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Informationen zur Raumentwicklung
Heft 4.2015
323
Die kommende „Welt-Polis“
Kai Vöckler
Die „Stadt“ ist heute fragmentiert, sie entfaltet sich in unterschiedlichen Raumkonfigurationen lokal wie global und steht nicht mehr für eine in sich geschlossene Gemeinschaft.
Entsprechend ist die Frage, wie die Stadt als Teil eines weltumspannenden Städtesystems
eine entsprechende politische Form findet, wie sie zur „Welt-Polis“ werden kann. Wie könnte sich eine Welt-Polis als Ideal politischer Gemeinschaft, das auf dem Freiheits- und Selbstbestimmungsprinzip gründet, unter den Bedingungen einer entstehenden Weltgesellschaft
in den Weltstädten formieren? Anknüpfend an die Philosophen Christoph Menke und Arnd
Pollmann wird argumentiert, das nicht eine weltstaatliche Organisation, die die Weltbürgerrechte durchsetzt, notwendig ist, sondern eine kosmopolitische Öffnung der Demokratie. Und hier werden die zunehmend globalisierten Städte die Vorreiterrolle einnehmen. Sie
bieten einen Handlungsraum an, der den nationalstaatlichen Rahmen überschreitet, worauf bereits die Stadtsoziologin Saskia Sassen hingewiesen hat. In ihnen treffen bereits unvollständig formalisierte Praktiken auf neue Vorstellungen von Bürgerschaft. Die Stadt ist
der Ort, die das Zusammentreffen der Verschiedenen, und den Austausch zwischen ihnen
ermöglicht, die die Differenz zulässt und den Raum für neue Formen lokaler politischer
Willensbildung bietet. Dieser Raum ist noch zu gestalten.
Städte sind die Orte, in denen sich die Zukunft der menschlichen Gesellschaft entscheidet, denn in ihnen lebt seit 2007 mehr
als die Hälfte der Menschheit, und es werden täglich mehr. Städte konzentrieren
ökonomische wie soziale Entwicklungen.
Sie bieten ein Zuhause, eine Perspektive
für ein besseres Leben. Wie dieses bessere
Leben aussehen könnte, ist Verhandlungssache und sollte Gegenstand einer offenen
(und gegensätzlichen) Debatte der davon
Betroffenen sein. Insofern soll hier weniger
eine Prophezeiung im Gestus des Wissens
gewagt, sondern vielmehr eine Entwicklung
aufgezeigt werden, die uns auffordert, darüber nachzudenken, mit wem wir diese Auseinandersetzung führen müssen.
Das setzt voraus, dass es dafür einen gemeinsamen Handlungsraum gibt, in dem
die öffentliche Auseinandersetzung über
die Perspektiven eines „guten Lebens“ stattfinden kann. Dieser Raum ist das zu gestaltende Gemeinwesen, also das, was Stadt in
einem ursprünglichen Sinne meint. Dass
die „Stadt“ heute fragmentiert ist, sich in
unterschiedlichen
Raumkonfigurationen
lokal wie global entfaltet und nicht mehr in
einer in sich geschlossenen Gemeinschaft
wie der antiken griechischen Polis formieren kann (und soll), stellt die Herausforderung für unsere Zeit dar. Die Verfassung
der europäischen Kommunen wird den
neuen Verhältnissen nicht gerecht. Nicht
nur, dass die Kommunen Teil des nationalstaatlichen Raums (und auch teilweise
eines suprastaatlichen Raums wie der Europäischen Union) sind und damit eben
nicht nur frei gewählte Selbstverwaltungsorgane, sondern auch weisungsgebundene
Verwaltungsinstanzen darstellen, schließen
sie beispielsweise in ihrer jetzigen Struktur
einen großen Teil ihrer Bevölkerung von
politischen Entscheidungsprozessen aus.
Ein Beispiel dafür ist die Heimatstadt des
Autors, Offenbach am Main, deren Bevölkerung mehrheitlich (56,9 %) Migrationshintergrund hat. 34,3 % der Einwohner sind
Ausländer, von denen 19,7 % EU-Staatsbürger sind, die an Kommunalwahlen teilnehmen dürfen, die verbleibenden 14,6 %
sind davon ausgeschlossen (Stadt Offenbach, Dezernat III/81.2, Arbeitsförderung,
Statistik und Integration 2014: 3). Der hohe
Anteil von Zuwanderern aus allen Ländern
bildet die Basis für eine neuartige Form von
Stadtleben und seiner sozialen Organisation. Denn Zuwanderung bedeutet nicht nur,
dass Menschen aus anderen Nationen nach
Offenbach kommen und integriert werden,
sondern auch, dass diese weiterhin enge
Beziehungen zu ihren Herkunftsländern
haben und auf diese Weise neue soziale
Prof. Dr. Kai Vöckler
ist Urbanist in Offenbach.
Gründungsmitglied von Archis
Interventions. Stadtentwicklungsprojekte in Deutschland und dem europäischen
Ausland. Seit 2010 Stiftungsprofessur für Kreativität im
urbanen Kontext an der HfG
Offenbach.
[email protected]
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Kai Vöckler: Die kommende „Welt-Polis“
Interaktionen über die nationalen Grenzen
hinweg ermöglichen, die sich eben auch in
den Ankunftsländern und -städten als neue
sozialräumliche Qualität ausbildet.
(1)
Ausführlich dargelegt am
Beispiel der Kosovo-Albaner in
Vöckler, 2008.
(2)
Die folgenden Überlegungen
basieren auf: Vöckler 2014:
47–78.
(3)
Aristoteles, Pol. VII, 1326b
1–5: „(...) ein Staat allerdings,
der aus vielen Bürgern besteht,
ist zwar in den lebensnotwendigen Bedingungen selbstgenügsam wie ein Volksstamm,
aber nicht wie ein Staat.” In:
Aristoteles/Dreizehnter 2003b:
331.
(4)
„(...) Poleis, d. h. Stadtgemeinden, städtische Staatswesen
(...)“ (Burckhardt 2007: 40).
(5)
Allerdings war immer nur ein
Teil der männlichen Bevölkerung an den politischen
Entscheidungsprozessen
beteiligt, auch die Freiheit zur
Selbstbestimmung zumeist
eingeschränkt. Auch bestehen
substanzielle Unterschied
zwischen diesen unterschiedlichen Stadtformen, auch wenn
sie alle von einem Stadtrecht,
einer städtischen Gemeindeverfassung bestimmt wurden.
Die Städte des antiken Griechenlands waren Stadtstaaten.
Die Städte des Römischen
Reichs dagegen fungieren als
administrative Zentren des
Reiches und waren der Provinz
untergeordnet. Die mittelalterlichen Städte wiederum
entwickelten, von einigen
Stadtstaaten und administrativen Zentren abgesehen, eher
einen Zwischentypus, den Max
Weber als „okzidentale Stadt“
beschrieb.
Dieser als Transnationalismus bezeichnete Zusammenhang gründet in einer
fortschreitenden gesellschaftlichen Denationalisierung, also der Ausweitung grenzüberschreitender wirtschaftlicher aber auch
kultureller und sozialer Zusammenhänge
(vgl. Mau 2007). Soziale Netzwerke sind
nicht zwangsläufig territorial begrenzt, wie
die Familiennetzwerke von Migranten und
deren wechselseitiger Einfluss auf die Herkunfts- wie Zielländer bei der Migration von
Familienmitgliedern zeigen.1 Dies kann als
Anlass genutzt werden, über neue Formen
lokaler politischer Willensbildung über die
etablierten Formen repräsentativer demokratischer Prozesse hinaus nachzudenken
– und den Raum dafür zu gestalten. Dessen
Ort ist die Stadt als Welt.
So wie die Zukunft der Menschheit außerhalb des weltumgreifenden Systems der
Städte kaum denkbar ist, sollte diese ohne
die Perspektive eines demokratischen, sich
selbstbestimmenden Gemeinwesens nicht
gedacht werden. Das wird nicht möglich
sein, ohne das Verhältnis von Stadt und
Staat zu thematisieren. Entsprechend ist die
Frage, wie die „Stadt“ als Teil eines weltumspannenden Städtesystems eine entsprechende politische Form findet, wie sie zur
„Welt-Polis“ werden kann.
Städte sind Umschlagplätze internationaler
Wirtschaftskreisläufe und daher den Auswirkungen ökonomischer Transformation und den sie begleitenden Krisen direkt
ausgesetzt, bieten aber auch die Perspektive sozialen Aufstiegs und der Teilhabe an
einem globalen Wirtschaftsraum. Sie integrieren Zuwanderer, die durch Migration
miteinander verflochten sind. In Städten
entwickeln sich neue Formen sozialer Interaktion. Durch die ökonomische Globalisierung der Welt rücken Städte immer dichter
aneinander und bilden in zunehmenden
Maß ein globales System, in dem weltgesellschaftliche Verhältnisse möglich werden. Es
ist aber kein einheitliches System, sondern
eher ein Geflecht sich überlagernder und
miteinander verknüpfter, aber auch unterschiedlicher globalisierter Raumstrukturen,
zu denen nur Teile der Weltbevölkerung Zugang haben.
Städte spielen eine besondere Rolle in diesen globalisierten Raumstrukturen, wie das
Verhältnis der Stadt zum Staat zeigt. Der
Nationalstaat gründet auf dem Prinzip der
Ausschließung beziehungsweise der Selbstabschließung in der Zusammenfügung von
territorialer Herrschaft und der Eingrenzung eines Staatsvolks, was es ihm möglich macht, ökonomische und politische
Strukturen in einem relativ großen Raum
zu kombinieren. Die Stadt dagegen basiert
auf dem Prinzip der Einschließung, der
Verdichtung ökonomischer Transaktionen
und sozialer Interaktion in einem relativ offenen Rahmen (vgl. Held 2005: 230, 367 ff.).
Beide Mechanismen ergänzen sich, haben
aber unterschiedliche Wirkungen. Die Stadt
ist der Ort, in dem sich die globalisierten
Raumstrukturen konzentrieren, der zum
„Knoten“ der Welt wird.2
Die Stadt galt bereits in der griechischen
Antike als der Ort, wo sich das persönliche Glück erreichen lässt, aber auch das
gerechte, freie Leben in der Gemeinschaft
realisiert werden kann (Aristoteles, NE
1097b 8 ff.; vgl. Aristoteles/Dirlmeier 2003a:
15 f.). Die Besonderheit des antiken griechischen Stadtbegriffs zeigt sich darin, dass
für Aristoteles Babylon, die zu seiner Zeit
vermutlich größte Stadt der Welt, eben keine Polis, sondern Ethnos, Stammesstaat,
ist. Größe allein macht noch keine Polis.3
Die griechische Polis war „Stadtstaat”4
(Jacob Burckhardt), ein Personenverband
aus männlichen Grundeigentümern, der
diese als Bürger (unter Ausschluss von
Frauen, Fremden und Sklaven) an der Polis
teilhaben ließ, der sich militärisch organisierte und selbst regierte, eigene Institu­
tionen wie die Volksversammlung und den
Rat entwickelte und politisch unabhängig
war. Die Stadt ist im antiken griechischen
Verständnis der Raum gemeinsamen Handelns, der im Austausch der Meinungen
gründet. Konstitutiv für die Polis als sich
selbst bestimmende und verwaltende Stadt
ist der offene, allen Bürger zugängliche und
von allen anerkannte Raum, in dem die
Angelegenheiten des Gemeinwohls verhandelt und entschieden werden. Stadt steht
hier für das politische Gemeinwesen, das
idealerweise in Freiheit und gleichberechtigt über sich selbst bestimmt: Polis, später
Civitas und Kommune.5
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 4.2015
Die Stadt steht in unserem kollektiv Imaginären für die gleichzeitige Entstehung und
Verschmelzung einer charakteristischen
Stadtstruktur und Stadtform mit einem
spezifischen System sozialer Beziehungen,
einer stadtbürgerlichen Gesellschaft mit
ihrer typischen Kultur: die „okzidentale
Stadt”.6 Genau diese in den geografischen
Raum eingebettete, gegen die Zeitläufe
widerständige Symbolik der Stadt ist es,
welche die Brüche im Transformationsprozess des Städtischen verdeckt. Denn dieser
Stadttypus hat sich stark verändert, wie die
neu entstandenen globalisierten Stadtformen zeigen.
Waren es im ausgehenden Mittelalter die
sich entwickelnden Territorialstaaten und
in der Folge die Nationalstaaten, die das
Erbe der Städte antraten, aber eben auch
deren Freiheiten einschränkten, so ist heute mit der Globalisierung der Ökonomie,
internationaler Migration und der Internationalisierung der Medien- und Kommunikationskreisläufe eine neuartige urbane Struktur entstanden, die sich über die
Welt ausbreitet und die Grenzen der Nationalstaaten überschreitet. Mit Handel und
Kolonialismus entstand seit dem 16. Jahrhundert ein weltweites Städtesystem, das
sich dann im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung und dem Imperialismus
zu einem eigenständigen „Weltsystem” mit
Weltstädten entwickelte, die als Machtzentren Verwaltung, Handel und Produktion koordinierten (vgl. Wallenstein 2004: 513–517;
ders. 1998; ders. 2004).
Dieses Gefüge erfuhr zum Ende des
20. Jahrhunderts eine bis dahin unbekannte
globale Dynamik, die eng mit den Veränderungen der Weltwirtschaft zusammenhängt
und bis heute andauert (vgl. Feldbauer/
Parnreiter 1997: 9–19). Die Aufspaltung
von Produktionsprozessen im weltweiten
Maßstab, die durch eine verbesserte Informations- und Kommunikationstechnologie und der Weiterentwicklung des Transportwesens ermöglicht wurde, bewirkte
zusammen mit der Ausweitung und der
Internationalisierung der Finanzmärkte einen Strukturwandel des Städtewesens (vgl.
Schwentker 2006: 7–26).
Die Transnationalisierung der Wirtschaftsstruktur führte zur Entwicklung von Städtenetzwerken, in denen diese transnationalen
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Unternehmensnetzwerke koordiniert werden. Die Rekonfiguration des Städtischen
in organisatorischen Knotenpunkten des
Weltwirtschaftssystems, die wiederum weltweit vernetzt sind und einen eigenen globalen Akkumulationsraum mit einer dazugehörigen transnationalen Elite bilden, ist
erst 1982 durch die „Weltstadthypothese”
des Raumplaners John Friedmann erfasst
und in der Folge von der Soziologin Saskia
Sassen als System der „Global Cities“ analysiert worden.7
Kurz: Waren- und Wissens-, Material- und
Menschenströme werden in den großen
Städten miteinander in Kontakt gesetzt,
verdichtet und über die Welt verteilt. Die
Städte urbanisieren nicht die Welt, sondern
bilden im System der Weltstädte einen eigenen, globalisierten städtischen Raum. Dass
die Städte mehr und mehr mit Realitäten
konfrontiert werden, die weder etwas mit
der Nachbarschaft noch mit dem Stadtteil
oder mit dem umgebenden Nationalstaat
zu tun haben, ist inzwischen ein Gemeinplatz. Was entsteht, sind besondere Orte,
deren kulturelle, ökonomische und soziale Aktivitäten nicht mehr auf das Lokale
beschränkt sind (Bittner/Hackenbroich/
Vöckler 2007).
Die „Global Cities“ sind über den Erdball
verstreut und bilden eine neue Geografie der Zentralisierung aus, sie integrieren aber nicht den gesamten Globus. Die
„Welt-Stadt“ ist nicht eine einzige zusammenhängende weltumspannende Siedlung,
eine „Ökumenopolis“, wie sie noch der
Historiker Arnold J. Toynbee in den 1960erJahren prognostizierte (vgl. Toynbee 1971:
161–202). Vielmehr sind es unterschiedliche,
global operierende Netzwerke, die nebeneinander existieren und in den „Global Cities“
und, vermittelt durch diese, räumlich miteinander interagieren (vgl. Korff 1997: 26).
Große Teile der Weltbevölkerung sind nicht
in diese Netzwerke, die nur einen Bruchteil der Erdoberfläche umfassen, integriert
(vgl. Friedmann 1995: 24). Zudem sind die
„Global Cities“ in den nationalen Raum
eingebettet. Die Nationalstaaten wiederum
entwickeln auf einer internationalen Ebene
durch die Gründung trans- und suprastaatlicher Institutionen und Organisationen die
Regeln und Rahmenwerke, in denen sich
die globalen Austauschprozesse vollziehen.8
Zwar gibt es keine übergeordnete Ordnung,
(6)
Vgl. Weber 2000: In Webers
oriental-okzidentalischen Zivilisationsvergleich kam es nur
im Okzident zur Entstehung
eines politisch autonomen
Bürgertums, das später Träger
der Entwicklung des modernen
Kapitalismus wurde.
(7)
Vgl. Friedmann/Goetz 1982:
309–344; vgl. auch Friedmann
1995: 22–44. Dieser Ansatz
wurde von der Soziologin
Saskia Sassen fortgeführt, die
als Voraussetzung für diese
neue Form weltwirtschaftlicher
Interdependenz ebenso ein
transnationales Städtesystem
sieht, in dem sich die Steuerungsfunktionen konzentrieren.
Vgl. Sassen 1996.
(8)
„Internationalität ist durch
die nationalen Rhythmen
vermittelt, während Globalität
eine transnationale Qualität
kennzeichnet, deren genuiner
Raum das Städtische ist.”
(Prigge 1994: 66)
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Kai Vöckler: Die kommende „Welt-Polis“
aber die Bedeutung der Nationalstaaten
verschwindet keineswegs, vielmehr werden
sie in diesem Transformationsprozess rekonfiguriert. Teile des Nationalstaats werden globalisiert, indem er Kompetenzen an
übergeordnete Institutionen abgibt. Außerdem entstehen im globalen Maßstab neue
Kooperationsformen zwischen privaten und
staatlichen Akteuren.
(9)
Vgl. Sassen 2008: 646–650.
Drei dieser Konfigurationen
sind ihrer Ansicht nach zentral:
das Frankreich der Kapetinger,
das England der Industriali­
sierung und die USA im
20. Jahrhundert.
(10)
Der hier verwendete Begriff
der Raumstruktur steht im
Gegensatz zu der Vorstellung,
dass der Raum eine formale
Einheit als dreidimensionale
Gegebenheit hat, und betont
die dynamische Relationalität
von Räumlichkeit. Vgl. Held
2005: 19, 374. Das von Held
umfassend analysierte Komplementärverhältnis von (nationalstaatlichem) Territorium
und Großstadt (Metropolregion)
ist bereits früher diskutiert
worden: „Einiges spricht dafür,
dass sich [städtische, Anm. d.
Verf.] Regionen als die gegenwärtig entscheidenden Räume
von ökonomischer Globalisierung etabliert haben – obwohl
sie oder vielmehr gerade weil
sie nicht staatlich verfasst sind
und auch ihre Kultur weder mit
einem abgegrenzten Territorium noch mit einer Geschichte,
also nationalstaatlich artikuliert
sind. (...) Man muss hier mehr
als bisher dazu übergehen,
diese Entwicklung von Regio­
nen ‚räumlich’, das heißt nicht
geografisch, sondern struktural
zu erklären.” (Prigge 1994: 66)
(11)
In dieser Hinsicht gleicht
die „Global City“ strukturell
der Kolonialstadt mit ihrem
„cordon sanitaire” zwischen
den europäischen Kolonialherren und den einheimischen
Arbeitskräften. Vgl. Post 2004:
175.
(12)
„Da nur ein sehr kleiner Teil der
modernen wirtschaftlichen und
politischen Prozesse wirklich
global ist, und da der weitaus
bedeutendere Teil auf der Erde
in einzelnen Volkswirtschaften
und Staaten parallel gemeistert
wird, ist die Erwartung eines
einzigen ‚Babylon’ Unsinn,
und ist auch der Begriff der
‚Global-City’ im Grunde irreführend.” (Held 2005: 344)
Die Integration der Volkswirtschaften in
den Weltmarkt ist allerdings nach wie vor
national reguliert (Prigge 1994: 65). Gerade die globalen Städte sind wesentlich auf
die Unterstützung durch die nationalstaatlichen Institutionen angewiesen und vermitteln zwischen diesen und den in ihnen
lokalisierten transnationalen Unternehmen. Stadt und Staat verhalten sich komplementär zueinander, setzen unterschiedliche Räume zueinander in Beziehung, wie
der Raumplaner Gerd Held argumentiert.
Die Stadt als Großstadt, die „Global City“,
steht für das räumliche Strukturprinzip, das
Zentralität herstellt und auf diese Weise Heterogenität durch Verdichtung zulässt – in
sie wird die Welt hineingeholt. Der Staat als
sich territorial organisierende Raumstruktur steht für die Abgrenzung und die Homogenität nach innen, in der die Welt im Raum
des Nationalen assimiliert und aufgelöst
wird (vgl. Held 2005: 230, 367 f.). Sassen dagegen versteht die Beziehung des globalen
Stadtsystems zu den Nationalstaaten nicht
als ein Komplementärverhältnis, sondern
als eine mehrdimensionale Anordnung,
in der sich „Territorium”, „Autorität” und
„Recht” in wechselnden historischen Konfigurationen ins Verhältnis setzen.9 Beiden
Ansätzen ist gemeinsam, dass die globalisierte Stadt und der Nationalstaat nicht als
unabhängig voneinander, sondern als interagierende „Raumstrukturen” (Gerd Held)
gesehen werden, die jetzt im „Weltmaßstab”
(Saskia Sassen) eine neue Raumkonfigura­
tion entwickeln.10
Eine Stadt ist allerdings nie vollständig in
die globale Wirtschaft und Gesellschaft integriert, sondern nur bestimmte räumliche,
soziale oder ökonomische Segmente. So benötigt die „Global City“ nicht nur gut ausgebildetes Fachpersonal, sondern auch die
Dienstleistungen des Niedriglohnsektors
wie die der Reinigungs- und Sicherheitskräfte. Diese in unsicheren oder auch informellen Arbeitsverhältnissen Beschäftigten wer-
den häufig aus den legal oder auch illegal in
die Global Cities strömenden Migranten rekrutiert. Die Kontroll- und Steuerungskapazität hängt von einer funktionierenden Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur
ab, und dieses Funktionieren ist ohne einen
„gewaltigen Unterbau an Dienstleistungsbetrieben” nicht gewährleistet, in denen ein
Service-Proletariat beschäftigt ist (Kipfer/
Keil 1995: 81). Insofern spiegelt sich in der
„Global City“ die Welt, die globale Ordnung
findet sich in der sozial und wirtschaftlich
segmentierten Stadt wieder, die in ihren
Randlagen die Arbeitskräfte aus den Peripherien der Welt versammelt.11
Der traditionelle Stadtraum ist fragmentiert,
die Teile der Stadt spalten sich in lokal, regional und international bezogene Teile auf,
die sich auf komplexe Weise überlagern (vgl.
Prigge 1998: 6). Die „Global City“ ist nur in
Teilen globalisiert, nie als Ganzes – insofern
ist der Begriff irreführend.12 Aber sie kann
unterschiedliche, in den unterschiedlichen
Maßstäben (lokal, regional, global) aufeinander bezogene Räume verdichten und in
ihrer Heterogenität an einem Ort konzentrieren.
Wie kann sich in dem neuartigen Gefüge eines Weltstädtesystems ein politisches
Gemeinwesen entwickeln? Wie könnte
sich eine „Welt-Polis“ als Ideal politischer
Gemeinschaft, das auf dem Freiheits- und
Selbstbestimmungsprinzip basiert, unter
den Bedingungen einer entstehenden Weltgesellschaft in den Weltstädten formieren?
Diese Frage kann hier nicht beantwortet
werden, stellt aber angesichts der neuen
Formierung des Städtischen im globalen
Maßstab die eigentliche Herausforderung
einer Neubestimmung des politischen Gemeinwesens als Teil der Weltgesellschaft
dar. Eine „Welt-Polis“ ist kein Weltstaat, und
es stellt sich die Frage, ob sie auf diesen
angewiesen ist. Der Weltstaat als eine einzige, die gesamte Welt umfassende Autorität,
der sich alle anderen Autoritäten unterzuordnen haben, ist nicht zwangsläufig die
einzige Form gesellschaftlicher Ordnung,
die eine globale politische Willensbildung
ermöglicht. Die Idee des Weltstaats basiert
auf der Weltgewalt als Grundvoraussetzung
der Rechtsdurchsetzung (zum Weltstaat vgl.
Toynbee 1969; Tönnies 2002). In diesem Zusammenhang ist immer wieder darauf hin-
Informationen zur Raumentwicklung
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gewiesen worden, dass die Idee vom Weltstaat schnell in eine Despotie führen kann
– was sollte einen Hegemon daran hindern,
im Namen allgemeiner Rechte seine Macht
zu sichern? Außerdem erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass Nationalstaaten freiwillig ihre Kompetenzen an einen Weltstaat
abtreten. Man schaue dazu nur auf die Konstruktion des UN-Sicherheitsrats mit seinen
komplexen Machtverhältnissen.
Viel problematischer an der Idee vom Weltstaat ist, dass dieser kein „Außen“ mehr
kennt, worauf der Philosoph Henning
Ottmann bereits hingewiesen hat.13 Was
passiert mit denen, die außerhalb dieser
„Menschheitsordnung“ stehen? Werden
sie (wie früher die Piraten und heute die
Terroristen) zu „Feinden des Menschen­
geschlechts“ erklärt, zu den ausgeschlossenen Anderen, die keinen Ort mehr für
sich beanspruchen dürfen? Die Philosophin Hannah Arendt hat dies pointiert benannt: „... dass eines Tages ein bis ins letzte
durchorganisiertes, mechanisiertes Menschengeschlecht auf höchst demokratische
Weise, nämlich durch Majoritätsbeschluss,
entscheidet, dass es für die Menschheit im
ganzen besser ist, gewisse Teile derselben
zu liquidieren (Arendt 1986: 618).
Realistischer erscheint hingegen die von
dem Philosophen Ottfried Höffe vorgeschlagene subsidiäre Weltrepublik, die komplementär zu den Nationalstaaten hinzutritt
und die Menschenrechte sowie soziale und
ökologische Mindeststandards durchsetzen
und den Frieden sichern soll (vgl. Höffe
2002, 2004). Auch dazu bedarf es allerdings
einer globalen Rechtsordnung. Das würde
aber unweigerlich zu einem Machtproblem zwischen dem „Weltrechtsstaat“ und
den Nationalstaaten führen, müsste doch
die „von der Weltrepublik konzentrierte Gewalt größer sein als die der größten
verbleibenden Supermacht, größer auch
als die einer Koalition von Mächten (...) –
eine machtphysikalische Unmöglichkeit.“
(Ottmann 2010: 385)
Nun lassen sich weltgesellschaftliche Verhältnisse nicht nur aus der Weiterentwicklung des Nationalstaats herleiten. Denkbar
ist auch eine kosmopolitische Demokratie,
wie sie etwa dem Politikwissenschaftler
David Held vorschwebt („globale soziale
Demokratie“), kurz gefasst als reformier-
327
te Vereinte Nationen, die die Entwicklung
weiterer demokratischer Institutionen jenseits des Nationalstaats und den Abbau von
Handelsschranken zugunsten der Entwicklungsländer umfasst (vgl. Held 2007). Was
Held mit ins Auge fasst, ist die Entstehung
neuer supranationaler Politiken, an denen
neben den Nationalstaaten eben auch vermehrt nicht-staatliche Akteure wie internationale und transnationale Organisationen
(multinationale Konzerne, internationale
Expertengruppen,
Nichtregierungsorganisationen, transnationale soziale Bewegungen) zusammenwirken. Hier entstehen
neue Formen globaler Politik, die aber gerade nicht demokratisch legitimiert sind
oder rechtsstaatlichen Kontrollfunktionen
unterliegen. Dies betrifft Nichtregierungsorganisationen mit altruistischen gleichermaßen wie multinationale Konzerne
mit profitorientierten Zielen, um nur zwei
Beispiele herauszugreifen. Das Besondere
dieser neuen Form globaler Politik ist, dass
sie von sich behauptet, globale Politik ohne
eine Weltregierung lösen zu können. Unklar bleibt bei diesen unter dem Schlagwort
„Global Governance“ zusammengefassten neuen Politiken, inwieweit sie einfach
nur neue Regierungstechniken sind (vgl.
Brand/Brunnengräber/Schrader 2002).
Auch wenn die zivilgesellschaftlichen Netzwerke und Nichtregierungsorganisationen
sich durch hohe Transparenz und Diskursund Verhandlungsbereitschaft auszeichnen
und sich damit auch öffentlicher Kontrolle
aussetzen, sind doch weite Felder dieser
Politik in hohem Maße intransparent: Man
nehme nur den Bereich der Finanzen oder
der Sicherheit.
Entscheidend aber ist, dass David Held weniger vom Staat, sondern vom Individuum
als dem Subjekt von Weltrecht und Weltpolitik ausgeht. Held sieht hier die Grundlage eines neuen Kosmopolitismus „als jene
moralische und politische Perspektive (...),
die auf den Stärken der liberalen multilateralen Ordnung aufbaut, v. a. ihrer Verpflichtung auf universelle Standards, Menschenrechte und demokratische Werte...“ (Held
2007: 261).
Aber der Kosmopolitismus setzt eben auch
einen universalen Begriff des Menschen
voraus, der ideologisch werden kann und
zum Ausschluss derjenigen führt, die die-
(13)
Vgl. Ottmann 2010: 384. Ich
beziehe mich in der Diskussion
von Weltstaat, Weltrepublik und
„Global Governance“ auf das
Kapitel XVIII, Demokratie jenseits des Nationalstaats – eine
neues Paradigma oder eine
Utopie. Ebd.: 379–399.
328
Kai Vöckler: Die kommende „Welt-Polis“
sen nicht teilen. Schon der antike Kosmopolitismus lieferte dem Panhellenismus
und dem römischen Reich die ideologische
Grundlage für deren Expansion. Und es
lässt sich schnell feststellen, dass nicht alle
den gleichen Begriff von Menschheit (und
Individuum) haben und das demokratische
Ideal der Selbstbestimmung teilen – man
denke nur an die Auseinandersetzung um
die allgemeinen Menschenrechte und deren universaler Berechtigung, was nicht nur
von religiösen Fundamentalisten weltweit
bestritten wird.14 Auch liegt dem Begriff
der unveräußerbaren Menschenrechte eine
Paradoxie zugrunde, auf die Arendt bereits
verwiesen hatte, da „dieses Recht mit einem
‚Menschen überhaupt’ rechnete, den es
nirgends gab(...), also der Begriff des Menschen, wenn er politisch brauchbar gefasst
sein soll, die Pluralität der Menschen stets in
sich einschließen muss.“ (Arendt 1986: 604)
Arendt hat dies als eigentliche Form des
Politischen definiert: „Politik beruht auf
der Tatsache der Pluralität von Menschen“,
sie entsteht zwischen den Menschen, die
nicht gleich, sondern verschieden sind und
sich einen Raum gemeinsamen Handelns
schaffen, sie „handelt von dem Zusammenund Miteinander-Sein der Verschiedenen.“
(Arendt 2010: 9)
(14)
Beispielsweise die „Kairoer
Erklärung der Menschenrechte
im Islam“ von 1990, die die
Scharia einbezieht.
(15)
Zur Kontroverse zwischen
einem Staats- und einem Demokratiekonzept des Weltbürgerrechts vgl. Menke/Pollmann
2007: 208–215.
(16)
„Während Nationalstaaten
Städtesysteme brauchten, waren umgekehrt Städte oft nicht
auf einen funktionierenden
nationalstaatlichen Rahmen
angewiesen.” (Osterhammel
2001: 382)
Entsprechend sollte nicht von der Universalität des demokratischen Ideals der Selbstbestimmung ausgegangen werden, sondern
dieses als universalisierbar gedacht werden. Dies haben die Philosophen Christoph
Menke und Arnd Pollmann im Anschluss
an Michael Walzers Theorie eines „wiederholenden“ Universalismus vorschlagen, der
eben dynamisch und prozessual gedacht ist
und sich in einer stetigen und erneuernden Wiederholung in wechselnden Kontexten und wechselnden Akteuren (weiter)
entwickelt, ohne seinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit aufzugeben (vgl. Menke/
Pollmann 2007: 79–85). Entsprechend folgt
daraus weniger eine weltstaatliche Organisation, die die Weltbürgerrechte durchsetzt,
sondern vielmehr eine „kosmopolitische
Öffnung der Demokratie“.15 Das bedeutet,
dass „nicht (...) jeder Mensch zum Bürger
desselben demokratischen Gemeinwesens
werden soll...“, sondern „...jeder Mensch bei
der Selbstregierung dieses Gemeinwesens
zu berücksichtigen ist.“ (ebd.: 213)
Entsprechend respektiert ein solches demokratisches Gemeinwesen nicht nur die
Bürgerrechte seiner Mitglieder und die
Grundrechte der auf seinem Territorium
Anwesenden, sondern auch die Weltbürgerrechte aller Menschen. Das Demokratiekonzept sieht daher „die Dringlichkeit“ weniger
„im Aufbau einer handlungsmächtigen supranationalen Organisation“, sondern in der
„effizienten, daher kontextintensiven Reformierung oder Revolutionierung lokaler
politischer Verhältnisse.“ (ebd.: 214) Und
dies wird, so Menke und Pollmann, „...nur je
lokal und in einer unsynthetisierbaren Vielfalt verwirklicht werden können.“ (ebd.: 215)
Was bedeutet dies für die Stadt als Ort der
Selbstbestimmung und der gesellschaft­
lichen Selbstverständigung? Die Entwicklung der neuen Kommunikationstechnologien (Satellitentechnologie und Internet)
zum Ende des 20. Jahrhunderts ermöglichte
einen „permanenten Interaktions- und
Kommunikationszusammenhang” innerhalb des Weltstädtesystems (Osterhammel
2011: 386). Öffentlichkeit ist nicht mehr
allein an den konkreten städtischen Raum
gebunden, sondern entfaltet sich in (auch
medial) vermittelten Teilöffentlichkeiten,
die auf jeweils eigene Weise reale und virtuelle, lokale und globale Räume verknüpfen.
Die Stadt organisiert zudem den gesellschaftlichen Raum auf andere Weise als der
Nationalstaat.16 Sie ist der Ort ständiger Zirkulation von Menschen, Informationen und
Waren, bewirkt ihr Zusammentreffen und
den Austausch, ermöglicht auf diese Weise
Differenz und schafft damit den Raum für
soziale Interaktion über das Lokale und Nationale hinaus (vgl. Lefèbvre 1990: 127 ff.).
In ihr verdichten sich die Teilöffentlichkeiten, die zueinander in Beziehung gesetzt
werden.
Das globale Städtesystem bietet eine neuartige Perspektive, das Globale mit dem
Lokalen zu verschränken. Dies wird nicht
losgelöst vom nationalstaatlichen Rahmen
geschehen. Der Nationalstaat und die Nationalgesellschaft werden sich verändern
und ein neues Verständnis von Nation entwickeln müssen, wie der Soziologe und Migrationsforscher Friedrich Heckmann fordert: „Gegenüber einem ethno-kulturellen
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 4.2015
Nationsbegriff, für den geglaubte gemeinsame Abstammung konstitutiv ist, erlaubt
nur die ‚Logik’ eines auf gemeinsamen Werten beruhenden politischen Nationsbegriff
auch die Aufnahme von ‚Fremden’ in den
nationalen Zusammenhang und damit Integration.“ (Heckmann 2015: 290)
Der Nationalstaat gibt zunehmend Aufgaben an suprastaatliche Organisationen
ab, ein gutes Beispiel dafür ist die Europäische Union. Der Philosoph Jürgen Habermas hat darauf hingewiesen, dass hier
eine transnationale Öffentlichkeit entsteht,
zu der sich die nationalen Öffentlichkeiten
öffnen (vgl. Habermas 2011). Die Europäische Union bildet ein rechtlich verfasstes,
suprastaatliches Gemeinwesen, das für
Habermas auf den Begriff der Nation als
Herkunftsgemeinschaft verzichten kann,
da alle Europäer Grundüberzeugungen wie
Glaubensfreiheit, soziale Gerechtigkeit oder
Rechtsstaatlichkeit teilen. Das europäische
Recht spielt dabei eine zentrale Rolle, da es
die sogar grenzübergreifend gegen die nationale Gesetzgebung schützt, was sich in der
weltweit einmaligen Institution eines Europäischen Gerichtshofs manifestiert. Und sie
räumt, wie bereits erwähnt, den Staatsbürgern der Europäischen Union auch weitgehende Rechte innerhalb der Nationalstaaten ein, wie beispielsweise die Beteiligung
an den Kommunalwahlen.
Auf den Begriff der Nation ganz zu verzichten, schlägt die Philosophin Catherine
Colliot-Thélène vor und argumentiert für
eine „Demokratie ohne Volk“ (vgl. ColliotThélène 2011). Sie konstatiert, dass der
„heutige Rechtspluralismus (...) eine Vervielfältigung und wachsende Heterogenität
der Machtinstanzen [bedeutet], bei denen
die Subjekte die Anerkennung erstrebter
Rechte einfordern können oder müssen.“
(ebd.: 14)
Entsprechend sollte ihrer Meinung nach
das Wahlrecht vom Staatsbürgerstatus abgekoppelt werden: „Der heutige Recht­
s­
pluralismus macht es erforderlich, sich von
der klassischen Vorstellung eines Demos
zu verabschieden, verstanden als eine geeinte Gemeinschaft, deren vermeintlicher
Wille die Legitimität der Macht begründet.“
(ebd.: 15)
329
Zwar bleibt der Einzelne Angehöriger
eines bestimmten Staates, soll aber in jedem Staat die Freiheits- und Bürgerrechte
wahrnehmen können, die ihm aufgrund
seines „Menschseins“ zukommen. Mit Bezug auf Hannah Arendt argumentiert sie,
die „...einzige echte Garantie für erworbene
Rechte ist das, was ihre Erkämpfung möglich gemacht hat, nämlich das Recht eines
jeden Menschen, Rechte zu fordern: ein
vorrechtliches Recht, das nicht naturgegeben ist, sondern ausschließlich durch das
Handeln von Menschen Realität gewinnt,
die nur durch das Abschütteln von Bevormundung zu Subjekten werden.“17
Entsprechend ist eine „eine nichtnationale politische Bürgerschaft zu konzipieren, ohne die spezifische Form politischer
Souveränität zu opfern, deren Kern das
Rechtssubjekt und damit das emanzipatorische Potenzial ist, von dem eine zweihundertjährige Geschichte zeugt.“ (ebd. 22)
Sie stellt fest, dass die „...Aktivitäten von
Einzelpersonen und Gruppen, die ihre
Rechte aktiv verteidigen, ...nicht mehr durch
staatliche Grenzen eingeschränkt [werden], ...die neue Machttypologie hat neue
Organisationsformen
hervorgebracht.“
(ebd.: 225)
Das sieht auch Sassen ähnlich, die feststellt,
dass die Städte stärker zu eigenständige Akteuren werden, die zwar Teil des Nationalstaats bleiben, aber durch das Netzwerk der
„Global Cities“ selbst neue Formen grenzüberschreitender „Governance“ entwickeln, sich hier „Formen partizipatorischer
Politik entwickeln, die das nationale politische Leben dezentrieren“ und von denen
sich lernen lässt, „wie sich Demokratie über
Grenzen hinweg praktizieren lässt.“ (Sassen
2008: 493)
Für sie stellt die Stadt jetzt wieder die Maßstabsgröße für strategisch entscheidende
politische Dynamiken dar. Hier treffen unvollständig formalisierte politische Praktiken auf neue Vorstellungen von Bürgerschaft. Entsprechend ist es die Stadt, die als
Ort der Freiheit das Zusammentreffen, den
Austausch, die Differenz und damit den
Raum für den Prozess der gesellschaftlichen Selbstbestimmung ermöglicht. Sie ist
der Ort, an dem die Zukunft möglich wird.
Diese Zukunft muss entworfen werden.
(17)
Colliot-Thélène 2001: 208.
Arendt hatte dies mit ihrer
berühmten Forderung auf ein
„Recht auf Rechte“ explizit
formuliert. Vgl. Arendt 1986:
614–625.
330
(18)
Arendt 2010: 28 „Das Wunder
der Freiheit liegt in diesem Anfangen-Können beschlossen,
das seinerseits wiederum in
dem Faktum beschlossen liegt,
dass jeder Mensch, sofern
er durch Geburt in die Welt
gekommen ist, die vor ihm da
war und nach ihm weitergeht,
selber ein neuer Anfang ist.“
(Ebd.: 34)
Kai Vöckler: Die kommende „Welt-Polis“
Mit wem die Auseinandersetzung über eine
gemeinsame Zukunft in den sich globalisierenden Städten zu führen ist, konnte eingekreist werden. Wie dieser Prozess zu gestalten ist, welche Formen er finden muss – das
ist noch zu klären.
„Der Sinn von Politik ist Freiheit“, und diese Freiheit gründet darin, immer wieder
neu anzufangen, etwas Neues beginnen
zu können, wie Arendt gezeigt hat.18 Das
Vermögen, etwas Neues zu entwerfen, eine
Möglichkeit aufzuzeigen, ist auch wesent­
liche Aufgabe der Künste und Wissenschaften. Dann gründen Gestaltung und Wissensproduktion im Handeln und setzen
etwas in Gang. Ihr Ort ist das zu gestaltende Gemeinwesen, das, was Stadt in einem
ursprünglichen Sinne meint: die Schaffung
eines gemeinsamen Handlungsraums, einer öffentlichen Auseinandersetzung über
die Perspektiven eines „guten Lebens“, das
in der Verantwortung für das Ganze basiert.
Das ist die Welt, wie sie sich zusammenfindet in der Stadt, in der kommenden „WeltPolis“.
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 4.2015
331
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© fotolia/Kovalenko Inna
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