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Wildnis Camping und First Nations
In meinem letzten Bericht aus Kanada, wo ich mich zur Zeit aufhalte, um die Wildnis zu finden und
Rückschlüsse auf Umweltpädagogik im Niedwald und Streuobstwiesen zu ziehen (Projekt
PÄDZUWILDID- PÄDagogik, ZUsammenhänge, WILDnis, Identifizierung) erzählte ich von
unserer Ankunft in Kanada und ersten Begegnungen, die mich bezüglich Wildnis vieles überdenken
ließen. William, Kellner in einem Café hier, (so eine Art Idiot Savant, ha ha), hatte mich verwirrt (s
vorherige Episode) . Er sprach von Wildnis als Konzept; Wildnis also als ein mentales Konstrukt;
Wildnis nicht da draußen sondern hier drin (an den Kopf klopfen, bitte oder auf die Brust, je
nachdem wo man meint, dass sich die Wildnis befindet)
Ich war verunsichert. Wildnis bedeutet, „da wo keine Menschen sind“, „das ohne Mensch seiende“.
Oder zumindest „das vom Menschen nicht verformte“. William würde wohl sagen, dass die
Verehrung von „Wildnis“ eher etwas über Menschen aussagt, die keine anderen Leute um sich
herum haben wollen als über Natur. Gibt es also Wildnis nur in der romantisierenden Vorstellung
einer sich selbst müden Zivilisation? Als strikt empirisch geprägter Umweltpädagoge konnte ich mit
solchen Gedankenspielen nichts anfangen. Wildnis existiert schließlich auch unabhängig von
William. Irgendwo wird sie schon sein, man kann sie ganz elementar erfahren, wild roh und
ursprünglich, und, verdammt noch mal, ich werde sie finden, so mein Standpunkt.
Und schon sah ich die Wildnis auf mich zu kriechen.
Es war ein Kerbtier, das aussah aus wie ein Krebs,
bestimmt 10 cm lang war, aber schon etwas matt
wirkte. Ich erkannte gleich, dass es sich um eine
Wasserwanze handelte, die da erschöpft im Sand lag.
Lethocerus heißt sie, lebt in den großen Seen
Nordamerikas und ich möchte nicht das Fischlein sein,
das von ihr gestochen wird. So etwas sieht man in
ganz Europa nicht.
Der Ort der Begegnung zwischen mir und der
Riesenwanze war der Strand des Ontario Sees und Teil
eines „Provincial Parks“, so eine Art
Landschaftsschutzgebiet mit Campingplatz. Warum
befand ich mich beim Camping? War dies nicht eine
Verschwendung von Projektgeldern? Keineswegs.
Erstens gab es keine Projektgelder, und zweitens ist
Camping ein gutes Forschungsobjekt, denn es vereint
Sehnsucht nach dem Ursprünglichen in der Natur mit
dem Bedürfnis nach menschlicher Kultur, z. B.
Witterungsschutz und Körperhygiene. Somit ein Hybridzustand, den es näher zu betrachten lohnte.
Dazu muss man erklären: Camping in Kanada ist anders als Camping in Europa, wenn ich mal so
vermessen und ganz pauschal sein darf. Wer einmal einen Campingplatz in einem kanadischen
Provincial Park besucht hat, wird den Unterschied zu den meisten uns bekannten Campingplätzen
bemerkt haben. Erstens ist alles, oh Überraschung, viel größer. Auf den zugewiesenen Platz passen
gut zwei Zelte plus Auto. Es gibt also reichlich Privatsphäre und zudem viele Bäume und Sträucher
und Wildnis um einen herum. Zudem sind noch ein kleiner Grillplatz und ein Campingtisch fest
installiert. Holz kann man kaufen und dann kann man der Natur begegnen.
Aber halt, Vorsicht. Noch nicht chillaxen. Damit die Natur nicht all zu nahe kommt, sollte man sein
Essen vorsichtshalber nicht herumstehen lassen und besonders nachts nicht im Zelt oder auf dem
Campingtisch deponieren. Nicht wegen der echten großen Bären, die man dadurch anlocken
würden. Nein, die gibt es woanders. Hier im Süden Kanadas muss man sich eher vor den kleinen
und so geschickten wie dreisten Waschbären schützen. Bei unsachgemäßer Lagerung der Vorräte
hört man nachts ein Getöse wenn Kollege Waschbär durch die Vorräte geht. Er inspiziert Kisten und
Kühltaschen, räumt durch Rucksäcke und vergreift sich besonders gerne an Müllbeuteln. Ich meine,
er könne sogar Schraubverschlüsse öffnen.
Wenn man dann den Waschbären stellt, glotzt er einen an und denkt erst einmal gar nicht daran, das
Weite zu suchen. Erst nachdrückliches „Zureden“ kann dann zum Erfolg führen. Es kursieren
unendlich viele Geschichten über den kleinen Bären, wobei er kein Bär im klassischen Sinne ist. Er
gehört in eine andere Unterfamilie, zu den Hundeartigen. In diese Unterfamilie gehören auch
Stinktiere, auch häufige Besucher von kanadischen Campingplätzen.
Wenn man aber alles verstaut hat kann man sich nun
wirklich der Natur hingeben. Man genießt die
ausladenden Strände des Lake Ontario oder auch die
Wunder der Tierwelt, wie den Monarchfalter (Danaus
plexippus) , ein recht großer, orange und schwarz
gezeichneter Schmetterling.
Schmetterlinge haben es an sich, dass sie so
sympathisch ziellos durch die Wiesen flattern. Mal hier
ein Blümchen, mal dort ein Blümchen und wieder
zurück. Wer ahnt bei diesen Beobachtungen, dass der
Monarch von Kanada bis nach Mexiko fliegt, um dort
zu überwintern?
Während des Sommers legt er seine Eier an
Seidenpflanzen (Gattung Asclepias), der Futterpflanze
für die Larven, und durchläuft dann mehrere
Generationen. Gegen Ende des Sommers werden die
Tiere geboren, die sich nach Mexiko aufmachen. Sie ahnen vermutlich noch nichts von ihrer
Aufgabe wenn sie als Larven auf den Seidenpflanzen fressen. Sind es dann die kürzeren Tage, die
sinkenden Temperatur oder schmecken die Seidenpflanzen etwas ranzig? Irgendetwas löst gegen
Ende des Sommers die Sehnsucht nach Mexiko aus. Die Larven verpuppen sich zwar noch, es
schlüpfen dann aber Adulte, die eine Diapause
einlegen, d.h. sie werden nicht geschlechtsreif,
heben sich das für später auf. Es heißt dann
Abschied nehmen von den Ufern des Lake
Ontario und die Falter fliegen ca. 4000km bis
nach Zentral Mexiko in die Sierra Chincua, nicht
weit entfernt von Mexiko City. Mexiko ist zwar
wärmer als Kanada aber kalt wird es dort auch,
und so müssen sich die Ankömmlinge erst einmal
über den Winter bringen. Es kann zu heftigen
Unwettern kommen, starken Regengüssen oder
auch sehr niedrigen Temperaturen. Um sich zu
schützen, hängen die Monarchen in großen
Trauben an Stämmen oder Ästen der heiligen
Tanne (die heißt wirklich so, auf lateinisch Abies
religiosa) . Die Schmetterlinge, die es durch den
Winter schaffen, beenden dann ihre Diapause, legen und befruchten kräftig Eier und weiter geht es
mit neuen Generationen, die gegen April gen Norden flattern. Auch die alten fliegen noch mal
zurück, schaffen es aber nicht sehr weit.
Neben extremen Klimaereignissen gibt es eine Vielzahl von weiteren Gefahren für den
Schmetterling: Verlust von Flächen, auf denen die Seidenpflanzen wachsen, Abholzung der heiligen
Tannen (keine Tanne ist sooo heilig), Zerstörung von Habitaten auch in den Sommerquartieren und
viele mehr. In der Tat sind die Populationszahlen des Monarchen zurückgegangen doch die
Schutzmaßnahmen haben auch zugelegt. Besonders beeindruckend ist die internationale
Zusammenarbeit zwischen Kanada, USA und Mexiko. Seit längerem besteht ein internationales
Netzwerk aus Schutzorganisationen, das die Populationen beobachtet und versucht, Waldgebiete in
Mexiko aufzuforsten und die Habitate der Schmetterlinge zu schützen.
Während unseres Aufenthaltes
fand im Park eine
Markierungsaktion statt, um das
Schicksal der wandernden Falter
besser verfolgen zu können. Am
Ende des Sommers werden die
Schmetterlinge eingesammelt und
mit einem winzigen Aufkleber an
der Flügelunterseite markiert.
Falls in Mexiko dann jemand
einen markierten Falter findet,
erhält er bei Meldung des Fundes
eine Prämie. Befragt nach seinen
Einschätzungen zur Lage der
Monarchen sagte Don Davies, der
die Markierungen durchführte,
dass es durchaus Grund zum Optimismus gäbe. Die Populationen würden sich langsam erholen.
Die Monarchmarkierung war Teil des umweltpädagogischen Programms im Park. Es wird viel dafür
getan, dass die Besucher des Parks verstehen, was um sie herum passiert, und so dachte ich mir,
dass ich hier vielleicht an der richtigen Stelle war, um meine Fragen bezüglich der Wildnis
beantwortet zu bekommen. Wenn William recht hatte und Wildnis nur in der Vorstellung des
modernen Menschen existierte musste sie ja irgendwann mal in diese Vorstellung eingetreten sein,
erfunden worden sein, sozusagen.
Sarah Shinguacouse, die als Praktikantin im Park arbeitete war dann die Adressatin für meine Frage.
Ich erzählte ihr von PÄDZUWILDID, was sie mäßig interessiert zur Kenntnis nahm. Auf meine
Frage, wann denn nun in Kanada die Wildnis erfunden wurde antwortete sie, dass sie das generell
nicht sagen könne aber hier im Park hätte es so etwas wie Wildnis ab 1956 gegeben. „Oh, so spät“,
stammelte ich, denn mit dieser Antwort hatte ich nun gar nicht gerechnet. „War es denn nicht vorher
schon ziemlich wild hier?“. „Es gab wilde Partys,“ erwiderte sie. „denn seit dem späten 19.
Jahrhundert war der Park zwar ein Ort zur Erholung, war aber eher nach urbanen
Freizeitvorstellungen gestaltet. Hier standen ein Hotel und viele Wochenendhäuser. Im Sommer
fanden Segelregatten statt und Konzerte. Der Wald wurde mit Wild bestückt so dass man jagen
konnte, auch um die Leute davon abzuhalten, auf dem Strand ihre Autos zu parken und dort Unfug
zu treiben. Dies hatte alles ein wenig von Country Clubs für die Oberschicht. Im Jahre 1954 änderte
sich alles. Es wurde ein Gesetz über Provincial Parks verabschiedet, das alle Parks unter die
Autorität des Ministerium für Land und Forst stellte. Nun verschob sich die Priorität von urbanem
Leben auf Erholung in der Natur. Grundstücke wurden enteignet, viele Wochenendhäuser wurden
abgerissen und das Hotel wurde dann auch bald geschlossen. Der Park sollte eher wie Wildnis
aussehen“. „Nun ja, das mag ja sein“ sagte ich etwas entnervt. Sarah hatte meine Wildnis frage
wohl gar nicht verstanden. „Aber bevor hier ein Park war, gab es da Wildnis?“
„Ach so, Sie meinen, als die wilden Indianer hier herumrannten?“ Oh, da war ich wohl wieder ins
Fettnäpfchen getreten, schon William hatte die imperialistische Vorstellung des edlen Wilden
kritisiert. Sarah war etwas versöhnlicher: „Kanada war schon 'natürlicher' als die First Nations hier
lebten aber die Verklärung als Naturvölker entspricht nicht den Tatsachen, denn es waren gerade die
kulturellen Leistungen der Ureinwohner, die ihr Überleben in diesem großen Land ermöglichten.
Man denke nur an die Völker, die sich z.B. die Subarktis mit Krüppelwald und Tundra, vom Yukon
bis nach Neufundland zur Heimat gemacht hatten“.
Diese Wildnis wollte ich dann doch genauer erklärt haben und in Fragen der First Nations war ich
an die Richtige gelangt. Sarah sagte, sie wäre eine Nachfahrin von Shinguacouse dem großen
Häuptling der Ojibwa, daher auch ihr Nachname. Sie beschrieb nun ausführlich die Herkunft dieses
Stammes und auch ihren Niedergang. Ich sollte dann selber entscheiden wann die Wildnis erfunden
wurde oder wann sie verschwand.
Sarah begann: „Schon bevor die Zeit begann lebten die Ojibwa an dem großen Fluss mit der
breiten Mündung“ („oh, ein Vogelfuß Delta“, wie ich erklärend einwarf). „Dies ist der Mississagi
Fluss, der in den Huron See fließt, einer der 5 großen Seen Ontarios. Die Ojibwa waren Teil der
Algonkin sprechenden First Nations, man sagt nicht mehr Indianer. Neben den Ojibwa waren dies,
u. a. die Ottawa. Im Süden dann die Iroqouia sprechenden Gruppen, die Irokesen, ein
Zusammenschluss von 5 verschiedenen Stämmen, u. a. den Mohawk, Oneida und Seneca. Auch die
Huron gehörten zu der Sprachgruppe der Iroquois waren aber nicht Teil der 'Five Nations'“.
Sarah führte dann weiter aus: „Interessanter als die Frage nach Wildnis ist wie sich die
verschiedenen Stämme ihren Lebensraum zur Nutze machten, ihn formten und veränderten. Die
Völker unterschieden sich stark in ihrer Lebensweise und Kultur. Waren die im Norden ansässigen
Stämme vornehmlich auf die Jagd und den Fischfang angewiesen, betrieben die den südlichen Teil
der Provinz bewohnenden vorwiegend Landwirtschaft, unter anderem bauten sie die 'drei
Schwestern' an. Dies waren Nutzpflanzen, nämlich Mais Bohne und Kürbis, die sich in ihren
Lebensbedingungen ergänzten“. Sarah kommentierte dies mit den Worten: „Der Anbau war voll
Permakultur, Alter“. Sie hatte mal 3 Monate in Deutschland bei einem Ökobauern gearbeitet und
sich diesen Satz behalten.
Und in der Tat: Mais Bohne und Kürbis passen gut zusammen, ganz wie es die Permakultur
anstrebt: Der Mais hilft, den Bohnen zu klettern, die Bohnen geben den Stickstoff und die Kürbisse
sind ein Bodendecker und verhindern den Wuchs von Unkraut
(Quelle: https://usaerklaert.wordpress.com/2010/08/17/indianer-teil-4-die-drei-schwestern-maisund-ernahrung/ Einen interessanten Artikel zur Nahrung der Irokesen und anderer Völker findet
man im Internet (https://www.uni-frankfurt.de/45560740/Marin-Trenk---Der-Apfel-ist-die-Bananedes-Indianers---Anthropos-105_2010.pdf))
„Neben dem Anbau der drei Schwestern sammelten die Irokesen auch Beeren und produzierten
Ahorn Sirup. Sie lebten ca. 30 Jahre an einem Ort bis dort die Felder erschöpft waren und suchten
sich dann eine neue Bleibe“ so Sarah, die dann gleich fortfuhr: „Doch es ist nicht nur die
Urbarmachung der Wildnis , die zu beachten ist sondern auch der Handel, den es zwischen den First
Nations gab, denn die Kulturen waren nicht nur vielfältig sondern auch vernetzt. Die Huron, z.B.,
handelten getrockneten Mais oder auch Tabak und bekamen dafür Bisonfelle und andere wärmende
Stoffe von ihren Nachbarn im Norden. Werkzeuge waren weitere Handelsgüter, z.B. Obsidian, ein
hartes vulkanisches Gestein, das sich zum Schneiden eignet“.
Die Haupthandelsgüter waren jedoch Lebensmittel und verarbeitete Nahrung spielte dabei auch eine
Rolle. Besonders hob Sarah den Wert des Pemmikan hervor, das aus Bisonfleisch gewonnen wurde.
Überhaupt muss die Jagd und die Verarbeitung der Bison ein gigantisches Spektakel gewesen sein.
Einer der Orte, an denen die Bisonjagd statt fand heißt „Head Smashed-In Buffalo jump“ oder auf
Deutsch: „Bison schwer den Kopf gedotzt“, man kann sich also schon denken, wie die Jagd
ausging. Das Ziel der Jäger, z.B. Sioux und Schwarzfußindianer war es, Bisonherden über ein über
10 Meter hohes Kliff in ihr Verderben zu treiben.
Sarah beschrieb, wie es wohl damals war in der Prärie. „Stell dir eine Herde von tausenden von bis
zu 800 Kilo schweren, bis 1,80 Meter Schulterhöhe großen Bison vor, und du willst die über eine
Klippe treiben und das ohne Pferde, die gab es erst ab dem 18- Jahrhundert. Zum Teil stülpten sich
die Jäger Wolfsfelle über und näherten sich den Bison um sie aufzuschrecken. Großes Geschick,
Mut und Arbeitsteilung waren notwendig“. Das Leben war auch damals kein Ponyhof.
Falls noch notwendig wurden die Tiere am Fuße der Klippe getötet und dann zerlegt und
verarbeitet. Diese Verarbeitung war sehr aufwendig und nahm wohl fast industrielle Ausmaße an.
Das angesprochene Pemmikan bestand aus getrocknetem Bisonfleisch und -fett sowie Beeren.
Diese Speise war sehr nahrhaft und konnte gut gelagert werden und diente somit als Vorrat für den
Winter oder für mehrtägige Wanderungen.
So kann man sich also das Nordamerika vor dem 16. Jahrhundert durchaus als Wildnis vorstellen.
Riesige Wälder, große Bisonherden, Walherden vor den Küsten. Man kann aber auch die Kulturen
der Bewohner und ihre ökonomischen Grundlagen in den Vordergrund stellen und dann versuchen
zu verstehen ,wie sie lebten und wie der Kontakt mit den Europäern alles veränderte. Vorstellen tue
ich mir ersteres aber mehr wissen wollte ich über letzteres. Lassen wir also erstmal die Wildnis
außen vor. Ich fragte Sarah: „Was geschah als die First Nations etwa um 1534 mit Franzosen in
Kontakt kamen?“
„Jacques Cartier erschien an der Ostküste Kanadas und wurde wohl überwiegend freundlich
empfangen“ antwortete sie und fuhr fort: „was Cartier nicht davon abhielt mehrere Iroquiois
darunter den Häuptling und seine 2 Söhne zu entführen und nach Frankreich zu bringen, um sie als
Übersetzer auf einer weiteren Reise einzusetzen. In Paris sollten dann die Gefangenen von all dem
Reichtum ihres Landes erzählen, was diese bereitwillig taten. Es waren allerdings weniger Gold und Silberschätze, wie sie sich die Spanier im Süden des Kontinents aneigneten, sondern besonders
die ausgiebige Möglichkeit zum Walfang, die viele Europäer, u. a. Basken, anlockte, wobei hier der
Kontakt zwischen Einheimischen und Europäern noch relativ begrenzt war“..
„Dies änderte sich dann durch dem Handel mit Biberfellen, der zunehmend in den Vordergrund
rückte. Besonders im 18. Jahrhundert waren die Felle in Europa sehr beliebt und europäische Biber
gab es nicht mehr so viele. Der Handel hatte durchaus Vorteile für die First Nations. Sie konnten
von den Europäern nützliche Waren erwerben, neben Metallwerkzeugen, z.B. Kupferkessel, die
sehr nützlich waren, da sie im Gegensatz zu den Kochgeräten aus Tierhäuten und Baumrinde o. ä.
über dem Feuer nicht ständig beaufsichtigt werden mussten und auch widerstandsfähiger waren als
Keramik. Auch Baumwollkleidung war nützlich, da sie, wenn nass, wärmer hielt und auch schneller
trocknete. So profitierten in der Frühphase des Kontaktes zwischen Europäern und First Nations
mitunter beide Seiten“.
Das Blatt sollte sich jedoch bald wenden. Um die Pelze zu erwerben, benutzen die Franzosen
Zwischenhändler, eine Position die sehr lukrativ war, da man den Jägern die Pelze abkaufte und
dann den Franzosen teurer verkaufte. Zu Beginn hatten die Innu, man sagte früher Eskimos, diese
Rolle inne. Die Franzosen unterstützten die Innu in ihren Rivalitäten gegenüber anderen Stämmen,
versuchten aber gleichzeitig die Zwischenhändler auszuschalten und direkt an die Produzenten der
Felle zu kommen. Rivalitäten, die eh schon zwischen einigen Stämmen bestanden eskalierten wenn
es darum ging Kontrolle über Biberjagdgebiete zu erlangen.
Diese Konflikte hatten auch Auswirkungen auf die Stämme, die hier im Süden lebten, denn um
1650 griffen die Iroquois ihre Nachbarn im Norden an, vermutlich um Zugang zu Bibergebieten zu
erhalten. Sie löschten u. a. den Stamm der Huronen aus und Stämme der Algonguin. Sarah
beschrieb dann die weitere Entwicklung: „Da die Iroquois nach Norden zogen, siedelten die Ojibwa
bzw., deren Untergruppe, die Mississauga (sie selbst nennen sich Anishnabe, ich benutze hier den
Namen Ojibwa und Mississauga, da er gebräuchlicher ist) hier im Süden Ontarios. Sie lebten in
einem Gebiet, das sich westlich vom heutigen Toronto bis über 150 km östlich erstreckte. Heute
Heimat für mehre Millionen Menschen und vermutlich eine der reichsten Gegenden Kanadas.
Außer dem Namen eines Vorortes von Toronto ist von den Mississauga aber nicht mehr viel übrig“.
Sarah erzählte nun vom Niedergang der Mississauga und dem Verlust ihres Landes, eine
Geschichte, die viel mit globalen Konflikten, insbesondere aber mit Rivalitäten zwischen
Franzosen und Engländern zu tun hatte: „Seit 1670 betrieben die Engländer die Hudson's Bay
Company und drängten sich somit in den Fellhandel zwischen Franzosen und First Nations. Dann
gab es den siebenjährigen Krieg, in dem u. a. der preußische König, Schlesien in Preußen halten
wollte wobei die Österreicher es zurückholen wollten. Russland hatte Ostpreußen im Auge und die
Franzosen und Engländer bekämpften sich um ihre Kolonien.“ Sarah kannte sich auch in
europäischer Geschichte aus. Die Konflikte waren globaler als man denkt. Sie fuhr dann fort:
„Nachdem der siebenjährige Krieg zu Ende war mussten die Franzosen ihre Kolonien in
Nordamerika aufgeben. Dies waren keine guten Nachrichten für die First Nations, denn sie hatten
sich mit den Franzosen verbündet , da sie von ihnen bessere Beziehungen erwartet hatten. Die First
Nations waren besorgt, denn besonders die Siedler südlich der großen Seen versuchten zunehmend,
aggressiv in ihr Land einzudringen, was auch zu einigen kriegerischen Auseinandersetzungen
führte.“
Die Engländer als Kolonialherren, versuchten jedoch, ein gutes Verhältnis zu den First Nations
aufzubauen. Sie wollten dem Einstrom von Siedlern, die Land in Besitz nahmen Einhalt gebieten.
Eine königliche Proklamation bestimmte, dass Land nicht besiedelt werden konnte, ohne vorher von
der englischen Regierung von den First Nations offiziell per Vertrag erworben worden zu sein.
Doch auch wenn diese Regelung den First Nations Schutz vor Vertreibung bieten sollte, sind die
Verträge, die dann von der Krone ausgehandelt wurden kritisch zu beurteilen, so meinte zumindest
Sarah, denn der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg brachte die Engländer unter Druck. Die
England treuen Siedler zogen aus den neugegründeten USA nach Norden, da Kanada ja britische
Kolonie war, u. a. auch First Nations, die auf der Seite der Engländer gegen die Unabhängigkeit
gekämpft hatten. Die Krone musste den ihnen loyalen Bürgern in Kanada Land bereitstellen und
dafür mussten sie gemäß ihrer eigenen Regeln, den First Nations schnellstens Land abkaufen. Die
Verträge wurden also „mit der heißen Nadel gestrickt“ wie man so sagt.
Sarah zitierte nun einige Historiker, die die Schwächen der Verträge analysierten. Oft waren die
Übersetzer unfähig, oft die Ortsangaben unklar und am schwerwiegendsten war wohl, dass die First
Nations hatten einen völligen anderen Begriff von Landbesitz besaßen. Sie verstanden die Verträge
oft so, und es wurde ihnen auch oftmals zugesichert, dass sie das abgetretene Land weiter zur Jagd
und zum Fischfang nutzen konnten, was natürlich die Siedler anders sahen. Da die
Neuankömmlinge viele Waldflächen rodeten schafften sie auch vollendete Tatsachen.
Sarah wies mich dann darauf hin, dass nicht weit vom Haus am See im Jahre 1787 eine der größten
Landabtretungen überhaupt stattfand. Ein großer Teil des nördlichen Ufers des Ontario Sees
westlich von Toronto bis über 200 km östlich davon wurde von den Mississauga Indianern an die
englische Krone verkauft. Sarah meinte, man solle dies besser eine Enteignung, eine Vertreibung
nennen, denn der Vertrag war unzulänglich und unpräzise. Das verhandelte Gebiet reichte vom
Seeufer so weit nach Norden wie man einen Gewehrschuss hören konnte. Neben solch unklaren
Abgrenzungen kam noch dazu, dass die Mississauga sehr unorganisiert waren und ihre Rechte nicht
einheitlich vertreten konnten. Es war also vermutlich leicht, sie zu Zugeständnissen zu bewegen.
Als Gegenleistung erhielten die First Nations Geld, manchmal als jährliche Zahlungen und mitunter
auch Versprechen auf Land, was aber selten eingehalten wurde.
„Wir kennen das Ende“, rekapitulierte Sarah. „Die Kultur der First Nations wurde verdrängt und
zerteilt, z. T. auf Reservate verschoben. Was Missionare und bewaffnete Konflikte nicht zerstörten,
erledigten eingeschleppte Krankheiten und Alkohol. Das Ausmaß des Verlustes ist gar nicht zu
begreifen, da wir nur aus zweiter Hand wissen, wie es damals war.“
Als Außenseiter kann man beobachte, dass das Verhältnis zwischen dem modernen weltoffenen und
egalitären Kanada und seiner Geschichte und den First Nations gespannt ist. Das Bewusstsein für
die Lage der First Nations schärft sich jedoch, u. a. auch weil die Stimmen der First Nations lauter
werden unterstützt von sympathisierenden Kanadiern. Das Thema kocht in vielerlei
Zusammenhängen immer wieder hoch und viele Kanadier sehen Bedarf für Verbesserung.
Zusammenfassend meinte Sarah dann, dass inmitten des ganzen Unrechts des damaligen Rassismus
und der Übermenschhaltung der Europäer auch eine Tragik liegt. Es war anfänglich sicherlich nicht
Ziel der Europäer, die Kultur der First Nations auszurotten und eine Annäherung gab es wohl. Die
europäische und die einheimische Art zu wirtschaften und zu leben war dann aber nicht vereinbar
und Konflikte im fernen Europa, mit denen die First Nations gar nichts zu tun hatten heizten ihre
Verdrängung weiter an. Die Verträge, die dann zur endgültigen Vertreibung der Völker aus ihrer
Kulturlandschaft führten waren der letzte Schritt im unaufhaltsamen Niedergang. „Man fragt sich,
was möglich gewesen wäre“ schloss sie. Mit diesem Gedanken lies Sarah mich dann allein, denn sie
hatte ja noch andere Besucher zu betreuen und ich grübelte, wie das Ganze mit Projekt
PÄDZUWILDID zusammenhing. Der Begriff Wildnis spielte in der ganzen Geschichte überhaupt
keine Rolle. Eigentlich geht es immer um irgendetwas anderes.
So nahm der Sommer langsam sein Ende und was folgte war ein schöner trockener Herbst mit
spektakulärer Laubfärbung. So etwas nennt man hier „Indian Summer“.
Und wie der Winter in Kanada war folgt im nächsten Bericht.