Prag/Freiburg i.Br. Silke Sobieraj DEUTSCHE, ITALIENER

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Länder erst 1989 wieder zusammen. Er bezeichnete diese Entwicklung resümierend
als „parallel ungleichzeitig".
Da die Zwischenkriegszeit hatte übersprungen werden müssen, aber aufgrund der
staatlichen Eigenständigkeit von Tschechen und Magyaren eine zentrale Epoche darstellt, drehte sich die von Ferdinand Seibt (München) geleitete Abschlußdiskussion in
erster Linie um diesen Zeitabschnitt. Von mehreren Seiten wurde hervorgehoben,
daß auch die problematische Phase der ungarisch-tschechischen Beziehungen in der
Zwischenkriegszeit liege, da sich Ungarn 1918 auf der Seite der Besiegten (der sogenannte Trianon-Komplex), die böhmischen Länder sich auf der Seite der Sieger
befanden, pointiert wurde von einer Zeit der „Nichtbeziehungen" und einer „unangenehmen Nachbarschaft" gesprochen. Nach 1945 sei es dann wieder eher zu
einer Parallelisierung und Entspannung zwischen beiden Ländern gekommen. Hingewiesen wurde auch auf unterschiedliche politische Traditionen und die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen. Während der gesamten Tagung wie in der Schlußdiskussion schillerte immer wieder die Mitteleuropa-Diskussion der achtziger Jahre
durch, die von tschechischer und ungarischer Seite unterschiedlich geführt wurde und
wird.
Insgesamt war die lebhafte Tagung ein voller Erfolg, zumal ein Vergleich zwischen
Ungarn und den böhmischen Ländern bislang in Deutschland kaum erörtert worden
war, Da die meisten Referentinnen und Referenten entweder beziehungsgeschichtliche Fragen behandelten oder komparative Studien vorstellten, war es anregend,
die unterschiedlichen methodischen Ansätze zu vergleichen. Die Ergebnisse werden in der Reihe „Bad Wiesseer Tagungen" vom Collegium Carolinum veröffentlicht
werden.
Prag/Freiburg i.Br.
DEUTSCHE,
Silke
ITALIENER, TSCHECHEN UND
I M 19. U N D 20.
Sobieraj
SLOWAKEN
JAHRHUNDERT
Der gemeinsamen Initiative des Deutsch-Italienischen Zentrums/Centro Italo
Tedesco (Villa Vigoni) und des Collegium Carolinum sowie der finanziellen Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Robert Bosch Stiftung
ist es zu verdanken, daß am 20.-23.6.1995 in der Villa Vigoni am Como See (Loveno
di Menaggio) eine außergewöhnlich anregende Tagung stattfinden konnte.
Die „Verdrängung" zahlreicher geschichtlicher Zusammenhänge aus dem historischen Bewußtsein gehört zweifellos zu den Lieblingsthemen zeitgenössischer Historiker; vor allem in der tschechischen postkommunistischen Historiographie wird
dementsprechend heute über vieles diskutiert, was zuvor einfach und eindeutig schien
oder worüber überhaupt nicht geredet wurde. Meist betrifft dies die tschechisch-deutschen Beziehungen, während aber die tschechisch-italienischen Beziehungen nach wie
vor einen „sehr" weißen Fleck darstellen, um die heute populäre Terminologie zu
bemühen.
Chronik
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Dies ist um so erstaunlicher, als die Tschechen über Jahrhunderte in einem gemeinsamen Staatsgebilde nicht nur mit den Deutschen, wie heute im historischen
Bewußtsein der tschechischen Gesellschaft erinnert wird, sondern auch mit Italienern
lebten, was ja nahezu vergessen ist. Die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches,
dessen Teil die böhmischen Länder bis zur Auflösung im Jahre 1806 waren, kann ohne
Italien nicht adäquat beschrieben und verstanden werden. Große Teile Italiens gehörten auch zur Habsburgermonarchie, ebenso wie die böhmischen Länder.
Heute denkt man in Böhmen jedoch kaum an die Italiener als ehemalige „Mitbürger". Wenn man von der Schönheit Prags und seiner glorreichen Vergangenheit
spricht und auf die kulturelle Vielfalt der Geschichte Prags und Böhmens überhaupt
eingeht, weist man heute meist auf das Zusammenleben der Tschechen, Deutschen
und Juden hin, nicht auf die italienischen Bürger Prags. Es scheint nahezu vollkommen vergessen zu sein, daß Italiener in Prag lebten, wie wir noch in der Österreichischen National-Enzyklopädie aus dem Jahre 1836 lesen: „Eine Kolonie Italiener, welche sich unter Karl IV. in Prag ansäßig machte, im Hussitenkriege auswanderte, aber
wieder zurückkehrte, befindet sich noch heute dasselbst. Sie beschäftigen sich ausschließlich mit dem Handel" (Bd.l,S.338). Über die weiteren Schicksale dieser Bevölkerungsgruppe Prags finden wir in modernen Geschichtsbüchern aber keine Auskünfte mehr. Die Konzentration auf die tschechisch-deutschen Auseinandersetzungen machte uns seit dem späteren 19. Jahrhundert weitgehend blind für die Anwesenheit der Italiener im böhmischen Raum.
Dabei zeigt aber auch jeder noch so flüchtige Besuch Prags, wie sehr das Bild der
Stadt von italienischen Baumeistern, Malern und Bildhauern über Jahrhunderte hin
bis heute geprägt wurde und wird. Gerade das pflegen jedoch häufig jene deutschen
Autoren zu vergessen, die mit Eifer an die künstlerischen Leistungen der Deutschen
in der jahrhundertealten Geschichte Prags erinnern und Prag allein als die Stadt des
deutsch-tschechischen Zusammenlebens darstellen. Viele tschechische Historiker
und Kunsthistoriker, die dagegen viele der deutschen Leistungen zu „tschechisieren"
bemüht sind (etwa durch die tschechische Schreibweise der Namen wie etwa Petr Parier), versuchen im Unterschied dazu keineswegs, die nationale Zugehörigkeit der Italiener zu vertuschen. Man könnte sogar von einem gewissen Stolz sprechen, mit dem
die Stadtführer in Prag auf die Leistungen der Italiener hinweisen. Die Verdienste der
Italiener erscheinen häufig im volkstümlichen Geschichtsbild als ein Beweis des hohen
Ansehens, des hohen Stellenwerts Prags und Böhmens im gesamteuropäischen Kontext.
Dennoch schließen in der Regel weder deutsche noch tschechische Geschichtsbilder
die italienischen Künstler in das Bild der „eigenen" Geschichte ein, man empfindet
sie viel mehr als die „anderen", als die „fremden", und das sogar auch dann, wenn sie
über mehrere Generation in Böhmen ansässig und tätig waren. Für die Untersuchung deutscher kollektiver Identitätsformen drängt sich hier die Frage auf, wieso
eigentlich Prag für eine so „deutsche" Stadt gehalten wurde, wo sie sich doch gerade
durch das von den Italienern stark geprägte Antlitz so sehr von deutschen Städten
aller Regionen unterscheidet; für die Erforschung der tschechischen Wahrnehmung
der böhmischen Vergangenheit erhebt sich die Frage, warum eigentlich die Leistungen
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deutscher Baumeister und Künstler und deren Interesse an Prag und Böhmen in der
Regel nicht mit Stolz, wie im Falle der Italiener, sondern als ein Beweis des deutschen
Expansionismus empfunden und bis heute wahrgenommen werden.
Schon allein diese Beobachtungen deuten an, welch eine fruchtbare und anregende
Diskussionsgrundlage die Konzeption der Tagung in der Villa Vigoni bot. Die heute
überaus intensive und sicherlich wichtige Auseinandersetzung mit den deutsch-tsche­
chischen Beziehungen in der Vergangenheit und Gegenwart erfuhr in diesem Lichte
einen wertvollen Ausgleich. Die Vielfalt und Vielfältigkeit nationaler Beziehungs­
geflechte wurden deutlich, viele der häufig als schicksalhaft empfundenen Probleme
aus der deutsch-tschechischen Vergangenheit verloren die Aura der Einmaligkeit. Die
Fixierung auf das Verhältnis einer „kleinen" und einer „großen" Nation wurde relati­
viert, die deutschen Probleme hinsichtlich des Verhältnisses zu den slawischspre­
chenden Nachbarn im Osten erhielten eine wertvolle Vergleichsbasis in den Erfahrun­
gen der Italiener.
Die vergleichende Betrachtung „Zwei habsburgische Provinzen in der europä­
ischen Revolution 1848: Lombardo-Venetien und Böhmen" (Hans Henning Hahn,
Oldenburg) regte lebhafte Diskussionen über die Vergleichbarkeit unterschiedlicher
Nationsbildungsprozesse an. Die Referate und Diskussionsbeiträge der slowakischen
Teilnehmer (František Hruška, Elena Mannová und Lubica Kaznerová, alle Brati­
slava) boten Anregungen zum Hinterfragen der häufig anzutreffenden Vereinnah­
mung der slowakischen Vergangenheit durch die tschechischen Erfahrungen, wenn es
um die tschechoslowakisch-italienischen bzw.
tschechoslowakisch-deutschen
Beziehungen geht, und die Beschäftigung mit der Vertreibung der Italiener aus Istrien
nach dem Zweiten Weltkrieg und deren Folgen (Karl-Peter Schwarz, Hamburg)
führte allen leidenschaftlichen Vertretern unterschiedlicher Standpunkte hinsichtlich
der sog. sudetendeutschen Frage vor Augen, daß die gängigen Probleme, Stand­
punkte und Meinungen im tschechisch-deutschen Dialog keineswegs einmalig sind.
Referate und Diskussionsbeiträge wie der von Manfred Alexander (Köln) über
„Deutschland, Italien und die Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit" und
Rudolf Lill (Villa Vigoni) über Mussolini und das Münchener Abkommen illustrierten
die Komplexität internationaler Beziehungen, der die übermäßige Konzentration auf
die deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen in der Regel keine gebührende Auf­
merksamkeit zollt. Francesco Leoncini (Venedig), Joze Pirjevec (Padua), Giuseppe
Dierna (Rom) und Gabriella Fusi (Milano) boten umfassende und gleichzeitig detail­
lierte Einblicke in die Wahrnehmung der Tschechen und Slowaken in Italien und
wiesen ebenso wie Antonín J. Liehm (Prag-Paris) und Antonín Měšťan (Prag-Frei­
burg) in ihren Referaten zu tschechischer Wahrnehmung der Italiener auf die histori­
sche Wandelbarkeit der bilateralen Kontakte hin, die ebenfalls häufig vernachlässigt
wird.
Diskutiert wurden aber auch bisher in der historischen Literatur wenig erforschte
Themenkomplexe wie die Bedeutung der Meinungsbildungsprozesse unter den tsche­
chischen Soldaten während des Ersten Weltkriegs in Italien, die Wahrnehmung
und Wirkung des italienischen Faschismus in der Tschechoslowakei (der von Ed­
vard Beneš beispielsweise noch im Jahre 1935 als die „letzte Etappe des italienischen
Chronik
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Risorgimento" bezeichnet wurde) oder die Schicksale der tschechischen sog. Regie­
rungstruppen im Einsatz der deutschen Wehrmacht in Italien im Zweiten Weltkrieg.
Alle Teilnehmer waren sich einig, daß sich die Aufmerksamkeit der Historiker und
Politologen zu sehr auf die bilateralen Beziehungen zwischen den Tschechen und
Slowaken und den sogenannten Großmächten konzentriert, genaugenommen zu
Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA, und daß die Erforschung
der vielfältigen Beziehungsgeflechte, durch die alle europäischen Völker miteinander
verknüpft sind, ein wichtiges Desiderat darstellt. Die Bereitschaft der Herausgeber
der Zeitschrift Bohemia, eine Auswahl der Referate den Lesern vorzulegen und damit
die wertvollen Anregungen einem weiteren Interessantenkreis vorzulegen, ist daher
allgemein begrüßt worden.
München
DEUTSCH-TSCHECHISCHE
Eva
Hahn
SCHULBUCHKONFERENZ
Die schon vor 1989 begonnene tschechoslowakisch- bzw. tschechisch-deutsche
Schulbucharbeit erlebte in diesem Frühjahr, wenn auch wenig beachtet, einen wichti­
gen neuen Abschnitt. Diesmal stand der Zweite Weltkrieg, der sich mit dem Münch­
ner Abkommen abzuzeichnen begann und der in der Vertreibung der Deutschen aus
Ostmitteleuropa ein Nachspiel fand, also die schwierigste Phase des bilateralen Ver­
hältnisses, im Zentrum der gemeinsamen tschechisch-deutschen Schulbuchgespräche.
Die fünfte Deutsch-Tschechische Schulbuchkonferenz fand vom 15. bis 18. Mai 1995
in Prag statt und wurde vom Institut für Tschechische Geschichte an der Philosophi­
schen Fakultät der Karls-Universität in Zusammenarbeit mit dem Georg-EckertInstitut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig organisiert.
Einleitend nutzte Jan Křen (Prag) sein Referat über „Die zeitgenössische tschechi­
sche Geschichtsschreibung zu den tschechisch-deutschen Beziehungen in der Zeit der
Katastrophe 1938-1946" dazu, Versäumnisse der tschechischen wie der deutschen
Forschung aufzuzeigen. Neben der mangelhaften Aufarbeitung der Geschichte der
Sudetendeutschen zwischen 1938 und 1945 wies er auf das Fehlen genauer Angaben
hin, wie viele Deutsche trotz Vertreibung in der Tschechoslowakei blieben, auf die
problematische Kollektivschuld-Diskussion und auf das öffentliche Interesse an der
Zahl der tschechischen Opfer während der nationalsozialistischen Herrschaft und an
der Zahl der deutschen Opfer im Rahmen der Vertreibung.
Zdeněk Beneš (Prag) zeigte für „Das Bild des Zweiten Weltkriegs in der tsche­
chischen Schulbuchgeschichtsschreibung", daß weniger der deutsch-tschechische
Gegensatz als die Frontlinien des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und den
USA, zwischen Kommunismus und Kapitalismus bzw. Imperialismus die Schul­
bücher bestimmten. Der nationalsozialistische Terror und die Konzentrations- und
Vernichtungslager und das Leid der Opfer wurden nicht eigens behandelt, vielmehr
stand die Heroisierung einzelner Kämpfer im Vordergrund.
Die völlige Auflösung eines festen Stoffkanons in allen 16 bundesdeutschen Länder­
richtlinien für den Geschichtsunterricht konstatierte Thomas Berger-von der Heide