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Iwan Weidman – Ante Finem
Iwan Weidmann, geboren 1966, lebt in Zürich. »Ante Finem«
ist sein erster Roman.
Edition
TIAMAT
Deutsche Erstveröffentlichung
1. Auflage: Berlin 2016
© Verlag Klaus Bittermann
www.edition-tiamat.de
Druck: cpi books
Buchcovergestaltung: Felder Kölnberlin Grafikdesign
Unter Verwendung eines Fotos von Iwan Weidmann
ISBN: 978-3-89320-207-2
Iwan Weidmann
Ante Finem
Roman
Critica
Diabolis
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Edition
TIAMAT
Die folgende Geschichte hätte sich wie erzählt zugetragen haben können, sie ist jedoch, ebenso wie die darin
vorkommenden Personen (ausgenommen diejenigen der
Zeitgeschichte), frei erfunden.
Für Ira
KARL
WIE JEDEN MORGEN in den vergangenen fünfundzwanzig
Jahren verließ Karl, nachdem er sich von Sophie verabschiedet hatte, das Haus. Nur etwas war an diesem Morgen anders. Er war fest entschlossen, nicht mehr zurückzukehren.
Während des ganzen Vierteljahrhunderts, das Sophie
bei ihm gelebt hatte, hatte Karl beim Weggehen nicht ein
einziges Mal zurückgeblickt. Gleichwohl besaß er eine
genaue Vorstellung davon, wie sich der Umriss ihres
Körpers kaum erkennbar hinter dem Vorhang ihres Zimmers im ersten Stock abzeichnete, während sie, stets einen Schritt hinter dem Fenster, mit ihrem Blick erst seinem Gang zur Garage und anschließend der Wegfahrt des
Wagens folgte.
Karl erinnerte sich an das erste Mal, als er Sophie im
Haus zurückgelassen hatte. Wie ihm alle paar Schritte ein
neues Bild erschienen war. Als wären seine Gedanken
durch eine Ausstellung geschweift. Die meisten Bilder
nur streifend, hin und wieder einen Augenblick vor einem
verweilend, um dann doch, zögernd manchmal, meist
aber entschlossen, weiterzugehen. Und plötzlich war es
da, dieses Bild, neben dem alle anderen verblassten.
Seither trug er es in seinem Kopf. Wie er überhaupt alles, an das er sich gerne erinnerte oder dessen Vorstellung er mochte, als Bild in seinem Kopf mit sich trug.
Sorgsam arrangierte er jedes Detail, bevor er eine Vor-
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stellung fixierte. Und alles, was seine Netzhaut belichtete, betrachtete er wie durch den Sucher einer Kamera. Zur
Erinnerung stets darauf bedacht, den richtigen Ausschnitt
vor dem Druck auf den Auslöser zu bestimmen. Wollte er
doch weder zu viel auf dem Bild noch etwas Wesentliches auslassen oder, schlimmer noch, anschneiden. Es sei
denn, dass Anschneiden oder Weglassen ein eindringlicheres Bild als die Abbildung des Ganzen hätten entstehen lassen.
Für Karl gab es keinen Unterschied zwischen Fotografie und Gedächtnis. Nicht das kleinste Stück Film und
nicht den winzigsten Gedanken hat er jemals an ein
schlechtes Bild verschwendet. Alles, was er immer hatte
werden wollen, war Fotograf. Arzt ist er geworden. Anstatt Bilder zu komponieren, hatte er einem bereits vor
seiner Geburt entwickelten Bild entsprochen.
Mehr als die Lustlosigkeit, mit der er das Studium absolvierte, traf den Vater die Leichtigkeit, mit der Karl mit
Auszeichnung promovierte. Für die Dozenten kein Wunder, schließlich war er der Sohn von Heinrich Bessler.
Dem Heinrich Bessler, dessen Name von der BesslerResektion bis zur Magensonde nach Bessler in kaum
einem Lehrbuch und keinem Instrumentenkatalog fehlte.
Das Bild von dem Tag, an dem er mit seinem Examensergebnis den Salon der Villa betreten hatte, war
wohl das ehrlichste, das Karl von seinem Vater in Erinnerung hatte. Das intime Portrait eines müden Akteurs.
Enttäuschung, die nicht vordergründig als Ausdruck erscheint, sondern sich vielmehr als leiser Unterton zu erkennen gibt. Zwar auf den ersten Blick das Bild eines
Mannes, der in einem Sessel sitzend mit einer Zeitung in
den Händen den Eindruck vermittelt, als würde er Anteil
nehmen am Geschehen. Bei näherem Hinsehen sind die
Augen jedoch nicht auf eine Zeile gerichtet, sondern
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blicken scheinbar durch das Papier hindurch, ruhen leer
auf einem für den Betrachter nicht auszumachenden
Punkt auf dem Boden. So erhält die Zeitung plötzlich
eine ganz andere Funktion, scheint der Portraitierte sich
aus einer innersten Scham heraus mit dem Papier bedecken, dahinter seine Verletztheit verbergen zu wollen.
Ohne von der Zeitung aufzusehen, meinte Heinrich
Bessler, mehr vor sich hin als zu seinem Sohn: »Das Studium macht noch niemanden zum Arzt. Ein Arzt ist sein
Leben lang im Werden.«
Dieses Werden hatte bei Heinrich Bessler während des
Ersten Weltkriegs seinen populären Höhepunkt erreicht.
Zwar hatte er, da Verletzungen der Gefäße zu den häufigsten Amputationsgründen gehörten, schon lange vor
Kriegsausbruch wiederholt Versuche der Gefäßrekonstruktion unternommen. Doch erst die große Anzahl an
Gefechtsverwundungen ermöglichte ihm, seine bis dahin
hauptsächlich an Leichen gewonnenen Erkenntnisse zu
überprüfen.
Als Sanitätsoffizier hatte er mit sicherem Blick die
Fälle ausgesucht, die von seinen Kollegen als hoffnungslos eingestuft worden waren, für sein Vorhaben
jedoch eine gute Perspektive boten. Dabei musste er feststellen, dass seine Nähte in den wenigsten Fällen hielten
und von seinen bisherigen Versuchen eigentlich nur die
damit erworbene Bewegungsroutine unter der großen
Lupe, die er für diese Eingriffe hatte anfertigen lassen,
wirklich von Nutzen war. Erst in seiner Lazarettzeit entwickelte er die zum Standard gewordene Gefäßnaht nach
Bessler. Auch zeigte sich während dieser Praxis die weitgehende Unzulänglichkeit zur Verfügung stehender Operationsbestecke, aus deren Formulierung zahlreiche Änderungen bestehender Instrumente und Neuentwicklungen hervorgegangen sind. Die weitaus größten Schwierigkeiten bereitete allerdings immer wieder das kleinste
Werkzeug. Das damals übliche Federöhr der Nadeln
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schädigte beim Durchziehen das empfindliche Gewebe,
was Heinrich Bessler über die Möglichkeit einer stufenlosen Verbindung von Nadel und Faden nachdenken ließ.
1920 wurde seine atraumatische Nadel-Faden-Kombination patentiert. Gleichen Jahres veröffentlichte er Die
Gefäßchirurgie im Frieden und im Felde. Im zweiten
Kriegsjahr bekam Heinrich Bessler den Pour le Mérite
verliehen. Und wenige Wochen nach Kriegsende wurde
er aufgrund seiner Verdienste zum Oberstabsarzt der
Reserve befördert.
Dass nach seinen Eingriffen vielfach doch noch amputiert werden musste und er wegen der häufig gleichzeitigen Nervenschäden meist nur eine teilweise Funktionserhaltung erreichte, Arme schlaff herunterhingen und Beine
bloß nachgezogen werden konnten, schadete seinem Ruf
gerade in den Schützengräben nicht im Geringsten. Unter
den Soldaten hatte sich schnell herumgesprochen, dass
der Professor nicht einfach zur Säge griff, sondern erst
einmal alles unternahm, um sie ganze Männer bleiben zu
lassen.
Was die Zunahme seiner Bekanntheit anging, war
Heinrich Bessler ein Kriegsgewinnler. Endlich war er
nicht mehr nur in Fachkreisen geachtet, sondern eine
prominente Persönlichkeit geworden. Von Müttern und
Ehefrauen erhielt er Dankesbriefe. Und Zeitungen und
Illustrierte widmeten ihm lange Artikel.
Nur einmal, Jahre später, nachdem er in München aus
einer Gruppe vorbeiziehender SA-Männer unvermittelt
angerufen worden und einer der Uniformierten herausgetreten war, um ihn erhobenen Armes zu begrüßen,
»Heil Hitler, Herr Professor«, und freudig seinen Begleitern vorzustellen, »Kameraden, das ist der Mann, der
meine Beine gerettet hat«, hörte Karl seinen Vater, während er vom Tisch aufstand, an dem er während des
Abendessens die Begegnung scheinbar unbeteiligt geschildert hatte, leise sagen: »Wahrscheinlich ist es bes-
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ser, dass man als Arzt nicht immer weiß, wen man gerade behandelt.«
Karl mochte, wie der Kies auf dem Vorplatz unter seinen
Schritten knirschte. Das Geräusch, von dem der Gärtner
seines Vaters einmal gesagt hatte, dass es sich privilegiert
anhöre. Und als hätte er keinen Misston zulassen wollen,
hatte er mit der Harke penibel auch die kleinsten Blättchen aus dem Kies entfernt und so ab und an ungewollt
ein Muster hinterlassen, das entfernt an einen japanischen
Steingarten denken ließ, der eine Eiche umrahmte. Eine
Eiche, die schon stand, lange bevor die Villa und die
Garage, die ursprünglich als Stallung mit darüber liegender Personalwohnung gebaut worden war, angefangen
hatten, ihr Backstein für Backstein die Herrschaft über
den Ort abzunehmen.
Von solch akribischer Ordnung hatten sich der Vorplatz
und überhaupt das ganze Anwesen inzwischen weit entfernt. An der das Grundstück umgebenden Mauer war
Efeu hochgeklettert und hatte sich zu einem immergrünen
Vorhang drapiert, der zwar stellenweise etwas lichter fiel,
doch über die meiste Strecke von längst verholzten Armen dicht zusammengehalten wurde. Und wie um zu
verhindern, dass jemand diesen Efeuvorhang lüftete,
hatte sich zu dessen Saum ein undurchdringlicher Stachelverhau aus Brombeerstauden ausgebreitet.
Karl liebte diese Beeren, die Sophie mit Rahm, Honig,
Eigelb und etwas Zitronensaft zu einer wunderbar erfrischenden Creme verrührte. Überhaupt gab es nichts, was
Sophie zubereitete, das ihm nicht schmeckte. Vor allem
die böhmischen Gerichte wie Svíčková oder Karpfen
schwarz zu Weihnachten. Und natürlich Buchteln und
Marillenknödel. Vielleicht, weil gerade mit dieser Küche
etwas von seiner Mutter, auch sie eine gebürtige Tschechin, in dem Haus weiterlebte.
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