiaks, das am Beginn des folgenden
Jahres vor allem wegen des ungenierten, in aller
Öffentlichkeit zelebrierten Umgangs von Künst­
lern und Publikum mit Drogen seine Pforten
schließen musste.
Human Being wollte aber weiterhin als Gruppe
aktiv bleiben und entschloss sich, einen Aus­
flug nach Marokko zu unternehmen. Wir reisten
in zwei alten gelben Opel-Blitz-Postbussen
und einem VW-Bus, spielten in großen Städten
auf dem Weg nach Afrika immer wieder auf
Straßen und Plätzen, um die Reisekasse aufzu­
füllen, trennten uns aber für immer voneinan­
der, als wir in Casablanca nach einer langen,
anstrengenden und höchst abenteuerlich ver­
laufenen Reise angekommen waren. Meine da­
malige Freundin und ich kehrten stante pede um
und fuhren nach einem Ausflug auf die Insel
Korsika, wo wir den Sommer verbrachten, und
nach kurzen Zwischenaufenthalten in Paris und
London nach Berlin zurück, wo ich Ende 1969
mit Conni Schnitzler und Dieter Moebius die
Gruppe Kluster gründete, die sich nach dem
Ausstieg Schnitzlers im Jahr 1971 in Cluster
umbenannte, um unter diesem Namen weiter­
hin bis 2010 den Globus zu bespielen.
Die Fahne des von Schnitzler ins Leben gerufe­
nen Spielprinzips der freien Improvisation wird
mittlerweile von mir und Onnen Bock unter
dem Namen Qluster weiter hochgehalten:
Kluster, Cluster und Qluster oder die Treue
zum Prinzip, dem ich aber persönlich auch mit
anderen Mitspielern – wie etwa mit Christopher
Chaplin am 6. Juni 2015 im Martin-Gropius-­
Bau – die Treue halte, oder mit Stefan Schneider
oder Morgan Fisher oder Werner Moebius oder
Leon Muraglia, alles Kollegen und Freunde im
Geiste, mit denen zusammen ich gelegentlich
auftrete.
Am 6. Juni 2015 tritt Hans-­
Joachim Roedelius zusammen mit
dem Musiker Christopher Chaplin
und dem VJ Florian Tanzer im Rahmen
des Musik und Film Abends in der
Akademie der Künste auf.
9
Utopien
des
Alltags
Dirk Pörschmann: Ich möchte direkt mit
dem Aspekt Raum beginnen, denn diesen hast
du zusammen mit deinen Kollegen und den
Studierenden am Institut für Raumexperimente
intensiv erforscht. Bei ZERO expandierte die
Malerei – von Reliefs über Rauminstallationen
bis hin zur Kunst im Himmel, der Sky Art von
Otto Piene, oder den utopischen Projekten in
den Sand- und Eiswüsten von Heinz Mack.
Warum gehen Künstler mit ihren Werken aus
dem Atelier heraus in die Welt? Es gibt ja bis
heute auch den klassischen „Atelierkünstler“.
DP: Oder in der kommerzialisierten Welt.
OE: Ja! Oder betrachten wir die Welt der Politik,
wo Ideen ebenfalls fast nur mit Worten vermittelt
werden. Vielleicht sollten die Politiker mehr tan­
zen, damit man sie besser verstehen kann.
DP: Eine schöne Idee!
OE: Aber vielleicht tanzen sie ja auch jetzt
schon, und wir sehen es nur nicht (alle lachen).
DP: Experimente, die sich mit Wirklichkeiten
auseinandersetzen, sind ganz zentral in deinem
Schaffen. Im Experiment steckt ganz essenziell
– sonst wäre es kein Experiment – die Möglich­
keit des Scheiterns. Worin liegt die Chance im
Scheitern?
OE: Man sollte dem Prozess des Experimen­
tierens mehr zutrauen als den Ergebnissen, die
dabei herauskommen. Oft steht ja das Ziel
als Kriterium des Erfolgs im Vordergrund – und
Foto: Studio Ólafur Elíasson © 2012 Little Sun
Ólafur Elíasson: Ich würde das nicht so klar
trennen und sagen, dass sich auch Atelier­
künstler in einem generativen Teil der Welt be­
wegen. Ich glaube, Kunst ist als Sprache im­
mer weltproduzierend und weltverändernd.
Das grundsätzliche Potenzial liegt im künstleri­
schen Vertrauen in die Tatsache, dass die Welt
veränderbar ist. Sie ist relativ und steht zur Ver­
handlung. Hier gibt es mehrere Fragen. Eine
lautet: Nimmt man die Welt überhaupt als rela­
kulturellen Sektor hinaus – dann funktioniert,
wenn diese Idee eine Verkörperung findet. In
der Kunst würde man sagen: Es geht nicht nur
um die theoretische Konstruktion einer Idee,
sondern auch darum, wie sich diese Idee emo­
tional und physisch anfühlt. Die Überzeugungs­
kraft der Kunst ist oft so stark, weil es hier um
eine körperliche Auseinandersetzung geht.
Und das Vertrauen in den kulturellen Sektor ist
auch deshalb so hoch, weil wir hier ganz
anders angesprochen werden als in der verba­
lisierten Welt.
einen starken Beitrag dazu, den öffentlichen
Raum neu zu durchdenken. Wir wollen ja, dass
der öffentliche Raum in Deutschland die ge­
sellschaftlichen Werte nicht nur repräsentiert,
sondern auch tatsächlich bei der Umsetzung
dieser Werte hilft. Und wir wissen ja, dass der
öffentliche Raum unter großen Problemen leidet:
Er wird sehr stark privatisiert und kontrolliert.
Deshalb traut man dem öffentlichen Raum
nicht mehr zu, inklusive, nicht polarisierende
Werte umzusetzen. Wer soll da den Weg weisen?
Wie bekommen wir in die Debatte über den
öffentlichen Raum wieder mehr Vertrauen hin­
ein? Ich meine, da kann Kunst sehr gut Wege
weisen. Zum Beispiel das Festival of Future
Nows, ein Projekt in der Neuen Nationalgalerie,
das wir mit dem Institut für Raumexperimente
im letzten Jahr realisiert haben und das im
Rahmen der Ausstellung Sticks and Stones von
David Chipperfield stattfand. Über hundert
Künstler haben dort gezeigt, was aus einem
fünfjährigen Experiment der Kunstausbildung
entstehen kann – für mich der beste Beleg,
dass Kunst eine Wirklichkeitsmaschine sein
kann, in der Stadt, im öffentlichen Raum.
DP: Eine gute Überleitung zu meiner nächsten
Frage: Ist Kunst in diesem Verständnis erlern­
bar beziehungsweise lehrbar?
OE: Auf jeden Fall! Dadurch, dass der Lernpro­
zess ja nicht bedeutet, in einen Fremdkörper
hineinzusteigen. Lernprozesse sind eine Form
von Selbstuntersuchung und dadurch die Aus­
einandersetzung und Übung mit der Sprache,
die aus einem selbst kommt. Sonst würde es ja
Ólafur Elíasson wird an dem
am 1./2. Mai 2015 in der Akademie der
Künste stattfindenden Symposium
Vorträge und Gespräche teilnehmen.
OE: Ja, das würde ich absolut so sehen. Und
das gilt ja nicht nur für die Künstler, sondern
auch für ihre Werke: In ihnen begegnet man
sich als Zuschauer oder als Nutzer eines
Werks. Ich gehe in ein Werk hinein, und diese
Auseinandersetzung und der Vertrauensauf­
bau, der dabei passiert, braucht Zeit und eine
gewisse Übung, damit man etwas Wichtiges
für sich erfahren kann. Von Erfolg kann man
dann sprechen, wenn sich jemand im Werk
selbst sieht oder sich über das Werk „beim Se­
hen sieht“ und so die Möglichkeit hat, sich
selbst zu kontextualisieren. Erst wenn wir uns
wenigstens in Teilen von außen betrachten, se­
hen wir auch, in welchem Kontext, in welchem
Zusammenhang wir stehen. Genau das lassen
utopische Reflexionen oft zu: dass wir uns in
einem Gesamtrahmen wahrnehmen können.
Das halte ich für sehr interessant, denn da­
durch ist nicht nur eine individuelle Selbsteva­
luierung oder Selbstpositionierung möglich,
sondern auch, sich innerhalb eines sozialen
Systems zu repositionieren. Ich denke gerade
darüber nach, ob meine Überlegungen in den
Kontexten, in denen ich mich bewege, auch die
richtigen sind.
DP: Danke Ólafur! Du hast gerade schon meine
letzte Frage beantwortet. Die wäre gewesen:
Was bedeutet Erfolg für dich? Ich möchte an
dieser Stelle zu Annette und konkreten Projek­
ten von dir überleiten.
Annette Bosetti: Es geht mal wieder um die
Sonne. Ist Little Sun (2012) eigentlich noch ein
relevantes Projekt für dich? Oder ist das schon
abgehakt?
OE: Nein, Little Sun wird jeden Tag größer. Wir
hatten gerade – nach unserem Austausch über
Kommerzialisierung traue ich mich das kaum
zu sagen – einen unglaublich erfolgreichen
Monat Dezember, weil Little Sun wohl ein sehr
beliebtes Weihnachtsgeschenk war. Das hat
uns einen finanziell robusten Monat geschenkt.
2013 war das noch nicht so, aber 2014 war ein
wahnsinnig erfolgreiches Jahr. Ich beschäftige
mich jeden Tag ein bisschen mit Little Sun. Das
Projekt wächst stetig.
AB: Du hattest ja deine große Sonne in der
Tate Modern in London gezeigt (The weather
project, 2003), die alles überstrahlt hat. An­
schließend hast du diese kleine Sonne mit dem
Ingenieur Frederik Ottesen zusammen entwi­
ckelt. Was bedeutet eigentlich die Sonne für
dich als Künstler?
Ólafur Elíasson:
Little Sun Sunlight Graffiti, 2012
tiv wahr? Für viele Menschen scheint die Welt
dies ja genau nicht zu sein. Das ist auch ver­
ständlich, denn diese Leute sind vielleicht in
einer Situation, in der sie sich von der Welt aus­
geschlossen, marginalisiert und sozial unter­
drückt fühlen. Dann erscheint die Welt natürlich
weniger relativ. Es ist interessant, dass die Kunst
die Welt seit Langem als eine Konstruktion
sieht, als ein Modell. Das war auch bei ZERO
der Fall. Nicht nur die Welt, sondern auch unse­
re Wahrnehmung oder unsere Wahrnehmungs­
kapazitäten sind kulturell bedingt. Letztlich ent­
steht die Idee, dass die Welt veränderlich ist,
natürlich nicht unbedingt aus ihr selbst, sondern
mehr aus einem Anschauungsmodell, wie man
mit der Welt umgehen kann. Das Vertrauen in
die Kunst muss man im Zusammenhang mit
dieser Idee, dass die Welt eine Konstruktion ist,
betrachten.
DP: Hat Kunst auch ihre Grenzen in der Welt?
OE: Sicher hat Kunst in gewisser Weise ihre
Grenzen. Eine Grenze ist sicher, dass die
Kunstwelt oft sehr naiv und selbstverherrli­
chend unterwegs ist und in gewisser Weise
auch elitär ist. Die Grenze liegt aber nicht unbe­
dingt in einem fehlenden Potenzial der Kunst,
sondern in der Selbstauffassung der Kunst­
welt. Der Impact der Kunst und die dynami­
schen Qualitäten der Welt sind meiner Meinung
nach nicht wirklich voneinander zu trennen.
Kunst ist eine Sprache, mit der man etwas sa­
gen kann, das man mit keiner anderen Sprache
ausdrücken könnte. Natürlich ist die Welt kein
passiver, objektiver, neutraler Raum, in dem
nichts gesagt wird. Es wird ja ohnehin unglaub­
lich viel gesagt und verändert. Doch gerade
hier kann die Kunst Ideen beitragen, die sonst
in der Diskussion nicht zu finden sind. Kunst
allein kann wahrscheinlich nur begrenzt einen
Beitrag zu großen Veränderungen leisten, aber
wenn Kunst Wirklichkeit gestaltet, dann grund­
sätzlich auf eine andere Art und Weise, als es
sonst geschieht.
DP: Haben Künstler ein besonderes Gespür
für gesellschaftliche Probleme?
OE: Ich glaube, Künstler können Phänomene
anders betrachten, weil sie sich in ihrer Arbeit
permanent mit Wahrnehmungsmodellen be­
schäftigen. Allgemein hat das ja leider keine
besondere Priorität in unserer Gesellschaft.
Natürlich denke ich hier nicht nur an bildende
Künstler. Man muss den gesamten kulturellen
Sektor auf diese Weise betrachten, also Thea­
ter, Musik, Literatur, Tanz und so weiter. Das
hat damit zu tun, dass die Kommunikation einer
politischen oder sozialen Idee – auch über den
10
zwar in allen Bereichen unserer Gesellschaft, in
der Produktion genauso wie in der Bildung und
so weiter. Dabei ist gerade die Auseinanderset­
zung mit dem Momentum des Experimentierens
extrem wichtig und kann selbst ein Erfolgs­
kriterium sein. Heutzutage gibt es verschiede­
ne Arten von fehlendem Vertrauen in den Pro­
zess. Eine liegt in der starken Kommodifizierung
der kulturellen Szene. Etwa in der ökonomi­
schen Quantifizierbarkeit des Erfolgs eines
Kunstwerks. Dadurch haben sich die Bedin­
gungen für die Entwicklung von prozessualen,
zeitbasierten Projekten leider sehr verschlech­
tert. Nicht nur in den Zeiten von ZERO wurden
zeitgenössische Künstler von der Gesellschaft
marginalisiert. Es ist auch heute schwer, sich als
junger Kulturproduzent zu etablieren – wobei die
Situation in Europa noch gut ist, denn in sehr
vielen Ländern der Welt kommen Künstler gar
nicht zu Wort. Die fehlende Inklusion in die Ge­
sellschaft führt oft dazu, dass Künstler denken,
ihre Arbeit hätte keinen Wert und damit keine
Relevanz für die Gesellschaft.
DP: Kann denn Kunst zwischen unterschiedli­
chen Weltansichten vermitteln? Das ist natürlich
gerade in unserer aktuellen politischen Situation
eine sehr große Frage. Sie steht sowohl in Zu­
sammenhang mit dem, was du gerade gesagt
hast, als auch mit der Frage der Selbstwahr­
nehmung von Künstlern. Kann Kunst helfen,
etwas über unsere Welt zu erfahren? Kann
Kunst wirklich zwischen unterschiedlichen
Sichtweisen auf die Welt vermitteln?
OE: Ich würde behaupten, was Kunst unter­
stützt oder leistet oder produziert, ist ein Raum,
der in gewisser Weise ein idealer Raum ist. Ide­
al im Sinne von: Ich besuche den Raum und ich
nehme ihn wahr. Für mich war der Raum blau.
Dann kommt mein Freund oder meine Freundin
in den Raum und meint: Nein, der ist nicht blau,
der Raum ist rot. Das heißt aber nicht sofort,
dass ich mit meinem Freund einen Konflikt
habe. Ich respektiere die Wahrnehmung des
anderen als Beitrag und vielleicht sogar als
Verstärkung oder Erfolg meiner Wahrnehmung.
Das klingt vielleicht etwas didaktisch, aber ei­
gentlich geht es um Folgendes: Als parlamen­
tarisches oder demokratisches Modell eignet
sich Kunst ganz hervorragend, denn Kunst ist
extrem inklusiv. Sie bezieht ihren Erfolg nicht
aus der Exklusion des anderen. Deswegen ist
der kulturelle Sektor so interessant: Er hat ein
hohes Inklusionspotenzial und bezieht seine
Argumente nicht aus Polarisierungen. Das ist
natürlich eine Generalisierung, aber ich würde
sagen, das soziale Konstrukt Kunst bietet die
Möglichkeit, individuell und pluralistisch zu­
gleich zu sein. Deswegen leistet die Kunst auch
eher um Handwerk gehen, was absolut nicht
abwertend gemeint ist. Grundsätzlich formu­
liert meine ich, dass Kunstlehrer ihren Schülern
vermitteln sollten, mit welchen Mitteln sie sich
in ihren Arbeiten der Gesellschaft zuwenden
können. Das kann meiner Meinung nach jeder.
Es geht nur darum, dass man die richtigen
Mittel oder die richtige Sprache dafür finden
lernt.
DP: Das ist interessant, denn somit ist Kunst
eine sehr individuelle Sprache, die trotzdem
kollektiv verstanden werden kann.
OE: Ja! Natürlich ist das nicht immer so, und
sicher gibt es Leute, die klarer sprechen als
andere. Deswegen ist es auch sehr komplex.
Aber grundsätzlich bin ich der Meinung, dass
Kreativität nicht auf eine kleine Gruppe be­
schränkt ist. Das können alle. Andererseits ist
es verständlich, dass nicht alle daran interes­
siert sind.
DP: Welchen Stellenwert haben für dich Utopi­
en in der Kunst?
OE: Ich glaube, man kann überall Utopie finden.
Aber in den Zeiten, in denen wir leben, sind ein­
fach sehr wenige Räume übrig, in denen wir
träumen können und unsere Gedanken nicht
sofort rechtfertigen müssen. Für mich ist Utopie
auch die Möglichkeit, etwas zu denken, was
nicht sofort erfolgsverheißend ist. An die klas­
sische Utopie mit dem Glück am Ende des
Tunnels glaube ich nicht. Aber ich glaube, die
Utopien des Alltags haben auch einfach damit
zu tun, dass wir uns zutrauen, Sachen zu ma­
chen, die nicht in den allgegenwärtigen, extrem
engen Normalitätsbegriff passen. Man traut
sich für einen Moment, überhaupt nicht normal
zu sein. Dafür braucht man kleine Plattformen,
wie zum Beispiel das spielerische Potenzial
des utopischen Denkens.
DP: Das ist spannend, vor allem der Aspekt
des Tagtraums. Ernst Bloch hat es in seinem
Buch Das Prinzip Hoffnung (verfasst 1938 – 1947)
ähnlich analysiert: Es gibt die nächtlichen
Träume, die sich auf das Erlebte und
damit die Vergangenheit beziehen, und es gibt
die Tagträume, die durch das „Noch-Nicht-­
Bewusste“ gespeist werden. Im „Traum nach
vorwärts“ entsteht etwas Neues. Wie du sagst,
werden in unserer so stark ökonomisierten und
reglementierten Welt die hierfür notwendigen
freien Räume immer enger. Künstler haben
wirklich die Chance und damit vielleicht auch
die Aufgabe, diese Räume zu schaffen und zu
nutzen.
OE: Ich glaube, die Sonne leistet etwas, dass
ich bereits im Zusammenhang mit der Utopie er­
wähnt habe. Sie hat historisch in jeder Glau­
bensrichtung, in jeder Religion, in jedem gesell­
schaftlichen System eine zentrale Rolle gespielt.
Und natürlich ist die Sonne auch für so grund­
legende Prozesse wie Landwirtschaft, Essen
und Verdauen von zentraler Bedeutung. Die
Sonne ist unglaublich demokratisch im Sinne
von: Alle haben etwas über die Sonne zu sa­
gen, niemand sagt genau das Gleiche, und je­
der meint, das, was er zu sagen hat, sei rele­
vant. Die Sonne ist in sozialer Hinsicht einfach
ein unglaublich starkes Konstrukt, sie berührt
aber auch spirituelle, wissenschaftliche oder
energietechnische Fragen. Als Thema ist sie
unendlich vielfältig.
AB: Little Sun ist berühmt geworden. Ich sah
sie jetzt mit Ai Weiwei. Sie hat eine eigene
Internetseite. Sie ist auf Facebook und wurde
über 12 000 mal geliked. War es wichtig, dass
sie so prominent wird? War das Teil deiner
Intention?
OE: Ich versuche natürlich, mein Netzwerk, das
ich im Laufe von 20 Jahren über meine Kunst
aufgebaut habe, beim Little-Sun-Projekt zu
nutzen. Es ist interessant, weil mir dabei aufge­
fallen ist, dass das Netzwerk eines Künstlers
nicht nur Prominente kennt, sondern extrem
vielfältig ist. Ich kenne natürlich viele Leute aus
dem öffentlichen Sektor, aus der Politik, Bürger­
meister und Politiker und so weiter, überall auf
der Welt. Ich kenne aber auch aus dem Privat­
sektor viele Menschen, weil Kunst sehr stark
vom privaten Sektor unterstützt wird. Und ich
kenne überall Leute, die in Museen und im kul­
turellen Sektor arbeiten. Ein kulturelles Netz­
werk ist extrem gemischt, etwa im Vergleich
zu einem Netzwerk aus dem Finanzsektor.
AB: Es gab ein Gespräch in der FAZ mit dir, da
wurde dir vorgeworfen, dass das Projekt ja ei­
gentlich kommerziell sei. Ihr würdet zwar mit
dem Verkauf hier in Europa dafür sorgen, dass
es in Afrika preiswerter wird, aber es ginge
doch im Grunde um deine Verdienstspanne. Ist
Little Sun für dich mehr ein spirituelles oder eher
ein kommerziell geprägtes Projekt?
OE: Die Methode, mit der Little Sun einen
messbaren Erfolg haben soll, muss sich meiner
Meinung nach auf ein ökonomisches Modell
beziehen. Das heißt, den Gewinn, den wir in
Europa und den USA mit dem Verkauf der
Lampe erzielen, investieren wir in den Vertriebs­
aufbau in den Gegenden Afrikas, in denen es
keine flächendeckende Stromversorgung gibt.
Das ist der richtige Weg. Würde man Little Sun
als Hilfsprogramm verschenken, dann würde
man die Polarisierung der Welt nur noch ver­
stärken. Little Sun ist deshalb im Grunde auch
Courtesy: neugerriemschneider, Berlin, und Tanya Bonakdar Gallery, New York; Foto: Andrew Dunkley und Markus Leith © Ólafur Elíasson
Ólafur Elíasson im Gespräch mit Annette Bosetti und Dirk Pörschmann
ein spirituelles Projekt, denn die Methode, mit
der wir Little Sun vorantreiben, ist kein Hilfs­
programm. Es geht um Social Entrepreneuring,
das heißt, ich selber verdiene nichts daran, der
Gewinn fließt zurück in das Projekt.
AB: Du hast über die Kraft der Sonne im Allge­
meinen gesprochen. Du hast diese kleine Lam­
pe wie eine Blume gebaut. Wie kam es zu dieser
Idee? Weißt du das noch? Wie ist die Form in
deiner Werkstatt entstanden?
OE: Im Prinzip ist Little Sun nicht in meinem
Studio entstanden. Ich war mit meinem Freund
Frederik Ottesen, mit dem ich die Lampe ent­
wickelt habe, in Äthiopien, wo wir die Lampe
mit Solarpaneelen in elektronischer Rohform
getestet haben. Wir hatten verschiedene Käs­
ten, in denen die Elektronik lag, mit der Solar­
zelle oben drauf. Ein Kasten sah aus wie ein
Eishockey-Puck, ein anderer war rund und
einer ganz bunt. Man konnte sie sich um den
Hals hängen, weil wir sie tagsüber längere Zeit
herumtragen mussten. Dann haben wir mit
Leuten gesprochen, und niemand hat nach
dem schwarzen Eishockey-Puck gefragt. Ein
paar Leute haben nach der Schachtel gefragt.
Aber nach dem, was ganz bunt war und ein
bisschen aussah wie ein kleines Kunstwerk,
danach haben alle gefragt. Das war sehr inte­
ressant. Wir haben verstanden, dass der emo­
tionale Zugang zur Energie einfach viel über­
zeugender ist als der rationale. Würden wir eine
praktische Lampe machen, wäre es sicher
auch toll, aber für uns war entscheidend, dass
das Medium ein emotionales ist: eine Sonne,
eine Blume, eine kleine Lotusblüte oder so et­
was. Für mich war einfach wichtig, etwas zu
machen, bei dem ein Erwachsener oder ein
Kind denkt: Wow, das ist ja unglaublich toll, ich
habe ein kleines Kraftwerk in meiner Hand.
Ich bin über die emotionale Ebene sozusagen
zum Kraftwerk geworden. In dieser Hinsicht
hat Design und Kunst ein gewisses Potenzial.
AB: Du beschreibst Little Sun so liebevoll. Ich
habe das ganze Haus voller Little Suns, ich
horte sie, ich sammle und verschenke sie. Aber
meine Frage: Du hast doch auch Kinder. Habt
ihr auch „kleine Sonnen“ zu Hause und benutzt
sie?
OE: Selbstverständlich. Wir haben ganz viele
davon, ja. Vielleicht ein bisschen zu viele, denn
wir entwickeln ja auch neue Modelle. Wir sind
fast fertig mit einem Solarmodul-Aufladegerät
für Mobiltelefone. Das liegt momentan überall
bei mir zu Hause auf den Fensterbänken. Gera­
de ist das ein bisschen langweilig, denn im
Winter scheint die Sonne in Dänemark nicht so
viel.
AB: Aber in Afrika funktioniert das ja zum
Glück besser. Man kann dir als Künstler viele
Attribute geben. Zum Beispiel bist du auch
ein Lichtkünstler – nicht nur wegen Little Sun –,
oder?
OE: Mich beschäftigt nicht so sehr, in welche
Schublade ich gehöre. Aber Licht ist ein tolles
Medium und ich bin sehr dankbar, dass ich so
viel damit arbeiten durfte und konnte. Letzt­
endlich glaube ich, Licht ist eine Sprache, und
das, was man mit dieser Sprache sagt, ist das,
worum es geht. Licht hat ein ganz besonderes
Potenzial. Trotzdem würde ich mich selber
nicht als Lichtkünstler bezeichnen, denn dann
würden Leute, die sich nicht für Lichtkunst in­
teressieren, meine Ausstellungen vielleicht
nicht besuchen wollen.
AB: Ist Little Sun das einzige Projekt, mit dem
du dich sozialpolitisch engagierst? Oder planst
du mit diesem Solarmodul, von dem du gerade
gesprochen hast, ähnliche Projekte?
OE: Wir haben schon ähnliche Projekte reali­
siert, zum Beispiel das Institut für Raumex­
perimente in Berlin. Für mich war diese Kunst­
schule auch ein sozialpolitisches Experiment.
Außerdem bin ich ja als Mensch in verschiede­
nen Zusammenhängen unterwegs, in denen
ich versuche – mal mehr und mal weniger er­
folgreich –, Themen aufzugreifen und auf sie zu
reagieren. So bin ich zum Beispiel seit zehn
Jahren in Äthiopien stark mit verschiedenen
Projekten engagiert. Ich habe dort eine Profes­
sur an der Alle School of Fine Arts and Design
in Addis Abeba.
AB: Hat das mit deinem Erfolg zu tun, oder
hättest du die verschiedenen Projekte auch
realisiert, wenn du nicht so berühmt wärst?
OE: Ich glaube, der Erfolg hat es mir eher er­
möglicht. Aber mir ist aufgefallen: Das hätte ich
auch schon früher machen können. Es hat in­
sofern mit Erfolg zu tun, dass mich meine Aus­
stellungen in Länder gebracht haben, die ich
sonst nicht besucht hätte. Die physische Aus­
einandersetzung, das tatsächliche Da-Sein und
die Beschäftigung mit den Menschen vor Ort
lassen das Leben dort viel realer werden, als
wenn man einfach darüber in der Zeitung liest.
Insofern hat mich der Erfolg in die Welt ge­
bracht, und darüber habe ich mir unterschiedli­
che Themen auch erarbeitet.
AB: Vielen Dank für das Gespräch Ólafur!
Ólafur Elíasson: The weather project, Tate Modern, London, 2003
11
Fünf Jahre Institut für Raumexperimente
„Wir haben gerade erst begonnen“
Fotos © Institut für Raumexperimente und Ólafur Elíasson
Christina Werner
Ólafur Elíasson ist bekannt für seine vielfältigen
und oftmals experimentellen Installationen. Mit
spiegelnden Materialien, farbigem Glas, künst­
lich erzeugten Naturphänomenen wie Wind,
Wasser, Licht oder Nebel zieht er sein Publi­
kum in den Bann und macht es gleichzeitig
zum Akteur in seinen an subtile Versuchs­
anordnungen erinnernden Kunstwerken. Seit
Mitte der 1990er-­Jahre ist Berlin neben Kopen­
hagen eine zweite Heimat für den 1967 gebore­
n­en dänisch-isländischen Künstler. Etwa 75
Architekten, Wissenschaftler, Kunsthistoriker,
Köche, Filmemacher, Grafikdesigner und
Künstler arbeiten im Studio Ólafur Elíasson im
Berliner Prenzlauer Berg an der Recherche,
Vorbereitung, Konzeption und Realisierung
neuer Projekte. Hier, im obersten Stockwerk der
ehemaligen Pfefferberg-Brauerei, konnte er im
Rahmen seiner Professur an der Universität der
Künste auch das Institut für Raumexperimente
realisieren, ein Modellprojekt der künstlerisch­en
Forschung und Lehre, das er zusammen mit
Eric Ellingsen und mir als Kodirektoren von
2009 bis 2014 leitete.
Im Mittelpunkt der Arbeit mit Studierenden und
Stipendiaten stand das Experiment als Metho­
de: Das Experimentieren stellt Gewissheiten –
Normen, Werte, Strukturen – zur Disposition.
Dadurch wird Realität verhandelbar. „Ich woll­
te“, so Elíasson, „eine Schule der Fragen und
nicht der Antworten gründen, eine Schule der
Unsicherheit und des Zweifelns. Indem wir Un­
sicherheit Raum geben, stärken wir unsere Fä­
higkeit, unsere Umgebung neu zu verhandeln.“
Als Ort des produktiven Zweifelns war das Insti­
tut für Raumexperimente im ständigen Dialog
mit anderen Wissenschaftsdisziplinen und
Wissens­traditionen: Studierende, Stipendiaten
und rund 400 Gäste – von Experten für gewalt­
freie Kommunikation, veganen Köchen, Kom­po­
nisten, Anwälten, Philosophen, Sozialwissen­
­
­
schaf­t­lern, Astrophysikern, Architekten, Dichtern,
Parcours- und Slackline-Spezialisten, Choreo­
graphen, Künstlern bis hin zu einem Reh-Imitator,
einem Kung-Fu Meister und einem Politiker –
nahmen in den vergangenen fünf Jahren an
Experimenten und Workshops teil. „Zusammen
haben wir Schritte vom Denken zum Handeln
unternommen und die Welt, in der wir leben,
mitgestaltet. Diese Erfahrung hat meine Über­
zeugung bestärkt, dass es bei Kunst in erster
Linie um die Produktion von Wirklichkeit geht.
Kunst existiert nicht bloß in der Wirklichkeit, sie
schafft Wirklichkeit.“ Ziel war es, Kunst auf ihre
Vermittlungsverantwortung und ihre heutige
gesell­
schaftliche Funktion hin zu befragen.
„Alle Teilnehmenden, die schließlich zum ‚Insti­
tut für Raumexperimente‘ wurden, hatten ein
Interesse daran, welche Konsequenzen ihre
künstlerischen Entscheidungen haben und wie
Krea­tivität die Welt mitgestaltet. Wir haben mit
unterschiedlichen Kunstsystemen gearbeitet;
damit, wie sich künstlerische Ideen kommu­
nizieren lassen; damit, in welchen Kontexten
Kunst­produktion stattfindet. Denn weil diese
Kon­texte so eng mit den Kunstwerken verbun­
den sind, werden sie Teil von ihnen“, erklärt
Ólafur Elíasson.
•
Die Projekte des Instituts werden vorgestellt
unter www.raumexperimente.net sowie
im sechsten Band der Reihe Take Your Time
(TYT [Take Your Time], Vol. 6: Institut für
Raumexperimente, 2009–2014. How to Make
the Best Art School in the World, Hrsg.:
Studio Olafur Eliasson, 2014, 302 Seiten,
Broschur, 29,80 €).
Ólafur Elíasson bei der Abschlussveranstaltung
des Instituts für Raumexperimente, 2014
Eröffnung des Festival of Future Nows,
Neue Nationalgalerie, Berlin, im Kontext
der Ausstellung Sticks and Stones von
David Chipperfield
Workshop des Instituts für Raumexperimente
mit dem kanadischen Autor und
Architekturtheoretiker Sanford Kwinter
Für dynamo haben sich vier ehemalige
Studierende des Instituts für Raum­­
experimente mit den Ideen der ZERO-­
Bewegung beschäftigt. Die daraus ent­
standenen Arbeiten von Fabian Knecht,
Sophie Pompéry, Nina Schuiki und Euan
Williams finden Sie an verschiedenen
Stellen der vorliegenden Zeitung.
Seite 1
Seite 6–15
Seite 12
Seite 17–22
Fabian Knecht
Nina Schuiki
Euan Williams
Sophia Pompéry
Endung (Aktion), 2014
Kurator: Ursula Ströbele
Stunt: Fred Hardy, Volkhardt Buff
Kamera: Andreas Greiner, Jonas
Wendelin
Borrowed Time (After this deluge
I wish to see), 2015
Rekonstruktion eines Kaffeefleckes
aus einer Ausgabe von ZERO, Nr. 1,
1958; Zeitpunkt und Akteur der
originalen Intervention unbekannt
5 texts from over 5 years.
Re-transcribed in one place –
in one day, 2015
Zwei Meter II (Fotografie), 2015
Fabian Knecht, geboren 1980 in Magdeburg,
studierte an der Universität der Künste Berlin,
am California Institute of the Arts, Los Angeles,
und an der Alle School of Fine Arts and Design,
Addis Abeba (Äthiopien). Von 2009 bis 2013
gehörte er zu den Teilnehmern am Institut für
Raum­experimente. 2012 war er Mitarbeiter im
Studio von Matthew Barney. Er lebt und arbeitet
in Berlin.
Der Aktionskünstler verfolgt in seiner Kunst
einen „kompromisslosen Weg, der Irritationen
hervorruft, im monotonen Fluss des Alltags
einen Ausnahmezustand markiert und an ge­
sellschaftlichen Denkweisen kratzt“ (Ursula
Ströbele). Mit temporären Aktionen, realisiert an
spezifischen, teils historisch konnotierten Orten
im urbanen Raum oder in (landschaftlichen)
Grenzgebieten, bespielt Knecht die Grenze
zwischen Alltag und Ausnahmezustand. Seine
Intervention Freisetzung im Rahmen des Festival
of Future Nows (2014), eine weiße Rauch- und
Nebelskulptur, die am 1. November 2014 von
Weitem sichtbar für ungefähr eine Stunde über
dem Dach der Neuen Nationalgalerie in Berlin
schwebte, manipulierte eindrucksvoll das ver­
traute urbane Umfeld und zeigte gleichzeitig
die Ambivalenz von Schönheit und Schrecken
und die unbestrittene Macht der Bilder, die
kontextbedingt unterschiedlichen semantischen
Aufladungen unterliegen.
www.fabianknecht.de
Nina Schuiki, geboren 1983 in Graz, studierte
bildende Kunst in der Meisterklasse von Óla­
fur Elíasson an der UdK Berlin und zuvor bei
Gabriele Rothemann an der Universität für an­
gewandte Kunst Wien. Von 2012 bis 2014
nahm sie am Institut für Raumexperimente
teil. 2011 schloss sie ihr Studium der Archi­
tektur bei Kari Jormakka an der Technischen
Universität Wien ab.
Arbeiten von Nina Schuiki waren in zahlreichen
Gruppen- sowie Einzelausstellungen und Pro­
jekten zu sehen. Darunter: Flüchtiges (Bruch &
Dallas, Köln, 2014), Festival of Future Nows
(Neue Nationalgalerie, Berlin, 2014), Räumen,
within your eyes are windows to a land where
(SOX, Berlin, 2014), Walk-In-Progress (Vitamin
Creative Space, Guangzhou, 2014), Sounds of
Change (Modern Art Museum, Addis Abeba,
2014), Schlossgeist (Städtische Galerie Wolfs­
burg, 2014), Mit der Spur beginnen (Museum für
Fotografie, Berlin, 2013), left before (Rood­kapje,
Rotterdam, 2012), My Dear Cargo (Kunstverein
Bremerhaven, 2011).
„Was ist das Material der Kunst? Diese so
grund­­legende Frage verhandelt Nina Schuiki
mit ihren subtilen Installationen und ephemeren
Interven­tionen. Resultierend aus ihrer Fähigkeit,
sich ganz auf den jeweiligen räumlich-tempo­
ralen und historischen Kontext einlassen zu
können, entlockt sie den Orten und Situationen
etwas, was ihnen zwar eingeschrieben ist, sich
aber oftmals unserer Aufmerksamkeit entzieht.“
(Akiko Bernhöft)
Euan Williams, geboren 1987 in Großbritanni­
en, studierte Kunst und Design an der Norwich
School of Art and Design in England und setzte
sein Kunststudium mit anschließendem Master
in Deutschland an der Universität der Künste
Berlin bei Ólafur Elíasson fort. Von 2009 bis
2014 nahm er am Institut für Raumexperimente
teil. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen inter­
nationalen Ausstellungen präsentiert u. a. im
Museum of Contemporary Art Tokyo (Japan
Berlin 2000–2011: Playing amongst the Ruins,
2011–2012), Reykjavik Art Museum (Without
Destination, 2011), im Jan Meda, Addis Abeba
(Grosses Feld, 2012), in der Galerie Vitamin Crea­
tive Space, Guangzhou (Walk-In-Progress,
2014), und der Neuen Nationalgalerie, Berlin
(Festival of Future Nows, 2014). Euan Williams
lebt und arbeitet in Berlin. Als Redakteur und
Publizist war er an verschiedenen Buch- und
Zeitschriftenveröffentlichungen beteiligt. Im
Verlag der Buchhandlung Walther König er­
schien 2014 sein in Zusammenarbeit mit Diana
Sprenger entstandenes Kunstbuch A collection
of shadows in the folds of books taken over the
course of a year from around the world.
www.euanwilliams.com
Sophia Pompéry, geboren 1984 in Berlin, stu­
dierte von 2002 bis 2009 Bildhauerei an der
Kunsthochschule Berlin Weißensee bei Karin
Sander und Antje Majewski, bevor sie Teilneh­
merin des Instituts für Raumexperimente wur­
de. Nach Abschluss des Studiums war sie
2011/2012 Atelierstipendiatin des Freundes­
kreises der UdK. Als DAAD-Stipendiatin war
sie zudem in St. Petersburg (2005) und Istanbul
(2012). 2013 erhielt Sophia Pompéry den
Diffring-Preis zur Förderung der bildenden
Künste und das Projektstipendium der Stiftung
Kunstfonds. Sophia Pompéry lebt und arbeitet
in Berlin. Ihre Werke waren u. a. im ARTER
Istanbul (The Silent Shape of Things, 2012), im
Nassauischen Kunstverein Wiesbaden (ATÖLYE,
2013), im Stedelijk Museum (BYTS, 2013), in
der Akademie der Künste, Berlin (Schwindel
der Wirklichkeit, 2014) und in der Neuen Natio­
nalgalerie, Berlin (Festival of Future Nows, 2014)
zu sehen.
Sophia Pompérys Konzeptkunst bewegt sich
auf der Schnittstelle zwischen Alltagspoesie
und Physik. Sehen, was kaum zu erkennen ist,
zeigen, dass das Alltägliche unter unserer Be­
obachtung seine Banalität abstreift, um ein
Versatzstück unserer eigenen Geschichte zu
werden: Diese Motivation bestimmt Pompérys
Arbeitsweise. Anhand von physikalischen Phä­
nomenen lässt sie ein Spiel mit Naturgesetzen,
Sehgewohnheiten und Erwartungen entstehen.
So werden mit möglichst wenigen Mitteln mög­
lichst viele Assoziationsebenen eröffnet. Es
sind Bilder hinter dem Bekannten, die die Be­
trachter auf poetische Weise tiefer in ihre per­
sönliche Geschichte hineinziehen – konzentriert,
ganz still, ganz ohne zu kompromittieren.
www.sophiapompery.de
www.ninaschuiki.org
13
© Archiv Spoerri
Die mehlhaltigsten Körner und Getreidesorten,
welche nichts anderes als trockene Samen
sind: Wohl zuerst alle Hunderte von Reissorten,
von denen sich ganz Asien aber auch ein Gut­
teil der übrigen Welt ernährt, dann alle
Getreide­sorten, als da hauptsächlich sind Weizen, Gerste, Roggen, Hafer, Buchweizen, und
die daraus hergestellten Brote, Tortillas, Pasta,
Teigwaren oder auch Bulgur oder Couscous.
Dann die Hirsesorten, von denen sich ganz
Afrika ernährt, oder die Maissorten aus Südund Nord-Amerika, die sich über die ganze
Welt verbreitet haben, sodass Polenta oder
Mămăligă zu National-Gerichten in der Lom­
bardei oder Rumänien wurden.
Als nächstes wären die anderen trockenen
Hülsenfrüchte zu nennen, wie alle vielfarbigen
Bohnen, die schwarzen, weissen, roten, grünen,
gesprenkelten, schweinsdicken, oder kleinen
Sojas.
Die grünen, roten oder gelben Linsen, die alle
Armen und Reichen der Welt gekocht, püriert,
gebacken, mit viel oder wenig Fett und Fleisch,
scharf oder süss zubereiten.
Erst jetzt kommt die schon feuchtere Erdknolle,
die Kartoffel dran, auch sie erst seit exakt 500
Jahren in Europa denkbar, aber erst vor ca.
200 Jahren wurde uns der gute Geschmack
und die Gewohnheit eingeprügelt; mit Polizeige­
walt (von Friedrich dem grossen Preussen,
z. B.). Heute kann ein Franzose ohne seine täg­
lichen Steak-Frites mit Baguette nicht leben,
auch dies schon ein Armen-Essen, wenn auch
aufgrund des armseligen Geschmackes, was
immer die grosse Drei-Stern-Küche hervorbrin­
gen mag, die mit Hunger-Sättigung etwa so
wenig zu tun hat wie Formel-Eins-Rennen mit
der täglichen Fahrt zur Arbeit.
Fett wird, sofern nicht gebraucht, gespeichert,
weil es die kompakteste, kalorien- (von calore
= Wärme) reichste Reserve ist (etwa dreimal so
hoch).
Dass die Fette besonders reichhaltig in Nüssen
vorhanden sind (übrigens auch als erste, so­
zusagen eiserne Ration der ersten Sprossen
einer aufkeimenden Pflanze), sei es nun in Erd-,­
Cashew-, Palm- oder Kokosnüssen, ist allen
bekannt. Da Nüsse neben den Fetten auch re­
lativ hohe Kohlenhydratprozente aufweisen,
sind sie besonders geeignet, als Pasten oder
breiige Beilagen die eigentlich fettlosen Körner
zu begleiten, so sei nun als Beispiel die geras­
pelte Kokosnuss als Beilage untermischt zum
Reis erwähnt oder der Erdnussbrei, der fast alle
afrikanischen Gerichte begleitet.
In Europa aber denken wir meistens bei Fett
nicht an vegetabilische, sondern an animali­
sche Substanzen wie Butter oder Speck, wobei
Schmalz oder Nierenfett, mit dem früher nörd­
lich der Alpen fast ausschliesslich gekocht
wurde, aus der Mode gekommen sind, ge­
schweige denn Gänse- oder Hühnerschmalz
und Grieben, die in unserer Küche fast keine
Rolle mehr spielen.
Hier wäre auch zu bemerken, dass die Fette,
oder auch der am schnellsten vom Körper ver­
brennbare Alkohol, früher eine Heizfunktion
hatten, die heute durch unsere überhitzten
Räume fast gänzlich wegfällt, und deshalb in
Form von Kalorien wieder gespeichert werden.
Diese zwei Gruppen von Nahrungsmitteln sind
also die Energie-Erzeuger.
Eine dritte Gruppe, die man Eiweiss oder Proteine nennt, ist für den Baustoffwechsel, also
die Erneuerung der Zellen, verantwortlich und
ebenso wichtig für eine vollwertige Ernährung –
Die Küche der
Armen der Welt
Daniel Spoerri: Fotocollage mit Szenen aus der
Ausstellung Restaurant der Galerie J, Paris, 1963
Vom Einfachen das Gute
Sarah Wiener
Es gibt nur wenige Menschen, von denen ich
ein wirklicher Fan bin. Daniel Spoerri ist solch
ein Mensch. Ich schätze mich glücklich, dass
ich seit vielen Jahren seine gastronomische
Assistentin sein darf. Wir haben uns vor etwa
15 Jahren in Voralberg kennengelernt, wo
Daniel Spoerri das Palindromische Travestie-­
Menü präsentierte, das ich umsetzen durfte:
Daniel hat die Speisen und den Ablauf erfun­
den und ich habe die dazugehörigen Rezepte
entwickelt, die Gerichte gekocht sowie an­
gerichtet.
Das Palindromische Travestie-Menü ist ein ess­
bares Palindrom. Also so etwas wie ein Diner
verkehrt herum. In acht Gängen ging es ge­
schmacklich nach der normalen Menüfolge,
angefangen mit einem Horsd’œuvre bis zum
Dessert. Optisch jedoch scheint es in umge­
kehrter Reihenfolge zu verlaufen: Das heißt,
der erste Gang, ein Espresso mit einer Zigarre,
war in Wirklichkeit eine Pilz-Consommé in einer
Espressotasse serviert mit einer Zigarre aus
Brot. Der zweite Gang bestand aus kleinen mit
Velouté überzogenen und mit Senffrüchten
garnierten Fleischlaibchen, die aussahen wie
Petit Fours.
Die Arbeit war intensiv und sehr befriedigend.
Sie forderte meine Kreativität. Der Witz und die
Intelligenz von Daniel Spoerri inspirieren mich.
Ich bin immer wieder Feuer und Flamme für
seine Ideen. Mit Begeisterung habe ich mich
mit seiner Erfindung, der Eat Art, und seinem
Werk auseinandergesetzt. Mit der Zeit hat sich
die Zusammenarbeit zu einer langjährigen
Freund­
schaft entwickelt. Wir haben ganz
verschiedene spannende Projekte zusammen
verwirklicht, in denen es immer um die Kunst
des Essens ging, etwa das Happening mit dem
Titel Rien ne va plus – les oeufs sont faits oder
ein Diner zum Thema „Arm und Reich“.
14
Es ist großartig, dass wir in diesem Jahr wieder
gemeinsam einen Kunstabend mitgestalten
dürfen. Im Rahmen der Performance Nacht
zur ZERO-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau
kochen wir die von mir viel geliebte Küche der
Armen.
Was Die Küche der Armen auszeichnet, ist die
Kreativität, mit den einfachsten verfügbaren
Mitteln (meist Getreide oder Hülsenfrüchten)
ein schmackhaftes, sättigendes, sinnlich be­
friedigendes Mahl herzustellen. Das ist oft eine
größere Herausforderung, als mit den teuers­
ten Zutaten eine Galantine zu wickeln oder eine
besondere Creme aufzuschlagen.
Es sind doch meist genau diese einfachen,
regionalen Gerichte, die in uns die wildesten
und schönsten Erinnerungen im Geschmacks­
gedächtnis zurücklassen. Das, was unsere
Kindheit, unseren Geschmackssinn und unsere
Sehnsucht nach Heimat prägt, sind nicht die
verfeinerten kulinarischen Abenteuer eines fast
unbezahlbaren Luxus, sondern es ist die Grau­
pensuppe mit einem Schweinsohr von der
Großmutter oder der angeröstete Knödel mit
dem Häuptelsalat von der Mutter. Ich freue
mich, dass ich durch Daniel Spoerri die Mög­
lichkeit habe, unser beider Freude und Ideen
in der Performance Die Küche der Armen
umzusetzen.
Im Rahmen der Performance
Nacht am 11. April 2015 wird Sarah
Wiener im Martin-Gropius-Bau eine
Variation der Gerichte aus der Küche
der Armen zubereiten.
Sarah Wiener und Daniel Spoerri 2005 in der Hamburger LEVY Galerie
beim Palindromisches Travestie-Menü
„Alles dieses berechtigt mich, die Brodtsuppe als die Ursuppe
zu betrachten und jeder anderen voranzustellen.“
Friedrich von Rumohr
Wobei ich kein Rezept geben will, sondern nur z. B. auf eine französische Soupe à l‘Oignon
verweise, die ja auch eine Brotsuppe ist, allerdings in gute Fleischbrühe getunkt und mit Käse
überbacken.
2a. Eine Bündner Gerstensuppe,
deren Rezept man in jedem Schweizer Kochbuch findet, mehr oder weniger reich mit Würsten,
geräuchertem Schweine- oder Rindfleisch angereichert (c’est le cas de le dire) – oder auch ganz
billig mit einem ausgebeinten Schinkenknochen, den man für fast nichts beim Metzger abpassen
muss. In diese Suppe kann ausser jedem Gemüse auch der ausgetrocknete Rest von Bündner­
fleisch, mit dem man sonst nichts anzufangen weiss, mitgekocht werden.
2b. Russisch-Kaukasische Spass-Suppe
Aber auch eine Russisch-Kaukasische Spass-Suppe ist köstlich: 50 Gramm Perlgraupen
45 Minuten in Salzwasser weichkochen. Mit kaltem Wasser durchspülen und abtropfen. 1 Liter
Wasser oder echte Hühnerbouillon und 4 Becher Joghurt (1/2 Liter) mit einem Besen verrühren. In
einem Kochtopf 4 Eier mit einem Löffel Mehl verrühren – die Joghurtmischung darunterschlagen,
mit Bouillonwürfel würzen und bei ständigem Rühren fast bis zum Siedepunkt bringen. Einige Mi­
nuten unter dem Siedepunkt weiterrühren, bis die Mischung eindickt. Die Graupen dazugeben. Mit
frischer Butter (30 g), frischer kleingehackter Minze und rohen (neuen) Zwiebeln bestreuen. Sofort
heiss essen oder in Portionen im Eisschrank kalt stellen. Viel Spass!
3. Hirse mit Pilzen
Getrocknete Pilze: Champignons, Waldpilze oder natürlich Steinpilze (da, wo sie wachsen, sind sie
natürlich auch ein Armen-Essen) in Wasser und Milch einweichen. Die Pilze mit Butter oder Oel,
Petersilie, Knoblauch und Zwiebeln dünsten, die Hirse im eingeweichten Pilzwasser (doppelte
Menge wie Hirse) garkochen (Achtung auf den sandigen Satz am Boden des Wassers!). Hirse zu
den gedünsteten Pilzen geben. Hirse ist eine vollwertige Nahrung, da sie bei 70% Kohlenhydraten
auch 10% Eiweiss und 3,5% Fett beinhaltet und außerdem manche Vitamine und Mineralien.
4. Torta di Polenta
Daniel Spoerri
Aber zurück zu den Kartoffelarten bis hin zu den
Süsskartoffeln (Yamfrüchte), die andernorts das
Brot ersetzen und die in Neuguinea mit ihren
bis zwei Meter langen und körperdicken Exem­
plaren als Reinkarnation der Ahnen gelten, ihre
eigenen Familienmasken tragen und die man
deshalb nicht essen darf, sondern tauschen
muss. Um bei den feuchten, fast fettlosen
Knollen zu bleiben, sollten wir hier den Maniok
(eigentlich Manihot), Wurzel des Cassave-­
Strauches, erwähnen, der für Millionen von
Südamerika über Afrika bis Ozeanien das tägli­
che Brot ersetzt; der bei uns keine Rolle spielt,
abgesehen von den etwas altmodischen
Tapioka-­Kügelchen in der Suppe, die ich aber
nur noch als eine Jugenderinnerung kenne.
Wenn man die heute nur noch als Winterspiel­
zeug, zum Händewärmen benutzte Kastanie
oder Marone dazuzählt, und noch die bei uns
quasi unbekannte Canna-Knolle nicht vergisst,
die wir nur als Stärkemehl unter dem Namen
Arrowroot kennen, wären die hauptsächlich­
sten Stärke- und mehligen Körner, Früchte,
Knollen oder Wurzeln aufgezählt, ohne die der
Körper nicht funktioniert. Alle diese Kohlenhy­
drate verarbeitet der Körper zu Dextrinen und
Glucosen, also Traubenzucker, und verbrennt
sie, je nach dem, wie aktiv wir sind. Diese Sub­
stanzen sind sozusagen die Treibstoffe, ohne
die unser Motor nicht läuft. Aber wie der Ver­
brennungsmotor auch Oel braucht, um ge­
schmiert zu werden, brauchen wir Fette. Zwar
viel weniger, als wir Überernährten und Über­
hitzten zu uns nehmen, aber ohne geht‘s auch
nicht. Darum kommen wir zu der zweiten wich­
tigen Abteilung, die allen Unterernährten beson­
ders abgeht, weil der Körper diese Sub­stanzen
auch speichern kann. Alles, was er nicht sofort
verbrennt, wird in Fett verwandelt, oder das
1. Eine Brotsuppe:
und für die Armen am schwierigsten zu be­
schaffen, weil sie am teuersten ist. Es handelt
sich um tierische Stoffe wie Fisch, Fleisch, Eier,
Käse etc. ... oder auch pflanzliches Eiweiss,
das weniger häufig und nicht so vollwertig ist
(Vegetarier, erhebt Euch und rebelliert!), das
aber in Soja, Nüssen, Haferflocken etc. immer­
hin so reichlich vorhanden ist, dass es dem
täglichen Bedarf genügen kann, wenn die Nah­
rung ausgewogen ist. Eine weitere Eigenart be­
steht darin, dass Fett als Energie gespeichert
werden kann – Eiweiss aber nicht –, sodass
eine gewisse Menge täglich in der Nahrung
enthalten sein sollte.
Wenn wir jetzt noch die berühmten Vitamine,
Spurenelemente, Mineral-, Ballast- und Aromastoffe erwähnen, haben wir etwa den Rund­
gang beendet, der unseren Ernährungs-Kreis­
lauf bestimmt, wobei nur schnell gesagt sein
soll, dass Vitamine etwa wie eine Zündung
funktionieren, wenn wir beim Motoren-Beispiel
bleiben wollen, weil sie chemische Prozesse in
Gang bringen, Umwandlungen und Transakti­
onen bewirken, die erst eine Ernährung voll­
wertig machen. Ähnlich braucht der Körper
auch winzigste Spuren von Mineralien: Eisen,
Kupfer, ja sogar Gold, die für den Aufbau von
z. B. Knochen wichtig sind.
Aus diesem Grund haben viele Kulturen die
scheinbar seltsamsten Traditionen entwickelt,
wie das Verzehren von Käfern oder Würmern,
oder bei uns z. B. Schnecken, weil jedes ganze
Tier ein vollständiger Organismus ist, der auch
seine Spurenelemente und Mineralien aufweist.
100 Gramm Steak z. B. enthalten nur Proteine,
100 Gramm Termiten oder Heuschrecken sind
ungleich wertvoller in allen anderen Aufbau­
stoffen.
Jetzt noch ein Problem, das uns Überfütterte
zu schaffen macht. Da Aromastoffe durch Fette
gebunden werden, sind sie leider für eine
schmackhafte Zubereitung notwendig, obwohl
wir sie möglichst vermeiden sollten. Wie schon
Friedrich von Rumohr 1822 in seinem Geist der
Kochkunst bemerkte: „Die Begüterten, welche
bei weitem mehr animalische als vegetabili­
sche Stoffe zu verzehren pflegen, sollen also,
um das Gleichgewicht herzustellen, in ihren
Küchen den Gebrauch des Fettes in eben dem
Masse zu vermeiden trachten, als die Armen
wünschen müssen ihn zu vermehren.“
Um die Küche der Armen vorzustellen, habe
ich mir je eine der auf der Welt am häufigsten
gegessenen stärke-, also zuckerhaltigsten Ge­
treide oder Hülsenfrüchte ausgesucht, die mit
einem fetthaltigen Stoff schlüpfrig gemacht
werden und durch Gemüse oder Früchte die
notwendigen Vitamine erhalten. – Das für Arme
am schwierigsten weil am teuersten zu be­
schaffende tierische Eiweiss, sprich Fleisch,
habe ich auf das in der ganzen Welt am häu­
figsten vorkommende Hühner-, Schweine- und
Schaffleisch beschränkt.
Auf die uns abstrus scheinenden Exotika hab
ich verzichtet, erstens weil ich sie früher oft ge­
nug benutzt habe (eben weil man alles essen
kann und auch muss) und zweitens weil sonst
meine Ernsthaftigkeit in diesem Detail erstickt
wäre.
Eine Polenta, das ist ein Maisgriesspudding (in Rumänien: Mămăligă), entweder nur in Salzwasser
gekocht oder in einer Mischung aus halb Milch halb Wasser, mit etwas Butter oder Oel – zuletzt
geriebener Pecorino untergeschoben – oder auch das Interessanteste, aber auch Teuerste: eine
Dose ganzes Maiskorn mit dem Saft hineingerührt.
Diese Polenta oder Mămăligă auf ein gefettetes Blech gestürzt, einige weichgekochte Eier hinein­
gedrückt, Hackfleischsugo darübergestrichen oder einige Scheiben Salami daraufgelegt und dann
noch mit Käse bestreut, 5 Minuten im Ofen überbacken, hat mit Armen-Essen schon nichts mehr
zu tun, obwohl Polenta in Italien, wie etwa in Frankreich oder in Deutschland die Gelben Rüben,
gleichbedeutend mit Armut ist.
5. Reis
Aus den unzähligen Reisgerichten, die jeder kennt, könnten wir die Paëlla herauspicken, weil sie,
wie viele andere Nationalgerichte, beispielhaft den seltenen Überfluss der Armenküche darstellt.
Sei es nun die Berner Platte, das Cous-Cous, die Sauerkrautplatte, das Lombardische Bollito misto,
immer ist es der Überfluss, d. h. alle Fleischsorten und Gemüse zusammen, die sonst gesondert
und spärlich auf den Tisch kommen. So gibt es auch nicht ein Paëlla-Rezept, sondern unzählige,
immer aber ist es die riesige, bis zu 2 Meter im Durchmesser grosse Pfanne, die dem Eintopf den
Namen gab, und immer ist es ein Safran-Reis, der nachgenetzt wird, in dem ausser allen Gemüsen
wie Tomaten, Paprika, Knoblauch, Zwiebeln, Erbsen und Artischocken, kleine vorgebratene Hühner­
stücke, alle denkbaren gewürfelten Fleischsorten (ebenfalls vorgebraten) und dazu Muscheln,
Crevetten, Langustinen und die scharfen Chorizos miteinander konkurrieren und sich zu einem
herrlichen Aroma steigern. Nach diesen Gräser-Samen, denn nichts anderes sind diese haupt­
sächlichsten Getreidearten, kommen wir zu den Hülsenfrüchten und nehmen die drei weltweit
häufigsten, nämlich Bohnen, Linsen und Erbsen.
6. Bohnen, das sicher auf der ganzen Welt
typischste Armen-Essen:
Als Prinzip gilt immer dasselbe, die Früchte werden eingeweicht, gekocht (oft in zwei Wassern, weil
das erste wegen seiner Giftigkeit weggeschüttet wird) und dann mit einer landesüblichen fetthalti­
gen Substanz und einem oder mehreren Gemüsen vermischt, z. B. brasilianisch: Weissbrotwürfel
in Butter angebraten, mit eingedicktem Tomatenmus vermischt. Italienisch: Pasta e fagioli, etc. etc.
Aber nehmen wir hier ebenfalls ein klassisches Nationalgericht: Ich meine Chili con Carne – das
mittlerweile schon amerikanischer ist als mexikanisch. Also geben wir auch ein Rezept auf ameri­
kanische Art:
2 Büchsen Red Kidney Beans in Heavy Stock
1 Büchse Marzano Tomaten ganz, geschält (länglich)
1 Büchse Maiskörner
400 Gramm Hackfleisch
oder 3 × 150 Gramm Schwein, Rind, Schaf durch den Wolf gedreht
oder das Fleisch ganz fein geschnitten mit zwei scharfen Messern, die sich
kreuzen, was ein noch feineres Geschnetzeltes (franz. = émincé) ergibt
50 Gramm feingeschnittener geräucherter Speck
2 feingehackte Zwiebeln
2 Knoblauchzehen feingehackt
1–2 Kartoffeln
Chili-con-Carne-Gewürz (McCormick)
Zwiebeln, Knoblauch und Speck anbraten, Fleisch mit Mehl bestäuben und
dazugeben, auf starker Hitze anbraten, alle Büchsen dazugeben, mit Rotwein
oder Guinnessbier ablöschen und kochen, bis das Fleisch gar ist.
Hier sein eigenes Rezept, dem er ein ganzes Kapitel in seinen in Englisch geschriebenen Essais
Philosophiques widmete, die übersetzt 1796 in Genf erschienen:
Zutaten: 2 Viertel Perlgraupen, 8 Viertel Kartoffeln, Schnitte von feinem Weizen­
brot, Salz, 24 Maaß schwacher Bier-Weinessig oder vielmehr sauer gewordenes
Bier, Wasser ongefähr 560 Maaß. Das Wasser und die Gerstengraupen werden
zusammen in einen Kochkessel gethan und zum Kochen gebracht; dann werden
die Erbsen hinzugethan und das Kochen wird über mäßigem Feuer zwey Stunden
lang fortgesetzt; dann werden die Kartoffeln (die ungekocht oder gekocht schon
geschält sind) hinzugethan, und das Kochen wird noch eine Stunde lang fortge­
setzt. Während dieser Zeit wird die Flüssigkeit im Kessel fleißig mit einem großen
hölzernen Löffel umgerührt, um die Kartoffeln gänzlich zu zerreiben und die Suppe
zu einer gleichförmigen Masse zu machen. Sobald dies geschehen ist, werden
Weinessig, Salz und zuletzt, wenn die Suppe aufgetragen werden soll, Brodschnitte
hinzugethan.
So berühmt war seine Suppe, dass sie nicht nur bei Rumohr 1822 Erwähnung findet, sondern noch
im Linzer Kochbuch von 1852 unter den Fleischsuppen aufgeführt ist:
Rumforter Suppe
Nimm in ein Zewymaß-Hafen 1 Seidel Erbsen, 1 Seidel gerollte Gerste, weiche
solche den Tag zuvor mit einer Rindsuppe, die nicht gesalzen ist, ein, 3 Stunden
vor dem Anrichten gib alles in einen Hafen, welcher ungefähr 3 Maß hält, fülle ihn
mit Rindsuppe an, setze ihn zum Feuer, laß es gut kochen, rühre es öfters um, daß
es sich nicht anbrennt; eine Stunde vor dem Anrichten gib geschälte und gewürfelt
geschnittene Erdäpfel, auch so geschnittene gelbe Rüben, Petersil, Zellerie, Buri
(Lauch), überbrühtes Schweinfleisch, Ey groß Butter, Essig nach Belieben, Salz,
was nothwendig ist, darein, und laß solches gut sieden; dann röste gewürfelt ge­
schnittene schwarze Brotbröckeln in Fett oder Schmalz; und gib es auch dazu.
Man kann auch statt Schweinfleisch ein anderes Saftfleisch hineingeben.
Das Erstaunlichste aber ist, dass sie noch heute in S. Wolf: Wörterbuch des Rotwelschen (1953)
(d. h. Gaunersprache) unter „Rumfutsch“ das Synonym für reglementiertes Gefängnis-Essen
bedeutet.
Dies wäre also der lange Exkurs von der Erbse und um sie herum. Klassischer wäre es gewesen,
die Deutsche Erbsensuppe mit Speck und Wurst zu nehmen, die übrigens auch am Anfang der
Konserven-Suppen steht, denn vor 1878 erfand ein Berliner Koch Grünberg die in Pergament ge­
rollte Erbswurst, die es noch vor kurzem oder sogar noch heute als Knorrwurst gibt und die den
Deutsch-Französischen Krieg 1870–1871 entscheidend beeinflusste, weil jeder Soldat diese nahr­
hafte Suppe selbst herstellen konnte.
8. Linsen
Die Linsen, eine der ältesten Speisen, die über die Aegypter und Hebräer nach Europa kamen, sind
– der Soja-Bohne vergleichbar – heute eines der wichtigsten Volksnahrungsmittel auch wegen
ihres Eiweiss-Gehaltes, das nur noch eine fetthaltige Substanz erheischt, um eine vollwertige Er­
nährung zu gewährleisten, weshalb sie auch meistens mit Speck oder Wurstbeilage angerichtet
werden.
Als Beispiel aber gebe ich hier ein Rezept, das heute ganz besonders nach Armenspeise tönt, um
die Jahrhundertwende in Norddeutschland aber ein häufiges Essen war:
Linsen mit Steckrüben
1/2 Liter Linsen werden gelesen – (das musste ich auch noch als Kind in Rumänien: Die guten ins
Töpfchen …):
Linsen mit Steckrüben, auf norddeutsche Art
1/2 – 3/4 Liter Linsen werden gelesen, eingewässert, in kaltem Wasser zugesetzt
und weichgekocht; etwas Sellerie, Petersilienwurzel und Porree (Lauch) schneidet
man in kleine Stücke, kocht sie in Fleischbrühe weich und verdickt die Brühe dann
mit einer hellgelben Mehlschwitze, thut die durchgegossenen und abgetropften
Linsen hinzu und dämpft sie noch eine Weile damit durch. Während man die Linsen
auf diese Art bereitet, putzt man eine beliebige Anzahl Steckrüben, schält sie,
schneidet sie in kleine Würfel, kocht sie in siedendem Wasser mit Butter oder Fett
zwei Stunden lang, schüttet sie zu den Linsen, verkocht die Brühe mit etwas Ein­
brenne, in der einige gehackte Chalotten geröstet sind, salzt sie gehörig, dünstet
das Ganze noch eine Weile und gibt das Gericht zu Rauch- oder Pökelfleisch,
Schweinefleisch, Wurst etc.
9. Zum Schluss noch die Kartoffel
Für uns und seit van Gogh das eigentliche Armen-Hauptnahrungsmittel. Ausgesucht habe ich dazu
ein Rezept, das ausserdem eine Mehlsorte benutzt, die wir fast in Vergessenheit geraten liessen,
nämlich der Buchweizen. Kartoffel-Klösse, holsteinische, mit Buchweizenmehl (das in Russland
für Blinis verwendet wird und in Israel als Kaschagrütze mit Gänseschmalz ein Nationalgericht ist):
Zu einem gehäuften Suppenteller voll am Vortage gekochter und geriebener Kartoffeln gibt man
125 Gramm gewürfelten ausgebratenen Speck, zwei Eier, etwas Mehl, Salz und soviel Buchwei­
zenmehl, dass die Masse sehr fest wird, worauf man runde Klösse daraus macht und sie in kochen­
des Salzwasser gibt, bis sie an der Oberfläche schwimmen.
10. Kastanien
Und weil ich kein Ende finde, und weil zehn eine runde Zahl ist, und weil wir mit der Kartoffel unter
der Erde waren, gehen wir in die Luft und sprechen noch kurz von der Kastanie, die hier bei uns in
der Toskana wächst, obwohl sie aus Kleinasien stammt.
Und da wir mit den mehligen Speisen, die die Grundlage aller Armen-Essen sind, am Ende sind,
suchen wir uns ein Dessert aus, und zwar einen Kastanienauflauf oder Puste-Kuchen, wie
Friedrich von Rumohr sagen würde (weil er Soufflee wörtlich übersetzte):
1 Kilo Kastanien einschneiden und 5 Minuten kochen, dann Schale und braune Haut abziehen und
weitere 20 Minuten im Dampfsieb weiterkochen (oder gleich 20 Minuten und dann schälen).
Pürieren und mit 4 Eidottern, 100 Gramm Zucker, 100 Gramm Semmelbrösel, geriebener Zitronen­
schale, 1/2 Liter Milch und 50 Gramm Butter und einem Schuss Maraschino vermischen. Zuletzt
unter diese gut verrührte Masse den festen Schnee aus den 4 Eiweiss unterheben, alles in eine
gebutterte Auflaufform geben und bei mittlerer Hitze im Ofen backen.
Damit will ich diesen ersten stärke- und mehlhaltigen Teil der Armen-Küche abschliessen, bis ich
vielleicht bei Gelegenheit auf die Gemüse, Früchte und animalischen Produkte, zu denen man
auch Insekten und Meerestiere zählen muss, eingehen werde.
Guten Appetit! …
Daniel Spoerri, Seggiano, Toskana, Italien
17. – 24. November 1992
7. Als Erbsspeise wähle ich:
Die Rumford’sche Armensuppe
Graf Rumford, 27. 3. 1753 – 21. 8. 1814, geboren als Benjamin Thompson
Aus dem Sohn eines amerikanischen Farmers, unweit von Boston, Massachusetts geboren, wird
ein Major der englischen Armee in Amerika, nach zwielichtiger Haltung im Unabhängigkeitskrieg ein
engl. Staatsekretär für amerikanische Angelegenheiten, ein grosser experimentierender Physiker,
ein Kriegs- und Polizeiminister Bayerns, wo er das Bettler-Problem erledigt, unter anderem mit der
Erfindung seiner Rumford-Suppe und eines brennstoffsparenden, nicht qualmenden Ofens.
Mit Öfen hatte er schon am Anfang seiner Karriere (ca. 1782) zu tun, wo er auf der Seite der Englän­
der gegen die eigenen Leute kämpfte; Auszug aus einem Bericht eines Gerichtsschreibers aus Long
Island: „Ich habe oft alte Leute erzählen hören, dass sie selbst mitansahen, wie frisch gebackenes
Brot aus den Backöfen des Forts (die Thompson angeblich aus den Grabsteinen des Friedhofs von
Huntington bauen liess) mit dem Reliefnamen ihrer verstorbenen Freunde in Spiegelschrift auf
der unteren Kruste herausgezogen wurde.“ Aber dies so eindrücklich sentimentale Detail nur am
Rande, da wir auch von Brot sprachen.
•
Die Küche der Armen der Welt wurde erstmals im Juni 1972 in Bochum realisiert. Der hier in leicht
redigierter Form abgedruckte Text wurde von Daniel Spoerri für ein Diner am 3. Dezember 1992 in
der Baseler Galerie Littmann verfasst und diente ebenfalls als Grundlage für ein Essen, das von
Traute und Thomas Levy am 28. April 2013 in Hamburg veranstaltet und von Sarah Wiener, „der
freundlichen Freundin“ (Daniel Spoerri), begleitet wurde.
15
Dirk Pörschmann: Wir sollten mit dem his­
torischen Teil beginnen. Ich war überrascht, als
ich erfahren habe, dass du bei der Haagse Post
als Redakteur gearbeitet und dort auch Artikel
geschrieben hast.
Rem Koolhaas: Ich habe dort 1963 als eine
Art Praktikant begonnen. Nach neun Monaten
durfte ich für das Magazin auch schreiben. Der
Nul-Künstler Armando war der Redakteur des
Kunstteils. Ich arbeitete für ihn und konnte aber
auch Sport und viele andere Dinge machen.
Vier Jahre lang habe ich das Layout des Maga­
zins gestaltet und mich auch um den Druck
gekümmert, was damals noch eine richtige
körperliche Tätigkeit war. Unser großes Vorbild
für die Haagse Post war damals übrigens Der
Spiegel. Im Grunde wollten wir wie Der Spiegel
sein: Diese Form von neutraler Stimme und der
Journalismus. Wir alle lernten, so zu schreiben,
wie es die Journalisten beim Time-Magazin
oder beim Spiegel taten, ohne die Beiträge na­
mentlich zu kennzeichnen. Natürlich versuch­
ten wir eine persönliche Note reinzubringen,
und ironischerweise war genau das Neutrale
unsere eigene Handschrift.
Mattijs Visser: Ich nehme an, du hattest da­
mals viele Freiheiten. Es war die Zeit, als man
Grafikdesign poetisch einsetzte und als eine
neue Art der Kommunikation begriff.
RK: Nun, ich glaube, die visuelle Kommunikati­
on ist ein verbreitetes und sehr wichtiges Thema
in den 1960er-Jahren. Damals ging es aber nicht
nur um Freiheit, sondern auch um Organisation
und darum, eine gewissermaßen strenge, aber
glamouröse Version der Nachkriegsmodernität
zu finden. Wenn man sich beispielsweise italie­
nische Filme dieser Zeit ansieht, dann geht es
darin nicht nur um Freiheit, sondern um Moder­
ni­tät an sich. Es geht in ihnen um Anzüge und
Krawatten, coole Autos, Lampen und den Gla­
mour dieser Lebensweise.
MV: Hattest du eine gewisse Freiheit hinsicht­
lich dessen, worüber du schreiben wolltest?
RK: Wir konnten Sachen vorschlagen. Ich habe
Interviews mit dem Schriftsteller Willem Frederik
Hermans oder dem Regisseur Federico Fellini
gemacht, die politische Bewegung PROVO in­
terviewt oder auch den Architekten Constant.
Für mich war es spannend, über alle Bereiche
des gesellschaftlichen Lebens schreiben zu
können, nicht nur über Kunst und Kultur.
MV: Welchen Einfluss hatten deine Eltern auf
deine ästhetische Ausbildung?
RK: In puncto bildender Kunst hatten meine
Eltern einen ziemlich konservativen, figurativen
Geschmack. Daher hatte ich das Stedelijk
Museum Amsterdam als meine „Schule“ ge­
wählt. Seit ich 12 Jahre war und bis ich etwa 18
war, bin ich fast jeden Tag dorthin gegangen.
Es war wirklich erstaunlich, wie leicht man da­
mals Zugang zu den Museumsleuten bekam.
Mit 14 habe ich zum Beispiel Skulpturen ge­
macht. Die habe ich dann in einen Koffer ge­
packt, bin zum Stedelijk gegangen und habe
sie dem Direktor Willem Sandberg gezeigt.
Man konnte da einfach hingehen. Also das ist
wahrscheinlich der größte Unterschied im Ver­
gleich zu heute, wie zugänglich alles war und
wie fließend die Strukturen. Im Prinzip kann
man sagen, dass meine ganze Bildsprache,
meine visuelle Sensibilität wirklich durch die
Kunst dieser Jahre geprägt worden ist.
DP: Wir haben oft mit herman de vries über die
Bildsprache der späten 1950er- und frühen
60er-Jahre gesprochen. Diese besondere Art
des Experimentierens oder des Ordnens von
Flächen und Dingen unter Einbeziehung des
Zufalls ist interessant und charakteristisch in
diesen Jahren.
RK: Das stimmt, aber entscheidend ist, dass
ich dies völlig verinnerlicht habe. Meine Gene­
ration ist wahrscheinlich gar nicht imstande, das
als etwas Besonderes zu begreifen. Das ist zu
einem festen Bestandteil der eigenen Sensibili­
tät geworden, unsere DNA. Wie eine Art Mari­
nade, die haften geblieben ist. Im Rückblick
betrachtet war es auch deshalb eine wichtige
Phase, weil sie einem die Energie gibt, das
Utopische nicht völlig aufzugeben und Geld
nicht zu überschätzen.
Courtesy of OMA; Foto: Fred Ernst
Rem Koolhaas im Gespräch mit Dirk Pörschmann und Mattijs Visser
sich im Grunde um Stahl, der in eine Gummi­
haut gehüllt ist. Der Witz besteht darin, dass
sich sein Aussehen jedes Mal, wenn man ihn
umdreht, verändert, obwohl es ein einziger
Gegenstand ist.
MV: Gibt es eine utopische Ästhetik?
DP: Heinz Mack veröffentlichte in der dritten
Ausgabe der Zeitschrift ZERO (1961) seinen
Text Das Sahara-Projekt. Er beschrieb darin ein
künstlerisches Konzept, an dem er bereits seit
1959 arbeitete. Mack hatte die konkrete Vorstel­
lung, in der Sahara 13 Stationen zu errichten,
mit Lichtstelen, Pyramiden usw. – ein Wahn­
sinns­projekt! Und natürlich stand es mit sei­
nem utopischen Charakter in einer modernen
Tradition.
RK: Ja, aber das ist natürlich der Punkt, wo
alle Kunst der Nachkriegszeit sehr stark vom
Krieg beeinflusst ist. Niemand konnte nach dem
Krieg so tun, als ob er denselben Optimismus
hätte. Es ist also immer irgendwie ironischer
oder extremer oder skeptischer. Man kann
nach dem Krieg eher ein skeptischer als ein
unschuldiger Utopist sein. Die Art und Weise
wie ich Architekt wurde, stand in einem Zu­
sammenhang mit utopischem Gedankengut,
da ich mit Anfang 20 – also noch vor meinem
Architekturstudium – in Russland den Konstruk­
tivismus für mich entdeckte. Ich hatte einen
Freund, der mich damit bekannt machte, indem
er mich nach Russland mitnahm. Dort haben
wir unter anderem die Familie von Alexander
Rodtschenko getroffen. Das war unglaublich
eindrucksvoll, aber natürlich wurde es erst
durch Stalin zunichte gemacht und dann durch
den Zweiten Weltkrieg. Obwohl es mein erster
Impuls war, Architekt zu werden, war ich mir
immer völlig im Klaren darüber, dass nichts von
all den frühen modernistischen Ideen zurück­
kehren würde, jedenfalls nicht in absehbarer
Zeit. Um nicht zu enttäuscht zu sein, habe ich
mir dann New York angesehen und entdeckt,
dass dort viele der Ambitionen, die es in Russ­
land gegeben hatte, tatsächlich realisiert wor­
den waren. Dann habe ich das Buch Delirious
New York geschrieben, das man als eine Ver­
teidigung des utopischen Denkens bezeichnen
könnte, aber eben anhand der Baupraxis in
New York. Ich habe mich damals sehr intensiv
damit befasst. Ich habe Verbindungen entdeckt
zwischen Moskau und New York, die vorher
niemandem bewusst gewesen waren. In den
1930er-Jahren gab es einen Zusammenhang
zwischen sowjetischem und amerikanischem
Denken, sogar auf der Ebene der Unterhaltung.
Die Radio City Music Hall in New York etwa ba­
siert auf einer Art utopischem Projekt für die
Erholung von erschöpften Arbeitern in Moskau.
DP: Ist der Traum ein Teil von Utopia?
RK: Nun, man könnte sagen, es ist eine Art
Raum, in dem Utopia stattfinden kann, ja. Aber
andererseits möchte ich die Traumqualität nicht
betonen. Ich habe mir New York vor allem we­
gen der Art, wie die Dinge dort realisiert wurden,
angesehen. Architektur hat eine enorme Band­
breite, vom Banalen zum Erhabenen, vom
Pragmatismus zur Utopie; die Utopie und das
Erhabene sind also ein Teil dieser Bandbreite
und keine isolierte, unwirkliche Ausnahme. Es
gibt Gelegenheiten, bei denen man versucht,
das zu erreichen.
DP: Siehst du den Prada Transformer als ein
utopisches Projekt?
RK: Er hat sicherlich eine utopische Ästhetik.
Abstrakt gesehen, ist er in der Tat ein utopi­
sches Projekt. Aber wenn man sich ansieht,
wofür er benutzt wird, scheint mir das nicht be­
sonders utopisch. Es handelt sich im Grunde
um eine Skulptur, und diese ähnelt einer Pyra­
mide, aber sie hat vier verschiedene Grund­
flächen: Die eine ist ein Kreuz, die andere ein
Kreis, ein Hexagon und ein Pluszeichen. Im
Grunde kann man den Transformer nehmen
und ihn so drehen, dass er jedes Mal einen völlig
anderen Grundriss hat: einen Plan für eine Ga­
lerie, einen Plan für eine Ausstellung, für einen
Shop oder einen Plan für ein Kino. Es handelt
RK: Ja. Utopien waren in der Architektur lange
Zeit eine Frage des Maßstabs. Es musste so
groß sein, dass es nicht zu verwirklichen war.
Außerdem waren sie auch eine Frage der Per­
fektion. Alles musste so perfekt sein, dass es
sich nicht verwirklichen ließ – eine ideale Kugel
zum Beispiel, etwas Überirdisches. Der Prada
Transformer fällt sicherlich in diese Kategorie,
mit seinen reinen Formen, seiner über- oder
außerirdischen Erscheinung, so ein weißes Ob­
jekt, das, wenn es von innen erleuchtet wird,
aussieht wie ein Raumschiff von einem ande­
ren Planeten. Ich denke, dass es eine Verbin­
dung zwischen Schönheit und Utopie gibt. Das
Erhabene und das Utopische stehen sich auf
jeden Fall sehr nahe.
DP: Kann man mit Architektur eine bessere
Welt schaffen?
RK: In meinem Text Utopia Station (2004) habe
ich geschrieben, es wäre obszön, wenn es
nicht in jeder Architektur ein utopisches Ele­
ment gäbe. Ich glaube, es wäre auch obszön,
wenn nicht jeder Architekt und jedes Architek­
turprojekt zumindest bis zu einem gewissen
Grad die Absicht hat, die Welt zu verbessern.
Andererseits muss man schon sehr naiv sein,
wenn man glaubt, man könne heute einfach
utopische Veränderungen oder Verbesserun­
gen durchziehen. Die Situation ist sehr zwie­
spältig, sehr zerrissen. Im Grunde praktizieren
Architekten einen utopischen Beruf in einer
aggressiv anti-utopischen Welt. Ich sehe meine
gesamte Praxis als Architekt als ein utopisches
Projekt, das unentwegt bis in seine Grundfeste
von einem nicht-utopischen Skeptizismus in­
frage gestellt wird, teilweise von mir, teilweise
von der Gesellschaft. Dieser Spagat ist wahr­
scheinlich das, was mir von meiner Beschäfti­
gung mit ZERO geblieben ist. Ich war total von
Yves Klein fasziniert und bin es immer noch.
Fast jede utopische Architektur übt eine unwi­
derstehliche Anziehung auf mich aus. Klein ist
meines Erachtens deswegen so faszinierend,
weil er es eher auf künstlerische Wirkungen
anlegte, die infolgedessen radikaler sind. Uto­
pien in der Architektur und in der Stadtplanung
wirken auf mich weitaus weniger attraktiv als
Utopien in der Kunst.
Ich denke schon, dass Architektur den Status
quo verbessern kann. Aber anders betrachtet:
Wenn du heute eine Konferenz im Silicon Valley
besuchst, dann wirst du dort keinen einzigen
Menschen treffen, der dir nicht sagt: „Ich
möchte die Welt verbessern.“ Das ist zum tota­
len Klischee geworden. Alle betonen: „Wir
schaffen eine bessere Welt. Wir wollen eine
bessere Welt.“ Das ist wie ein Werbeslogan.
Und dieser Slogan dient als Vorwand, hinter
dem sich alle möglichen Interessen verbergen.
Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass um die
zentrale Frage der Utopie ein ganzer Haufen
schwieriger, offener Fragen kreist. Das 20. Jahr­
hundert war doch ein Katastrophengebiet des
Utopismus, wo alles entsetzlich danebenging.
60 Jahre später klopfen sich alle auf die Brust
und sind furchtbar stolz auf ihren utopischen
Geist. Diese Bruchstelle, diese Polarität wird
äußerst schwer zu bewältigen, zu artiku­
lieren
sein. Jeder, der heute arbeitet, besonders in der
Archi­
tektur, muss unheimlich vorsichtig sein,
denn niemand ist allein und niemand hat volle
Kon­trolle über die Ziele und Produkte seiner
Arbeit.
DP: Wenn ich auf die 1950er-Jahre zurückbli­
cke, habe ich den Eindruck, dass der Aufbruch
in eine „bessere Welt“ für die meisten ZERO-­
Künstler eine sehr ernste Intention war. Das
war kein Marketing, wie du es gerade für heute
beschrieben hast.
RK: Richtig, aber man sollte dabei nicht ver­
gessen, dass ZERO in einer Welt aktiv war, die
Fotos: Iwan Baan © OMA
Rem Koolhaas wird als
Keynote-Speaker am Symposium
Vorträge und Gespräche am 1./2. Mai
2015 in der Akademie der Künste
teilnehmen.
noch halb in Schutt und Trümmern lag. Sie
haben nach dem totalen Zusammenbruch ver­
sucht, wieder etwas aufzubauen. Das ist ein di­
rekterer Bezug zur Weltverbesserung, als er
uns zumindest heute in unserem Teil der Welt
zur Verfügung steht.
DP: ZERO entstand Ende der 1950er-Jahre.
Da war das Wirtschaftswunder bereits in vollem
Gang. ZERO kritisierte den starken Materialis­
mus. Die Befriedigung der materiellen Bedürf­
nisse allein macht ja noch keine „bessere Welt“.
Die Künstler suchten nach einer neuen Gesin­
nung und einer neuen Sensibilität.
RK: Ich finde es fast beneidenswert, wie ein­
fach damals noch alles war. Der Wiederaufbau
schaffte Möglichkeiten. Es verlief damals natür­
lich nicht alles nach Plan, und dadurch entstand
ein echter Anreiz, über Alternativen nachzuden­
ken. Es war eine einfache Welt mit einer klaren
Trennung in Schwarz und Weiß. Davon sind wir
heute sehr weit entfernt. Man kann nicht an­
satzweise mehr bestimmen, wo die gute Seite
ist, wo das Wort „Mut“ am richtigen Platz ist
und was genau dazugehört.
DP: Nun, es gab den klaren Wunsch nach ei­
nem Wiederaufbau und den Kalten Krieg, der
die Welt in zwei Zonen trennte. Dennoch muss
man aufpassen: Aus einer historischen Sicht
sieht oft alles schön säuberlich getrennt aus.
MV: Außerdem war die Welt viel kleiner als
heute. Das half wahrscheinlich auch.
RK: Der Horizont der ZERO-Künstler war im
Wesentlichen auf die westliche Welt beschränkt.
Heute hat sich das auf Afrika und Asien, auf po­
litische, ideologische und kulturelle Kontexte,
auf Wertsysteme und Umweltbedingungen von
fast unvorstellbarer Vielfalt ausgedehnt. In
dieser Hinsicht ist die Vernetzung um einige
Größenordnungen komplexer geworden.
DP: Durch das lang ersehnte Kriegsende und
die Möglichkeiten des Reisens erlebten viele
eine Erweiterung ihres realen aber auch geisti­
gen Horizonts. Passierte möglicherweise da­
mals innerhalb Europas dasselbe wie heute auf
der ganzen globalisierten Welt?
RK: Was du für die Nachkriegszeit beschreibst,
sind unglaublich aufregende Ereignisse, durch
die sich ganz scharf definierte Möglichkeiten
für junge Menschen auftaten. Die Euphorie, die
sie durch das Kriegsende empfanden, wurde
durch den Kontakt mit Gleichgesinnten, die
man überall traf und die sich zu Gruppen zu­
sammenschlossen, nur noch verstärkt. All das
geschieht in der Gruppe, man merkt, dass man
ähnlich denkt, dass man ähnliche Werke pro­
duziert, und das verstärkt den Zusammenhalt.
Darum geht es im Prinzip in einer Kunstbewe­
gung: um gegenseitige Unterstützung und Soli­
darität. So etwas gibt es heute nicht mehr, im
Gegenteil: Jeder ist eine Insel für sich. Es gibt
auch keine Architektengruppe mehr, die kollek­
tiv Projekte entwickelt und realisiert. Jeder ist
auf sich allein gestellt. Es ist ein knallharter
Wettbewerb.
DP: Besitzen Architekten ein besonderes Ge­
spür für soziale Probleme?
OMA: Prada Transformer
16
RK: Viele Architekten des 20. Jahrhunderts ha­
ben ein starkes soziales Bewusstsein gehabt,
und sie pflegten enge Beziehungen zu sozialis­
tischen Regimes, sei es in Russland, Deutsch­
land oder Holland. Das hörte ab der Mitte der
1960er-Jahre langsam auf. Die Architekten be­
schäftigten sich mit sozialen Fragen, aber das
heißt nicht, dass sie dafür besonders talentiert
waren. Man erteilte ihnen den Auftrag, gesell­
schaftliche Probleme zu lösen, und unvermeid­
licherweise waren die Architekten ganz beses­
sen von dieser Rolle. So wie die Sache heute
steht, würde ich sagen, dass es nur sehr weni­
ge Architekten gibt, die ein solches soziales
Feingefühl für sich in Anspruch nehmen würden.
Ja, ich glaube, die meisten würden sogar strikt
abstreiten, dass sie irgendetwas in dieser Rich­
tung besitzen.
MV: Als du den Auftrag erhalten hast, ein neu­
es Bürohaus für den Springer-Verlag in Berlin
zu entwerfen, wollten die Bauherrn einen neuen
architektonischen Rahmen, der völlig neue Ar­
beitsbedingungen zulässt, also im Prinzip
eine utopische Idee.
RK: Ich glaube, unser Entwurf sagte dem Ver­
lag deshalb so zu, weil wir seine Auflagen sehr
ernst nahmen. Wir haben ein Gebäude konzi­
piert, das verschiedene Arten des Arbeitens er­
möglichen und fördern wird, und das entspricht
den Plänen des Unternehmens, intern einen ra­
dikalen Strukturwandel zu vollziehen. Wir haben
also einen Kunden gefunden, der selbst zur
Veränderung bereit war. Aber ich glaube nicht,
dass du bei Springer jemanden finden würdest,
der sagt: „Wir haben den Architekten gebeten,
eine bessere Welt zu gestalten.“ Sie würden es
eher so formulieren: „Wir haben jemanden ge­
funden, der dem von uns angestrebten Wandel
eine physische Form verleihen kann.“
MV: Ich möchte noch einmal auf die Frage zu­
rückkommen, welche Rollen du dir selbst zu­
schreibst. Gibt es Projekte in deiner Laufbahn,
über die man sagen könnte: Das hat sich über
längere Zeiträume entwickelt und Form ange­
nommen und ist trotzdem unfertig geblieben,
das ist eine utopische Vision, die ich mal hatte
und die sich nie verwirklichen lassen wird?
RK: Nein, so läuft das nicht bei mir. Erstens
befinde ich mich in der glücklichen Lage, dass
wir bereits mehrere Male äußerst persönliche
Vorhaben verwirklichen konnten, die in hohem
Maß als Statement zu werten sind. Manchmal
bringen diese Statements einen völlig neuen
Aspekt in die Architektur ein – eine neue Art der
Architektur, wenn schon nicht unbedingt eine
neue oder sogar bessere Welt. Das China Central Television Headquarter in Peking ist für mich
solch ein Beispiel: Ein sehr hohes Gebäude,
das instabil wirkt und aus jeder Blickrichtung
anders aussieht. Ich denke, das hat es früher
nicht gegeben – fast wie ein kinetisches Kunst­
werk oder ein dynamisches Element im Stadt­
körper. Im ästhetischen Sinn könnte man ein
solches Experiment utopisch nennen. Für mich
persönlich ist das sicher ein Grund dafür, warum
mir dieses Projekt besonders am Herzen liegt.
Oder das Gebäude De Rotterdam, das mir
ebenfalls sehr viel bedeutet. Da haben wir et­
was ganz anderes versucht. Wir machten die
Unschlüssigkeit des Bauherrn, der unablässig
seine Meinung änderte, zur Methode. Es gibt
eine Reihe von Räumen, die ständig ihre Pro­
portionen und Relationen wechseln. In Peking
hatten wir einen künstlerischen Ansatz. In Rot­
terdam wurde ein pragmatischer Prozess in
eine mehr oder weniger künstlerische Konzep­
tion übertragen.
„Ich habe einen Traum.“ Kann ich ihn realisieren
oder nicht? Die Suche nach der Antwort auf
diese Frage führt zu einer Reihe von Erkennt­
nissen, aus denen wiederum spezifische Ziele
hervorgehen. In den meisten Fällen lässt sich
zumindest ein Teil davon verwirklichen. Und die
Ziele oder Elemente, die übrig bleiben, finden
dann in anderen Gebäuden ihren Platz. Das ist
also wirklich ein kontinuierlicher Prozess.
Zehn Antworten von Pablo Wendel
Pablo Wendel: Testudo Solaris, 2013
Fotos: Performance Electrics
Das irritierende Moment der Intervention im
öffentlichen Raum ist Teil der subversiven
Strategie von Performance Electrics. Der erste
Zusammenschluss einer Gruppe zu einer
Testudo Solaris erfolgte im Dezember 2013
gemeinsam mit Schülern in der Stuttgarter
Innenstadt. Die handgemachten SolarzellenSchilde wurden in einem eigens dafür
entwickelten Siebdruckverfahren gestaltet
und sind nach ihrer Aufladung durch die
Performance als limitierte Edition erhältlich.
Für mich definiert sich Kunst kontinuierlich neu. Auch bei jedem neuen eigenen
Projekt steht die Frage im Raum, was Kunst
sein kann. Für mich ist das ein Qualitätsmerkmal
von Kunst: Wenn sie keine neuen Sichtweisen
mehr anbieten könnte, würde ich wohl keine
Kunst mehr machen. Das bedeutet nicht bloß
subjektiv, dass ich selbst etwas Neues durch
die Kunst entdecken möchte, sondern dass
Kunst in irgendeiner Form gesellschaftlich rele­
vant sein sollte.
Ich würde Funktionalität und Ästhetik
trennen. Die Funktion entsteht für mich aus
dem sozialen Kontext, die ästhetische Kompo­
nente dagegen in einem selbst. Die Frage ist,
ob man etwas funktional oder ästhetisch wahr­
nimmt.
Das Spannende an Performance Electrics ist,
dass wir die Funktion von den Objekten ablö­
sen. Der Fokus wird damit auf die Ästhetik von
Objekten gelenkt, die wir normalerweise nicht
so betrachten würden.
Die intensive Auseinandersetzung mit
der Natur und ihren verschiedenen
Mater­i­alien haben mich in meiner Kindheit
und Jugend geprägt. Ich wuchs auf der Schwä­
bischen Alb auf und absolvierte dort eine Aus­
bildung zum Steinbildhauer. Diese führte auch
zu einem Interesse an Dekonstruktion und an
Prozessen, die mir meist wichtiger sind als das
jeweilige Ergebnis beziehungsweise Endprodukt
der Arbeit selbst.
Die große Begeisterung für Elektrizität, aus der
die Idee für Performance Electrics entstand,
war immer schon vorhanden. In meiner Kind­
heit habe ich gemeinsam mit einem Elektriker
Lötarbeiten durchgeführt und an Schaltkreis­
läufen gearbeitet, was bleibenden Eindruck
hinterlassen hat.
Heute würde ich sagen, dass es jeweils die Er­
fahrungen aus den vorangegangenen Projek­
ten sind, die meine Arbeit beeinflussen.
Kunst und Wissenschaft unterscheiden
sich in ihrer Arbeitsweise manchmal
weniger, als man denkt. Ich würde mir da­
her eine ähnliche gesellschaftliche Akzeptanz
für künstlerische Grundlagenforschung wün­
schen.
Performance Electrics sehe ich in diesem Zu­
sammenhang als ein richtungweisendes Pro­
jekt: Es ist als Experiment an der Gesellschaft
angelegt und das Ergebnis bleibt offen. Auch
dass Performance Electrics an der Schnittstelle
von Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft arbei­
tet, ist dabei ein wichtiges Element. Diese Ko­
operationen existieren noch viel zu selten und
sollten ein größeres Thema werden.
Wissenschaftliche Methodik ist nicht für alle
Ent­wicklungen von Vorteil. Oft braucht es gerade
die Leichtigkeit der Kunst, mit der man andere
Perspektiven eröffnet und mit einfachen Mitteln
Neues entdeckt.
Zentrale Fragen sind für mich die Energieprobleme der Welt und deren politische
und gesellschaftliche Dimension. Eigentlich hat
die Welt genug Energie, die Probleme in der
Verteilung und Art der Nutzung liegen in unse­
ren Köpfen.
Ich wünsche mir, dass Performance
Electrics weiter wächst und sich weiter­
­entwickelt. Performance Electrics gGmbH
soll nicht mehr nur Stromanbieter sein, sondern
zu einer Schnittstelle zwischen Architektur, Ma­
terialentwicklung und Lebensforschung werden.
Generell sind Künstler sehr sensibel
für soziale Tendenzen, manche können
diese aber auch gut ausblenden und daraus
eine eigene künstlerische Qualität entwickeln.
Mit bloßem Gespür für die Probleme lassen
sich diese jedoch nicht lösen. Ich mag künstle­
rische Positionen, die Verantwortung überneh­
men, ohne dabei moralisch zu wirken.
Utopien haben in der Kunst einen hohen Stellenwert. Eine Kunst ohne Utopie
wäre utopisch.
Pylonen symbolisieren die Rotornarben etc.
Wendel selbst begreift seine Langzeitperfor­
mance als CEO eines Stromanbieters als Ver­
such, der technokratisch geführten Debatte um
die Energiewende durch einen künstlerischen
Impuls eine andere Perspektive zu geben. Mit
dem Verbrauch von Kunststrom der Perfor­
mance Electrics gGmbH umgibt sich der Kunde
mit einem immateriellen Kunstwerk, sobald er
Energie verbraucht. Zugleich autonomisiert
Per­­formance Electrics durch die künstlerischen
Stromgewinnungsanlagen nicht nur den inter­
nationalen Kunst- und Kultursektor, der derzeit
zu den Hauptabnehmern des Kunststroms
gehört, von industriellen Stromproduzenten,
sondern schafft ein Netzwerk, das die Kunst­
strom-Abnehmer über das Stromnetz mit­
einander verbindet.
Jeder baut sich in seinem Alltag eine bestimmte
Lebenseinstellung. Das Angebot durch die
Kunst ist sehr kraftvoll und kann jeden zum
Nachdenken anregen. Kunst ist für mich eines
der wichtigsten Werkzeuge für den Umgang
mit dem alltäglichen Leben, und sie kann das
für jeden sein, nicht nur für den Künstler selbst.
Sie sollte daher allgemein anwendbar und zu­
gänglich sein.
Die gesellschaftspolitische Kraft zeitgenössischer Kunst liegt darin, dass
Kunst einen anderen Standpunkt einnehmen
kann und eine andere Perspektive anbietet.
Die Menschen reagieren auf meine Arbeit extrem unterschiedlich. Es gibt sehr
pragmatische Anwender meiner Kunst, die ihren
alltäglichen Strombedarf damit decken und
ihre Waschmaschine mit Kunststrom betreiben.
Viele haben aber Schwierigkeiten mit meiner
Arbeit, da es kein Objekt gibt, das man besitzen
kann. Die Arbeiten bleiben oft rein konzeptuell
und immateriell. Häufig gibt es erst nach vielen
Jahren Rückmeldungen, zum Beispiel dass je­
mand verstanden habe, wieso ich auf diese
Weise arbeite.
•
PABLO WENDEL, geboren 1980 im baden-­
württembergischen Tieringen, studierte von
1999 bis 2002 Bildhauerei an der Staatlichen
Akademie der Bildenden Künste Stuttgart u. a.
bei Werner Pokorny und Christian Jankowski.
Die Verknüpfung von Leben und Kunst ist eines
der Hauptmerkmale in den Werken von Pablo
Wir alle sind Frau
John Jaspers
Spencer Tunick
Martin Hesselmeier und Andreas Muxel: the weight of light, 2015
Ivan Navarro: Traffic, 2015
International Light Art Award – The Future of Light Art,
Preisträgerausstellung des International Light Art Award
2015, bis zum 28. Juni 2015 im Zentrum für Internationale
Lichtkunst Unna.
Wendel. Internationale Bekanntheit erlangte er
durch seine Performance als Terracotta Warrior
in der streng bewachten Terrakottaarmee im
chinesischen Xi’an (2006). Seine Arbeiten wa­
ren in zahlreichen natio­nalen und internatio­
nalen Gruppen­
ausstellungen zu sehen, etwa
im Württem­­bergischen Kunst­verein (Oh, My
Complex, 2012), im ICA London (New Contemporaries, 2010) oder im Museo Nacional Centro
de Arte Reina Sofía, Madrid (Les Rencontres
Internationales, 2008). Das Kunstmuseum
Stuttgart widmete ihm 2007 eine Einzelausstel­
lung (Frischzelle_07). Zur Ausstellung erschien
ein Katalog (Frischzelle_07: Pablo Wendel,
Hrsg.: Kunstmuseum Stuttgart, 2007. Mit einem
Text von Marion Ackermann. Deutsch/Englisch,
36 Seiten, Broschure, 5,00 €). Pablo Wendel
lebt und arbeitet in Stuttgart und London und
ist Gründer und Geschäftsführer der Perfor­
mance Electrics gGmbH.
Pablo Wendel diskutiert mit
Stephan Muschick, Geschäftsführer
der RWE Stiftung für Energie und
Gesellschaft, im Rahmen des
Symposiums Vorträge und Gespräche
am 1./2. Mai 2015 in der Akademie
der Künste am Pariser Platz.
Pablo Wendel: Off Road,
A40 bei Dortmund, Juni–September 2014,
sowie Skulpturenpark Katzow bei Greifswald,
seit Dezember 2014
Die Straßenwindinstallation Off Road besteht
aus einem Ensemble von sieben je acht Meter
hohen Windskulpturen und einer Power
Station. An der Forschung und Entwicklung zu
Off Road beteiligte sich ein transdisziplinäres
Team; wissenschaftliche Unterstützung
leistete das IAG – Institut für Aerodynamik und
Gasdynamik der Universität Stuttgart.
18
The Future of Light Art, so heißt die Ausstellung
zum International Light Art Award 2015 (ILAA),
dem ersten internationalen Wettbewerb für junge
Künstlerinnen und Künstler, die die Lichtkunst
innovativ und kreativ weiterentwickeln. Auf Initia­
tive des Zentrums für Internationale Lichtkunst
Unna und der RWE Stiftung für Energie und Ge­
sellschaft wurde der mit 10 000 Euro dotierte
Preis im Januar erstmals verliehen und im Rah­
men eines Festakts im Haus der Berliner Fest­
spiele übergeben. Die Preisverleihung bildete
zugleich den Auftakt für das von der Unesco
ausgerufene International Year of Light.
Aufgabe der Wettbewerbsteilnehmer war es,
Ideen für die zehn Meter unter der Erde gelege­
nen Kühl- und Lagerräume der ehemaligen
Linden­
brauerei in Unna auszuarbeiten. Unter
allen Teilnehmern wurden drei Finalisten aus­
gewählt, die ihre Entwürfe realisieren konnten.
Das Ergebnis sind drei Installationen, die auch
andeuten, in welche Richtung sich die Licht­
kunst in Zukunft bewegen könnte.
Der erste Platz ging an das deutsch-österrei­­
ch­ische Künstlerduo Martin Hesselmeier und
Andreas Muxel. In ihrem Werk the weight of
light spielen sie mit den physikalischen Eigen­
schaften von Licht und knüpfen damit an As­
pekte der kinetischen Kunst an. Ihre Installation
bringt die Schwerkraft des Lichts zum Ausdruck
und schafft für den Betrachter ein bewegtes
Licht- und Klangerlebnis.
Der in Chile geborene Iván Navarro ist der
Zweitplatzierte des Wettbewerbs. In seiner In­
stallation Traffic verbindet er Skulptur mit Be­
wegung und hinterfragt erlernte und kodierte
Verhaltensweisen. Sein der Konzeptkunst zu­
zuordnendes Werk ist aus zahlreichen ameri­
kanischen Ampeln konstruiert. Es kreiert und
spielt mit einer Irritation sozialer Prägung und
konfrontiert den Betrachter mit Signalen, die
aus ihrem üblichen Kontext gelöst sind, deren
Wirkung er sich jedoch nicht entziehen kann.
Dritter wurde der Nordrhein-Westfale Dirk
Vollen­broich. Er beantwortet das ILAA-Motto
The Future of Light Art mit einer Lichtkunst­Installation, die erst durch eine Vernetzung mit
den Hirnströmen des Betrachters ihre Existenz
entfaltet.
© KAGE MIKROFOTOGRAFIE, Institut für wissenschaftliche Fotografie Manfred P. Kage und Christina Kage, Lauterstein
Foto: Kai Fischer
Tanja Vonseelen
Um mehr über Pablo Wendel und sein Projekt
Performance Electrics zu erfahren, braucht
man eine gewisse Fähigkeit zum Multitasking.
„Bitte den Mauszeiger bewegen, um Energie
zu produzieren“, annonciert die Homepage des
Projekts unter www.performance-electrics.com.
Andernfalls wird der Bildschirm dunkel, die Er­
klärungen zum Projekt entschwinden. Also rührt
man etwas hektisch auf der Seite herum und
bringt im wahrsten Sinne Licht ins Dunkel, um die
Informationen lesen zu können, die die Home­
page bereithält, und wird augenblicklich Teil
eines außergewöhnlichen Kunstprojekts.
Das Unternehmen Performance Electrics gGmbH
wurde 2012 von dem Künstler Pablo Wendel
ge­gründet und produziert seitdem in Zusammen­
arbeit mit Künstlern, Designern, Architekten
und Wissenschaftlern Strom mithilfe von per­
formativen Prozessen und skulpturalen Instal­
lationen. So entsteht etwas, das Wendel selbst
als „Kunst aus der Steckdose“ bezeichnet. Wie
herkömmliche industrielle Stromanbieter speist
auch Performance Electrics den produzierten
Strom in das öffentliche Stromnetz ein. Die ei­
gentliche Stromgewinnung geht im öffentlichen
Raum vonstatten – und setzt nicht selten auf
guerillaartige Taktiken. Die Varta Bande (seit
2012), eine Gruppe von Performancekünstlern,
sammelt zum Beispiel in Geschäften oder
Banken mit sogenannten Akku-Rucksäcken
Strom ein und speist ihn im Anschluss als
„Kunststrom“ in das Netz. Für Testudo Solaris
(Performance, Stuttgart, und Edition, 2013) reiht
sich eine Gruppe von Performern in Anlehnung
an die römische Militärformation Schildkröte
(Testudo) mit Schildern aus Solarzellen auf und
bewegt sich als „Notstromformation“ durch
den Stadtraum.
Die Skulpturengruppe Off Road setzt hingegen
auf Recycling. Sie wurde erstmals im Sommer
2014 entlang der Autobahn A 40 im Rahmen von
Urbane Künste Ruhr für das Projekt B 1 | A 40 –
Die Schönheit der großen Straße realisiert und
ist seit Ende 2014 im Skulpturenpark Katzow
bei Greifswald zu sehen. Pablo Wendel ließ hier,
unterstützt durch die Kulturstiftung des Bundes
und die RWE Stiftung für Energie und Gesell­
schaft, einen ganzen Windpark entstehen, des­
sen einzelne Windkraftanlagen skulpturengleich
aus recycelten Autobahnfragmenten zusam­
mengesetzt sind: Laternenpfähle bilden Mas­
ten, Straßenleitpfosten und Vorfahrtsschilder
fungieren als Rotorblätter, rot-weiß gestreifte
Von rasenden Lichtern und tanzenden Ampeln
Fotos: Frank Vinken | dwb für die RWE Stiftung © Zentrum für Internationale Lichtkunst
Eine Kunst
ohne Utopie
wäre utopisch
Manfred P. Kage: Ammoniumsulfat, 1957
Ein Leben für
das Experiment
Dirk Pörschmann
Die Philosophie des Werks bezieht sich auf die
Idee des heiligen Weiblichen. Ich hoffe damit
anzudeuten, dass Frauen eine Reflexion und
Verkörperung von Natur, Sonne, Himmel und
Land sind. Wir alle sind Frau. Wir alle sind Natur.
Ich möchte meine Überzeugung zum Ausdruck
bringen, dass wir uns auf die Stärke, Intuition
und Weisheit fortschrittlicher und aufgeklärter
Frauen stützen werden, um unseren Platz in der
Natur zu finden und das Gleichgewicht in ihr zu­
rückzugewinnen. Mich beunruhigt, wie weit wir
davon entfernt sind und wie sehr wir um ihren
Erhalt kämpfen, sie dabei aber zugleich weiter
zerstören. Der Spiegel teilt uns mit, dass wir
eine Reflexion unserer selbst, voneinander und
der ganzen Welt sind, die uns umgibt.
•
SPENCER TUNICK, geboren 1967 in Middle­
town, New York, ist berühmt für seine temporä­
ren Landschaftsskulpturen, die er aus nackten
Menschen komponiert und oftmals in gesell­
schaftliche oder politische Kontexte einbettet.
Der Fotokünstler formt seit 1992 Menschen in
zumeist urbanen Zusammenhängen zu neuen
Silhouetten. Dabei variiert die Anzahl seiner
Modelle von einzelnen Personen bis hin zu
18 000 Freiwilligen, die im Mai 2007 in Mexiko-­
Stadt für ihn posierten.
Manfred P. Kage, geboren 1935 in der Nähe von
Leipzig, experimentiert zeit seines Lebens mit
der Mikroskopie. Bereits in den 1950er-Jahren
kristallisierte er mehr als 2 500 anorganische
und organische Verbindungen, um sie auf ihre
„Bildfähigkeit“ hin zu testen und zu fotografie­
ren. Der Kontakt zur Wiesbadener Künstler­
gruppe 56 ermöglichte ihm 1957 seine erste
Ausstellung mit dem Titel Fotografie informell
im Atelier der Malerin Christa Möhring. In
Live-Vorführungen wurden gesteuerte Kristall­
wachstumsvorgänge gezeigt. Nach diversen
Ausstellungen im In- und Ausland folgte 1961
eine Ausstellung zusammen mit Otto Piene in
der Stuttgarter Galerie Müller. Im Sommer 1963
erhielt er gemeinsam mit Gotthard Graubner,
Oskar Holweck, Heinz Mack, Henk Peeters,
Otto Piene, Uli Pohl, Günther Uecker und wei­
teren ZERO-Künstlern den großen Preis der IV.
Biennale Internazionale d’Arte Contemporanea
von San Marino.
Im Verlauf seines Schaffens arbeitete Kage mit
vielen renommierten Künstlern zusammen. Ne­
ben seiner Beteiligung an ZERO realisierte der
Mikrofotograf gemeinsame Projekte mit John
Cage, Walter Haupt, Karlheinz Stockhausen
und Salvador Dalí, für dessen Film Impressions
de la Haute Mongolie – Hommage à Raymond
Roussel er die Spezialeffekte realisierte. Zu­
dem war er an bedeutenden internationalen
Ausstellungen wie etwa den Weltausstellungen
in Montreal (1967) und Osaka (1970) oder ver­
schiedenen Ausgaben der Ars Electronica in
Linz beteiligt.
Um eine ästhetische Farbgestaltung bei mikro­
skopischen Aufnahmen zu ermöglichen, entwi­
ckelte der gelernte Chemielaborant den soge­
nannten Polychromator, einen Filter, der aus
mehreren drehbaren Kristallschichten besteht
und über ein gigantisches Farbspektrum ver­
fügt. Ein weiterer Schritt zur Ästhetisierung von
Kristallstrukturen war 1968 die Konstruktion
eines Repro-Kaleidoskops. Manfred P. Kage,
der Pionier künstlerischer Projektionstechni­
ken, wird im Rahmen der Performance Nacht
am 11. April im Martin-Gropius-Bau das breite
Spektrum seines Schaffens präsentieren. Ei­
nen „Vorgeschmack“ auf Kages Performance
bietet ein kurzer Auszug aus seinem Text „Zur
Realisation des optischen Konzerts“, der in der
dritten und letzten Ausgabe der Zeitschrift
ZERO (Juli 1961) veröffentlicht wurde:
Was mich fasziniert, ist der Versuch einer
ungewöhnlichen Synthese aus den im Allge­
meinen als isoliert betrachteten Bereichen der
gesetzmäßigen Naturvorgänge, dem Bereich
physikalisch-technischer Methoden, mit deren
Hilfe die Vorgänge sichtbar gemacht werden,
und der ästhetischen Produktion, dem zweck­
freien Umgang mit dem, was in Erscheinung
getreten ist. In diesem Grenzgebiet lässt sich
durch sinnvolle Kombination dieser zunächst
verschiedenen Disziplinen meine Absicht ver­
wirklichen: die Idee der total veränderbaren
ästhetischen Objektivation.
Solch ein ästhetisches Ereignis kann bei sei­
nem diaphanen Charakter nur immaterieller
Natur sein – jedenfalls, soweit ich das überse­
hen kann. Denn es ist nicht nur in Farbe und
Form, sondern auch in der Größenausdehnung
veränderbar. Es kann daher nur aus gelenkten
Lichtspielen – aus optischen Projektionen – be­
stehen. Die optische Rhythmisierung folgt zwar
anderen Regeln als die Rhythmisierung von
Geräuschen in der Musik. Trotzdem liegt es
nahe, derartige Demonstrationen in Anlehnung
an die Zeithaftigkeit der Musik als „optische
Konzerte“ zu bezeichnen. [...]
Es zeichnen sich schon jetzt konkrete Möglich­
keiten ab, mit mehreren Solisten und verschie­
den arbeitenden optischen Geräten und Vor­
gängen das „total veränderbare Ästhetikum“,
das optische Konzert zu realisieren. So fremd
es den Ohren auch klingen mag, die Integration
und Summe dieser Überlegungen sind ein Bei­
trag zu einer „Allchemie“ oder besser Kosmo­
gonie des 20. Jahrhunderts. (Manfred P. Kage,
12. April 1961, in: ZERO, Nr. 3, 1961, o. S.)
Projektionen von Manfred
P. Kage sind im Rahmen der
Performance Nacht am 11. April 2015
im Martin-Gropius-Bau zu sehen.
19
SMR: Bei Piene ist es nicht wie in der konkre­
ten Kunst, wo sich ein sehr rationales Zufalls­
prinzip wie etwa bei Gerhard von Graevenitz
oder auch herman de vries durchsetzt. Bei Otto
Piene kann es seriell sein, aber man spürt, da
steckt noch Leben drin. Da spürt man den Atem,
den Rhythmus und die Variabilität.
MB: Der verbrennt noch Sachen. Da spürst du
den Schaffensprozess.
SMR: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es den
Drang, das Subjekt aus der Kunst rauszuhal­
ten. Wieso war diese „Entsubjektivierung“ so
wichtig?
Mary Bauermeister, 2014
Sophie-Marie Remig: Wie kam es zu der
Freundschaft zwischen Otto Piene und Karl­
heinz Stockhausen?
Mary Bauermeister: 1960 fand in meinem
Atelier in der Lintgasse 28 die erste Aufführung
des Lichtballetts von Otto Piene in Köln statt.
Und weil mein Atelier dieses schräge Dach hat­
te, hat sich das Lichtballett nicht wie in einem
viereckigen Raum gebärdet, stattdessen waren
die Lichter unglaublich lang und verzerrt, wor­
auf Karlheinz Stockhausen völlig begeistert
ausgerufen hat: „Boah, das muss ich musika­
lisch machen!“ Es gibt ein Werk von Stockhau­
sen, Kontakte, da hat er diese Erfahrung schon
eingebaut. Da ist ein Ton, eigentlich eine Tone­
bene (imitiert die Töne), die löst sich auf in Bro­
cken, dann werden die Brocken immer wieder
länger (imitiert die Töne) und es endet wieder in
der Fläche. Grandios. Es ist im Grunde die
Übersetzung von dem, was er mit Piene in mei­
nem Atelier erlebt hat.
SMR: Das ist die Entstehungsgeschichte von
Kontakte – das Werk basiert also auf einem
visuellen Eindruck.
MB: Ja. Dem visuellen Eindruck der Verzerrung
des Lichtes. Das hat Stockhausen in Kontakte
umgesetzt. Es wurde erstmals zum Festival der
Internationalen Gesellschaft für Neue Musik
(IGNM) im Sommer 1960 aufgeführt; im März
1960 hatte Stockhausen Pienes Lichtballett
gesehen.
SMR: Piene und Stockhausen planten ein Ge­
meinschaftsprojekt für die Weltausstellung 1970
in Japan. Wie kam es dazu?
MB: Durch ihre Freundschaft, die 1960 in mei­
nem Atelier begonnen hat, haben sie immer
Kontakt gehalten, haben sich gegenseitig Kon­
zertprogramme oder Einladungen geschickt.
Im Jahr 1970 – das heißt, es war im Grunde
schon im Vorfeld, als man wusste, dass in
Osaka der Deutsche Pavillon gebaut wurde –
hat Stockhausen dann vorgeschlagen, ein
Riese­nkugel-Auditorium zusammen mit Piene
zu bauen, weil er sich natürlich dachte, dass in
solch einem Kugelauditorium eine Lichtprojek­
tion noch spannender wäre. Nun waren aber
das deutsche Auswärtige Amt und die Geld­
geber sehr zögerlich und haben im letzten Mo­
ment dann nur Stockhausen den Zuschlag ge­
geben. Für Piene war kein Platz und auch kein
Geld mehr da. Da die beiden das Projekt zu­
sammen konzipiert hatten, hätte man denken
können, jetzt gibt es einen großen Konkurrenz­
kampf. Überhaupt nicht! Piene hat gesagt:
„Okay, mein Freund, mach du es alleine. Ich
wünsche dir viel Glück.“ Eine solche Geste unter
Künstlern, gerade unter männlichen Künstlern –
die sind ja „platzhirschinstinktgeschädigt“ – ist
etwas ganz, ganz Besonderes. Stockhausen
kreierte daraufhin einen riesengroßen blauen
Innenraum, in dem nur noch einzelne Glühbir­
nen waren. Das sah ein bisschen aus wie ein
Sternenhimmel. Aber diese wunderbare Mög­
lichkeit, die Musik, die sich durch den Raum
20
MB: Sagen wir mal so: Piene und Stockhausen
entstammen einer ähnlichen Generation. Ich
bin ein bisschen jünger, aber Piene war auch
nicht im Krieg, oder?
bewegte, auch noch mit Lichtern zu begleiten,
die wurde vertan.
Die beiden waren grandiose Denker, und die
Reduzierung von ZERO entspricht schon den
späten Auswüchsen der seriellen Kunst. Die
serielle Musik kommt ja von Arnold Schönberg,
der allen Halbtönen die gleiche Wertigkeit ge­
geben hat. Das hat dann Anton Webern weiter­
getrieben, indem er sagte: Nicht nur die Halb­
töne, sondern alle Parameter, also Rhythmus,
Lautstärke etc. sind seriell zu komponieren.
Daraus folgten dann Skalen, zwölf Halbtöne,
zwölf verschiedene Rhythmen, zwölf verschie­
dene Instrumente, zwölf verschiedene Laut­
stärken usw., und sie haben dann eigentlich
überhaupt nicht mehr komponiert, indem sie
etwas innerlich Gehörtes aufgeschrieben ha­
SMR: Doch. Als Kindersoldat, als letztes Auf­
gebot.
ben, wie es eigentlich in der Musik üblich war.
Sie haben einfach einen Konstruktionsprozess
zu Papier gebracht.
nur drei Jahre Unterschied sind. Die, die nur
Flakhelfer waren oder nur die Verwundeten auf
einen Haufen geschleppt haben oder wie wir
im Keller den Krieg erlebt haben, das sind ganz
wenige Jahre, und trotzdem ist die Lebensein­
stellung dieser Generation von Kindern völlig
anders als die, die noch getötet hat. Ich kann
da nur von mir erzählen: Es war Ende des Krie­
ges, und ich war in der „Kinderlandverschlep­
pung“ [Kinderlandverschickung] in Kufstein.
Wir haben noch gehamstert. Die ganzen Ge­
schäfte haben ihr Essen weggegeben, weil es
ja sonst in die Hände des Feindes gefallen
wäre. Dann stehst du in langen Schlangen mit
einer Milchkanne und denkst, du kriegst Milch.
Und dann kriegst du vorne Bier. Als Kind. Was
willst du mit Bier? Das sind alles so Dinge, wo
man als Kind die gesamte Absurdität des
Menschseins hinterfragt. Dafür wird getötet?
Jetzt stehen wir hier wegen Bier, ich habe aber
eigentlich Hunger. Dann musst du schnell in
den Keller, weil schon wieder Fliegeralarm ist.
Dann kommst du raus, und es ist schon wieder
ein Haus kaputt. Später wanderte der Feind
ein. Es war helllichter Tag, und wir saßen immer
noch im Keller. Draußen schien die Sonne und
ich hörte Jubel. Ich bin raus aus dem Keller und
weggerannt, die Straße runter. Dann kamen die
Amerikaner und mit ihnen ein Riesenpanzer.
Auf dem Panzer saß ein Farbiger mit blitzeblan­
ken weißen Zähnen und schmiss Bonbons.
SMR: Also vom Geschmack, vom subjektiven
Eindruck des Komponisten befreit?
MB: Deshalb hat das Karel Goeyvaerts
„Selbstlose Musik“ genannt, weil er sagte: „Wir
müssen weg vom Subjekt, vom persönlichen
Geschmack.“ Er nannte das dann „reinen Got­
tesdienst“. Man könnte sagen: nur noch kos­
misch angebunden, nicht mehr an den persön­
lichen Geschmack, das menschliche Gefühl
gekoppelt. Klangmäßig war das natürlich span­
nend, denn das konnte keiner mehr nachvoll­
ziehen. Schönberg hatte noch gesagt: „Ach, in
50 Jahren werden meine Melodien auf der
Straße gepfiffen.“ Er hat sich vertan. Du kannst
eine nicht hierarchisierte Musik nicht erfassen,
wenn weder Rhythmus noch irgendeine Har­
monik vorkommen. In der bildenden Kunst war
das der Goldene Schnitt. Das wurde aufgelöst,
ZERO, kein Goldener Schnitt, kein Hauptwerk
mehr, keine Proportionen, was John Cage ja
dann auch umsetzte.
SMR: Die Zufallsoperation. Er hat versucht,
sich als Komponisten zurückzunehmen, und
nach anderen Kräften zu ordnen.
MB: „If you want music“, sagte Cage, „open
the window.“ Ja, alles ist Musik. Es gibt einen
Ausspruch von Cage, da war er in Amerika mit
Allan Kaprow in einem Konzert von einem eu­
ropäischen Musiker: „It was good music, but it
had one European mistake, it had a climax.“
Und Höhepunkte waren verboten. Das war
nicht mehr „in“. Die Problematik dieser ganzen
Geschichte konnte man in der visuellen Kunst
besonders gut erfahren. Man sieht ein Bild, das
aus lauter Pünktchen besteht. Dann geht man
vorbei. Wenn man das musikalisch für eine
Dreiviertelstunde aushalten muss, ist das eine
andere Herausforderung. Da wird man fast
wahnsinnig. Es gibt keinen Bezug mehr. Das
war am Ende eine Überspitzung einer Metho­
dik, die nicht nachvollziehbar und nur sehr
schwer aufführbar war. Es war eigentlich
wie ein Zu-Tode-Laufen. Es gibt solche Sack­
gassen.
MB: Stockhausen war als Kind Lazaretthelfer,
aber er hat keinen erschossen. Er hat die Toten
auf einen Haufen getragen. Ich weiß nicht, ob
Piene noch schießen musste?
SMR: Nur mit Flugabwehrkanonen. Er musste
also noch gewaltig schießen, aber nicht mit
dem Gewehr an der Front, sondern mit der
Flak.
MB: Das macht einen großen Unterschied.
Die, die aus dem Krieg nach Hause kehrten, die
selber getötet und geschossen haben, das ist
eine völlig andere Generation. Auch, wenn es
Und dann die Frauen, deren Männer noch im
Krieg waren! Wir sind ja mit den Heldensagen
und der Nibelungentreue aufgewachsen. Viele
dieser Frauen wurden zu sogenannten Ami-­
Liebchen. Die Männer waren im Krieg und spä­
ter in Gefangenschaft. Also gingen die Frauen
mit den alliierten Soldaten, um ein bisschen Es­
sen für ihre Kinder und ein paar Zigaretten für
den Schwarzmarkt zu bekommen. Da geht die
zweite Illusion dahin: Die Vorstellung vom
Feind geht kaputt, die Vorstellung von Treue
geht kaputt. Nur das nackte Überleben zählte.
Ich war Gott sei Dank nicht zu Hause, ich war ja
in Kufstein. Ich brauchte das nicht auf meine
Eltern zu projizieren. Die konnte ich noch in
meinem Idealismus retten. Aber die gesamte
Welt mit ihren Vorstellungen, was man tut, was
erlaubt ist, was Gut und Böse ist, war komplett
über den Haufen geworfen.
SMR: Das hat sich dann auf deine Kunst über­
tragen?
MB: Natürlich. Auf alles Gestalterische. Dann
kamen die Bilder aus den Konzentrationslagern
nach dem Krieg. Da siehst du plötzlich die Fo­
tos von Leichenbergen, von Juden, die „unser
Hitler“ umgebracht hat. Dann geht noch einmal
etwas kaputt. Dafür sind unsere Soldaten zer­
stört nach Hause gekommen? Die Väter waren
doch stumm, keiner redete mehr, keiner war
schuld. Alle haben sie Stauffenbergs Akten­
tasche getragen. Keiner hat zugegeben: Ich
war Teil des Hitler-Regimes, ich habe daran
geglaubt, ich bin mitschuldig. Da kannst du
doch keinem Erwachsenen mehr etwas abneh­
men. Und du kannst auch keiner Kunstform
mehr etwas glauben, wenn Beethoven gespielt
wurde und gleichzeitig Juden abgeschlachtet
wurden. Daher fingen wir an, alles zu hinterfra­
gen. Das, was die Nazis verboten hatten, näm­
lich die „Entartete Kunst“, das musste es sein;
also versuchte man, da wieder anzusetzen.
Aber auch da war bei mir noch ein Misstrauen
gegenüber allem „Abbildnerischen“. Ich hatte
das Glück, mit 14 Unterricht bei Günther Ott
(1915 – 2013) zu bekommen, dem späteren
Direktor des Außenreferats der Kölner Museen.
Er unterrichtete damals als Zeichenlehrer an
der Höheren Schule, auf die ich ging. Als Bau­
hausschüler hat er nicht mit dem repräsentati­
ven Abbild angefangen. Wir brauchten kein
Rotkäppchen mehr zu malen oder so einen Un­
sinn, sondern er forderte „kalte, warme Farben,
Kampf der Formen“. Also ganz abstrakte The­
men! Damit war ich in meinem Element, ich
konnte neu anfangen. Um zur Ausgangsfrage
zurückzukommen: Ich kann es nur vergleichen.
Wer in meinem Alter war oder ist, der hat ähnli­
che Erfahrungen gemacht, wo auch immer. Die
Erlebnisse derer, die im Krieg waren und auf
Menschen schießen mussten, waren dramati­
scher. Die Kunst hatte bei ihnen einen persön­
lichen Leidenshintergrund.
SMR: War das Überleben des Krieges ein Frei­
heitsmoment für dich?
MB: Ja, das war der absolute Neuanfang.
SMR: Die ZERO-Künstler waren stark von den
Kriegserlebnissen geprägt, und sie schufen
eine Kunst, die eigentlich nur durch die Kollek­
tiverfahrung des Zweiten Weltkriegs entstehen
konnte.
SMR: Absurd.
MB: Stell dir das vor! Als Kind! Zwei Großeltern
tot, zwei Häuser kaputt, der Vetter gefallen, der
Onkel ohne Bein nach Hause gekommen. Der
Feind, der an allem schuld sein sollte, kommt
und schmeißt Bonbons. Da denkt eine Zehn­
jährige, die Welt ist meschugge. Natürlich ha­
ben die Erwachsenen gesagt: „Die Bonbons
sind vergiftet.“ Wir haben sie trotzdem einge­
sammelt. Wir waren ein kleiner Kindertrupp.
Dann hieß es, jetzt müssen wir gucken, ob die
wirklich giftig sind. Es wurde nach Kinderart
ausgezählt und die Wahl fiel auf mich. Also
habe ich an dem Bonbon geleckt. Da haben sie
mir in die Augen geguckt, ob ich schon vergif­
tet wäre. Nichts. Wir haben sehr schnell her­
ausgefunden, dass die Süßigkeiten nicht ver­
giftet waren, haben aber die anderen Kinder in
dem Glauben gelassen.
Otto Piene während der Vorbereitungen zum Lichtballett im Atelier von
Mary Bauermeister in der Lintgasse 28 in Köln am 26. März 1960
MB: Das ist eine Beobachtung, die sich aus­
dehnen lässt: Das Cabaret Voltaire beispiels­
weise, ebenfalls eine internationale Künstler­
bewegung, ist in der Zeit des Ersten Weltkrieges
entstanden. Während sich die Nationen be­
kämpften, arbeiteten die Künstler bereits an et­
was Gemeinsamen. Brauchen wir den Krieg für
einen Neuanfang? Brauchen wir die totale
Katastrophe? Brauchen wir jetzt wieder einen
Zusammenbruch, um neu anzufangen? Das
frage ich mich. Es muss wahrscheinlich einen
totalen Kollaps geben – wirtschaftlich, ökono­
misch, in jeder Hinsicht –, damit überhaupt neu
angefangen werden kann. Wir sind ja alle
gegen den Kapitalismus gewesen, aber heute
leben wir in einem irren Widerspruch. Ich lebe
vom Kapitalismus. Wer außer dem, der Geld
hat, der sein Geld für sich arbeiten lässt, kann
sich meine Bilder leisten? Das müsste ich ei­
gentlich verhindern, eigentlich dürfte ich das
gar nicht mitmachen, wenn ich meinen Jugend­
idealen treu bliebe.
SMR: Es gab nur wenige Frauen in der Kunst­
szene zu dieser Zeit. Gab es denn den Neuan­
fang in der Kunst nur für die Männer?
MB: Ja, da waren wenige Frauen. Die Frauen
kommen natürlich in der Kunst vor, aber dann
als nackte Frauen auf der Leinwand. Da kom­
men sie immer vor. So wie ja auch bei den
Anthropometrien von Yves Klein.
Es gab 2007 diese tolle Ausstellung im Museum
of Contemporary Art, Los Angeles (MOCA):
WACK!: Art and the Feminist Revolution. Im
Rahmen einer Podiumsdiskussion sagten viele
Lesben: „Endlich habe ich mich befreit, wurde
lesbisch und zeigte meine Nacktheit.“ Es ging
den amerikanischen Frauen darum, zu zeigen,
wie frei sie sind. Ich hielt dagegen: „Wir sind
eine andere Generation. Unsere Mütter, unsere
Frauen haben die Städte aufgebaut. Da waren
keine Männer. Die Frauen haben die Kinder er­
nährt, die haben gehamstert. Wir haben als
Frauen keinen Minderwertigkeitskomplex ge­
habt.“ Das war schon eine deutliche Gegen­
position. Die europäischen Künstlerinnen, die
wenigen, die dabei waren, hatten wirklich einen
völlig anderen Ansatz als ihre amerikanischen
Kolleginnen. Diese Diskussion war sehr span­
nend. Es kommt immer darauf an, wo und wie
du aufwächst.
Bei der Diskussion in New York im MoMA PS1,
eine der weiteren Stationen der Ausstellung,
wo die weißen Frauen ebenfalls das Zeigen ih­
rer Nacktheit als Akt der Befreiung betonten,
meldete sich eine schwarze Künstlerin mit den
Worten: „Wir wurden als Sklaven in unserer
Nacktheit missbraucht, für uns heißt Emanzi­
pation, bekleidet zu sein.“
SMR: Aber was hat dazu geführt, dass diese
Frauen, die nach dem Krieg so viel selbst ge­
leistet haben, trotzdem wieder so gebremst
wurden? Sie hatten doch alles Recht, zu den
Männern zu sagen: Ihr habt Krieg gespielt, und
wir haben hier den Laden zusammengehalten.
MB: Es war teilweise persönliche Erschütte­
rung. Wenn der Vater nach Hause kommt und
die Kinder ihn nicht wiedererkennen, er selbst
von seiner Frau kaum mehr erkannt wird, er
stumm ist, ein Bein verloren hat, ein Auge fehlt
oder er schwerstbehindert ist, weil er einen
Gehirnschuss erlitten hat, dann bist du so im
menschlichen Leid gefangen, dass es dich zu­
rückzieht. Eine unserer typischen Eigenschaften
ist es „to care“, – zu versorgen, zu ernähren, zu
pflegen. Da wirken die alten Instinkte. Warum
die Frauen nach dem Krieg nicht aufgetrumpft
haben? Da brauchte es erst eine nächste Ge­
neration. Die Töchter dieser Trümmerfrauen,
die gesehen haben: Mama, jetzt kommt der
Papa nach Hause, schweigt, ist stumm und ist
trotzdem der Held hier im Haus. Die Töchter
können es hinterfragen. Meine Mutter hat die
Kartoffelsäcke nach Hause getragen und hat
nachts auf dem Feld gestohlen, während mein
Vater gesagt hat: „Ich darf nicht stehlen, ich bin
Akademiker, da verliere ich meine Professur.“
„Hier“, hat meine Mutter gesagt, „fünf Kinder
müssen ernährt werden. Jetzt wird geklaut. Wie
wollen wir denn die Kinder groß kriegen?“
Ich hatte keine Komplexe, eine Frau zu sein.
Ich lief allerdings schon von Kind an mit Leder­
hosen rum und hatte einen tollen älteren Bru­
der. Und ich fand es auch später in meinem
Leben eigentlich spannend, im Windschatten
eines ganz berühmten Menschen zu leben. Er
hat für den Ruhm gesorgt, und ich konnte in
seinem Windschatten wunderbar arbeiten. Ich
habe unseren Haushalt bezahlt, er hat das
Haus abbezahlt. Ich habe nicht darunter gelit­
ten, Frau zu sein, weil ich mein Leben ab mei­
nem zehnten Lebensjahr selbst bestimmt habe.
Ich weiß noch, als Piene, Stockhausen und ich
einmal in meinem Atelier in ein Gespräch über
den Krieg vertieft waren. Das sind Geschichten,
die können Leute, die das nicht erlebt haben,
nicht nachvollziehen. Die können nur zuhören.
Stockhausen musste Leichen und fast tote
Soldaten aus einem Lazarett tragen. Es war
Winter an der Westwall-Front. Er musste sie
auf einen Haufen legen, weil die Betten für die,
für die noch Hoffnung bestand, freigemacht
werden mussten. Auf diesem Totenhaufen
Foto: Peter Fürst © Peter Fürst, VG Bild-Kunst 2015
Bei null ist man bei sich
und der Frage: „Wie nehme
ich die Welt wahr?“
Foto: Peter Fürst © Peter Fürst, VG Bild-Kunst 2015
Foto: Sophie-Marie Remig
Mary Bauermeister im Gespräch mit Sophie-Marie Remig
haben ihm dann sterbende Soldaten Zettel­
chen gegeben oder gesagt: „Such meine Frau,
schau, dass du Kontakt findest.“ Stockhausen
hatte viele Zettelchen mit Namen und Adressen.
Wenn du so etwas erlebt hast, kannst du nach­
her nicht mehr schön Tatatatammtatatamm-­
Körpermusik machen. Da geht es elektronisch
weiter. Da ist Krach und Lärm und Horror in der
Musik. Das geht nicht anders.
SMR: Wie kann es dann sein, dass es bei den
ZERO-Künstlern gerade keinen Krach gibt. Da
ist der Raum erst einmal leer. Ist ZERO denn
eine Verweigerung, sich mit der Vergangenheit
zu befassen?
MB: ZERO kommentiert nicht visuell. Es gibt
keine visuelle Kommentierung des Horrors, so
viel ist klar. Also muss man einen klaren Schnitt
machen. Es ist ein unglaublich guter Name,
diesen Cut ZERO zu nennen ist grandios. Ich
wüsste in der Musik keinen ähnlichen Begriff,
der so klarmacht: Es fängt wieder bei null an.
Das habe ich ja gerade eben versucht, am ei­
genen Erleben klarzumachen: Du machst mit
allem, was Vergangenheit ist, Schluss und
fängst selber wieder an. Bei null ist man bei
sich und der Frage: „Wie nehme ich die Welt
wahr?“ Ich habe immer gekritzelt und gemalt
und mir mein ganzes Leben lang die Welt
zeichnerisch vorgestellt. Meine Welterfahrung
ging visuell vor sich, und von daher kann ich
das sehr gut nachvollziehen. Es fängt nicht
beim lieben Gott an, und es fängt auch nicht
bei irgendwas an, was wir gelernt haben, son­
dern es fängt bei null an.
•
Mary Bauermeister, geboren im September 1934
in Frankfurt / M., studierte von 1954 bis 1955 an
der Hochschule für Gestaltung in Ulm bei Max
Bill und von 1955 bis 1956 an der Staatlichen
Schule für Kunst und Gestaltung in Saarbrücken
bei Professor Otto Steinert.
1960 gründete sie in Köln das Atelier Mary
Bauermeister in der Lintgasse 28, das mit den
von ihr organisierten Konzerten neuer Musik,
Lesungen und Ausstellungen zum Treffpunkt
der Avantgarde und zu einer der Keimzellen der
späteren Fluxus-Bewegung avancierte. Bei ei­
nem Kompositionskurs traf Mary Bauermeister
1961 Karlheinz Stockhausen (1928 –2007). Aus
dieser ersten Begegnung entwickelte sich eine
Beziehung, die beide Persönlichkeiten stark
beeinflusste. Mit Originale wurde im Oktober
1961 ihr erstes Gemeinschaftswerk in Köln
uraufgeführt. Privat war die Ménage à trois zwi­
schen Bauermeister, Stockhausen und dessen
Mary Bauermeister und Heinz Mack (rechts) 1960 im Treppenhaus des
Ateliers in der Lintgasse
Ehefrau Doris für das katholische Köln der
frühen 1960er-Jahre eine echte Provokation.
Gemeinsam zogen sie 1962 in die USA, wo
Bauermeister bis zu ihrer Rückkehr nach
Deutschland im Jahr 1972 erfolgreich arbeitete.
Ihre 1967 geschlossene Ehe mit Stockhausen
wurde 1973 geschieden.
Mary Bauermeister lebt und arbeitet in Rösrath
bei Köln. Ihr autobiografisches Buch Ich hänge
im Triolengitter. Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen ist 2011 in der Edition Elke Heidenreich
bei C. Bertelsmann erschienen.
Mary Bauermeister ist im
Rahmen der Veranstaltungsreihe
dynamo sowohl während der
Performance Nacht am 11. April 2015
im Martin-­Gropius-Bau als auch am
Musik und Film Abend am 6. Juni 2015
in der Akademie der Künste zu
erleben.
one is many
many is one
zero is the gate
the gate is here
here is everywhere
everywhere is nowhere
nowhere is now
now is here
now is this
this is here
is
herman de vries: one is many, 1972
21
Made
in Berlin
20 cm
17 cm
17 cm
22 cm
Pure Reduktion –
so anziehend
ist ZERO
110 cm
Vorder- & Rückenteil
Fotos: Rui Vilela
Tanja Vonseelen
Das original
ZERO-Kleid als
Schnittmuster
Maßstab
1 : 2,5
Seitennähte und Schultern
1 cm Nahtzugabe
Seitennähte und Schultern
schließen
Mit ZERO oder einer großen
weißen Null beschriften
Kunst und Mode bilden oft spannende Allian­
zen. Yves Saint Laurent schrieb 1965 Modege­
schichte mit der Präsentation eines Etuikleides,
dessen Muster von den De-Stijl-Mosaiken des
niederländischen Künstlers Piet Mondrian
inspiriert war. Wohl jeder kennt die spektakulä­
ren Entwürfe der italienisch-französischen
Modeschöpferin Elsa Schiaparelli, deren enge
Zusammenarbeit mit Salvador Dalí in Lobster-­
Kleid, Schuh-Hut oder der berühmten Lippen­
stift-Tasche gipfelte. Aquilano Rimondi huldig­
te Paul Gauguin mit polynesischen Motiven in
seiner Frühjahrskollektion 2014, Miuccia Prada
widmete sich Dadaismus, Konstruktivismus
und Bauhaus, Dries van Noten ließ sich von
Gerhard Richter, Mark Rothko, Francis Bacon,
Jef Verheyen oder Elizabeth Peyton inspirieren.
Umgekehrt designte Tracey Emin für das Mo­
dehaus Longchamp eine Handtasche – eine
Aufgabe, der sich auch Jeff Koons für H&M im
Sommer 2014 stellte. Und nicht zu vergessen:
Otto Piene dozierte von 1951 bis 1964 an der
Düsseldorfer Modeschule, und Heinz Mack
entwarf selbst einen silberfarbenen Overall für
sein berühmtes Sahara-Projekt.
Aktuellster Beweis für die gewinnbringende Li­
aison der beiden Systeme Kunst und Mode
sind die Kollektionen der in Berlin und Paris
lebenden Designerin Monya Wasilewski. Ihr
Label steht für einen klassischen und minima­
listischen Stil mit raffinierten und dennoch
schlicht wirkenden Schnitten, die sich dank
präziser Linienführung und makelloser Verar­
beitung als zeitlos erweisen. Mark R.(othko),
Agnes M.(artin), Slim A.(arons), Hanne D.(arbo­
ven) – bereits die Titel der Kollektionen verra­
ten, wer Pate für die jeweiligen Designideen
stand. „Während des Gallery Weekends in
Berlin habe ich den Kalender der deutschen
Konzeptkünstlerin Hanne Darboven von 1970
gesehen. Diese Arbeit hat mich so gefesselt,
dass sie zum Hauptthema meiner Sommerkollek­
tion 2014 wurde. Ein paar Monate später habe
ich in der Serpentine Gallery in London ein
Buch über das Bild Save The Last Dance For
Me von Mary Heilmann entdeckt, welches wie­
derum zum Konzept für die Winterkollektion
2014 /2015 wurde“, erklärt Wasilewski. So fin­
den sich auf subtile Art Künstler und Werk im
Schnitt, in den Materialien oder den Farben
der Entwürfe wieder und klassische Modelle
werden neu interpretiert. Wer oder welches
Foto: Manfred Tischer © The Estate of Manfred Tischer / www.tischer.org
Monya Wasilewski in ihrem
Entwurf Otto P.
Kunstwerk zum Hauptthema einer Kollektion
wird, ist dabei, so die Modeschöpferin, völlig
unvorhersehbar. „Es ist plötzlich da und be­
schäftigt mich und möchte verarbeitet wer­
den.“ Darüber hinaus entsteht momentan in
Zusammenarbeit mit dem Studio für Architek­
tur Helmut Luck ein neues Label, das künftig
auch Gebäude tragbar macht, zum Beispiel in
Form der Hausmäntel Peter Z., inspiriert von
Zumthors Thermalbad in Vals.
Für dynamo hat die Modedesignerin das
ZERO-Kleid neu interpretiert. Otto Pienes Mo­
deschülerinnen und -schüler trugen diese Kre­
ation 1961 erstmals anlässlich der Präsentation
der dritten und zugleich letzten Ausgabe der
Zeitschrift ZERO: lange Kleider aus schwarzem
Papier, die auf der Vorderseite mit dem weißen
Schriftzug „ZERO“ und auf der Rückseite mit
einer weißen Null bemalt waren. So gekleidet
waren die Studenten Teil einer Performance
vor der Galerie Schmela in Düsseldorf.
Dass das historische ZERO-Kleid sehr schlicht
ist, passt gut zum puristischen Stil der Desig­
nerin, die sich schon immer für reduzierte
Grundformen interessiert hat: „Bei ZERO ist es
im Grunde ein einfaches Rechteck, welches
angezogen zu einer Art Litfaßsäule wird und mit
der Außenwelt über ZERO kommuniziert. Ich
habe die Auswahl der Stoffe verfeinert und da­
bei etwas Weibliches, Modernes und Trag­
bares kreiert.“ So ist mit dem Entwurf Otto P.
ein Kleid entstanden, das ruhig und unaufge­
regt den ZERO-Geist in das 21. Jahrhundert
übersetzt und dessen seitliche Öffnungen auf
puristische Art und Weise eine große weiße
Null symbolisieren.
Das historische ZERO-Kleid
kann live im Rahmen der Performance
Nacht am 11. April 2015 im Martin-­
Gropius-Bau bewundert werden.
Oder man greift mithilfe des Schnittmusters
einfach selbst zu Nadel und Faden. Mit seiner
komfortablen Passform eignet es sich als
flexibler und stilvoller Begleiter im Berliner
Modealltag. Und wer es etwas anspruchs­voller
mag: Das Kleid Otto P. kann direkt über
die Homepage des Modelabels bezogen
werden.
Zur Präsentation der dritten und letzten Ausgabe der Zeitschrift ZERO in der
Düsseldorfer Galerie Alfred Schmela am 5. Juli 1961 ließen junge Frauen und
Männer in schwarzen Kleidern aus Papier Seifenblasen steigen
www.monyawasilewski.com
60 cm
23
ZERO ist …
ZERO inspiriert –
Kinder machen Mode
Auf vergleichbare Weise wird auch der Grund­
zustand eines quantenmechanischen physi­
schen Systems auf Zero festgesetzt, und bei
einer Datenbank ist es möglich, dass sie keinen
Wert hat, was wiederum als ein Nullwert be­
zeichnet wird.
Der Nullwert verweist auf den Grundzustand
eines Systems und weist seinem Wesen nach
eine dreiwertige Logik auf: Eine Bedingung kann
wahr oder falsch oder unbestimmt sein.
Die Nicht-Initiierten können leicht in die Falle
gehen, Zero mit seichter Inhaltslosigkeit oder
lächerlicher Leere zu verwechseln, so wie wenn
man einen Rennwagen, der gerade nicht fährt,
und seinen auf null stehenden Wegstrecken­
zähler für wertlos erachtet, für etwas ohne Nut­
zen oder Energie.
Zero ist ein Konzept, das sich auf ein meditati­
ves Bewusstsein bezieht. Durch einen Medita­
tionsprozess werden die sechs Sinne ermutigt,
einen Ort der mentalen Stille zu erreichen, einen
mentalen Nullpunkt, wo das Selbst auf ange­
messene Weise abwesend ist und man sich in
einem Wahrnehmungszustand befindet, in dem
man weder etwas wegnimmt noch etwas hin­
zufügt und wo man zu einem Geisteszustand
des „Es ist, was es ist“ gelangt. Zero bietet ein
elegantes Nichtvorhandensein eines Subjekts,
um die Palette der sechs Sinne für einen Null­
punkt des Bewusstseins freizumachen, der
sich während des Interagierens mit der Zero-­
Weise entwickeln soll.
von etwas erscheinen, dann impliziert dies, dass
sie von Anfang an keine unabhängige Existenz
besaßen. Existenz einerseits und Nihilismus
andererseits stehen hier daher definitiv nicht zur
Debatte. Die Zero-Weise hat den Kampf zwi­
schen wahr und falsch, Existenz und Nihilis­
mus überwunden.
Relativität als ein dritter Wert des Zero-Begriffs
ist an sich ein relativer Wert, und die Denk­
schulen, die sich an die Relativität halten, akzep­
tieren kontingente Objekte oder kontingente
Wahrnehmungen als weder wahr noch falsch,
etwa ein Ding und seinen Schatten.
Die Denkschulen, die sich mit dem Thema der
(für ihre Existenz oder Erscheinung) voneinan­
der abhängigen Dinge befassen, begreifen,
dass all das, dessen Existenz oder Erschei­
nung von etwas abhängig ist, etwa ein Schat­
ten, nicht wirklich ist. Wäre ein Schatten unver­
änderlich, bedeutete dies, dass er sich nicht
verwandeln ließe. Aber er ist auch nicht falsch,
da er mit echten Eigenschaften innerhalb der
gesamten Welt erscheint.
Zero steht für eine umfassende Relativität,
dass es allen Dingen an einer inhärenten Tat­
sächlichkeit, inhärenten Objektivität, intrinsi­
schen Identität oder einem inhärenten Grund­
koeffizienten mangelt. Die Abwesenheit eines
sich nicht wandelnden Geistes oder Kerns
führt nicht dazu, dass etwas aufhört zu sein,
sondern relativiert es durch und durch.
Zero ist eine Weise, eine Wahrnehmungsweise,
eine Erfahrungsweise, eine Seinsweise, eine
Weise des Analysierens und Wahrnehmens,
die Zero-Weise der Meditation. Durch die
Zero-Weise werden die Sinne gereinigt, ge­
klärt, und es steht uns ein tieferes Bewusstsein
zur Verfügung, und die Dinge, deren wir uns
bewusst sind, tauschen Ort und Zeit, und Din­
ge werden Bewusstsein. Zero ist sowohl für
Kenner als auch für Uninitiierte eine Weise des
Meditierens.
•
Die 2004 gegründete Berlin Metropolitan
School ist eine internationale Ganztagsschu­
le. Die Schule legt besonderen Wert auf den
kulturellen Austausch und die Interaktion von
Menschen verschiedener Nationalitäten. 850
Schülerinnen und Schüler lernen derzeit in
Preschool, Primary School und Secondary
School.
Katharina Apel ist seit 2013 Lehrerin für das
Fach Deutsch an der Berlin Metropolitan
School.
Im Folgenden werden die Begriff Zero und Null um der
besseren Lesbarkeit willen synonym gebraucht (A.d.Ü.).
Frans Jones beantwortete
die Frage „Was ist ZERO?“ am
20. Dezember 2014 auf der Facebook-­
Seite der ZERO foundation.
Wulf Herzogenrath
Julius Schmiedel
Gemessen am Alter unseres Planeten Erde, auf
dessen gesamte Zeitspanne die Menschheit bis­
her nur einen vergleichsweise kleinen Einfluss
gehabt hat, ist es natürlich ungemein schwer,
einen konkreten Nachweis für eine Veränderung
der Welt durch ZERO zu finden. Stellt man sich
nun aber unsere Welt als Hologramm vor, so
braucht es nur den richtigen Referenzstrahl
(frei nach Piene: den „ZERO Point of View“),
um die vielen Spuren sichtbar zu machen, die
sich aus der Interferenz mit dem Objektstrahl
(den ursprünglichen Werken und Ideen ZEROs)
ergeben haben. Erst die Begegnung mit den
Arbeiten und die Beschäftigung mit dem Ge­
dankengut ZEROs ermöglicht es also, den Ein­
fluss von ZERO auf unsere Welt wahrzunehmen.
Von diesem Punkt aus ist es dann abhängig
vom Individuum, wie hell und wie klar dieses
Bild wird.
•
Julius Schmiedel, geboren 1984 in Köln, stu­
dierte Mediale Künste an der Kunsthochschule
für Medien in Köln. In seinen Werken beschäf­
tigt er sich mit Licht, Farbe und ihrer Wahrneh­
mung im Raum.
www.julius-schmiedel.de
Eine Arbeit von Julius Schmiedel
wird im Rahmen des Musik und Film
Abends am 6. Juni 2015 in der
Akademie der Künste zu sehen sein.
24
Henk Peeters
Es gibt keine Kunst, die diese Welt verändern
konnte. Es ist sogar umgekehrt: Kunst sieht an­
ders aus, nachdem die Gesellschaft sich ver­
ändert. „Das gesellschaftliche Sein bestimmt
das Bewusstsein.“ (Karl Marx) Wenn es die
Künstler sein sollen, die diese Welt verändern,
sollten sie eine andere Art Kunst machen. Aber
leider arbeiten die meisten Künstler nur für das
Establishment. Das Etablierte in Frage zu stel­
len und zu unterminieren, ist der wichtigste
Beitrag, den wir als Künstler leisten können.
Mit ZERO haben wir damals einen Anfang ge­
macht, und heute muss man diese Strategie
fortsetzen, indem man sein Zelt auf der Wall­
street aufbaut!
Liam: Uniform, 2014
Heinz Mack 1964 in der Galerie d, Frankfurt/M.
Am 29. März, 19. April und 3. Mai
2015 jeweils von 14 – 17 Uhr können
Kinder im Martin-Gropius-Bau
zusammen mit Sophie-Marie Remig
und Thekla Zell selbst Lichtobjekte
herstellen.
Zero ist Form ist Zero; Zero ist nicht Form ist
nicht Zero. Was immer Form ist, ist Zero, was
immer Zero ist, ist Form.
Transzendente Gruppen von Prinzipien und
Seinsweisen werden durch einfache abstrakte
Bezeichnungen markiert. So ist es auch mit der
Idee der Kausalität, weil alles in Abhängigkeit
von etwas entsteht. Wenn wir das nicht im
Auge behalten, können Objekte als real erschei­
nen, es eine Weile sein und danach aufhören zu
existieren. Wenn Phänomene in Abhängigkeit
Auf dem Schulhof der Berlin Metropolitan
School in Berlin-Mitte kommen jeden Tag 48
unterschiedliche Nationalitäten zusammen.
Genau hier begegnen wir erstmals dem
ZERO-Geist, denn eine internationale Gemein­
schaft ist eine dynamische Gemeinschaft.
Kinder unterschiedlichster Nationen, Kulturen
und Religionen bekommen hier viel Raum und
den perfekten Rahmen für ein inspirierendes
Lernumfeld.
ZERO fasziniert. Die Schüler der Klasse 2a
diskutieren viel: Was ist ZERO? Was wollten
die Künstler mit ihrer Kunst verändern? Wie
stellten sie sich die Zukunft vor?
Schon 1961 prophezeite Heinz Mack: „Morgen
werden wir auf der Suche nach einer neuen
Dimension der Kunst auch neue Räume auf­
suchen müssen.“
Mack ging in die Wüste. Nahe der tunesischen
Oase Kebili hantierte er fünf Tage lang mit
halb technischen, halb fantastischen Kunst­
gebilden im Sonnenlicht. Es entstand der Film
Tele-Mack, in dem er die Energie und die Kraft
des Lichts experimentell erforscht und doku­
mentiert. Inspiriert von den Überlegungen der
ZERO-Visionäre und dem von Mack selbst ge­
stalteten silbernen Anzug, beschlossen die
Kinder, Mode zu entwerfen. Funktionale Hüte
mit Rasseln und integrierten Kopfhörern. Bei­
nahe nutzlose, aber sehr ausgefallene Brillen.
Kleidsame Umhänge und rüstungsähnliche
Wämser. Wie bei den ZERO-Künstlern selbst
standen auch bei den Kindern die große Freu­
de am Experiment und der Spaß im Umgang
mit unterschiedlichsten Materialien im Vor­
dergrund. So entstanden Mode-Ideen für eine
neue Zukunft.
Fotos: Katharina Apel
Für einen zweifelsfreien (in Kelvin berechneten)
Wärmegrad etwa ist Null die kleinste wahr­
scheinliche nummerische Menge. Dies ist ein
markanter Unterschied, wenn man es mit Tem­
peraturen auf der Celsiusskala vergleicht, wo
Null willkürlich als jene Stufe definiert wird, auf
der Wasser gefriert. Bei der Bestimmung der
Intensität von etwas Hörbarem in Dezibel wird
die Nullstufe willkürlich an einem Bezugswert
festgemacht, etwa an einem Wert der Schwelle
der Hörbarkeit.
Elsevier’s Weekblad, Amsterdam, 17. März 1962; unten: Flugblatt Zéro der neue Idealismus, 1963
Für viele Phänomene hat Zero/Null eine sehr
spezielle Funktion. Bei manchen Phänomenen
lässt sich der Nullwert auf natürliche Weise von
allen anderen Ebenen aus erkennen, während
er im Gegensatz hierzu bei anderen Phänome­
nen mehr oder weniger zufällig gewählt wird.
© Heinz Mack, VG Bild-Kunst 2015
Katharina Apel und
Sophie-Marie Remig
Frans Jones
Die Leistung von Walter Gropius, Oskar
Schlemmer, László Moholy-Nagy und ihren
Kollegen am Bauhaus der 1920er-Jahre war
nicht das utopische Denken allein, sondern das
Realisieren in einem eher feindlich agierenden
Umfeld. Utopien erträumten sich 1918/1919
viele nach dem Zusammenbruch des Kaiser­
reichs, den Materialschlachten des Ersten
Weltkrieges und den ersten revolutionären Auf­
brüchen. Doch die Tat im banalen, rauen Alltag
erweist sich immer komplizierter, und die Wi­
derstände werden immer größer, je näher die
Realisierung rückt. Die Manifeste der Schulre­
formen, die Verbindung von Kunst und Hand­
werk, ja von Kunst und Industrie, von der Einheit
und dem Zusammenklang der Künste – davon
träumten viele in den Studios und an den
Schreibtischen, doch nur Gropius und seine
Mitstreiter realisierten im kleinen, kulturbürger­
lichen Weimar mit und gegen eine thüringische
Bürokratie das Staatliche Bauhaus.
Mit diesem Vorspann beziehe ich mich dann
auch auf die Situation mehr als 30 Jahre spä­
ter, als in den 1950er-Jahren die drei ZERO-­
Künstler, Heinz Mack, Otto Piene und Günther
Uecker – jeder auf seine spezifische Weise,
doch sich untereinander stärkend durch ge­
meinsame Auftritte, Zeitschriften, Ausstellungen
und Pamphlete –, daran gingen, nicht nur eine
neue Kunst zu entwickeln in einer sich wan­
delnden Welt, ein Jahrzehnt nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges, der verzögerten
Wahrnehmung des Holocausts, der Taten der
Väter-Generation. Da träumten junge Künstler
von einer sich der Erdenschwere und Banalitä­
ten befreienden Kunst. Inmitten restaurativer
Politik-Realität und wirtschaftlich prosperieren­
der Zeit wollten die Künstler in neue Räume
vordringen. Die Kunstwerke entstanden nicht
für die Wohnzimmer der Wohlstandsbürger,
sondern in unberührten Wüstenlandschaften.
Oder sie stiegen in den Himmel auf, gestalteten
neue Erdformationen, Felder oder Wälder. Sie
sollten über die kleine rechteckige Leinwand im
Studio des einsamen Künstlers hinausweisen.
Die Kunstwerke der ZERO-Künstler veränder­
ten das Licht, die Farben der Wüste, die sich in
neuen Materialien spiegelten. Der Regenbogen
wurde real über Hunderte von Metern gespannt
Anmeldungen an:
[email protected]
und halbe Wälder geweißelt – alles, um neue
Räume zu erobern, neue Wahrnehmungsformen
zu schaffen und ein neues Sehen für einen neu­
en zukünftigen Menschen zu realisieren. Kunst
konnte sich in neuen Feldern ausbreiten, etwa
in den Wissenschaften; die Lehre verknüpfte
international und intermedial.
Und wiederum kaum zwei Generationen später
kann eine solche idealistische Haltung anre­
gendes Vorbild sein, in einer Zeit, in der auf der
einen Seite der Kunstmarkt mit all seinen
Zwängen und Möglichkeiten vorherrschend
scheint, und andererseits der Künstler sich in
soziologische Feldforschungen der global sich
ausbreitenden Wirtschaftsmächte in neue und
andere Zwänge begibt. Bleibt in der Dualität
zwischen affirmativem Kunstmarkt und papie­
rener Politkunst kein Raum mehr für Ideale,
Individualitäten, Träume, Spinnereien, Flucht­
bewegungen aus allen scheinbaren Zwängen
und Selbstverständlichkeiten nicht genügend
Anregungspotenzial? Sind die neuen virtuellen
Welten einer immateriell vernetzten Welt nicht
legitime Fortsetzungen der ZERO-Träume um
1960, die sich bewusst an Objekte und persön­
liche sinnliche Erfahrungen binden wollen?
Aber gibt es eine Kunst ohne Sinnlichkeit und
Emotion, ohne Vision einer Veränderbarkeit?
Der Mensch hat sich nicht wirklich verändert,
nur seine Werkzeuge und Gestaltungsmittel
wandeln sich. Und seine Visionen?
•
Wulf Herzogenrath ist Direktor der Sektion für
Bildende Kunst an der Akademie der Künste,
Berlin.
Gemeinsam mit Daniel Birnbaum
und Dirk Pörschmann (beide ZERO
foundation, Düsseldorf) veranstaltet
Wulf Herzogenrath im Rahmen des
Begleitprogramms dynamo ein
Symposium, das am 1./2. Mai in der
Akademie der Künste am Pariser Platz
Fragen zur Aktualität von ZERO
diskutiert.
25
Uecker
7. 2. – 10. 5. 2015
K20 Grabbeplatz, Düsseldorf
Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
widmet Günther Uecker die erste Ausstellung
in seiner Wahlheimat Düsseldorf. Die
Band­­breite der Ausstellung in der Grabbehalle
reicht von Werken mit politischen Aussagen
bis hin zu meditativen Schöpfungen, in denen
sich der Künstler intensiv mit der Wirkung
des Lichts auseinandersetzt. Weitere Themen
sind der Stellenwert von Film und Schrift bei
Uecker, dessen weltweite Rezeption ebenfalls
dargestellt wird. Parallel zu seiner Ausstellung
wird Günther Uecker eine neue Arbeit im
Labor des K20 zeigen.
Olafur Eliasson. Werke aus der
Sammlung Boros 1994 – 2015
18. 4. – 18. 10. 2015
Langen Foundation, Neuss
Mit rund 40 Werken von Ólafur Elíasson
ist die Sammlung Boros in Berlin eine der
umfangreichsten Sammlungen von Arbeiten
des dänisch-isländischen Künstlers weltweit.
Die Ausstellung erlaubt den Blick auf Elíassons
Arbeit aus der Perspektive der Sammler und
bietet mit Werken, die von 1994 bis in die
Gegenwart entstanden sind, zugleich einen
repräsentativen Überblick über das Werk des
Künstlers seit seinen Anfängen. Zur Ausstel­
lung erscheint ein Katalog im Distanz Verlag.
herman de vries.
to be all ways to be
9. 5. – 22. 11. 2015
Niederländischer Pavillon
56. Internationale Kunstausstellung
La Biennale di Venezia, Venedig
herman de vries repräsentiert die Niederlande
auf der 56. Internationalen Kunstausstellung
von Venedig. Unter dem Titel to be all ways
to be zeigen die Kuratoren Colin Huizing und
Cees de Boer im niederländischen Pavillon
neue Skulpturen, Objekte, Papierarbeiten und
Fotografien des 1931 geborenen Künstlers.
Foto: Thomas Höpker
Foto: LWL / Hanna Neander
Für einen eigenen Otto Piene einfach
zwei Zeitungsseiten übereinander­
legen, mit einer Nadel die vorge­
zeichneten Punkte der sechs Kreise
nachstechen, eine Taschenlampe
hinter die mit Löchern versehenen
dynamo-­Seiten halten, diese leicht
gegeneinander bewegen und sich
über das kleine Lichtballett freuen.
Foto: Jens Ziehe © 2003 Ólafur Elíasson
Nur eine Nadel und eine Taschenlampe
benötigt man, um das Lichtballett
von Otto Piene selbst ausprobieren zu
können.
Foto: herman de vries archive
… im Museum
Foto: Andreas Endermann, 2015 © Kunstsammlung NRW
Kunstvoll – eine ZERO-Idee zum Selbstmachen
Heinz Mack. Licht Schatten
16. 5. – 20. 9. 2015
Museum Frieder Burda, Baden-Baden
Das Museum Frieder Burda widmet Heinz
Mack eine besondere Sommerausstellung, die
sich auf die Werkgruppe der Reliefs konzen­
triert. Insbesondere im Relief eröffnet der
Künstler dem Licht ungeahnte Möglichkeiten:
Durch die plastische Struktur seiner Oberflä­
chen und die unterschiedliche „Lichthaftigkeit“
der gewählten Materialien wird das einfallende
Licht reflektiert, absorbiert und gestreut. Die
Ausstellung entsteht in enger Zusammenarbeit
mit Heinz Mack und wird von Helmut Friedel
kuratiert.
Otto Piene. Licht
13. 6. – 20. 9. 2015
LWL – Museum für Kunst und Kultur,
Münster
Die Ausstellung setzt den Fokus auf die
Bedeutung des Lichtes im Werk von Otto
Piene, angefangen von frühen Lichtarbeiten
der 1950er- und 60er-Jahre bis hin zu
aktuellen Kunstwerken, die erstmals in der
Öffentlichkeit gezeigt werden. Piene verband
seit Jahrzehnten eine enge Beziehung zum
LWL – Museum: Seine Lichtarbeit Silberne
Frequenz, die er für die Außenfassade des
Anbaus von 1972 realisierte und für den
Neubau weiterentwickelte, aber auch die für
das Museum konzipierte Rauminstallation
Geschichte des Feuers sind zwei seiner be­deutenden Arbeiten. Aus dieser freundschaft­
lichen Verbindung heraus entstand einige
Monate vor seinem Tod gemeinsam die Idee
zur Ausstellung, die nun durch seine Witwe
Elizabeth Goldring Piene umgesetzt wird.
… in Berlin
… im Buch
Christian Megert
19. 3. – 28. 3. 2015
Galerie Volker Diehl, Berlin
www.galerievolkerdiehl.com
© ITN Source, London
© Hessischer Rundfunk (HR), Frankfurt/M.
Nanda Vigo
19. 3. – 28. 3. 2015
Diehl Cube, Berlin
www.diehl-cube.com
ZERO
Katalog zur Ausstellung ZERO. Die
internationale Kunstbewegung der 50er &
60er Jahre, Martin-Gropius-­Bau, Berlin
(21.3. – 8.6.2015) sowie ZERO. Let Us Explore
the Stars, Stedelijk Museum, Amsterdam
(4.7. – 8.11.2015)
Hrsg. Dirk Pörschmann und Margriet
Schavemaker
Verlag der Buchhandlung Walther König,
Köln, 2015
ISBN 978-3-86335-696-5
Mit Texten von Antoon Melissen, Johan Pas,
Dirk Pörschmann, Francesca Pola, Margriet
Schavemaker, Thekla Zell und einem Interview
von Mattijs Visser mit Daniel Birnbaum
Die Publikation bietet eine umfassende und
reich illustrierte chronologische Dokumentation
der Ausstellungen, Aktionen und Publikationen
der internationalen ZERO-Bewegung. Einen
weiteren Schwerpunkt bilden die 45 Künstler-­
Portfolios mit großformatigen Werkabbildungen,
Künstlerporträts sowie erstmals übersetzten
Künstlertexten. Neben wissenschaftlichen
Texten zu zentralen ZERO-Themen runden
ein komplett bebildertes Werkverzeichnis sowie
der Reprint einer von herman de vries 1964
veröffentlichten Bibliografie das Buch ab.
Deutsch/Englisch/Niederländisch,
je 560 Seiten, Broschur
45,00 € (Buchhandelsausgabe)
nulnu: two reprints
nul = 0, serie 1 (no. 1 & no. 2) and
three essays ( yccahier 1)
Hrsg. Petri Leijdekkers und Mattijs Visser
yssel centre for contemporary arts (ycca) und
ZERO foundation, Deventer und Düsseldorf,
2014
Reprint von zwei Nummern der Magazine
nul = 0, die 1961 und 1963 von den hollän­di­
sch­en Nul-Mitgliedern Armando, Henk Peeters
und herman de vries publiziert wurden. Die limi­
tierte Edition beinhaltet neben den Reprints der
Magazine und den Essays ein Kunstwerk von
herman de vries und eines von Henk Peeters.
Band 1: Essays (Essays von Petri Leijdekkers,
Antoon Melissen und Johan Pas und einer
Einführung von Mattijs Visser), 30 Seiten
Band 2: nul = 0, serie 1, no. 1
(November 1961), Reprint, 17 Seiten
Band 3: nul = 0, serie 1, no. 2
(April 1963), Reprint, 22 Seiten
Deutsch/Englisch/Französisch,
2 Magazine + Essayband in einer Mappe
27,00 €
Limitierte und nummerierte Edition
(Auflage 54 Exemplare)
540,00 €
ZERO Künstler-Paket: Heinz Mack,
Otto Piene, Günther Uecker
Hrsg. Jürgen Wilhelm
Hirmer Verlag, München, 2015
ISBN 978-3-7774-2383-8
Heinz Mack und Otto Piene werden in
biografischen Porträts vorgestellt, die durch
Interviews mit langjährigen Weggefährten
entstanden. Günther Uecker gibt im
Gespräch mit Hans Strelow eine künstlerische
Selbstauskunft von einmaliger Intensität.
Hunderte von zumeist noch nie gezeigten
Fotografien verschaffen Einblicke in das
Arbeitsumfeld und die Freundschaften der
Künstler. Sie und die Gesprächspartner öffnen
ihre privaten Fotoalben.
Band 1: Mack (Interviews mit Weggefährten
von Heinz Mack, geführt von Annette Bosetti)
Band 2: Piene (Interviews mit Weggefährten
von Otto Piene, geführt von Christiane
Hoffmans)
Band 3: Uecker (Gespräche zwischen
Günther Uecker und Hans Strelow,
Gesprächsleitung Bertram Müller)
Deutsch, je ca. 160 Seiten, gebunden mit
Schutzumschlag, 3 Bände im Schuber
ca. 49,90 €
The Artist as Curator: Collabo­rative
Initiatives in the International ZERO
Movement, 1957–1967
Hrsg. Tiziana Caianiello und Mattijs Visser
AsaMER, Gent, 2015
ISBN 978-94-9177-568-0
Das Buch richtet seinen Fokus auf die Frage
nach dem Engagement der Künstler als
Initiatoren und Organisatoren von Gemein­
schaftsprojekten innerhalb der ZERO-Bewe­
gung und greift hiermit einen von der Wissen­
schaft bislang völlig vernachlässigten Aspekt
auf. Zwischen dem Ende der 1950er- und der
Mitte der 1960er-Jahre kooperierten Künstler
aus Deutschland, Italien, den Niederlanden,
Belgien, Frankreich und der Schweiz, um
durch gemeinsame Ausstellungen, Aktionen
und Publikationen Plattformen für ihre Kunst
zu schaffen. In einem weitgehend noch
konservativen Kunstbetrieb, der ihnen kaum
Präsentationsmöglichkeiten bot, wurden
die Künstler selbst als Ausstellungs- und
Eventmanager sowie als Herausgeber tätig.
Die von der ZERO foundation initiierte
Publikation präsentiert das erste gedruckte
Ergebnis der mehrjährigen Zusammenarbeit
einer internationalen Forschungsgruppe von
Kunsthistorikern.
Englisch, ca. 482 Seiten, Hardcover
ca. 39,90 €
Zu bestellen unter [email protected]
Der Erlös dieser Publikationen wird in
zukünf­tige Veröffentlichungen oder Projekte
von ycca investiert.
Hermann Goepfert –
Licht als Vision
20. 3. – 18. 4. 2015
Villa Grisebach, Berlin
www.villa-grisebach.de
Nanda Vigo and ZERO friends
20. 3. – 25. 4. 2015
WeGallery, Berlin
www.wegallery.de
Adolf Luther –
Integration of Light and Space
20. 3. – 30. 5. 2015
401 Contemporary, Berlin
www.401contemporary.com
Otto Piene
24. 3. – 18. 4. 2015
ARNDT, Berlin
www.arndtberlin.com
Lothar Wolleh:
Die ZERO-Künstler
1. 5. – 7. 6. 2015
pavlov’s dog, Berlin
www.pavlovsdog.org
… im Film
Claudia und Herbert Piene beim Spielen des Lichtballetts, Düsseldorf,
1962 (Filmstill aus Gerd Winkler: 0 × 0 = Kunst. Maler ohne Farbe und
Pinsel, Hessischer Rundfunk, Erstausstrahlung 27. Juni 1962)
Heinz Mack: Licht Schatten
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung,
Museum Frieder Burda, Baden-Baden
(16.5. – 20.9.2015)
Hrsg. Stiftung Frieder Burda
Hirmer Verlag, München, 2015
ISBN 978-3777424125
Mit Texten von Heinz Mack und Helmut
Friedel
Deutsch, 168 Seiten, Hardcover
ca. 39,90 €
Armando. Between knowing
and understanding
Hrsg. Antoon Melissen
nai 010 Publishers, Rotterdam, 2015
ISBN 978-94-6208-186-4
Mit Essays von Niels Cornelissen, Anke
Hervol, Antoon Melissen und Yvonne Ploum
Englisch/Niederländisch, je 272 Seiten,
Hardcover
45,00 €
Hermann Goepfert
Hrsg. Beate Kemfert
Hatje Cantz, Ostfildern, 2015
ISBN 978-3-7757-3983-2
Mit Texten von Beate Kemfert, Francesca Pola
und Ulrike Schmitt
Deutsch/Englisch, 288 Seiten, Hardcover
49,80 €
Uecker
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung,
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K20
Grabbeplatz, Düsseldorf (7.2. – 10.5.2015)
Hrsg. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen,
Düsseldorf
Nicolai Verlag, Berlin, 2015
ISBN 978-3-89479-937-3
Deutsch, 156 Seiten, Broschur
34,00 €
Stunde Null – die Kunstbewegung ZERO
Dokumentarfilm von Anna Pflüger und Marcel
Kolvenbach, Deutschland 2014
ARTE EDITION / Kunstverlag Till Breckner
ISBN 9-783939-452225
Deutsch/Französisch/Englisch mit Untertiteln,
52 Min., DVD 5
14,90 €
Otto Piene bei der Aufführung des Lichtballetts, 1959 (Filmstill aus der Dokumentation zur Ausstellung Dynamo 1,
Galerie Renate Boukes, Wiesbaden, in: Fox Tönende Wochenschau, Nr. 71, 1959, Bundesarchiv, Berlin)
26
27
dynamo
Die Leere mit Bedacht gefüllt
dynamo
Begleitprogramm zur Ausstellung
ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50er & 60er Jahre
21. 3. – 8. 6. 2015, Martin-Gropius-Bau, Berlin
jajaja
gestern heute morgen leben welt ich tun sehen
malen farbe licht raum bewegung kontinuum ruhe
unruhe vibration distinktion reinheit schönheit
[...]
ZERO hat die Grenzen der bildenden Kunst zur Musik, zum Theater, zur Performance, zur
Poesie und zum alltäglichen Leben überschritten. ZERO spricht alle Sinne an. Nach Ideen
von Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker wird im Rahmen von dynamo die Leere mit
Bedacht gefüllt werden: mit Musik, Stille, Tanz, Ideen, Performances, Worten und Kunstwerken. dynamo entdeckt die künstlerischen Konzepte und Energien der historischen ZERO-Zeit
in der Gegenwart.
In verschiedenen Veranstaltungen dreht sich alles um die bewusste Verbindung von Kunst
und Leben. Viel mehr als der Versuch, eine historische Kunstbewegung zu aktualisieren,
sollen die verschiedenen Events Orte eines lebendigen Spiels sein, das die Sinne erregt und
Weitere Informationen unter www.4321zero.com
den Atem befreit.
Heinz Mack, Otto Piene: „dynamo“, in: Nota, Nr. 4, 1960
Performance Nacht
Vorträge und
Gespräche
Foto: Mattijs Visser
„Ich esse ZERO, ich trinke ZERO, ich schlafe ZERO, ich wache ZERO …“ (ZERO-Manifest, 1963) – Wer hat
nicht schon von einer Nacht im Museum geträumt, davon, einem Tänzer oder einer Opernsängerin in einer
Kunstausstellung zu begegnen oder mit Yves Klein zu schlafen? Die Performance Nacht geht von einem Konzept
des ZERO-Künstlers Günther Uecker aus: Alle Ausstellungsräume werden zwölf Stunden lang bei gedämpftem
Licht für das Publikum geöffnet sein. Die Besucher (idealerweise in Weiß gekleidet) erleben die Architektur, die
Kunst und Geräusche auf ganz neue Art. Im Zentrum der Nacht steht kurz vor 0 Uhr die fulminant-monochrome
Symphonie Monoton Silence von Yves Klein mit über 80 Orchestermusikern und Chorsängern. Davor und da­
nach bewegen sich Sänger, Musiker, Tänzer und Besucher spielerisch und frei durch die verschiedenen Räume.
Musik und Film Abend
ZERO ist Musik. ZERO ist Experiment. ZERO ist Poesie. Die Künstler des Musik und Film Abends kommen aus
verschiedensten Richtungen und dennoch eint sie der Gedanke, außerhalb des musikalischen Mainstreams zu
stehen. Hauschka oder Hans-Joachim Roedelius spielen auf traditionellen Instrumenten, die sie auf ganz eigene
Weise benutzen. Mary Bauermeister erfindet Instrumente, um neue Hörwelten erfahrbar zu machen. Nach einer
Idee von Heinz Mack findet der Musik und Film Abend in Werner Düttmanns elegant-minimalistischen Räumen
der Akademie der Künste im Berliner Tiergarten statt. Neben Konzerten im großen Studio gibt es, im gesamten
Haus verteilt, musikalische Interventionen, Improvisationen, Installationen und Filme zu erleben.
In Kooperation mit Akademie der Künste
In Kooperation mit Akademie der Künste
Akademie der Künste, Pariser Platz 4,
Plenarsaal
Anmeldung unter [email protected]
Eintritt frei, in englischer Sprache
Foto: Ute Mack, 2011
1. Mai, 20 Uhr
Foto: Florian Tanzer
Die ZERO foundation möchte mit internationalen Wis­
senschaftlern und Künstlern die Frage diskutieren,
welche Relevanz die Künste für die Erzeugung von
Wirklichkeit haben. Wie kann die Welt positiv gestal­
tet werden? Welche Verantwortung tragen dabei die
bildende Kunst oder die Architektur? Gibt es noch
ausreichend Tagträume und Utopien, die uns den
Blick zu neuen Horizonten öffnen können? In Koope­
ration mit der Berliner Akademie der Künste werden
renommierte Teilnehmer dieses weite Feld diskursiv
in Gesprächen und Vorträgen vermessen.
Foto: Sophie-Marie Remig
Foto: Nathan Weber
Pyrolator
The Ray oder Sub
Kurt Dahlke ist Mitbegründer des Schallplattenlabels
und Musikverlags Ata Tak, Mitglied in den Gruppen
Fehlfarben, Der Plan, The Nights sowie a certain frank
und tritt solo als Pyrolator auf. Seine Haupt­instrumente
sind die vom Synthesizerpionier Donald Buchla
gebauten Thunder und Lightning II, bei denen die
Steuerung der Musik durch die Bewegung oder den
Druck der Hände geschieht. „Inspiriert haben mich
neben meiner Liebe zur Musik besonders meine
Beziehungen zu Künstlern der Düsseldorfer Kunst­­akademie. Einige Erlebnisse haben mich besonders
geprägt, wie 1977 der Besuch der documenta 6 oder
ein Konzert der Gruppe Wire in Düsseldorf. ZERO
war mir damals schon ein Begriff, weil mir mein Vater
schon früh Werke von Günther Uecker nahebrachte.
Schließlich habe ich mich auch mit anderen Künstlern
von ZERO beschäftigt, wobei mich besonders
die Lichtplastiken und kinetischen Arbeiten von Otto
Piene interessieren, auf die sich auch mein Werk
The Ray bezieht.“ (Kurt Dahlke, 2015)
HERMESensemble mit Mary Bauermeister
Prozession (Karlheinz Stockhausen),
Grand Unified Theory of Everything
(Rolf Gehlhaar) und Improvisations
HERMESensemble ist ein in Antwerpen ansässiges
Kollektiv für zeitgenössische Musik und Kunst. Es
wurde im Jahr 2000 gegründet, hat sieben feste
Mitglieder und arbeitet in wechselnden Zusammen­
setzungen. Das Repertoire und die Aufführungs­
praxis der klassischen Avantgarde sind die
Ausgangspunkte der Produktionen, doch das
Ensemble versucht bewusst, künstlerische Grenzen
zu überschreiten. Im Verlauf der letzten Jahre ist sehr
viel Energie in die Erforschung der Aufführungspraxis
des Werks von Karlheinz Stockhausen geflossen.
In Zusammenarbeit mit der Stockhausen Foundation
wurde dessen Werk Schönheit (2006) erforscht,
produziert und mehrfach öffentlich aufgeführt. In der
Spielzeit 2015/2016 werden Karin De Fleyt und das
HERMESensemble Stockhausens legendäres Werk
Prozession (1967) aufführen.
Daniel Birnbaum
Daniel Spoerri
Simultanlesung
Im Jahr 1959 realisierte Daniel Spoerri zum ersten
Mal bei einer Ausstellung seines Freundes Jean
Tinguely eine Simultanlesung. Daraus entwickelte
sich seine Arbeit Autotheater, die er kurz darauf
erstmals im Hessenhuis in Antwerpen präsentierte.
Spoerri wird gemeinsam mit Sarah Wiener, die
im Rahmen der Performance Nacht sein Eat-ArtKonzept Die Küche der Armen der Welt realisieren
wird, eine Simultanlesung aufführen. Dabei werden
selbstverfasste Texte zeitgleich gelesen. Durch die
Simultanität und die für den Leseprozess bewusst zu
schnell eingestellte Rotationsgeschwindigkeit der
motorisierten Textrollen wird die Wahrnehmung der
Besucher auf die Probe gestellt. Es entstehen neue
und zufällige Sinnzusammenhänge.
Eintritt frei
Foto und © Filip Van Roe
Foto: Daniel Spoerri
C. Wilp © bpk / Yves Klein, VG Bild-Kunst / Adagp, 2015
11. April, 20–8 Uhr
Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Berlin
Eintritt 11,00 € / erm. 8,00 € / in komplett weißer Kleidung Eintritt frei
Work in Progress – Berlin and Guests mit
Berliner Cappella
Symphonie Monoton Silence (Yves Klein)
Choreinstudierung: Kirsten Behnke
Dirigent: Gerhardt Müller-Goldboom
Yves Kleins Symphonie Monoton Silence ist mehr ein
musikalisches Phänomen als ein Stück. Sie ist aus
dem gleichen Geist wie seine monochromen Bilder
geboren. Ein Hörer wird sich seiner tief berührenden
harmonischen Wirkung kaum entziehen können.
Wichtiger Bestandteil der musikalischen Aufführung
ist die sich anschließende Stille. Leere, Stille und
Konzentration sind essenzielle Facetten der ZEROKunst. „Mich und die Musiker von Work in Progress –
Berlin fasziniert die unmittelbare Urkraft des Klangs,
die uns in der nachhallenden Stille wie eine Natur­
essenz begegnet.“ (Gerhardt Müller-Goldboom, 2015)
Noch nie wurde Kleins Symphonie mit so vielen
Musikern und begleitendem Chor aufgeführt.
6. Juni, 20–0.30 Uhr
Akademie der Künste, Hanseatenweg 10
Foto: David Yamazaki
In Kooperation mit Berliner Festspiele / Martin-Gropius-Bau. Mit freundlicher Unterstützung durch
Haus der Kulturen der Welt
Begrüßung
Klaus Staeck
Einführung
Daniel Birnbaum
Keynote
Rem Koolhaas
2. Mai, 10–22 Uhr
Begrüßung
Wulf Herzogenrath
Vorträge
Tiziana Caianiello
Floris Dreesman
Maria Finders
Dirk Pörschmann
Dieter Jung
Mark Wigley
Semir Zeki
u. a.
Mireille Capelle
Figures (nach einem Gedicht von Otto Piene)
Gesangsperformance
Elizabeth Goldring Piene und
Tomás Saraceno im Gespräch mit
Mattijs Visser
Chor der Kulturen der Welt
Fragen an das Licht
Chor-Installation
Pablo Wendel im Gespräch
mit Stephan Muschick
u. a.
Foto: Colin Huizing
Weitere Highlights:
Gespräche
Ólafur Elíasson im Gespräch
mit Michelle Kuo
Manfred P. Kage mit der Musik von
Kammerflimmer Kollektief
Science-Art
Installation und Musik
Laurie Young und Johannes Malfatti
How is Now – Zero Version
Laurie Young, in Toronto geboren, lebt seit 1996 in
Berlin und gehörte lange zum Ensemble von Sasha
Waltz. Sie arbeitete auch mit Choreografen wie Meg
Stuart, Constanza Macras, Benoît Lachambre, Emio
Greco und Nasser Martin-Gousset. Ihre erste eigene
Kreation, das Solo Brand New Bag, entstand 2000
an der Schaubühne Berlin. Für die Perfomance Nacht
überarbeitet sie ihr Duo mit dem Drummer Johannes
Malfatti aus dem Jahr 2014. Der Raum wird mit einem
Drumset, einer Tänzerin und Licht ausgestattet.
Ursprünglich als einstündige Performance konzipiert
wird How is Now – Version ZERO auf zwölf Stunden
verlängert, damit die Besucher Schleifen,
Wiederholungen und Verschiebungen wahrnehmen
können. „Wir bewegen uns, bis wir nicht mehr
können, bewegen uns, bis wir verschwinden.“
(Laurie Young, 2015)
Lukas Ligeti
Zero Crossings
Choreografien für Drumset
Hauschka
Abandoned City
Der Düsseldorfer Pianist Volker Bertelmann alias
Hauschka erforscht seit 2005 die Klangräume,
die sich unter dem Einfluss von Tischtennisbällen,
Bierdeckeln, Dosen und Radiergummis auftun, wenn
man diese zwischen Hammer und Saite legt. Klein­
kram, Fremdkörper, Fundstücke, wie auch immer
man das nennen möchte. Mit den Materialien unserer
Welt (Metall, Papier, Holz, Gummi, Filz etc.) schafft
Bertelmann ein Universum, das sich weit über die mit
seinem Instrument konnotierten Klänge ausdehnt.
Das Spiel auf dem präparierten Piano wird bei ihm
zu einem über viele Alben fortgesetzten „Adventure
in sound“. Die große Lust am Experiment verbindet
Hauschka mit den Künstlern der ZERO-Bewegung.
Ari Benjamin Meyers mit dem
Chor der Kulturen der Welt
Untitled for Choir (Beating Time)
Performance
Rie Nakajima
Surface and Evaporation
Sound-Performance
reboot.fm
Live!
Radioübertragung
Daniel Spoerri mit Sarah Wiener
Die Küche der Armen der Welt
Eat-Art-Performance
Heinz Mack
Playing for me and for you –
Jazz-Improvisationen der 1960er-Jahre
„Ich bin kein Berufsmusiker, aber für meine Genera­
tion war nach Kriegsende der Jazz eine wunderbare
Befreiung. Während der ZERO-Zeit bin ich von
folgenden Musikern beeinflusst worden: John Lewis,
Erroll Garner, Dave Brubeck, Bill Evans, Horace
Silver. Einige dieser Musiker habe ich persönlich in
New York erlebt. Kurzum, von dieser Musik angeregt
werde ich improvisieren und es geschieht, wie das
so ist, manchmal ein Highlight und die Atmosphäre
stimmt.“ (Heinz Mack, 2015)
Foto und © Mareike Foecking
Mary Bauermeister
Ready Trouvé / Stille und Krach –
Nichts und Überfülle
Mary Bauermeister ist seit 60 Jahren als Künstlerin
international aktiv. Sie war früh mit der ZERO-Bewe­
gung verbunden. In ihrem Atelier hat Otto Piene eine
seiner ersten Lichtballett-Vorführungen präsentiert.
Bauermeister gilt als Mitbegründerin der Fluxus-­
Bewegung und arbeitet an der Schnittstelle zwischen
neuer Musik, Poesie und bildender Kunst. Mit ihrem
Echorohr wird die vorgefundene Situation im Ausstel­
lungsraum durch Geräusch und Wort stetig neu
reflektiert.
Foto: Raphael Dao
Tamas Moricz und Oren Lazovski
Zero Struction
Tamas Moricz war Tänzer in William Forsythes
wegweisendem Frankfurter Ballett. Zudem arbeitete er
mit Jan Fabre, Mats Ek, Jiří Kylián, Amanda Miller,
Jonathan Burrows, Saburo Teshigawara und vielen
anderen renommierten Künstlern zusammen. Anfang
des Jahres 2015 wurde Moricz zum Kodirektor des
Ballet Vlaanderen in Antwerpen ernannt. Der junge
israelische Tänzer und Musiker Oren Lazowski lebt
und arbeitet seit acht Jahren in Berlin. Er tanzt
weltweit für unterschiedlichste Kompanien und
Produktionen. Die von Moricz für ihn entwickelte
Performance ist ein spielerischer Versuch, das
Nicht-Definierbare neu zu definieren.
Elizabeth Goldring Piene
Hans-Joachim Roedelius mit
Christopher Chaplin und Florian Tanzer
Zero × 3 = King of Hearts
„Wir hatten sowohl ZERO sowie auch Fluxus als
hochaktuelle Konzepte im Sinn, als sich Konrad
Schnitzler das spezielle Klusterprinzip ausdachte,
auch wenn dieses erst wahrgenommen wurde, nach­
dem ZERO und Fluxus es schon geschafft hatten,
eine Anhängerschaft zu gewinnen. Sie haben mit
ihrer Präsenz dafür gesorgt, dass das Klusterprinzip
heute – obwohl nur für Tonkunst erdacht – in der
Weltkulturszene als gleichwertig angesehen wird.
Da ich innerhalb aller Gruppierungen, mit denen ich
weltweit – und auch als Solist – zugange bin, für
dieses Klusterprinzip der ‚freien Improvisation mit
jeglicherlei jeweils verfügbarem Instrumentarium
aus den Gegebenheiten des jeweiligen Augenblicks
heraus‘ nach all den Jahren, in denen ich und wir
den Globus mehrfach ‚musikalisch umkreist‘ haben,
immer noch mit großem Enthusiasmus plädiere,
lässt sich vielleicht vorstellen, was klanglich in der
Akademie zwischen mir und Christopher Chaplin
geschehen wird und mit welcher Art von Bildershow
sich unser Visualist Florian Tanzer dabei einbringen
kann. Wir werden uns in jedem Fall bemühen, den
ZERO-Prinzipien und ihren Vertretern die musikali­
sche und visuelle Ehre zu erweisen.“
(Hans-Joachim Roedelius, 2015)
Weitere Highlights:
Musik
Markus Popp (Oval)
Installationen
Lucas Buschfeld
Julius Schmiedel
Kurzfilme
Robert Breer
Yves Klein
Nam June Paik
Otto Piene
Dieter Roth
Günther Uecker
Jef Verheyen
u. a.