Migros Magazin Nr. 6 vom 08.02.16 Seite 113, Region: Hauptausgabe

LEBEN | MM06, 8.2.2016 | 113
So is(s)t die Jugend
S
Geerbte
Rezepte
Stolz tischte meine
Freundin an ihrem
Geburtstagsfest einen
selbst gebackenen Ku­
chen auf, erwartungs­
voll ruhte ihr Blick auf
unseren Gesichtern,
als er angeschnitten
war. «Chamers ässe?»,
fragte sie scheu und
fügte hinzu, es handle
sich um ein Gebäck
aus ihrer Kindheit.
Leider habe die Gross­
mutter zu Lebzeiten
das Rezept nie heraus­
gerückt, es gehütet
wie einen kostbaren
Schatz.
Rohkost statt Konserve:
Phasen des Verzichts
wirken regenerierend
auf den Körper.
Ernährung
Vital durch Verzicht
Viele religiöse Bräuche der Enthaltsamkeit haben auch einen gesundheitlichen
Hintergrund. Doch was bringt eine Auszeit von Alkohol, Zucker und Co.?
Text: David Fäh
Bild: Getty Images
P
raktisch alle
grossen Welt­
religionen ken­
nen Zeiten der
Askese. Gläubige Chris­
ten, Juden und Muslime
schränken sich während
einer bestimmten Phase
im Jahr ein. Die Reli­
gionen schreiben tradi­
tionell nicht nur den Ver­
zicht auf feste Nahrung
vor, auch das Aussetzen
von Alkohol und Fleisch
steht auf dem Plan. Letz­
teres ist sogar Namens­
geber: Der Karneval leitet
sich begrifflich vom ita­
lienischen «carne vale»
ab, was so viel heisst wie
«Fleisch, lebe wohl».
Wer fastet, soll sich
in Bescheidenheit üben
und an Spiritualität
gewinnen. Das Ritual hat
aber auch einen gesund­
heitlichen Hintergrund:
Übermässiger Fleisch­
verzehr steht im Ver­
dacht, der Gesundheit zu
schaden. Ein Grund dürf­
te die Überladung des
Körpers mit Eisen sein.
Ein weiterer könnte mit
der Darmflora zusam­
menhängen: Darmbakte­
rien wandeln gewisse In­
haltsstoffe des Fleischs in
Moleküle um, die die Aus­
dehnung der Gefässe ver­
hindern. Das begünstigt
deren Verschluss. Üben
Fleischesser mindestens
zwei Wochen lang Ver­
zicht, gleicht ihre Darm­
flora derjenigen von ve­
gan lebenden Menschen.
Eine alkoholfreie Woche
wirkt Wunder
Auch bewusster Verzicht
auf Alkohol kann sich po­
sitiv auswirken. Denn
übermässiger Alkohol­
konsum führt zu einer
Verfettung der Leber.
Wer täglich trinkt, sollte
alle zwei bis drei Monate
eine alkoholfreie Woche
einschalten. Das hilft, das
Fett wieder abzubauen.
Auch gut: sich an feste
Trinkzeiten halten, etwa
nur zwischen 19 und
21 Uhr, zum Abendessen,
Alkohol konsumieren.
Auch das gibt der Leber
Zeit, sich zu erholen.
Durch Einschränkung
des Zuckerkonsums
regeneriert sich die Leber
ebenfalls, da Zucker
denselben Effekt hat wie
Alkohol. Danach reagiert
die Leber sensibler auf
das Hormon Insulin, was
die Blutfett­ und ­zucker­
werte, aber auch den
Blutdruck verbessert.
Vor allem bei Getränken
besteht viel Einsparpo­
tenzial: Manche Frucht­
säfte enthalten sogar
mehr Zucker als Süss­
getränke. Und auch in
gewissen Gemüsesäften,
Fruchtkonserven, Jo­
ghurts, Müeslimischun­
gen oder Grillsaucen
versteckt sich Zucker.
Wer aber zu lange komplett auf Kalorien verzichtet, tut sich keinen
Gefallen. Der Körper
gerät dabei in ein Not­
laufprogramm, das über­
all Kalorien einspart:
Er beginnt, wertvolle
Muskeln abzubauen.
Fasten muss also nicht
radikal sein, um Gutes zu
bewirken. Im Gegenteil:
Gezielter und bewusster
Verzicht von Zeit zu Zeit
ist sinnvoller. MM
Das Verlangen der
Enkelin nach der
Süssspeise wuchs, kein
Backwerk hatte je den
Geschmack dieses
Kuchens übertroffen.
Stunden verbrachte sie
in der Küche: mehr Zu­
cker, weniger Zucker,
mehr Früchte, andere
Früchte. Sie spielte,
bis der Kuchen demje­
nigen aus der Erinne­
rung ebenbürtig war.
Ihr Monolog und
ihr Eifer liessen uns
schweigen. Ihr Kuchen
schmeckte ordentlich,
war aber keine Offen­
barung. Lag es an der
falschen Zubereitung?
Wohl eher am fehlen­
den Zauber der Ver­
gangenheit. Trotzdem,
liebe Grosseltern:
Zögert nicht, eure
Rezepte herauszu­
rücken!
Hier schreiben die
Vivai-Experten über
Ernährungsfragen.
Diesmal der Ernährungswissenschaftler
David Fäh.
In Zusammenarbeit mit
Flavia von
Gunten (17),
Das Nachhaltigkeitsmagazin der Migros
Gymnasiastin aus
Steffisburg BE