Als St.Gallen zur «Italienerstadt» wurde

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Hintergrund
1. Oktober 2015
Als St.Gallen zur «Italienerstadt» wurde
Die italienische Migration
steht im Mittelpunkt einer
Ausstellung, die der Verein
«Ricordi e Stima» realisiert.
Die Ausstellung mit zahlreichen Fotografien wird von
März bis Mai 2016 im Historischen und Völkerkundemuseum in St.Gallen gezeigt.
Foto: z.V.g.
Die italienische Einwandererfamilie Giovanni Panella in St.Gallen.
Das Erinnerungsbild wurde vor genau hundert Jahren geschaffen.
Franz Welte
Zum grössten Teil stammen die Fotografien und die persönlichen Berichterstattungen aus der Region
St.Gallen, so dass von einem grossen regionalen Bezug ausgegangen
werden kann. Die Realisierung soll
zur Wertschätzung und Anerkennung der italienischen Migrantinnen und Migranten beitragen. Es
wird mit Gesamtkosten von
290'000 Franken gerechnet.
Frühes Einwanderungsgebiet
Schon früh gelangten viele italienische Arbeiter nach St.Gallen,
weil hier schon im 19. Jahrhundert und insbesondere um 1900 viel
gebaut wurde. Vorübergehend
wurde der Kanton St.Gallen zum
«Italienerkanton» und die Kantonshauptstadt zur «Italienerstadt». Allerdings gab es in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch noch Wanderbewegungen der Schweizerinnen und
Schweizer, von denen jährlich
5'000 ins Ausland auswanderten,
vorzugweise nach Deutschland,
Grossbritannien und Übersee.
Gleichzeitig aber siedelten sich eine grosse Zahl ausländischer
Handwerker und Arbeiterinnen
und Arbeiter an. Der Anteil der Italiener wurde dabei immer grösser.
Ohne Einreisebeschränkungen
In den 1850er Jahren erstellten die
Italiener namentlich die Bahnverbindungen. Damals stammte die
grosse Mehrheit aus dem Raum Como und dem Veltlin und könnte somit als eine Art «Grenzgänger» bezeichnet werden. Gegen Ende des
Jahrhunderts nahm der Zustrom
aus Venetien, der Lombardei und
dem Piemont stärker zu. Um 1900
führten die Grossvorhaben im
Hoch- und Tiefbau sowie der Aufschwung der Textilindustrie zu einem erheblichen Arbeitskräftemangel. Dieser liess sich am ehesten durch die Einstellung italienischer Arbeitskräfte beheben. Aufgrund des Abkommens mit Italien
von 1868 gab es auf schweizerischer Seite kaum Einreisebeschränkungen. Zwischen 1900 und
1910 verzeichnete St.Gallen mit
12'874 Personen den höchsten Zuwachs aller Kantone an italienischen Staatsangehörigen. Der Bezirk Tablat mit Wittenbach verzeichnete von 1900 bis 1910 mit
4128 Personen den höchsten Zuwachs an italienischen Staatsangehörigen im Kanton. Im Grossraum St.Gallen wurden innerhalb
weniger Jahre etliche Fabriken gebaut, es entstanden neue Quartiere, öffentliche Gebäude und das
Kraftwerk Kubel mit dem Gübsensee. Es wurden für die damalige
Bodensee-Toggenburg-Bahn
spektakuläre Brücken- und Tunnelbauten erstellt. Neben der Intensität der Zuwanderung war der
vergleichsweise hohe Anteil der
Frauen eine St.Galler Besonder-
Foto: z.V.g.
Foto: z.V.g.
Italienischer Kindergarten (Scuola Materina di San Gallo) im Jahre 1941.
heit, was mit der Textilbranche zusammenhängt. Viele Italienerinnen waren bei ihrem Arbeitsantritt erst zwischen 14 und 16 Jahren alt und sie wurden meistens in
Mädchenheimen untergebracht.
Diese standen oft unter der Leitung katholischer Ordensschwestern, die den streng geregelten Tagesablauf der jungen Frauen überwachten. Sie waren in ihrer Freiheit in hohem Masse eingeschränkt, was uns vor einiger Zeit
veranlasste, von einer «unbewältigten Vergangenheit» in St.Gallen
zu sprechen. Unter den Italienerinnen und Italienern bildete sich
eine neue Lebenskultur. Schon
längere Zeit hier Anwesende übernahmen eine Vermittlungs-, Betreuungs- und Versorgungsfunktion für die Neuankömmlinge. Einzelne gründeten auch Firmen und
beschäftigten Landsleute. So entstanden namentlich noch heute
bekannte und erfolgreiche Baufirmen, während die Textilfirmen
weitgehend wieder verschwunden
sind. Unter den Landsleuten aus
dem Süden entwickelte sich dadurch auch eine wohlhabende
Schicht, die grösstenteils in St.Gallen blieb.
Auch Verleumdungen
Mit der Zeit entstanden auch engere Beziehungen zu den St.Gallerinnen und St.Gallern. Diese
Entwicklung ging aber auch hierzulande nicht immer reibungslos
vonstatten. Ein Grund waren beispielsweise die Messerstechereien,
welche vorher selten waren. Es kam
auch zu Verleumdungen, da manche Italiener für Anarchisten gehalten wurden. Bei genauerem
Hinsehen stellte sich dann aber heraus, dass ein Arbeiter auf Veranlassung der Behörden die Vorräte
eines Steinbruchbesitzers in Speicherschwendi an einen sicheren
Ort gebracht hatte. Schon damals
entwickelte sich eine Ausländerfeindlichkeit, die erst Ende des 20.
Jahrhunderts abflaute.
Streik von Bauarbeitern
Zum Streik von italienischen Bauarbeitern kam es 1909, als ein Teilstück des im Bau befindlichen
Bruggwaldtunnels zwischen Wittenbach und St.Fiden einstürzte. Es
starben sechs Arbeiter und fünf er-
litten erhebliche Verletzungen. Wie
durch ein Wunder konnte Giovanni Pedersoli nach elftägigen
Rettungsarbeiten unverletzt geborgen werden. Die Fortsetzung der
Arbeiten war durch den Verwesungsgeruch der noch nicht geborgenen Leichen unerträglich geworden. Nachdem ein Forderungskatalog der Arbeiterschaft
abgelehnt worden war, kam es zum
Streik. Nach vier Tagen wurde aber
zwischen der Streikleitung und der
Baufirma eine Lösung mit verbesserten Arbeitsbedingungen gefunden.
«Klein-Venedig» im Tablat
Besonders zahlreich war die italienische Bevölkerung in der damaligen Gemeinde Tablat (heute
St.Gallen). Sie wurde im Volksmund bald als «Klein-Venedig» bezeichnet. Hier herrschten missliche Wohn- und Lebensverhältnisse. Wohnungsinspektor Karl
Kern kritisierte um 1910 in einem
Bericht vor allem die
Überbelegung der Räume und die mangelnde Hygiene. 1912 wurde ein
Untersuchungsbericht über die
«himmelschreienden Zustände» in
den Quartieren Buchwald und
Buchental veröffentlicht, indem es
unter anderem hiess: «Überall
schmutzige Papierfetzen, Lumpen, Kot und Schmutz. Vor allen
Fenstern stinkende nasse Wäsche.
Alle Winkel mit alten, schmutzigen, oft halb verfaulten Betten ausgestopft, oftmals Betten und
Schlafgänger in Kellergeschossen,
auf Estrichen, in allen Stuben und
Schlafzimmern so viel Betten, als
sich überhaupt hineinzwängen
liessen.» Die Eingewanderten
suchten eben die heimatliche Nähe im engen Zusammenleben mit
Landsleuten. Da sie rasch verdienen wollten, nahmen sie den primitiven Wohnraum in Kauf. Ausserdem herrschte Wohnungsnot.
Die Totgeburten waren bei italienischen Müttern deutlich häufiger
und ein Problem waren auch die
vielen Todesfälle von Kindern im
ersten Lebensjahr.
Unterstützung kam in St.Gallen
von der «Arbeiterunion», welche
1909 eröffnet wurde. Das Sekretariat musste aber schon 1912 wegen «Mangels an Betriebsmitteln»
wieder geschlossen werden.
Das so genannte «Albisetti»-Haus in St.Fiden. Die Liegenschaft
befand sich an der Ecke Oststrasse/Fidesstrasse in der Nähe des
Schulhauses St.Fiden. Das Holzhaus hatte 13 Eingänge.
Erster Weltkrieg führte zum
Exodus
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 brachte eine grosse
Wende. Es begann ein Exodus tausender Italiener und Italienerinnen. Einige St.Galler Firmen sprachen auch Kündigungen aus, so die
Stickereien Leumann, Boesch &
Co. und Einstein. Das italienische
Konsulat in St.Gallen hatte rund
25'000 aus der Ostschweiz abreisende Personen registriert, besonders viele aus St.Gallen. Eine
neue Einwanderungswelle ergab
sich erst wieder nach dem Zweiten Weltkrieg. Nicht zuletzt mit
Unterstützung verlagerte sich die
Rekrutierung in die rückständigen
südlichen Provinzen. Vor allem
wurden Saisonniers und Jahresaufenthalter eingestellt, die strenge
Einschränkungen
erleben
mussten. So blieb ein Familiennachzug lange verboten. Einige Organisationen kümmerten sich um
die italienische Bevölkerung, so die
katholische «Missione Cattolica
Italiana» mit einer Niederlassung
auch in St.Gallen. Die schon in den
60er Jahren gestarteten «Überfremdungsinitiativen» trugen natürlich nicht zur Minderung der
Fremdenfeindlichkeit bei. Die
Stadt St.Gallen glaubte in den 60er Jahren, mit Einführungsklassen
das Problem der rasch steigenden
Zahl schulpflichtiger italienischer
Kinder gerecht werden zu können.
Auch wurde eine Hausaufgabenhilfe aufgezogen, von welcher zeitweise einige Hundert italienische
Kinder profitierten. Die «Missione
Cattolica Italiana» richtete eine eigene, nach italienischem System
aufgebaute Schule ein, welche jedoch bei jenen, die eine Integration befürworteten, ein Dorn im Auge blieb.
Historisch wenig erforscht
In den 1970er Jahren kam es auch
in St.Gallen zum Höhepunkt und
kurz darauf zum stetigen Rückgang der Einwanderung aufgrund
der wirtschaftlichen Rezession.
Das «Italienerproblem» löste sich,
dafür kamen mehr Menschen aus
weiter entfernten Ländern, was leider eine neue Fremdenfeindlichkeit entstehen liess. Heute hält sie
sich in Grenzen, doch die Stadt
sieht sich richtigerweise immer
noch veranlasst, die Migration zu
fördern. Dafür ist neben den privaten Organisationen namentlich
das Amt für Gesellschaftsfragen in
der Direktion Soziales und Sicherheit zuständig.
Die italienische Einwanderung in
St.Gallen nach dem Zweiten Weltkrieg ist wenig erforscht. Es ist zu
hoffen, dass die eingangs erwähnte Ausstellung im nächsten Jahr
Anstösse zu intensiverer historischer Erforschung geben wird.
Untragbare
Wohnverhältnisse
Der 1912 veröffentlichte Untersuchungsbericht von Wohnungsinspektor Karl Kern über
die «himmelschreienden Zustände» in den von Italienerinnen und Italienern bewohnten
Quartieren
Buchwald
und
Buchental» in der damaligen
Gemeinde Tablat schildert die
Lage folgendermassen:
«Im Tablat hatte sich eben ein
gewisser Pöbel in der Übermacht eingenistet. (…) Überall
schmutzige Papierfetzen, Lumpen, Kot und Schmutz; überhaupt vor allen Fenstern stinkende nasse Wäsche. (…) Alle
Winkel mit alten, schmutzigen,
oft halb verfaulten Betten ausgestopft, oftmals Betten und
Schlafgänger in Kellergeschossen, auf Estrichen, in alten Stuben und Schlafzimmern so viel
Betten, als sich überhaupt hineinzwängen liessen. (…) In jedem Haus, ja fast in jeder Wohnung eine eigene Wirtschaft mit
gewaltigem Bier-, Wein- und
Schnapsgenusse. Tag und
Nacht, zu jeder Stunde schlafende und wandernde Gäste, oft
genug trinkende, fluchende Gesellschaft, die der Polizei, dem
Arzt und, was die Kinder betrifft, dem Lehrer und Erzieher
und auch dem Totengräber über
das Mass hinaus zu schaffen
machte. Wir haben noch nichts
gesagt von Ziegen-, Hühnerund Kaninchenställen in Küchen, in Kellern und auf dem
Dachboden, und sogar in
Schlafzimmern.»