Predigt 1. Mose 8,1-12: Archetypen Pfarrer Florian Kunz Da gedachte Gott an Noah und an alles wilde Getier und an alles Vieh, das mit ihm in der Arche war, und ließ Wind auf Erden kommen und die Wasser fielen. Und die Brunnen der Tiefe wurden verstopft samt den Fenstern des Himmels, und dem Regen vom Himmel wurde gewehrt. Da verliefen sich die Wasser von der Erde und nahmen ab nach hundertundfünfzig Tagen. Am siebzehnten Tag des siebenten Monats ließ sich die Arche nieder auf das Gebirge Ararat. Es nahmen aber die Wasser immer mehr ab bis auf den zehnten Monat. Am ersten Tage des zehnten Monats sahen die Spitzen der Berge hervor. Nach vierzig Tagen tat Noah an der Arche das Fenster auf, das er gemacht hatte, und ließ einen Raben ausfliegen; der flog immer hin und her, bis die Wasser vertrockneten auf Erden. Danach ließ er eine Taube ausfliegen, um zu erfahren, ob die Wasser sich verlaufen hätten auf Erden. Da aber die Taube nichts fand, wo ihr Fuß ruhen konnte, kam sie wieder zu ihm in die Arche; denn noch war Wasser auf dem ganzen Erdboden. Da tat er die Hand heraus und nahm sie zu sich in die Arche. Da harrte er noch weitere sieben Tage und ließ abermals eine Taube fliegen aus der Arche. Die kam zu ihm um die Abendzeit, und siehe, ein Ölblatt hatte sie abgebrochen und trug's in ihrem Schnabel. Da merkte Noah, dass die Wasser sich verlaufen hätten auf Erden. Aber er harrte noch weitere sieben Tage und ließ eine Taube ausfliegen; die kam nicht wieder zu ihm. „Noah war ein Archetyp“ – so nennt der Kabarettist Bodo Wartke sein Programm. Hintersinnig ... doppeldeutig, .... wahr. Noah, ganz wortwörtlich ein Arche-Typ, der Typ mit der Arche. Selbst gebaut hat er sie, streng nach Plan: Aus Tannenholz - 300 Ellen lang, innen und außen mit Pech abgedichtet, ein Fenster, eine Tür. Ein überdimensionaler Rettungskasten für Mensch und Tier. Denn der große Regen steht bevor. Gott bereut die Erschaffung der Menschen, das Böse, welches sie in die Schöpfung gebracht haben. „Alles auf Anfang“ heißt die schreckliche Konsequenz. Die Welt und alles was auf ihr lebt, soll wieder dort versinken wo sie einst emporgestiegen ist – in den Brunnen der großen Tiefe, den Wassermassen der Flut. Doch eine zweite Chance für das Leben ist bereits vorprogrammiert, die Protagonisten der neuen Schöpfung versammeln sich in dem gigantischen Kasten aus Tannenholz, paarweise strömen sie in die Arche: Schafe und Ziegen, Esel und Kamele, Löwen, Krokodile, Singvögel, ... vom Elefanten bis zur Fruchtfliege ... alles Gewürm das auf Erden kriecht. Und mittendrin Noah mit seiner Familie. Was er wohl denkt über diese Notgemeinschaft von Mensch und Tier auf engstem Raum? Noah bleibt stumm. Der Bibeltext entlockt ihm nicht ein einziges Wort: Keine Klage über seine Situation, kein Flehen um das Überleben des Rests der Welt, kein „Warum?“ an Gott gerichtet. Still hat Noah die Arche gebaut, still die Tiere hineingelassen, still harrt er in ihrem Innern aus als die Wassermassen über der Welt zusammenbrechen und still lässt er später die Vögel fliegen: Zuerst den Raben, später die Tauben. Endlich die erlösende Nachricht – ein Ölblatt im Taubenschnabel: Gerettet! Das Leben auf der Erde geht weiter! Die letzte Taube, die Noah schickt, kommt nicht zurück – ein Bild für Gottes Geist, der wieder weht in der Schöpfung - wieder heimisch geworden ist in der Welt? Noah war ein Archetyp. „Archetyp“ nennt die Psychoanalyse eine Gestalt, die für etwas steht, das uns Menschen ausmacht, tief im Unbewussten prägt - eine menschliche Urerfahrung repräsentiert. Vielleicht ist Noah der Archetyp des Überlebenden, des Geretteten? Das Urbild des Menschen, der durch Lebensgefahr und Todesangst hindurchgekommen ist – still, abwartend, planend. In der Katastrophe richtet er sich und andere ein – baut den ultimativen Schutzraum. Andere bauen sich innere Archen, ziehen sich in sich selbst zurück, damit Angst und Verzweiflung nicht zu nah an sie herankommen, nicht übermächtig werden. Noah – der Archetyp des Überlebenden, Davongekommenen. In seiner Autobiografie „Mein Leben“, beschreibt Marcel Reich-Ranicki wie seine Frau Tosia und er das Ende des Krieges überleben. Nachdem sie aus dem Warschauer Ghetto geflohen sind, finden sie Unterschlupf in einem kleinen Häuschen am Rande Warschaus, ein Mann namens Bolek und seine Familie verstecken sie: „Tagsüber waren wir in einem Keller, einem Erdloch oder auf dem Dachboden versteckt, nachts haben wir für Bolek gearbeitet: Wir fertigten mit den primitivsten Mitteln Zigaretten an - Tausende, Zehntausende. Er verkaufte sie, machte jedoch nur geringen Gewinn. So lebten Bolek und seine Familie in Armut. Unser Elend indes war noch viel schlimmer: Wir hungerten. ... Aber schrecklicher als der Hunger war die Todesangst ..." Nach 15 Monaten ist es vorbei. Die Russen befreien Warschau. Marcel ReichRanicki und seine Frau verabschieden sich von Bolek und seiner Familie und tasten sich in das Leben nach der Katastrophe hinein. Sie sind noch einmal davon gekommen. Noah war ein Archetyp. Sind wir Christen Arche-Typen? „Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil“ schreibt der Theologe Cyprian von Karthago. Er und andere Kirchenväter stellen sich die Kirche als „Arche des Heils“ vor. Sie schwimmt in einem Meer des Unglaubens. Wer glaubt und getauft ist, darf rein in den schwimmenden Holzkasten, ist gerettet vor der vernichtenden Flut – alle anderen bleiben draußen, gehen unter in ihrem Unglauben. Kirche als exklusiver Club der Auserwählten, abgeschottet vor der Welt - eine Wagenburg-Mentalität ist das, eine Arche-Mentalität. Wer so denkt, hat das Ende der Erzählung verpasst, nicht gemerkt dass die Sintflut-Zeit vorbei ist und die Arche am Schluss leer steht. Herausgeströmt sind sie, die Geretteten, hinaus in die Welt, Mensch und Tier. Gottes Schöpfung geht weiter. Und auch die Taube bleibt nicht in der Arche zurück, Gottes Geist weht wo er will. Sind wir Christen Arche-Typen? Ich glaube schon. Letzten Sonntag hab ich jede Menge davon gesehen – kleine und große Arche-Typen – bei der Familienkirche. Mit Bänken hatten wir den Umriss einer Arche gebaut und den Refrain eines Liedes gesungen: „Es ist noch Platz in der Arche, Platz in der Arche, komm steig’ mit uns ein – es ist noch Platz in der Arche, Platz in der Arche, wer die Welt liebt darf darinnen sein!“ Und es kamen Tiere in die Arche, auf Plakate gemalt, hochgehalten von Kinderhänden. Sogar zwei Spinnen waren dabei – iihh! Und dazwischen immer wieder der Refrain: „Es ist noch Platz in der Arche ...“ Schließlich meinte ich, jetzt seien ja alle Tiere da und die Arche voll. „Stimmt ja gar nicht!“ wurde mir energisch widersprochen und die Wände der Arche einfach ein bisschen nach außen gerückt. Noah war ein Archetyp. Wir sind Arche-Typen und ... es ist noch Platz, Platz in der Arche: Platz für Tiere mit- und ohne Stallgeruch, Glaubende und Zweifelnde, Suchende und Finder, alte Hasen und neue Ideen, große Tiere und bunte Vögel, Platz für alle die Schutz suchen, Platz für alle, die Stille brauchen, die die Stürme ihres Lebens mal draußen lassen wollen, Platz für alle die sich im Glauben nach einer Arche der Geborgenheit sehnen ... es ist noch Platz - Platz für noch ganz andere Arche-Typen. Noah war ein Archetyp. Die letzte Taube, die Noah schickt, kommt nicht zurück – ein Bild für Gottes Geist, der wieder weht in der Schöpfung - wieder heimisch geworden ist in der Welt? Doch wo weht der Geist Gottes? In den Fluten unserer Zeit? In den Konflikten unserer Welt? In den ganz persönlichen Katastrophen? Da ist die Sehnsucht, den Flügelschlag der Taube zu hören, den Ölzweig in ihrem Schnabel zu sehen. Hilde Domin schreibt in einem Gedicht: Wir werden eingetaucht und mit Wassern der Sintflut gewaschen, wir werden durchnässt bis auf die Herzhaut. Der Wunsch nach der Landschaft diesseits der Tränengrenze taugt nicht, der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten, der Wunsch, verschont zu bleiben, taugt nicht. Es taugt die Bitte, dass bei Sonnenaufgang die Taube den Zweig vom Ölbaum bringe. Dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei, dass noch die Blätter der Rose am Boden eine leuchtende Krone bilden. Und dass wir aus der Flut, dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen immer versehrter und immer heiler stets von neuem zu uns selbst entlassen werden. Amen
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