Edition Nr. 20 - Berliner Festspiele

Ed.
20
'15
Die Editionsreihe der Berliner Festspiele erscheint bis zu sechsmal jährlich und
präsentiert Originaltexte und Kunstpositionen. Bislang erschienen:
Edition 1
Hanns Zischler, Großer Bahnhof (2012)
Christiane Baumgartner, Nachtfahrt (2009)
Edition 2
Mark Z. Danielewski, Only Revolutions Journals (2002 – 2 004)
Jorinde Voigt, Symphonic Area (2009)
Edition 3
Marcel van Eeden, The Photographer (1945 – 1947), (2011 – 2 012)
Edition 4
Mark Greif, Thoreau Trailer Park (2012)
Christian Riis Ruggaber, Contemplatio I–VII: The Act of Noting and Recording (2009 – 2 010)
Edition 5
David Foster Wallace, Kirche, nicht von Menschenhand erbaut (1999)
Brigitte Waldach, Flashfiction (2012)
Edition 6
Peter Kurzeck, Angehalten die Zeit (2013)
Hans Könings, Spaziergang im Wald (2012)
Edition 7
Botho Strauß, Kleists Traum vom Prinzen Homburg (1972)
Yehudit Sasportas, SHICHECHA (2012)
Edition 8
Phil Collins, my heart’s in my hand, and my hand is pierced, and my hand’s in the bag,
and the bag is shut, and my heart is caught (2013)
Edition 9
Strawalde, Nebengekritzle (2013)
Edition 10
David Lynch, The Factory Photographs (1986–2000)
Georg Klein, Der Wanderer (2014)
Edition 11
Mark Lammert, Dimiter Gotscheff – Fünf Sitzungen / Five Sessions (2013)
Edition 12
Tobias Rüther, Bowierise (2014)
Esther Friedman, No Idiot (1976–1979)
Edition 13
Michelangelo Antonioni, Zwei Telegramme (1983)
Vuk D. Karadžić, Persona (2013)
Edition 14
Patrick Ness, Every Age I Ever Was (2014)
Clemens Krauss, Metabolizing History (2011 – 2 014)
Edition 15
Herta Müller, Pepita (2015)
Edition 16
Tacita Dean, Event for a Stage (2015)
Edition 17
Angélica Liddell, Via Lucis (2015)
Edition 18
Karl Ove Knausgård, Die Rückseite des Gesichts (2014)
Thomas Wågström, Nackar / Necks (2014)
Edition 20
Berliner Festspiele
2015
Tankred Dorst
in Zusammenarbeit mit Ursula Ehler
Die Bilder an meiner Wand ( 2015 )
Die Edition ist eine Publikation der Berliner Festspiele.
Biografie
TANKRED DORST
geboren 1925 in Oberlind bei Sonneberg (Thüringen), ist einer der bedeutendsten
deutschen Gegenwartsdramatiker der letzten Jahrzehnte. Bis zur Einberufung
1944 Besuch der Oberschule, bis 1947 Kriegsgefangener in englischen und
amerikanischen Lagern. Nach dem Abitur 1950 Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Theater­w issenschaft (ohne Abschluss) in Bamberg und München.
Während des Studiums Mitarbeit am studentischen Marionettentheater Das
kleine Spiel, in den 1960er und 70er Jahren Film-, Funk- und Verlagstätigkeiten.
Herausgeber der Publikationsreihe collection theater werkbücher und Über­s etzung
von Stücken aus dem Französischen (Diderot, Molière) und Englischen (O’Casey).
Zahlreiche Vortragsreisen und Gastprofessuren. Tankred Dorst ist
Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München, der Deutschen
Akademie der Darstellen­d en Künste, Frankfurt am Main, der Deutschen Akademie
für Sprache und Dichtung, Darmstadt, der Akademie der Wissenschaften und der
Literatur, Mainz, sowie des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland.
Zwischen 1978 und 1983 führt er Regie bei den Filmen „Klaras Mutter“, „Mosch“
und „Eisenhans“, und als Kurator begründet er 1992 die Theaterbiennale Bonn
Neue Stücke aus Europa. Bei den Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth insze-­
niert er 2006 Wagners „Ring der Nibelungen“. Tankred Dorst lebt seit 2013 gemeinsam mit seiner Frau Ursula Ehler, mit der ihn eine jahrzehntelange künstlerische
Zusammenarbeit und Lebenspartnerschaft verbindet, in Berlin. Für sein litera-­
risches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter den Georg-­B üchner-Preis 1990,
den Kulturellen Ehrenpreis der Landeshauptstadt München 2005, den Schiller-­
Gedächtnispreis 2010 und den Theaterpreis Der Faust 2012 für sein Lebenswerk.
Am 19. Dezember 2015 feiert Tankred Dorst seinen 90. Geburtstag.
In dieser Edition zeigt Tankred Dorst die Bilder, die nach 90 Jahren Leben an
seinen Wänden hängen. Der Dramatiker, der beim Schreiben stets in Bildern
gedacht hat, hält damit Rückschau auf sein Leben. Jedes Bild verknüpft er mit
persönlichen Gedanken.
2
Tankred Dorst
in Zusammenarbeit mit Ursula Ehler
Die Bilder an meiner Wand
„Ich sehe die Bilder an meinen Wänden, ich sehe mich. Angstbilder,
Wunschbilder. Ich erkenne mich, wie ich geworden bin, wie ich sein
wollte. Der früh verstorbene Vater fragt mich, was willst du mit
deinem Leben anfangen? Vielleicht komme ich mit ihm ins Gespräch.
Wird er mir Antworten geben auf die Fragen, die ich an die Verhältnisse der Welt stellen wollte, an die Zeit, in der ich auf­gewachsen bin,
die mich, 17 Jahre alt, in den Krieg schickte? Ich musste begreifen,
dass sich Menschen Böses antaten, mordeten. Ich verstand die
Menschen nicht. Ich dachte mir das Leben der anderen aus, deren
Motive ich nicht kannte. Wieso sehe ich dich dort im Baum, wie bist
du dort hingekommen, Vater?“
3
Max Klinger‚
„Vertreibung aus
dem Paradies”
„Mich hat das Bild, das auf der dunkelblauen Tapete im Arbeitszimmer
meines Vaters hing, als Kind, als mein Vater schon tot war und das
Zimmer nur bei besonderem Anlass betreten werden durfte, immer
sehr angezogen und zugleich erschreckt. Ich sah das Paar – Adam
trägt Eva, die ihren Kopf an seiner Schulter dem Betrachter verborgen
hat – auf mich zulaufen, und erst, wenn ich genau hinsah, entdeckte
ich zwischen den beiden steilen Felsstücken den Engel, der das
sündige Paar aus dem Paradies verwiesen hat. Welche Sünde hatten
sie begangen, und aus welchem Paradies wurden sie vertrieben?
Was mich wohl aber eigentlich erschreckte, war das kalte Licht und
der scharfe Schatten, den das Paar auf die Steine warf, ich muss wohl
gespürt haben, oder bilde ich mir das jetzt ein, dass es eine Entzau­
berung, eine schreckliche Enttäuschung war, die das Bild darstellt.
Das helle steinige wüste Land, in dem wir zu leben gezwungen sind.“
4
Gemälde von
Armin Reumann
„Der Maler Armin Reumann hat das Bild für meine Eltern gemalt.
Die sanfte thüringische Landschaft, das Haus, in dem ich geboren
wurde.“
5
Johannes Grützke,
erste Entwürfe zu „Der nackte Mann”
(Erzählung, Insel Verlag, 1986).
Ich finde Gott nicht, schreit Parzival, und schlägt alles kaputt.
6
Warschau 1945
Wer bin ich?
7
Die Familie am Gartentisch
„Der Bruder meines Vaters, der immer besonders nachdenklich drein
schaute ohne nachdenklich zu sein. In der Mitte das Brautpaar, mein
Vater und meine Mutter, einander zärtlich zugeneigt. Ein junger Mann
aus der Nachbarschaft, die engherzige Großmutter, die aufpasste,
dass wir Kinder nicht die Himbeeren von den Sträuchern pflückten,
die schwärmerische Freundin meiner Mutter aus der rheinischen
Großstadt im weißen Kleid. Dominierend mein Großvater, er betrieb
die Maschinenfabrik in dem thüringischen Dorf Oberlind. Er hat damals schon die Arbeiter am Gewinn beteiligt. Mein Großvater wurde
verehrt, aber auch als ‚Naturapostel‘ belächelt, weil er barfuß über
die nassen Wiesen lief und nackt in der großen Zinkwanne im Garten
im sonnengewärmten Wasser saß.“
8
„Dorothea Merz“
Fragmentarischer Roman und Film
( WDR, Regie: Peter Beauvais, 1978)
„Mein Vater, scheinbar stark, sollte meine Mutter,
scheinbar schwach, durch ihr Leben führen.
Kurz darauf erkrankte mein Vater an Tuberkulose
und meine Mutter trug die ganze Last der Familie
alleine auf ihren Schultern.“
9
Brücke über die Steinach,
Oberlind / Sonneberg
„Als Kinder fuhren wir mit dem Floß nach Indien – von der Röthen
in die Itz, von der Itz in den Main, vom Main in den Rhein,
vom Rhein in die Nordsee und dann in den Indischen Ozean.“
10
„Gasse in Capri“ –
von meinem Vater
erworben
„Mein Vater hat dieses kleine Aquarell von seinem Aufenthalt in Capri
mitgebracht, wo er vergeblich Heilung von seiner Lungenkrankheit
gesucht hatte.“
11
Biedermeier-Bild
„Die Sehnsucht nach einer idyllischen Kindheit.“
12
Horst Janssen,
„Thomas Mann”
„Den ‚Zauberberg‘ von Thomas Mann habe ich als 18-jähriger
Kriegsgefangener in den USA gelesen. Das während der Nazizeit
verbotene Buch hatte ich in der Lagerbibliothek entdeckt.
Als ich mit einem Mitgefangenen einen Tunnel unter einem Haus
ausheben musste, hatten wir stets das Buch dabei. Einer von uns
hat gegraben, der andere hat vorgelesen. Als wir schließlich auf
der anderen Seite des Hauses herauskamen und für den Posten
wieder sichtbar wurden, hatten wir den Roman fast durch.“
13
Armin Reumann,
„Zigeunerwagen und Bauern
bei der Feldarbeit“
„Das Bild hing im Haus meiner Eltern. Man erzählte sich, dass der
Maler mit den Zigeunern gezogen sei. Die Nachbarin hat das Bild,
in ein Betttuch gewickelt, für meine Mutter über die Grenze in
den Westen geschleppt, als für ein lokales Fußballspiel die deutschdeutsche Grenze für zwei Stunden geöffnet war. Das Bild stand
dann jahrelang im Keller. Manchmal habe ich mich hingeschlichen,
um es zu betrachten.“
14
„Die Villa“
(UA Schauspielhaus Düsseldorf,
Regie: Jaroslav Chundela, 1980)
„Elsa: Ich weiß noch, dass ich die Haustür hinter mir abgeschlossen
habe, komischerweise. Bin mit dem Rucksack rüber ins Waschhaus
gelaufen. Da war niemand mehr. Da blieb ich auf dem Schemel
neben dem Waschkessel sitzen, saß da zwischen den Zinkwannen
die ganze Nacht, mit meinem Rucksack und mit dem Globus.
Heinrich: Mit dem Globus?
Elsa: Ja, von Knuts Schreibtisch. –
Als es hell wurde, habe ich mich ins Haus zurückgeschlichen. –
Das war meine Flucht nach Neuseeland.“
15
Motivzeichnung zu „Mosch“,
meinem ersten Film ( WDR, 1980)
„Blick wie in einen Käfig; der kahle Hinterhof der Seifenpulverfabrik
meines Großvaters in Wuppertal. Meine Mutter hatte als Kind
manchmal ein Anemonensträußchen auf den Mauervorsprung
gestellt. Es ist kein Ausgang zu sehen.
Womit sollte ich mich als entlassener Kriegsgefangener ohne
Schulabschluss in der Zeit des Wirtschaftswunders identifizieren?
Ich versuchte für eine kurze Zeit die Firma weiterzuführen. Aber
da war Herr Mosch, der alte Buchhalter meines Großvaters!
– Ich bin jetzt der Geschäftsführer, Herr Mosch, rief ich etwas zu
forsch. – Das sagen Sie so, junger Mann! Er hob kopfschüttelnd den
Papierschnipsel vom Boden auf, den ich fallen gelassen hatte. Nach
dem Tod seiner Frau hatte Mosch sein Bett ins Chefbüro gestellt
und hauste dort. An der Wand war noch, ganz von Staub bedeckt,
das Hitlerbild hängengeblieben. Die alte schwere Bleistiftspitz­16
maschine stand noch auf dem Schreibtisch. Ich wurde als Kind ge­scholten, weil ich 20 neue Bleistifte zu Stummeln heruntergespitzt
hatte. Verschwendung!
Alle vorsichtigen Neuerungen, die ich in der Firma vorhatte, wusste
Herr Mosch zu hintertreiben. – Das sagen Sie so, junger Mann!
Er lächelte. Bei anderen lächelte er nie. Ich begann ihn zu hassen.
Als er eines Tages auf der steilen, vom Seifenstaub immer etwas
glitschigen Eisentreppe zum Packraum stolperte, die ganzen Stufen
hinunterrutschte und ich ihn dann unten am Boden liegen sah,
dachte ich für einen Moment, ich hätte ihn hinuntergestoßen, ich
wäre sein Mörder.
Haben Sie sich verletzt, Herr Mosch?“
17
Aufführung „Herr Paul“
( Tokio, Regie: Jossi Wieler, 1997 )
„Wer lebt, stört.“
18
Ölgemälde von Bamberg
„Ach, Sie sind aus Bamberg. Mit diesen Worten lernte ich Ursula
kennen. Bamberg spielt bei uns beiden eine biographische Rolle.
Ursula ist dort geboren und aufgewachsen, und ich habe dort
studiert, Kunstgeschichte und Philosophie, nur zwei Semester.
Bamberg war damals eine Hilfsuniversität, weil die in Würzburg
und München durch den Krieg zerstört waren.“
19
Roland Topor,
Zeichnung zu „Grindkopf“
(UA Schauspiel Frankfurt,
Regie: Alexander Brill,
1988)
„Mein Versuch, die Schrecken der Kindheit zu erzählen,
sich unverstanden, sich am falschen Platz zu fühlen.“
20
Entwürfe von Jürgen Rose zu „Karlos“
(UA München, Kammerspiele, Regie: Dieter Dorn, 1990),
Ulrich Mühe als Karlos
( Theater Bonn, Regie: Peter Palitzsch, 1991)
„Der bucklige, eigensinnige, phantasiebegabte Infant Karlos,
von seinem Vater König Felipe zum Herrn der Welt bestellt, wendet
sich immer mehr gegen seinen Vater, will sich gegen ihn mit Juan
d’Austria, dem schönen Kriegshelden, mit dem demokratischen
Egmont und anderen verschwören. Es sind dies aber nur Doubles
der wirklichen Personen, sie werden auf Betreiben des Groß­inquisitors zu Karlos geschickt, um ihn des Verrats zu überführen.
So lebt Karlos mehr und mehr in einer unwirklichen Welt.
Was ist echt, was ist simuliert? Der Vater sperrt ihn in sein Zimmer
ein, lässt Türen und Fenster zumauern. Hier haust Karlos einsam
und frisst sich an einer Wildpastete tot.“
21
Enzo Cucchi, Plakat zu „Korbes“
(Schauspielhaus Hamburg,
Regie: Wilfried Minks, 1988),
Zeichnungen von Johannes Grützke zu „Korbes“
„Herr Korbes muss ein böser Mann gewesen sein,
heißt es in dem Märchen der Brüder Grimm,
wie um zu rechtfertigen oder wenigstens zu erklären,
warum Dinge und Getier sich gegen jemand verschwören,
zu seinem Untergang. Korbes, blind schon immer,
taub schon immer wie der Stein, den er wirft,
und wie alle Gegenstände, an denen er sich stößt,
ist der von Gott verlassene Stoff der Welt.“
22
Jean-Antoine Watteau,
„Le Pierrot Content“
(Reproduktion)
„Mich berührt die Ungeschütztheit der Figuren
in der großen dunklen Natur.
Das kurze fragile Leben der Menschen in ihrer Zeit.“
23
Patrice Chéreau,
Entwurf zu „TOLLER“
(Piccolo Teatro Mailand,
Regie: Patrice Chéreau, 1981)
„1965, Stipendium Villa Massimo in Rom. Lektüre: ‚Eine Jugend
in Deutschland’ von Ernst Toller. Das Stück ‚TOLLER‘ begonnen.
Am 9. November 1968 inszeniert Peter Palitzsch die Uraufführung
in Stuttgart. Draußen vor dem Theater Sprechchöre: Die Revolution
auf der Bühne verhindert die Revolution auf der Straße.
Merke, die Menschen sind ihren Ideen nicht gewachsen.“
24
Verschleierte
„In den 60er Jahren habe ich mich für die WDR-Filmreihe ‚Der Dichter
und seine Stadt‘ intensiv mit Albert Camus beschäftigt. Dafür hielt
ich mich zwei Mal zehn Tage in seiner Heimatstadt Algier und in der
Sahara auf. Das Foto bringt mich in die Zeit zurück, in der Algerien
und andere afrikanische Staaten sich vom Kolonialismus befreiten.
Ich erinnere mich an einen Spaziergang, bei dem mir Tausende
Männer und ihre verschleierten Frauen entgegen strömten, um Ben
Bella zu begrüßen, der nach Algier gekommen war. An einem anderen
Tag beobachtete ich Franzosen auf einem Friedhof weit über dem
Meer. Sie öffneten Gräber, um ihre Toten auszugraben und nach
Frankreich, nach Hause zu bringen.“
25
Johannes Grützke,
Illustrationen zu „Der nackte Mann“
(Erzählung, Insel Verlag, 1986)
„Ich will mit Dir nichts zu tun haben, Fisch!
Ich habe dich doch nicht dem Reiher aus dem Schnabel gerissen,
damit Du hier auf dem Stein in der Sonne kläglich vertrocknest!
Der Fisch liegt auf dem Stein und glotzt.
Parzival geht weiter. Als er sich noch einmal umdreht,
sieht er den silbrigen Fisch im hohen Bogen über den Bach
hinwegschnellen, bis vor seine Füße.
Da sagt Parzival: In Gottes Namen! nimmt den Fisch,
geht mit ihm davon.“
26
Bob Wilson,
Entwürfe zu „Der durch das Tal geht“
(UA Thalia Theater Hamburg,
Regie: Bob Wilson, 1987 )
„Diese Entwürfe erinnern mich
an meine Zusammenarbeit mit
Bob Wilson am Parzival Projekt.
Ich besuchte ihn zu den Proben.
Er wurde ans Telefon gerufen,
sein Vater lebte in den USA
und war am Apparat.
Kurz darauf kehrte er zurück.
Sein Vater hatte ihn wieder zum
Proben geschickt: ,Du kannst
doch nicht mit mir sprechen,
wenn Du eine wichtige Probe
hast.‘ Nach der Probe wollte
Bob das Gespräch wieder
aufnehmen, doch da war sein
Vater gestorben.“
27
„Ich Feuerbach“
( Thalia Theater Hamburg,
Regie: Tankred Dorst, 1985)
Uccelli venite a me
Meine Brüder Vögel, lobt euren Schöpfer! Er gab euch Federn
zum Anziehen und Flügel zum Fliegen. Vornehm hat euch Gott
unter den Geschöpfen gemacht und in der reinen Luft hat er euch
eure Behausung gegeben. Und obwohl ihr weder säet noch erntet,
schützt und leitet er euch doch.
28
Gaetano Pompa,
Zeichnungen zu
„Merlin”
„Wieder in der Villa Massimo. Wir arbeiteten gemeinsam an ‚Merlin’.
Pompa besuchte uns öfters. Der Malerfreund fragte, woran wir
gerade arbeiten. Am nächsten Morgen schob er seine erste Zeichnung
unter unserer Tür hindurch.“
29
30
Brief an Ivan Nagel
zu „Merlin“
31
Helmut Stürmer, Entwürfe zu „Merlin”
(Stadttheater St. Gallen,
Regie: Ioan Cristian Toma, 1993)
„Was mich interessiert, sind die Anfänge von Geschichte.
Die Geschichten, die davon erzählen, fangen erst viel später an.“
32
Auf der Probe für „Merlin”
(Schaubühne Berlin,
Regie:
Burkhard Kosminski, 2002)
„Jahrhunderte verbraucht und dennoch gegenwärtig!
Da blitzt ein Schwerthieb wie ein Gedanke auf.
Und Liebeslieder, längst gesungen, klingen im lauschenden Ohr.
O Zeit, rasender Stillstand.“
33
Aufführung „Merlin”,
Bulandra Theater Bukarest,
Regie: Catalina Bozianu,
Bühnenbild:
Helmut Stürmer, 1991.
„Angeregt durch Peter Zadek: Lies doch mal die alten Geschichten,
höre ich mich sagen, zu Rittern fällt mir nichts ein. Für Zadek war
König Artus mit seinem Ordnungsprinzip und großen Visionen der
Held. Erst als der Naturgeist Merlin mir als mythische Figur
begegnete, begann ich mich für den Sagenkreis zu interessieren.
Durch Merlin trat die Poesie in die ganze Geschichte. Ich erhielt von
Ivan Nagel den Auftrag, ‚Merlin’ für das Festival ‚Theater der Welt’
zu schreiben. Ich machte mich mit Ursula an die Arbeit.
Seitdem ist ‚Merlin’ fast hundertmal Mal inszeniert worden.“
34
Aufführung „Merlin”.
Royal Lyceum Theatre Edinburgh,
Regie: Ian Woolridge, 1992.
„Das Nichtverstehen beim Beieinandersein.“
35
Aufführung „Merlin“,
Münchner Kammerspiele,
Regie: Dieter Dorn,
Bühnenbild: Jürgen Rose, 1982.
„Die Tafelrunde als Vision vom Paradies,
die Versöhnung der Gegensätze, der ewige Frieden.“
36
Aufführung „Merlin“,
Det Norske Teatret Oslo,
Regie: Stein Winge, 1989.
„Nach der großen Schlacht ist die Vision,
die Idee von Artus' Reich zu Ende.
Was bleibt, ist die Geschichte.“
37
„Ich soll den eingebildet Kranken spielen“
(UA Théâtre National Luxemburg,
Regie: Frank Hoffmann, 2009)
„Ich sehe die Hybris des Theaters.“
38
Johannes Grützke,
Entwurf zu
„WEGEN REICHTUM
GESCHLOSSEN“
(UA Bayerisches Staatsschauspiel München,
Regie: Alexander Lang, 1998)
„Sein Traum ist Wirklichkeit geworden. Max Gallenz hat elf
Millionen in der Lotterie gewonnen, nun will er sie loswerden.
An die Ladentür hängt er ein Pappschild: WEGEN REICHTUM
GESCHLOSSEN.
Mit gewaltigem Furor geben Max und Rosa das Geld aus:
Her mit allem, was sich kaufen lässt! Sie haben Geld, sie haben
Macht. Es beginnt eine wüste anarchische Komödie um das,
was der Mensch besitzen will. Die Bühne füllt sich, die Sachen
türmen sich auf: Autos, Möbel, Artilleriegranaten, ein Pferd.
Her mit dem Glück! Es endet katastrophal mit Gelächter.“
39
Auf eine Stalltür gemaltes Bild
„Viele Freunde und Besucher haben immer wieder gegrübelt über
die Geschichte, die auf diesem Bild in verschiedenen Phasen
dargestellt ist. Sie bleibt rätselhaft. Die Frau, der Mönch, ein Bauer,
der Schornsteinfeger, ein Kleinkind, was bringt sie in dieser
Landschaft zusammen? Die Personen kommen mehrfach vor, am
Flussufer, am Waldesrand, vor einer Kirche. Zwei Männer schlagen
sich. Ist es die Geschichte einer Kindsentführung?
Der Trödler, bei dem ich vor Jahren einen Schrank kaufte, hat es
mir geschenkt.“
40
„Wer ist die schwarzgekleidete Frau mit Kopftuch, die, auf
einer Kiste stehend, durch ein schneeverwehtes Fenster in
die Bahnstation hineinspäht?
Drinnen lag ihr sterbender Mann.
Mitten in der Nacht hatte er sein Haus verlassen, hatte Arzt
und Kutscher geweckt, ließ sich krank und fiebernd zur nächsten
Bahnstation fahren. Dort hatte der Bahnvorsteher dem
Sterbenden ein Lager bereitet.
Journalisten aus aller Welt waren inzwischen eingetroffen, um
über das Ereignis zu berichten. Sie lauerten in den Büschen um
das kleine Bahnhofsgebäude. Eine aufgeregte Stimme schrie:
Tolstoi ist tot.“
41
Postkarte, Island, 1993
„Mutig“
42
Ein Bild aus Bali
„Auf Motivsuche für den Film ‚Glück ist ein
vorübergehender Schwächezustand‘ entdeckten wir,
auf Bali haben alle Dinge ihren eigenen Gott.“
43
„Der Ring des Nibelungen“
(Bayreuther Festspiele,
Inszenierung:
Tankred Dorst¸2002–2006)
Die Abschaffung der Götter
„In unserer heutigen Zeit scheinen die alten Götter, die alten
Mythen keinen Platz mehr zu haben. Andererseits bemerken wir
immer wieder, dass die Menschen getrieben werden von Kräften,
von Emotionen, die völlig anachronistisch sind. So kann man wohl
denken, dass die alten Götter immer noch da sind, sich hier und
dort einnisten in unseren heutigen Städten, an den Rändern, unter
den Brücken der Autobahn, in leer stehenden Abbruchhäusern, in
Winkeln und Mauern unserer modernen Zivilisation, wenn wir sie
auch, vernunftgläubig, nicht sehen, nicht wahrhaben wollen.
Das Wüste, Wilde ist noch immer ein Teil unserer Gegenwart und
lebt in den Körpern wider alle Vernunft. Es beherrscht zu Zeiten
unser Leben und vernichtet den schönen Schein, in dem wir uns
so friedfertig sicher fühlen.“
44
Platz vor dem
Theater in Coburg
„Als 14-Jähriger stand ich dort vor diesem Theater. Es waren keine
Lichter zu sehen – alles war wegen drohender Fliegerbomben
verdunkelt. Nur ein Fenster war schwach erleuchtet. Ich dachte
bei mir: Da oben sitzt bestimmt der Dramaturg. Was macht er
bloß? Er schreibt vermutlich die unvollendeten klassischen Stücke
der Weltliteratur zu Ende. Da oben möchte auch sitzen, wenn ich
einmal erwachsen bin.“
45
Der erloschene Zwergplanet, der zu einem flach elliptischen,
das galaktische Zentrum der Milchstraße in 30 000 Lichtjahren
Ent­fernung umkreisenden Sonnensystem gehörte, hatte nur
einen Mond, geringer Durchmesser, hohe Dichte und feste
Oberfläche. Darin glich er dem kleineren Schwesterplanetoiden
seines Sonnen­sys­tems. Die langen Rotationsperioden verän­­der­ten zyklisch den Einfall des Sonnenlichtes, so dass helle
und dunkle Perioden, warme und kalte Perioden einander ab­wechselten.
Auf seiner erstarrten Außenhaut aus Gestein und Metall bildete
sich unter der schützenden Umhüllung einer feuchten Aura aus
Sauerstoff und Stickstoff, in der sich das Licht brach und sie
blau färbte, durch organisch-chemische Vorgänge eine plane­
tarische Flora von großer Vielfalt. Sie überzog die Oberfläche
des Planetenballs wie ein grüner Flaum. Später entwickelten
46
sich auch ver­schiedene vielzellige Lebensformen. Sie konnten sich
frei bewegen und passten sich in Form und Färbung den Gegebenheiten ihrer Umwelt an. Kurz vor dem Ende des Sterns entstand
aus den mehr­zelligen Organis­men eine Vielzahl verschieden pigmentierter androgyner Wesen. Sie waren zwei­geschlechtlich
angelegt und pflanzten sich mit lebend geborenen Nachkommen
fort, die sich aus Samen im weiblichen Wirts­körper bildeten.
Diese Lebensform von niedriger Intelligenz war jedoch mit rudi­
mentären Erkenntnissen über ihr Entstehen und minimalen Ein­
sichten in die Zusammenhänge ihres Sonnensys­tems ausgestattet.
Sie entwickelten vermutlich eine gewisse Kultur mit primitiven
Religions- und Gesellschaftsformen und erreichten wohl zu gewissen
Zeiten ein schwaches Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit. Es ist
nicht erwiesen, inwieweit sie das Ende des Planeten voraus­sahen
oder gar herbeiführten. Die wenigen Spuren ihrer Existenz bleiben
rätselhaft.
47
Impressum
Herausgeber: Berliner Festspiele, ein Geschäftsbereich der KBB
Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH
Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
Intendant: Dr. Thomas Oberender
Kaufmännische Geschäftsführung: Charlotte Sieben
Redaktion: Christina Tilmann
Kontakt:
Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, 10719 Berlin, T +49 30 254890
www.berlinerfestspiele.de, [email protected]
Kurator: Matthias Rischau
Fotos / Reproduktion: Lisa Winter
Grafik: Christine Berkenhoff, Berliner Festspiele,
nach einem Entwurf von Studio CRR, Christian Riis Ruggaber, Zürich
Druck: enka-Druck GmbH, Berlin
Papier: Biotop 3 100 g / Graukarton 300 g
Schrift: LL Brown Regular
1. Auflage: 3000, Dezember 2015
© 2015. Berliner Festspiele, die Künstler*innen und Autor*innen. Alle Rechte vorbehalten.
Abdruck ( a uch auszugsweise ) nur mit Genehmigung der Herausgeber*innen, Künstler*innen und Autor*innen.
© Johannes Grützke, Horst Janssen, Roland Topor: VG Bild-Kunst, Bonn 2015
48
Edition 19
Jens Ullrich, Refugees In A State Apartment (2015)
Hg.
20
Berliner Festspiele