Bernhard Morbach:
»Dialog mit dem Mittelalter«
Im Gunde ist es nicht legitim, den Begriff »historische Aufführungspraxis« auf die gegenwärtige
Auseinandersetzung mit den musikalischen Quellen des 9. bis 14. Jahrhunderts anzuwenden,
denn es existieren zu wenige Informationen darüber, wie man diese Musik im Mittelalter – also in
ihrer Entstehungszeit – realisiert hat. Deshalb ist der Musiker von heute gezwungen, die alten
Noten mit musikalischen Ideen zu verbinden, die er aus unterschiedlichen Bereichen der gegenwärtigen Musik schöpfen kann. Er muss eine Synthese schaffen zwischen der Überlieferung aus
einer fernen Zeit, seiner spezifischen musikalischen Sozialisation und seiner individuellen
musikalischen Vorstellungswelt. Gerade dieser »dialogische Aspekt« ist der Grund dafür, dass die
Musik des Mittelalters, die diese Bezeichnung also nur »cum grano salis« verdient, heute wieder
populär ist. Die Verifizierung dieser These ist Grundanliegen der monatlichen Sendung »Dialog mit
dem Mittelalter«, die jeweils am ersten Mittwoch im Monat um 20:04 Uhr in der Reihe »Alte Musik
spezial« läuft. Rein technologisch betrachtet, präsentiert jede Sendung Interpretationsvergleiche.
Doch im Grunde greift der Begriff INTERPRETATION hier zu kurz. Denn er bezeichnet ein
musikalisches Verfahren, bei dem es darum geht, die eingegrenzten Freiheitsräume gegenüber
einem Notentext auszuloten, der selbst schon viele Hinweise darüber enthält, wie er klanglich zu
realisieren sei. Dies ist eben bei mittelalterlichen Quellen in nur ganz geringem Maße der Fall. Andererseits hat der Musiker geradezu gezwungen, sich die betreffende Musik – im eigentlichen
Wortsinn – »anzuverwandeln.« Es ist deshalb gewissermaßen systembedingt, dass die einzelnen
REALISATIONEN (dieser Begriff mag hier den der Interpretation ersetzen) der mittelalterlichen
Quellen höchst unterschiedlich sind, was Vergleiche in jedem Fall leichter nachzuvollziehen macht
als herkömmliche Interpretationsvergleiche von Werken des klassisch-romantischen Standardrepertoires.
Mittwoch, 7. 10.
Alte Musik Spezial
1. Das Lerchenlied des Trobadors Bernart de Ventadorn im Vergleich unterschiedlicher Realisationen vom Studio der Frühen Musik (1960) bis zum Ensemble Millenium (2005)
»Bernart de Ventadorn stammte aus dem Limousin, aus dem Schloss von Ventadorn. Er war ein
Mann von niederer Abkunft, Sohn eines Knechts, der Ofenheizer war und den Ofen heizte, in dem
das Brot für das Schloss gebacken wurde. Er wuchs indessen heran zu einem schönen und gewandten Mann, wusste gut zu singen und zu dichten und wurde höfisch und gebildet. Der Vizegraf von
Ventadorn, sein Herr, fand großen Gefallen an ihm, seinem Dichten und Singen, und erwies ihm
große Ehre. Der Vizegraf von Ventadorn aber hatte eine Gattin, jung, edel und fröhlich. Sie fand
Gefallen an Herrn Bernart und seinen Liedern und verliebte sich in ihn und er in die Dame, so dass
er seine Lieder und Verse auf sie dichtete, auf die Liebe, die er zu ihr hegte, und auf den hohen Wert
der Herrin. Lange Zeit dauerte ihre Liebe, bis der Vizegraf, der Gemahl der Herrin, und die Leute es
bemerkten. Sobald aber der Vizegraf aufmerksam geworden war, entfernte er Herrn Bernart aus seiner Nähe, seine Gattin aber ließ er einschließen und bewachen. Und die Herrin ließ Bernart Urlaub
erteilen, auf dass er fortgehe und die Gegend verließe. Und er ging fort und begab sich zu der Herzogin der Normandie (Eleonore von Aquitanien), die war jung und hochgetan und sehr bedacht auf
Preis und Ehre und schöne Worte zu ihrem Lobe. Und ihr gefielen die Lieder und Verse Herrn
Bernarts sehr gut, und sie empfing ihn und nahm ihn sehr freundlich auf. Lange Zeit weilte er an
ihrem Hof und verliebte sich in sie und sie in ihn, und er dichtete viele schöne Lieder auf sie. Und
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als er noch bei ihr weilte, nahm der König Heinrich von England sie zur Gattin, führte sie aus der
Normandie fort und brachte sie nach England; und so blieb Herr Bernart voll Trauer und Schmerz
dort zurück. Und er begab sich zum guten Grafen Raimond von Toulouse und verweilte bei ihm, bis
der Graf starb. Und aus Schmerz darüber trat Herr Bernart in den Mönchsorden zu Dalon ein, und
dort starb er.« (historische Lebensbeschreibung)
Aus dem großen Fundus der Troubadour- und Trouvères-Lieder sei das wohl berühmteste
herausgegriffen, das ›Lerchenlied‹ Bernarts de Ventadorn. Es ist ganz ohne Zweifel das textliche
und musikalisch am häufigtsen interpretierte Lied des Mittelalters.
»Seh’ ich die Lerche,
die mit Lust ihre Flügel zur Sonne schwingt,
selbst sich vergisst, sich fallen lässt
vor Wonne, die ihr Herz durchdringt,
ach, dann fühl’ ich solchen Neid
auf die, die fröhlich sind,
dass es mich wundert, dass mein Herz
vor Verlangen nicht zerschmilzt.
Ach, ich glaubte, soviel zu wissen
von der Liebe, und doch weiß ich so wenig,
denn ich kann nicht anders, als die zu lieben,
die mich niemals erlösen wird.
Sie hat mein Herz gestohlen, mein ganzes Ich,
sich und die ganze Welt weggenommen.
Und als sie sich entfernte, überließ sie mir
nichts als Verlangen und ein sehnsüchtiges Herz.
Niemals besaß ich Gewalt über mich
oder gehörte mir selbst, seitdem sie mich
in ihre Augen blicken ließ,
in diesen Spiegel höchster Anmut.
Spiegel, seit ich mich in dir erblickte,
bin ich von Seufzern tief gemartert,
denn ich bin verloren,
wie es Narziss einst an der Quelle war.
An den Frauen verzweifle ich,
nie mehr will ich ihnen trauen:
So wie ich einst ihr Beistand war,
lass’ ich sie schutzlos nun zurück.
Seit ich sehe, dass keine für mich da ist,
sondern dass sie mich vernichten und zerstören,
fürchte ich sie, misstraue ihnen,
denn sie sind alle gleich.
Hierin ist so wie jede Frau
auch meine Dame, dies werfe ich ihr vor:
denn sie will nicht, was sie soll,
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und sie tut, was sie nicht darf.
Ich wurde Opfer ihrer Unbarmherzigkeit
und war wie der Tor auf der Brücke;
ich weiß nicht, weshalb mir dies geschah,
wohl wollte ich zu hoch hinaus.
Die Gnade ist vertan, gewiss,
und niemals kannte ich sie zuvor;
denn jene, die ganz erfüllt sein müsst’ davon,
hat nichts davon, wo soll ich sie nun suchen?
Oh, wie erbärmlich ist es anzusehn,
wie dieser sehnsüchtige Narr,
der ohne sie niemals gewinnt,
sterben wird ohne ihren Trost.
Solange meine Dame nicht bewegt wird
von Gebeten, Mitleid oder meinem Recht
und sich nicht erfreut,
dass ich sie lieb’, werd ich ihr nichts mehr sagen.
So verlasse ich sie und entsage ihr,
sie tötete mich, und der Tod ist meine Antwort;
ich gehe fort von ihr, da sie mich nicht minnt,
ich weiß nicht wohin, verachtet und verbannt.
Tristan, nichts mehr werde ich dir geben,
denn ich gehe fort, verachtet, ohne Ziel.
Dem Gesang entsage ich, verzichte auf ihn,
verstecke mich vor Freude und Vergnügen.«
Eine metrisch quantitierende Interpretation der mittelalterlichen Aufzeichnung, die selbst keine eindeutigen rhythmischen Informationen enthält, ist nicht möglich, d. h. sie lässt sich nicht in das
Schema einer Taktordnung zwängen. Die konkrete rhythmische Gestaltung der Melodie muss sich
am Rhythmik des vorzutragenden Textes orientieren. Nur bei solchen Troubadour- oder TrouvèreMelodien, die man dem Bereich des Tanzliedes zuordnen kann, ist eine am modernen Takt orientierte Übertragung möglich. Bei Bernarts ›Lerchenlied‹ handelt es sich innerhalb der mittelalterlichen
Liedkunst um eines der wenigen Beispiele, bei denen ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen
Dichtung und Musik zu bestehen scheint, d.h. der Text wurde offenbar regelrecht vertont, obwohl
die Melodie bis zu ihrer späteren Aufzeichnung zuerst schriftlos tradiert wurde. Besonders auffällig
ist die strukturelle Korrespondenz zwischen Text und Musik. Bei der ersten Strophe scheint gar ein
›bildlicher‹ Zusammenhang zwischen dem Wort »mover« (bewegen) und der melodischen Figur zu
bestehen, die der Dichterkomponist ihr zuordnet: Die ersten sechs Textsilben werden syllabisch vertont; bei ›mover‹ entfaltet sich erstmals ein Melisma, das den Flug der Lerche auszudrücken
scheint. Die Melodie ist von ähnlichen Melismen geradezu durchdrungen. Dadurch – und durch die
freie (deklamatorische) rhythmische Struktur insgesamt – kann man die Melodie als ein musikalisches Bild betrachten, die mit Tönen das sprachliche Bild nachzeichnet, von dem der Dichtersänger
in der ersten Strophe ausgeht. Andererseits kann man den Melismen eine rein gliedernde Funktion
zuordnen, denn sie bilden jeweils den Abschluss einer melodischen Sinneinheit, die einer Textzeile
zugeordnet ist.
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Die Aufführung des mittelalterlichen Minnesangs war in ein komplexes höfisches Ritual einbezogen, welches sich auch nicht ansatzweise in unsere Zeit hinüber ziehen lässt. Aber dennoch: Wenn
man sich heute – als Sänger oder als Sängerin – dieser Musik zuwendet, muss man sich den ›Auftritt des historischen Dichtersängers‹ vergegenwärtigen. Er »interpretierte« keine vorgegebenen,
konkreten Melodien, orientierte sich lediglich an melodischen Modellen und musste mit einem musikalisch möglichst spontanen, emotional aufgeladenen Vortrag seinen Text dem Publikum eindringlich machen. Ebenso muss man heute versuchen, nicht die in der Quelle aufgezeichnete Melodie
Ton für Ton wiederzugeben, sondern sie in einer freien Ausformung zu ›individualisieren‹ und mit
dem historischen Text eigene Emotionen zu verbinden.
Die Einspielungen:
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1994 Margriet Tindemans (Fidel)
1966 Nigel Rogers (SdfM)
1982 Martin Best Mediaeval Ens.
1982 Paul Hillier
1989 Mara Kiek_Sinfonye
1989 Paul Hillier_Theatre of voices
1992 Raphael Boulay_Alla francesca
1994b Jean-Luc Madier_Tindemans
1996 Catherine Bott
1996 Unicorn
2001 Carole Matras_Millenarium
2003 Evelyn Tubb
2005 Jean-Paul Rigaud_Beatus
01:00
05:01
03:40
03:30
04:00
04:07
05:16
05:36
04:43
04:41
05:58
03:56
04:30
5
Mittwoch, 4. 11.
Alte Musik Spezial
»Dialog mit dem Mittelalter«
2. Pilgerlieder des 14. Jahrhunderts aus dem Llibre vermell de Montserrat
So zahlreich die vorliegenden Einspielungen, so unterschiedlich sind die klanglichen
Darstellungen der ein- bis dreistimmigen Marienlieder, die teilweise in lateinischer
Sprache, teilweise in einem alten Dialekt des Okzitanischen abgefasst sind. Das Faszinosum die Sammlung besteht hauptsächlich darin, dass hier Einflüsse sowohl der
geistlichen Musik des hohen Mittelalters, als auch aus volkstümlichen Traditionen wirksam
werden. Besonders die einstimmigen, volkstümlichen Lieder mit Tanzcharakter inspirieren
die Musiker von heute zu einer reichen improvisatorischen Ausschmückung der betreffenden Quelle.
Der Inhalt des Llibre vermell mit seinen 172 Blatt im Umfang weitaus ist äußerst vielfältiger, betrifft Pilgerfahrt, Pilgerstätte, die Ordnung der Liturgie und enthält – wiederum als eine Art Anhang – eine musikalische
Aufzeichnung, die aus dem späten 14. Jahrhundert stammt. Aber während der Codex calixtinus liturgische
Musik, also Gesänge für die professionelle Kleriker-Schola enthält sind es im Falle des Llibre vermell Lieder
für die Pilger, von denen zwei ausdrücklich als Tanzlieder bezeichnet sind. Der Schreiber der Stücke bemerkt
über ihre Funktion:
Nächtlicher Tanz in der Kirche
»Da es vorkommt, dass die Pilger, die Nachtwache in der Kirche der heiligen Maria halten, singen
und tanzen wollen, und dies auch tagsüber auf dem Kirchplatz, und dort nur sittliche und anständige Lieder
singen dürfen, sind einige hier niedergeschrieben. Diese sollten mit Rücksicht und Mäßigung verwendet
werden, ohne Störung für jene, die ihre Gebete und Kontemplationen fortführen möchten.« Aus der Sicht des
Interpreten Vladimir Ivanoff stellen sich Inhalt und Bedeutung der Pilgerlieder vom Montserrat folgendermaßen dar:
»Da im Kloster Montserrat eine Pilgerherberge fehlte, verbrachten die Besucher die Nacht in der
Kirche und verwandelten damit den liturgischen Raum in eine Herberge. Die Lieder des Llibre vermell sollten die volkstümlichen, weltlichen Lieder und Tänze, die von den feiernden Pilgern während der Nachtwache
in der Kirche aufgeführt wurden, ersetzen. Dieser Aufgabe entsprechend haben die ›Cants dels Romeus‹, die
Lieder der Pilger, einen volksnahen Ton. Es wurden auch wohl einige spanische Volksmelodien übernommen, man setzte darunter geistliche Texte, die den Gläubigen die zentralen Inhalte der christlichen Heilslehre
vermitteln sollten. Die gelehrten und weitgereisten Mönche von Montserrat vereinten in dieses Stücken musikalische Einflüsse aus verschiedenen anderen europäischen Regionen. Sie schufen – vielleicht mit Musikern aus der international besetzten Hofkapelle der Könige von Aragón – eine einzigartige Amalgamierung
von einfachen spanischen Volksmelodien und komplexen höfischen Kompositionstechniken aus Italien und
Frankreich. Vielleicht lagen einzelne Stücke bereits als höfische Lieder vor und wurden von den Mönchen
nur mit geistlichen Texten versehen.«
Eine mittelalterliche Marienrevue auf dem Montserrat
Wenn man sich die Abfolge der Musikstücke im Llibre vermell in ihrer ganz unterschiedlichen Faktur vergegenwärtigt, so kommt man fast zwangsläufig zu dem Schluss, dass es keine zufällige Anordnung sein kann.
Natürlich handelt es sich auch nicht um einen Liederzyklus, wie er sich im Bereich des Kunstliedes im 19.
Jahrhunderts herausgebildet hat und wie er vielleicht ansatzweise in den Cantigas de amigo gegeben ist.
Vielmehr darf man eine ganz andere Hypothese wagen, wobei erst einmal davon auszugehen ist, dass sich
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diese musikalische Niederschrift nicht an die »Masse der Pilger« wandte. Die Geheimnisse der Notenschrift
waren dem Klerus vorbehalten. Und dem Klerus, d. h. der professionellen Schola des Klosters Montserrat,
diente diese Liederfolge augenscheinlich zur Organisation einer abendlichen musikalischen Unterhaltung der
Pilger, in die diese zumindest partiell auch einbezogen waren. Auf jeden Fall war es den Klerikern vorbehalten, diese »musikalische Revue« mit interaktiven Elementen in ihrer Substanz zu bestimmen, um einen Gebetscharakter zu bewahren und zu verhindern, dass sich die Pilger mit den Tänzen und weltlichen Liedern
ihrer Heimatländer austobten. Alles, was geschah, hatte zuerst die Aufgabe, die Jungfrau Maria vom Montserrat zu verherrlichen. Deshalb wurden nur Marienlieder gesungen.
Zuerst präsentierte sich die Schola mit ihrer ureigenen Musik, dem einstimmigen Choral, der allerdings –
vielleicht auch um die Ohren des Publikums zu reizen – melodisch verfremdet und durch die Technik des
Kanons darüber hinaus mit einem harmonischen Aspekt verbunden war. Beim genaueren Hinsehen und -hören ist die Caça »O virgo« jedoch eher eine raffinierte Choral-Karikatur, besonders durch die gleichmäßige
Untergliederung der Melodie, die in moderner Übertragung deutlich wird. Ausgesprochen anti-choralhaft ist
der dreistimmige Kanon, der auf der Grundlage dieser Melodie gesungen werden soll. Geradezu bizarr sind
manche Zusammenklänge, die sich so ergeben, besonders der Tritonus (ein Intervall aus drei Ganztonschritten, z. B. f – h), der eigentlich absolut verboten war und als »Teufel in der Musik« galt (z. B. Takt 3, erstes
Achtel).
Auch das anschließende, zweistimmige Marienlied (Nr. 2) ist nichts anderes als reine Vortragskunst des Kleriker, denn nur sie verstanden die Notation, nur sie waren dazu in der Lage, eine Zweistimmigkeit klanglich
sauber darzustellen. Es folgen zwei recht einfache Zirkelkanons (Nr. 3 und 4), melodisch und textlich sehr
karg konzipiert; hier ist es durchaus möglich, dass die Pilger am Gesang teilhatten, nachdem sie von Klerikern unterwiesen worden waren. Wie Kanons eingeübt werden (und dass man dazu keine Noten braucht),
weiß heute noch ein jeder aus seinem Musikunterricht. In der Handschrift folgen dann drei einstimmige Marienlieder (Nr. 5–7). Auf ihre Funktion als »geistliche Tanzlieder« weist die Handschrift durch ihre Benennung, »ball redon«, »Rundtanz«, deutlich hin. Man kann davon ausgehen, dass diese Lieder nicht einfach so
gesungen wurden, wie sie notiert sind, sondern dass hier auch ein von den Mönchen engagiertes Instrumentalensemble, ganz schlicht eine »Band«, zum Einsatz kam. Die Musiker konnten zwar ebenfalls keine Noten
lesen, aber sie hatten die Melodien verinnerlicht und machten sie zum Gegenstand von Improvisationen. Das
Instrumentarium muss man sich so bunt vorstellen, wie es in der Handschrift der Cantigas de Santa María
abgebildet ist. Natürlich kam auch Schlagwerk zum Einsatz, denn »es durfte getanzt werden«. Dieser Teil der
»Marien-Revue« im mittelalterlichen Kloster Montserrat war den Pilgern am meisten zugewandt, auch dadurch, dass dort ein volksprachliches Lied gesungen wurde.
Nach dem Tanzvergnügen riefen die Kleriker die Pilger wieder zu Gebet und Besinnung, und zwar durch das
dreistimmige, kunstvollste Lied ihres Repertoires, »Mariam, matrem virginem« (Nr. 8). Die Synthese von
Volks- und Hochkunst ist hier am deutlichsten ausgeprägt. Die Notationstechnik lehnt sich an die der französischen Ars nova an, die Form entspricht der des Virelais, aber die Melodie der Oberstimme kann in ihrer
schlichten Schönheit nur aus dem Schatz des gleichzeitigen Volksliedes gewonnen sein. Die beiden anderen
Stimmen haben im wesentlichen nur Begleitfunktion. Die zahlreichen Synkopen scheinen mit einem leichten
»Augenzwinkern« eine Mode der Ars nova einbeziehen zu wollen.
Jedes der ein-, zwei oder dreistimmigen Lieder hat eine auffallend individuelle Gestalt in Text und
Musik. Möglicherweise ist jedes einzelne aber nur die »idealtypische« schriftliche Abbildung eines bestimmten »Liedtypus«, der in eine schriftlose Tradition eingebunden war. Auch wenn die Ausführung dieser Pilgerlieder professionellen Musikern oblag, so ist es – besonders im Falle der einstimmigen – nur schwer vorstellbar, dass nach Noten musiziert wurde.
Auch das vorletzte Lied (Nr. 9) ist durch seine Zweistimmigkeit, in der sich – wie auch in den übrigen mehrstimmigen Liedern – Elemente der französischen Avantgarde (Ars nova) finden, eindeutig Klerikerkunst. Ein
Kompromiss an das Publikum bildet diesmal der volksprachliche, katalanische Text.
Am folgenden »Showdown« sind wieder alle beteiligt: Die Schola singt (und versteht!) den lateinischen
Text, die Band begleitet mit Improvisation, das Volk tanzt einen Totentanz: »Ad mortem festinamus«, (»Wir
eilen dem Tod entgegen«). Im weiteren Verlauf des Textes heißt es unter anderem: »Scribere proposui de
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Contemptu mundano« – »Schreiben will ich vom Bösen in der Welt, damit nicht ungenutzt die Zeit vergeht.
Die Stunde ist da, wo es angesichts des Todes wachzuwerden gilt.« Unter dem Stück zeigt die Handschrift
die Zeichnung eines Totengerippes. Der eindeutig tänzerische Gestus der Melodie erlaubt es, in diesem »Finale« des Llibre vermell den ersten (musikalischen) Totentanz der Musikgeschichte zu erblicken.
=
CD 43
»Glänzender Stern auf dem
Berge, wie ein Sonnenstrahl voller
Wunder, erhöre das Volk.«
»Lobsingen wollen wir der
Jungfrau, der Mutter und ihrem
Sohn Jesus.«
»Erhabene Herrscherin, sei
unsere Fürsprecherin, Jungfrau,
die du ein Kind geboren hast.«
»Ballade den sieben Freuden
unserer Lieben Frau«
a ball redon
»Alle wollen wir singen: Ave
Maria«
a ball redon
»Königin aller Himmel, Morgenstern, nimm uns unsere Sünden«
= CD 44
»Herrscherin der fröhlichen
Stadt, des Paradieses der ewigen
Freude, von Sünden rein, voller
Tugend«
= CD 45
01 Los Set Gotxs Studio der Frühen Musik 1966
02 LSG Hesperion XX 1979
03 LSG New London Cosort 1982
04 LSG Berry Hayward Consort 1984
05 LSG Alla Francesca 1994
06 LSG Sarband 1994
07 Maria Mattem Virginem Studio der Frühen Musik
08 MM Theatrum instrumentorum 1997
09 MM Capella de Ministrers 2001
00:55
03:20
04:47
00:55
04:49
05:33
01:47
03:41
04:47
8
10 MM Le Concert dans L'Oeuf 2001
11 MM Millenarium 2007
12 MM Kantika 2009
03:05
04:22
04:21
Mittwoch, 2. 12.
Alte Musik Spezial
»Dialog mit dem Mittelalter«
3. Die Estampien des 13. Jahrhunderts aus Le Manuscrit du Roi.
Die interpretatorische Auseinandersetzung mit der Aufzeichnung der einstimmigen Instrumentalmusik des Mittelalter begann in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Von Anfang
an verbanden die Ensembles Improvisationen mit den überlieferten Melodien, denn es ist
ganz offensichtlich, dass die Notationen nicht als Kompositionen zu verstehen waren, auf
die die Interpreten (mit gewissen ›Toleranzen‹) festgelegt wären. Vielfältig waren und sind
die Austauschprozesse zwischen Musikwissenschaft und Musizierpraxis über die Fragestellungen: Was darf man angesichts der musikalischen, ikonographischen und philologischen Quellenlage tun, und wie weit darf die Phantasie eines Musikers der Gegenwart
sich entfalten?
Der ›musicus‹ des Mittelalters ergründete als Theologe und Philosoph die in Gott ruhenden musikalischen Gesetzmäßigkeiten der Welt. Der ›cantor‹, selbstverständlich ebenfalls der gebildeten,
schriftkundigen Schicht des Klerus angehörig, brachte sie als komponiertes, liturgisches Gebet in
Organum, Conductus und Motette zum Erklingen. Später übertrug er diese Kunst auch auf raffinierte Formen der weltlichen Musik und bemühte sich – aus dokumentarischen Ambitionen – um die
Aufzeichnung der einstimmigen Liedkunst der Troubadours und Trouvères. Die schriftgestützte
Musik bildet aber nur einen Teilaspekt in der Musikkultur des Mittelalters. Quantitativ ist es eher
ein untergeordneter; es ist die Musik einer absoluten Elite. In der mittelalterlichen Welt ereignete
sich Musik wie in jeder Zeit allüberall. Zum Beispiel gab es in allen Bevölkerungsschichten auch
ein ›privates Musizieren‹. In Johannes de Grocheos De Musica erhalten wir einige Hinweise darauf, wie sich dies in Paris um 1300 in gehobenen bürgerlichen Kreisen gestaltete. Welche Musik
anderenorts und in anderen Schichten ›angesagt‹ war, darüber kann man nur spekulieren.
Der Spielmann und seine Aufgabenbereiche
Aus vielen Dokumenten erfährt man, dass es im Mittelalter (wie schon vorher und geschichtlich darüber hinaus) ein professionelles musikalisches ›Unterhaltungswesen‹ gab, welches
einem bestimmten Berufsstand zuzuordnen ist: dem Spielmann. Über seine Kunst und seine soziale
Stellung in der Gesellschaft informiert ein Standardwerk der Musikwissenschaft, Der Spielmann im
Mittelalter. Walter Salmen bemerkt dort grundsätzlich zu Spielort und Funktion dieser Kunst:
»Viele Ereignisse im Leben der Menschen des Mittelalters bedurften des ›hofierenden‹
Spielmannes. Lange Reisen und Wanderungen, Schlachten, festliches Essen, ja selbst das Baden
oder der Kirchgang wurden mit Musik vollzogen. Der Musiker, der diese zu bieten hatte, stand voll
in der Wirklichkeit seiner Zeit, er war in der Kindbettstube ebenso zu Gast wie während der Hochzeit oder am Sterbebett, bei Staatsaktionen anwesend oder bei der Arbeit des Bauern und in der
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Werkstatt des Handwerkers zu finden. Ihm oblag es, ›fröuden‹ und ›kurzwile‹ zu bereiten, aber auch
therapeutisch oder propädeutisch, erbauend oder demonstrierend tätig zu sein im Dienste Einzelner
oder von Gruppen. Er hatte an Wünschen zu befriedigen, was heute Film, Radio, Konzert, Kabarett,
Varieté an Genüssen und Entspannung in organisiert-betrieblichen Formen vermitteln. Nur die
Kenntnis all dieser Spielorte und -gelegenheiten im Wechsel des Tages-, Jahres- und Lebenslaufes
vermag die Notwendigkeit zu klären, dass begabte Spielleute neben einem vielseitigen Repertoire
auch ein umfangreiches Instrumentarium zu betätigen hatten.«
Die Musik bildete nur ein Aspekt der Kunst des Spielmanns. Er trat auch als Gaukler, Artist
und abwechslungsreicher Spaßmacher in Erscheinung und verkörpert einen Künstler, den man heute einen ›Multimedia-Entertainer‹ nennen würde. Die musikalische Kunst des Spielmanns war natürlich nicht an eine Notenschrift gebunden; und sie umfasst drei Bereiche: Gesang, Tanz und Instrumentalspiel. Letzteres stand den Quellen zufolge im Mittelpunkt – und man verlangte vom
Spielmann, dass er viele Instrumente beherrschte! Die mittelalterliche Welt scheint von Instrumentalklängen der unterschiedlichsten Art geradezu erfüllt gewesen zu sein. Das, was zu hören war,
›funktionierte‹ auf der Grundlage eines Systems von Konventionen, auf das sich der oder die Musiker bei gemeinsamem (Ensemble-)Spiel stützten. Noten gab es nicht, woraus sich aus der Perspektive einer schriftgestützten Musikkultur, in der wir uns befinden, eine scheinbar paradoxe Situation
ergibt: »Das Fehlen einer schriftlichen Überlieferung steht in schroffem Gegensatz zur selbstverständlichen Präsenz des Instruments in der musikalischen Praxis jener Zeit. [ ... ] Der Vielfalt der
Funktionen entspricht die Tatsache, dass diejenigen, die die Instrumente spielten, allen Schichten
angehörten und damit über ganz unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen sowie musikalische Erfahrungen verfügten: vom fahrenden Gaukler über den clerc, der lesen und schreiben konnte, bis
zum Harfenisten Senleches, als einem der kunstvollsten Komponisten der französisch-italienischen
Spätkunst der Zeit um 1400; vom menstrel im Dienst des Adels über das Mitglied einer Zunft der
Musiker in der Stadt (mit festen Regeln für die Ausbildung, die Bezahlung und nicht zuletzt zur
Steuerung der Konkurrenz-Problematik) bis zum Musiker am päpstlichen Hof und mit diplomatischer Funktion: vom Bürger über den hohen Adel bis zu den Damen des Königshofs, die das standesgemäße Harfenspiel ausübten.
Insofern dürfte die Rolle des Instruments kaum zu überschätzen sein. Ebenso klar ist damit,
daß sich Aussagen über die instrumentale Praxis jeder Verallgemeinerung entziehen. Wer lesen bzw.
schreiben kann und mit der liturgischen Praxis der Ein- und Mehrstimmigkeit vertraut ist, macht
andere Musik als ein fahrender ›Spielmann‹ ohne diese Voraussetzungen, der, von Land zu Land
ziehend, seine Erfahrungen und Eindrücke sammelt – bis hin zur Begegnung mit anderen Kulturen
auf dem Kreuzzug oder auch im Nebeneinander der Völker, der Sprachen und sicher auch der Musiken im Spanien des 13. Jahrhunderts.« (Wulf Arlt)
Überlieferung
Insgesamt sind sechs mittelalterlichen Quellen mit textloser Musik überliefert. Dies muss
nicht unbedingt bedeuten, dass es sich um ›genuine‹ Instrumentalmusik handelt. Von solcher kann
nur dann die Rede sein, wenn die Melodik instrumental gestaltet ist, wenn also Wendungen und
Formeln gegeben auftauchen, die einer Singstimme nicht zumutbar sind.
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Als Nachtrag zu einer Chanson-Sammlung aus dem Frankreich des frühem 13. Jahrhunderts
sind acht ›Estampies reales‹ sowie zwei Stücke mit der schlichten Überschrift ›Danses‹ aufgezeichnet. In der mensuralen Melodiegestalt entsprechen sie der mehrstimmigen Vokalmusik der Zeit.
Dennoch deutet vieles darauf hin, dass es sich auch bei den Estampien um genuin instrumental gemeinte Stücke handelt, aber nicht so sehr im Sinne von regelrechten Kompositionen, die als Vorlage
für eine Interpretation gemeint wären, sondern als notenschriftlich festgehaltene ›Momentaufnahme‹ einer lebendigen, schriftlosen Praxis des Musizierens nach dem formalen Grundschema der Estampie. Diese Quelle steht den Ausführungen Johannes de Grocheos zeitlich und geographisch am
nächsten!
Die überlieferten Noten sind jedoch kaum als instrumentale Kompositionen zu betrachten,
die als Vorlage für eine Interpretation gedacht wären, sondern als Versuche, einer schriftlosen Musizierpraxis eine schriftliche Dimension zu verleihen. Möglicherweise wollten Kleriker, deren einzige Betätigung die Komposition von geistlicher Musik für Messe und Offizium war, nur einmal
ausprobieren, ob sich die raffinierte Kunst der Spielleute überhaupt in die ihnen vertraute Schriftform der Musik bringen ließ. Für den Interpreten von heute, dem es um die Rekonstruktion der mittelalterlichen ›Instrumental-Praxis‹ geht, sind die Aufzeichnungen zwar ein notwendiger Ausgangspunkt, aber nur ein Aspekt eines anzustrebenden künstlerischen Dialogs mit einer fernen Kultur, den
Wulf Arlt wie folgt skizziert:
»Die Grundlage der Praxis bilden ›Konventionen‹, die auf breitester Basis zu erarbeiten sind. Die
Anhaltspunkte dafür sind sehr unterschiedlich. Im Anschluss an das eingangs Skizzierte hebe ich
vier Bereiche hervor: (1) Aufzeichnungen von Musik – als unmittelbarer Niederschlag einer schriftlosen Praxis, als mittelbarer Reflex, oder auch als eine Instanz der Kontrolle im Handwerklichen
wie im Stilistischen mit einem Repertoire der an die Schrift gebundenen Praxis –; (2) indirekte
Zeugnisse, wie sie in Lehrschriften, Abbildungen oder erzählenden Texten als Quellengruppen vorliegen, die eine Vielzahl von Informationen bieten: von der Orientierung im Handwerklichen und
Ästhetischen über die Ensemblegröße und die Kombination der Instrumente bis zu den Konsequenzen einer bestimmten Funktion; dann als einen der wichtigsten Bereiche (3) das Instrument und insbesondere die Erfahrung aus der Spielpraxis mit der Spannung zwischen einerseits den Anforderungen, die das Instrument stellt, und andererseits den Möglichkeiten, die es erlaubt; und schließlich,
sofern mehr als ein Musiker beteiligt ist, (4) die Spielregeln der Verständigung ohne die Schrift.
Auch hier steht am Ende eine klangliche Realisierung, aber eben nicht auf der Grundlage einer Aufzeichnung, sondern aufgrund der Konventionen einer musikalischen Praxis, die sich die Aufführenden erschlossen haben.« (Wulf Arlt)
Was die musikalische Gattung der Estampie betrifft, die in der Überlieferung dominiert, sind
die Ausführungen des Johannes de Krochen erhellend: »Die cantilena, welche stantipes genannt
wird, ist diejenige, bei welcher eine Verschiedenheit in den Teilen und im Refrain sowohl bezüglich
des Reimes wie des Gesanges vorhanden ist. [ ... ] Ihrer Schwierigkeit wegen stellt sie die Gemüter
der Jünglinge und Mädchen auf diese ein und wendet sie von schlechten Gedanken ab.«
»Die stantipes ist ein textloses, durch puncta (Abschnitte) bestimmtes Tonstück, welches
eine sehr schwierige Disposition im Ablauf derselben hat. Wegen dieser Schwierigkeit nämlich
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stellt sie den Sinn des Ausführenden und auch den des Zuhörenden auf diese Disposition ein und
wendet vielmals die Gemüter der Reichen von schlechten Gedanken ab.«
»Die ductia ist eine im Auf- und Absteigen leichte und schnelle cantilena, welche in Chören
von Jünglingen und Mädchen gesungen wird. Sie leitet deren Herzen und entfernt sie von Eitelkeit
und soll als Mittel gegen die Leidenschaft, welche Liebe oder Eros heißt, taugen. Die ductia ist ein
textloses, mit zierlichem Takt gemessenes Tonstück. Ich sage textlos, weil, wenn sie auch von der
menschlichen Stimme ausgeführt und durch Tanzfiguren dargestellt werden kann, sie dennoch nicht
mit Buchstaben geschrieben werden kann, da sie von Buchstaben und Text frei ist.
Mit rechtem Takt aber sage ich, weil die Betonungen sie und die Bewegungen des Ausführenden messen und den Sinn des Menschen zu zierlicher Bewegung nach der Kunst, die man Tanzen nennt, anregen.«
Estampie
Die Estampie besteht aus einer Folge von unterschiedlichen Melodiezeilen (puncta), die
wiederholt werden. Sie werden abgerundet bzw. ergänzt durch einen melodischen Anhang, der im
Kern gleich bleibt, jedoch beim ersten Vortrag der Melodiezeile offen, in einem melodischen Halbschluss, und bei ihrer Wiederholung geschlossen, in einem melodischen Ganzschluss, ausläuft.
Nach diesem Muster einer ›fortschreitenden Wiederholung‹ lässt sich vortrefflich im Ensemble improvisieren. Man muss sich jedoch sehr auf seine Mitspieler konzentrieren und selbst um gute, neue
melodische Einfälle bemüht sein. Darin ist möglicherweise die von Johannes de Grocheo ausdrücklich betonte pädagogische Wirkung der Estampie begründet, zu der bisweilen auch getanzt wurde.
Viele Autoren unserer Zeit weisen jedoch darauf hin, dass man die mittelalterliche Estampie nicht
notwendigerweise als Tanzmusik verstehen muss.
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Der »Danse royale« stammt aus einer Pariser Handschrift des frühen 14. Jahrhunderts, die nur wenig später als Johannes de Grocheos De musica entstanden ist. Sie bietet als Anhang zu einer Chansonsammlung drei »Danses royales« und acht »Estampies royales«, die in Mensuralnotation aufgezeichnet sind. Auch die »Danses royales« entsprtechen in der formalen Konzeption dem Modell der
Estampie. In der taktgebunden Übertragung, die sich im Falle dieser Musik als unproblematisch
erweist, wird die einfache, symmetrisch gegliederte, periodische Struktur deutlich (3 mal [4 + 4 + 4
Takte]), die im Bereich unserer Musikkultur für Tanzmusik insgesamt als konstitutiv erscheint. Die
›fortschreitende Wiederholung‹ besteht nun in der Folge von neu erfundenen Melodiezeilen (jeweils
8 Takte) Ihre Wiederholung ist mit einem Anhang (4 Takte) verbunden, der – wie schon beschrieben – in zwei unterschiedliche Schlusswendungen ausläuft. Dieser Anhang bildet das konstante
Element der Estampie:
Punctum 1 (8 Takte) Anhang (4 Takte: offen)
Punctum 1 (Wdhlg.) Anhang (geschlossen)
Punctum 2 (8 Takte) Anhang (4 Takte: offen)
Punctum 2 (Wdhlg.) Anhang (geschlossen)
usw.
Insofern man nun das Prinzip der Gruppenimprovisation zugrunde legt, gestaltet sich der Ablauf
einer Estampie folgendermaßen: Die Spieler erfinden zuerst gemeinsam den melodischen Anhang
mit seiner wechselnden Schlusswendung. Dann ist es reihum die Aufgabe eines jeden Spielers sich
eine neue Melodiezeile einfallen zu lassen. Den jeweils gleich bleibenden Anhang spielen dann alle
gemeinsam. Natürlich musiziert man nicht nach Noten; aus der Verabredung hat sich eher ein bestimmtes melodisches Modell ergeben, das von jedem durchaus individuell realisiert wird, woraus
sich eine besondere Art von ›unkontrollierter Mehrstimmigkeit‹ (Heterophonie) ergibt.
01 Danse Royale II New York's Ens. for Early Music 1995
02 La Prime Estampie Royal Ens. Alcatraz 1990
03 La Seconde Estampie Royal Ioculatores Leipzig o.J.
04 La tierche estampie roial - Dufay Collective 1994
05 La quarte estampie royal - Millenarium 2006
06 La Quinte Estampie Real -Alla Francesca 2002
07 La Sexte Estampie Royal - Sinfonye 1987
08 La septime Estampie Real - Loindhan 1990
09 La Uitime Estampie Real - Hesperion XXI 2007
110 La Uitime Estampie Royal - Ensemble NUN
10:40
04:05
06:53
02:26
02:12
03:47
02:59
03:02
04:24
06:33
Mittwoch, 6. 1. 2016
»Dialog mit dem Mittelalter«
4. Ludus Danielis – Das »Danielsspiel« aus dem Archiv der Kathedrale von Cambrai im Interpretationsvergleich
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Die geistlichen Spiele des Mittelalters schöpfen ihre Themen aus der Bibel und der Heiligengeschichte. So entstanden z. B. ein Daniels-, ein Herodes- und ein Nikolausspiel. Die
meisten Ensembles machen die überlieferte vokale Einstimmigkeit zur Grundlage von
klanglich voluminösen Improvisationen – meist mit hohem instrumentalen Anteil. Bei entsprechenden Ergebnissen handelt es sich deshalb im Grunde um neue geistlich-theatralische Musik ›nach mittelalterlichen Motiven‹.
Das liturgische Drama des Mittelalters
Das Ludus Danielis nimmt unter den musikalischen Schöpfungen des Mittelalters eine ganz besondere Rolle ein. Es stellt in vielerlei Hinsicht das interessanteste Beispiel einer Musikgattung dar, die
damals Bezeichnungen wie ordo, ludus, versus, historia oder miraculum führte. Es handelte sich
dabei um nicht weniger als den ersten Versuch der christlichen Kultur, Schauspiel und Musik zu
verschmelzen – sozusagen die Erfindung der Oper in der mittelalterlichen Welt. Das liturgische
Drama fand seinen Ausgangspunkt in der Ostermesse. Aus zunächst wenigen vertonten Dialogen,
die nur eine kleine musikalische Zugabe zum Gottesdienst darstellten, entwickelten sich völlig eigenständige Osterspiele. Auch die Themen erweiterten sich im Lauf der Jahrhunderte, es kamen
Passionsspiele und Weihnachtsspiele hinzu, Daneben wurden vereinzelt Heiligenspiele wie zum
Beispiel die Auferstehung des Lazarus, die Bekehrung des Paulus, das Herodesspiel oder die Wunder des HI. Nikolaus komponiert. Ursprünglich nur in der Kirchensprache Latein verfaßt, verbreiteten sich später volkssprachliche Mysterienspiele. Die Spiele fanden so großen Anklang, daß sie später sogar auf Marktplätze verlegt wurden, oh mehrere Tage dauerten und auch Teile der Bevölkerung in die Aufführung einbezogen. Das Passionsspiel von Oberammergau erinnert heute noch an
diese Tradition. Nur drei Spiele sind überliefert, die auf Geschichten aus dem Alten Testament beruhen. Neben einem Spiel über Jakob und Esau und einem über Joseph und seine Brüder sind dies
zwei Versionen des Danlelsspiels. Die Musik zum Danielsspiel des Hilarius (erste Hälfte des 12
Jahrhundert) wurde leider nicht aufgezeichnet. Die vorliegend eingespielte Version des Danielsspiels basiert auf einer Handschrift von ca. 1230. In den einführenden Gesangszeilen wird auch präzisiert, daß Studenten aus dem Kloster von Beauvais in Nordfrankreich die Verfasser des Werks waren, das vermutlich jedes Jahr zum Neujahrsfest aufgeführt wurde.
Die Wahl des Danielstoffes ist weniger vor dem Hintergrund des Staunens über das alttestamentarische Wunder zu sehen als vielmehr in der bedeutenden Rolle, die Daniel im Mittelalter als Prophet
zugeschrieben bekam. Um nämlich Juden und Heiden davon zu überzeugen, daß das Erscheinen
Christi schon in jüdischen und heidnischen Schriften vorhergesagt morden war, führte man eine
Reihe von Prophezeiungen an, die dann später personifiziert und biblischen Figuren wie Daniel,
Habakuk, oder Nebukadnezar zugeordnet wurden. Die dramatische Anlage des Danielaspiels ist
komplex wie bei keinem anderen der mittelalterlichen Mysterienspiele. Die Charaktere der handelnden Personen sind differenziert ausgearbeitet. So wird etwa Darius als gerechter Herrscher geschildert, der gezwungen ist, Daniel nolens volens zu verurteilen, weil er sich nicht gegen sein eigenes königliches Gesetz stellen kann. Der Prophet Habakuk ist leicht ironisch gezeichnet. Er würde
eigentlich am liebsten in Ruhe zu Mittag speisen. Von den göttlichen Befehlen gar nicht begeistert,
muß er erst vom Engel an den Haaren gepackt und an den Ort seines Auftrags transportiert werden.
Die Besetzungsliste weist neben den Hauptdarstellern auch zahlreiche kleine Rollen wie Edelleute,
Satrapen, neidische Berater und Engel auf. Die zahlreichen präzisen Regieanweisungen lassen darauf schließen, daß das Spiel mit großem Aufwand an Personal und Bühnenbild aufgeführt wurde,
Auch musikalisch nimmt das Danielsspiel eine exponierte Stellung innerhalb der überlieferten Mysterienspiele ein. Das ganze Spektrum der einstimmigen Musik des Mittelalters findet Verwendung,
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frei fließende, gregorianisch anmutende Melodien mit großem Bogen, einfache volksliedartige
Strophenlieder und rhythmisch akzentuierte Variationsliedformen, die der tänzerischen Instrumentalmusik nahestehen. Schlichte Rezitative führen die Handlung weiter und setzen zur Vielfalt der
Melodien und Formen einen dramatischen Kontrapunkt.
I. Die Erscheinung des Menetekels
Nach zwei einleitenden Gesängen tritt der babylonische König Belsazar auf, um mit seinen Untertanen wie jedes Jahr den Sieg über die Juden zu feiern. Dazu werden die geraubten Schätze aus dem
jüdischen Tempel von Jerusalem zur Schau gestellt. Während des rauschenden Festes erscheint
plötzlich eine Hand, die »Mene, Techel, Phares« an die Wand des Palastes schreibt. Besorgt läßt
Belsazar alle Weisen zu sich kommen, doch keiner kann ihm den Sinn der Worte deuten.
II. Die Enthüllung des Menetekels durch Daniel
In der allgemeinen Verwirrung tritt die Königin auf und rät dazu, den jüdischen Gelehrter Daniel zu
befragen, der als vornehmer Gefangener am babylonischen Hof wohnt. Daniel wird geholt und in
einer feierlichen Prozession zum König geleitet. Er enthüllt die rätselhafte Schrift, die den baldigen
Tod des Königs, den Untergang und die Teilung des Reiches prophezeit. Belsazar wird vom einrückenden Perserkönig Darius getötet.
III. Der neue Herrscher König Darius
Der Perser Darius wird mit großen Feierlichkeiten inthronisiert. Er beruft Daniel als seinen engsten
Berater an den Hof. Diese exklusive Stellung ruft Neider und Intriganten auf den Plan, die nach einer Möglichkeit sinnen, Daniel zu entmachten.
IV. Die Verschwörung
Darius hat ein Gesetz erlassen, demzufolge nur er als Gott verehrt werden darf. Die Intriganten am
Hof beobachten Daniel, als er seinen jüdischen Gott anbetet und verraten ihn. Nur widerstrebend
nimmt Darius die Verurteilung seines Vertrauten vor und läßt ihn in die Löwengrube werten.
V. Die Rettung
Daniel betet zu seinem Gott um Hilfe. Ein Engel erscheint und stellt sich mit gezücktem Schwert
vor die Löwen. Ein anderer Engel bringt den Propheten Habakuk mit Speisen ausgestattet in den
Käfig, um Daniel zu stärken. Der König findet am nächsten Morgen Daniel unversehrt. Er läßt ihn
aus der Löwengrube holen und stattdessen die Intriganten, die ihre Schuld erkennen, hineinwerfen.
Diese werden unverzüglich von den Löwen verspeist. Darius gebietet, daß von nun an allein der
Gott Daniels verehrt werden soll. Ex improviso erscheint ein Engel und verkündet prophetisch die
Geburt Christi
Der präsentierte Auszug in der Originalsprache und deutscher Übersetzung:
Veniens Daniel ante regem dicat ei:
Daniel tritt vor den König und sagt zu ihm:
Rex in aeterrnam vive
Ewig lebe der König!
Et rex Daniel:
Und der König spricht zu Daniel:
Tu ne Daniel nomine diceres
Hoc adductus cum Judaeae miseris
Dicunt te habere Dei spiritmm
Et praescire quodlibet absconditum
Si ergo potes scriputram solvere
immensis numeribus ditabere
Du bist also Daniel,
der mit den unglücklichen Juden in dieses Land
gebracht wurde.
Man sagt, daß der Geist Gelten in Dir sei
und daß Du Verborgenes zu enthüllen vermagst.
Wenn Du also diese Schritt entziffern kannst,
werden Dir unermeßliche Reichtümer zuteil wenden.
El Daniel regi:
Daniel zum König:
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Rex tua nolo munera
Gratis solvetur litera
Est autem haec solutio
Instat tibi confusio
Pater tuus prae omnibus
Potens olim potentibus
Turgens nimis superbia
Dejectus est a gloria
Nam cum Deo non ambulans
Sed sese Deum simulans
Vasa templo diripuit
Quae suo usu habuit
Sed post multas insanias
Tandem perdens divitas
Forma nudatus hominis
Pastum gusavitas graminis
Tu quoque eius filius
Non ipso minus impius
Dsm petnin ectun nogueris
Venlo eindem olenis
Deod gum Deo dioplicel
botet tempus gun nindicet
König, ich will Deine Geschenke nicht.
Die Schrift soll Dir umsonst entziffert werden.
Eben dies ist die Auflösung den Rätsels:
Dich erwartet der Untergang.
Dein Vater war einst mächtiger als alle anderen.
Aber er war mit zu großem Stolz erfüll
und wurde herabgestoßen
von seiner ruhmreichen Position.
Denn er ging nicht mit Gott,
sondern setzte sich an dessen Stelle.
Er stahl die Gefäße aus dem Tempel
und machte sie sich zu eigen.
Aber nach vielen unheiligen Taten
verlor er doch seine Reichtümer,
und seiner menschlichen Form beraubt,
wächst Gras über ihm.
Du, sein Sohn,
bist nicht weniger gottlos,
denn Du folgst Deines Vaters Beispiel
und benutzt ebenso die Gefäße,
Weil Gott dies nicht gefällt,
ist die Zeit der Rache gekommen
Nam scripturae indiciam
Miniatur jam sappliciam
Et MANE dicit Dominus
Est tui regni terminus
THECHEL libram significat
Quae te minorem indicat
PHARES hoc est divisio
Regnam transportat alio
Die Schrift kündigt
die Bestrafung an
Und MANE sagt der Herr,
dies ist das Ende Deines Königreichs.
TECHEL meint ein Gewicht.
Dies kündigt an, daß Du weniger bedeuten wirst.
PHARES ist dis Teilung.
Dein Königreich wird einem anderen gehören.
Et rex:
Darauf der König:
Qui sic solvit latentia
Ornetur veste regia
Der das Rätsel gelöst hat,
soll in königliche Kleider gewandet werden.
Sedente Daniele juxta regem induto ornamentibus
regalibus exclamabit rex ad principem militae
Während er Daniel, geschmückt mit königlichen
Kleidern, neben sich Platz nehmen läßt,
ruft er zum Anführer der Soldaten:
Tolle vasa, principae militiae
Na sint michi causa misariae
Laß die Gefäße wegschaffen, Hauptmann,
damit sie nicht zu meinem Untergang führen.
Tune relicto palatio, referent vasa
satrapae et regina discedet
Er verläßt den Palast und die Satrapen bringen die
Gefäße weg. Die Königin entfernt sich.
Cunductus reginae:
Gesang der Gefolgschaft der Königin:
Solvitur in libro Salomonis
Digna laus et congrua matrinis
Pretium est ejus si quam fortis
Procul et de finibus remotis
Fidensest in ea cor mariti
Spolis divitibus potiti
Mulier haec illi comparetur
Cujus rex subsidium meretur
Eius nam facundia verborum
Arguit prudentiam doctorum
Im Buch Salomons
ist das Lob der tugendhaften Frau beschrieben.
Sie wird als eine mächtige Frau gepriesen
salbst an an entferntesten Stellen der Erde.
Das Herz ihres Ehegatten ist ihr anvertraut,
auch wenn er Beutezügen nachgeht.
Diese Frau muß mit jedem gleichgestellt werden,
der dem König seine Unterstützung gewährt
Ihre Beredsamkeit steht
über der Weisheit gelehrter Männer.
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Nos quibus occasio ludendi
Hac die conceditur solemni
Damus huic praeconia devoti
Veniat et concinent remoti
Wir, die wir hier die Gelegenheit haben,
dieses festliche Spiel darzubieten,
wollen ihr unser ergebenes
Lob darbringen.
Cnnductua referentium vasa ante Danielem
Gesang derjenigen, die die Gefäße zu Daniel bringen
Regis vasa referentes
Quem Judaeae tremunt gentes
Daniel applaudentes
Während wir die Gefäße des Königs,
den das Volk von Judäa fürchtet,
zurückbringen, wollen wir Daniel loben.
Gaudeamus
Laudes sibi debitas
Referamus
Regis cladem praenotavit
Cum scripturam reseravit
Testes reos comprobavit
Et Susannam liberavit
Gaudeamus…
Babylon hunc exulavit
Cum Judaeos captivavit
Balthasar quem honoravit.
Gaudeamus…
Et propheta sancti Dei
Hunc honorant et Caldei
Et gentiles et Judaei
Ergo jubilantes es
Gaudeamus …
Wir wollen uns freuen
und ihm die Ehre zuteil werden lassen,
die ihm zusteht.
Er sagte den Untergang den Königs voraus,
als er die Schrift entzifferte.
Er überführte die falschen Zeugen
and befreite Susanna.
Wir wollen uns freuen…
Babylon schickte ihn ins Exil,
als es die Juden unterwarf.
Belsazar jedoch ehrte ihn.
Wir wollen uns freuen…
Er ist der heilige Prophet Gottes,
den sogar die Caldäer ehren,
ebenso wie alle Nichtjuden
und Juden ihm zujubeln.
Wir wollen ans freuen …
Statim apparebit Darius rex cum principibus sui
Plötzlich erscheint König Darius mit seinem Gefolge
(Kommentar und Übersetzung: Beiheft der Estampie-CD)
Die Einspielungen:
1. Pro Cantione antiqua London (1979)
2. Estampie (1993)
3. Ensemble Venance Fortunat (1996)
4. The Harp Consort (1998)
5. The Dufay Collective (2008)
Mittwoch, 3. 2. 2016
»Dialog mit dem Mittelalter«
5. Laudario di Cortona – geistliche Lieder des späten 13. Jahrhunderts
Während im italienischen Trecento die Reichen und Gebildeten ihre raffinierte Liedkunst in Verbindung mit einer aufwendigen Festkultur geradezu inszenierten, pflegten die unteren Stände – mehr
oder weniger organisiert – also den Gesang der »Laude« (Pl. von ital. »Lauda«, hymnenartiger
geistlicher »Lobgesang«). Bereits im 13. Jahrhundert war diese durchaus revolutionäre Form des
geistlichen Gesangs in Italien entstanden. Mit ihren volkssprachlichen Texten und einfachen, markanten Melodien bedeuteten sie geradezu ein militantes Gegenbild zum lateinischen Choral des
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Klerus. In den Lauden äußerte sich eine neue, unmittelbare Form der Frömmigkeit, die ihre Gotteserfahrung nicht nur aus die professionelle, Bibelauslegung, sondern aus einer Begegnung mit der
Schöpfung gewann. Eine solche schildert der »Sonnengesang« des Franz von Assisi (um 1200).
Möglicherweise handelt es sich um die »Ur-Lauda«, die allerdings ohne Noten überliefert ist; aber
auch der reinen Textgestalt ist eine musikalische Qualität eigen:
»Höchster. Allmächtiger.
Du guter Herr.
Dein ist der Preis und der Ruhm
Die Ehre und jegliche Benedeiung.
Allerhöchster. Dir gebühren sie allein:
Und kein Mensch ist würdig,
Dich zu nennen.
Gepriesen seist du, o mein Herr,
Mit allen deinen Geschöpfen.
Zumal durch unsere edle Schwester Sonne
Die uns den Tag heraufführt
Die uns leuchtet mit ihrem Licht:
Wie schön ist sie. Und strahlend in großer Pracht:
O Höchster
Sie ist ein Bild von dir. [...]
Lauda – Ballata – Virelai – Cantiga: gemeinsames Formprinzip
Zwei große Handschriften überliefern Lauden mit Melodien: »Cortona« (spätes 13. Jahrhundert)
und »Florenz« (frühes 14. Jahrhundert). Auf der Grundlage der einstimmigen Notation wurden die
Lauden von entsprechend geschulten Sängern aus dem Stegreif heraus mehrstimmig gesungen. Seit
dem 15. Jahrhundert werden mehrstimmige Lauden komponiert. Die lyrischen Formen der frühesten Laudatexte sind sehr variabel. Im späten 13. Jahrhundert übernimmt die Lauda aus der zeitgenössischen italienischen Lyrik die Form der Ballata; gleichzeitig besteht eine formale Parallele zum
französischen Virelai und zur spanischen Cantiga: Eine Ripresa (Refrain) wird gefolgt von einer
Stanza. Diese ist zweiteilig (Piede I und II), wird aber in der Regel durch eine Volta abgerundet,
wodurch die Stanza eine Barform erhält:
A – [b – b – a] – A.
(Großbuchstaben: gleiche Musik bei gleichbleibendem Text; Kleinbuchstaben: gleiche Musik bei
jeweils verschiedenem Text)
Eine raffinierte Verschachtelung von textlicher und musikalischer Form entsteht dadurch, dass bereits die dritte Zeile die Stanza auf die Musik der Ripresa zurückgreift. Bei der Lauda »O divina
virgo« aus dem Laudario di Cortona ist die Stanza zweiteilig [b – b], also nicht zur Barform ausge-
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baut. Der zweite Teil der einzelnen melodischen Zeilen, im Notentext als (a) bezeichnet, stimmt im
Kern überein, ein Formprinzip, ein Prinzip der Melodieformung, welches auch in den Gattungen
Cantiga, Ballata und Virelai zu beobachten ist. Darüber hinaus sind im konkreten Fall der vorliegenden Lauda Ripresa und Stanza melodisch miteinander verknüpft.
Die frühen Lauden-Sammlungen haben dieselbe Notenschrift zur Grundlage wie jene Musik, zu der sie als volksprachliche geistliche Musik eine bewusste Konkurrenz sein wollen, nämlich
die Quadratnotation des Gregorianischen Chorals. Die rhythmische Deutung erweist sich im Zusammenhang mit dem italienischen Text als sehr problematisch. Aufgrund der textlichen Betonungsverhältnisse ist bei vielen Lauden ein rhythmisch freier, deklamatorischer Vortrag sinnvoll,
bei anderen – so bei der wiedergegebenen – ist durchaus eine taktgebundene Übertragung möglich,
die dann auch eine deutliche Symmetrie in der melodischen Gliederung (4 + 4 Takte usw.) erkennen
lässt. Insgesamt gewinnt diese Lauda dann geradezu den Charakter eines geistlichen Tanzliedes.
Aktualität der Lauda
Alle Laudenmelodien sind gekennzeichnet von einer großen Plastizität und elementaren Kraft. Bisweilen kann man geradezu von einem kämpferischen Impetus sprechen. Die »Banner-Lieder« der
Laudesi-Bruderschaften sollten die Glaubensbotschaft der Texte nicht dem Verstand, sondern unmittelbar dem Herzen der Menschen eindringlich machen. Die eigentümliche melodische Kraft der
Lauda ist gewiss auch die Ursache dafür, dass sie bei heutigen Mittelalter-Ensembles sehr beleibt
ist. Weiterhin lässt sich auf der Grundlage dieser Melodien trefflich instrumental improvisieren.
Eine solche klangliche Anreicherung der vokalen Aufzeichnung ist auch historisch verbürgt. Bei
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den Laudesi-Bruderschaften des 14. Jahrhundert setzte sich übrigens allmählich ein Einsatz von Berufsmusikern durch. Eine besonders reiche Florentiner Bruderschaft unterhielt um 1400 zehn bezahlte Sänger und eine Reihe von Instrumentalisten. Bei festlichen Anlässen wurde der Laudengesang von Fiedel, Rebec, Laute, Harfe und Portativ begleitet.
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Venite a laudare
Lauda novella sia cantata
Da ciel venne messo novello
Altissima luce col grande splendore
O divina virgo, flore
Salve, salve, virgo pia
Cristo è nato et humanato
Stella nuova 'n fra la gente
Ben è crudele e spietoso
De la crudel morte de Cristo
Dami conforto, Dio, et alegrança
Jesù Cristo glorioso
Laudamo la resurrectione
Sia laudato san Francesco
Mittwoch, 2. 3. 2016
»Dialog mit dem Mittelalter«
6. Lamento di Tristano & Rotta
La Reverdie I
Theatre of Voices
Altramar
(Vokalens. Montpellier
Spielleyt
L’homme armé
Vox Resonat
Concentus Lucensis
Estampie
Ars Choralis Coeln
Micrologus
Organum
Ars nova italiana
La Reverdie II
5’34
3’10
6’53
4’20)
5’16
4’14
3’44
5’02
3’48
5’54
6’05
10’47 k?
3’15
7’57
20
E – London, British Library, Add. 29987, fol. 55‘–58 und 59’–63‘ ist die letzte und umfangreichste
Handschrift mit einstimmigen Instrumentalstücken aus dem Mittelalter. Sie wurde im späten 14.
Jahrhundert in Florenz angelegt und heute in London aufbewahrt.. Die achte italienischen ›Istanpitte‹ (aus der ursprünglichen französischen Begriffsform ›Estampie‹ abgeleitet), die zum Standardrepertoire heutiger Mittelalter-Ensembles gehören, tragen Namen, deren Bedeutung ungeklärt ist, z.
B. ›Tre Fontane‹, ›Principio di virtu‹, und ›Chominciamento di gioia‹. Gerade auf der Grundlage
dieses Repertoires wird von Wissenschaftlern und Musikern nach wie vor darüber diskutiert, ob der
Begriff ›Estampie‹ ein instrumentales Vortragsstück oder einen Tanz bezeichnet. Die Ableitung des
Begriffes aus dem Altfranzösischen ›estampir‹ (stampfen) scheint auf letzteres hinzudeuten. Im Altprovenzalischen kann ›estampir‹ jedoch auch ›erklingen‹ bedeuten. Geht man von dieser Ableitung
aus, so steht uns mit den mittelalterlichen Estampien die früheste Form einer instrumentalen ›Kammermusik‹ vor Ohren – allerdings vom Wesen her einbezogen in eine schriftlose Praxis.
Von der grundsätzlichen Anlage her betrachtet, funktionieren die italienischen Istanpitte wie
der französischen französischen Tänze aus dem …. nach dem Modell der Estampie. ›La Manfredina‹ weist jedoch eine in zweifacher Hinsicht differenzierte Gestalt auf: Erstmals tritt uns hier – wie
beim ›Lamento die Tristano & Rotta‹ – eine Verbindung von langsamem Schreit- und schnellem
Springtanz entgegen, die beide thematisch miteinander verknüpft sind. Es handelt sich um ein sehr
zukunftsträchtiges Prinzip, welches noch in dem barocken Typus der ›Variationssuite‹ nachwirkt,
bei der auch ein thematischer Zusammenhang zwischen den einzelnen Sätzen besteht! Anders als
bei der französischen haben Melodiezeile und Anhang der italienischen Estampie dieselbe Länge,
unter Bewahrung des symmetrischen Prinzips in der periodischen Gestaltung (= 2 + 2 / 2 + 2 / ... ).
Bemerkenswert ist auch, dass im Gegensatz zum ›Danse royale‹ der melodische Anhang – in seiner
›offenen‹ Version – von Zeile zu Zeile eine abweichende musikalische Gestalt hat. Die melodische
Formung der ›Manfredina‹ hat insgesamt eine individuellere Gestalt.
Arnold Feil kleidet seine These zu der Aufzeichnung mittelalterlicher Tanzmusik überhaupt
in die folgende kleine Schilderung: »Ein Mönch, der in der Schreibstube seines Klosters als Notenschreiber tätig ist, bekommt Heimaturlaub, um seine jüngste Schwester zu trauen. Bei der Hochzeitsfeier nach der Trauung hört er gute Musik von einem guten einheimischen Musiker, die ihm
auch in der Stille des Klosters nicht mehr aus dem Kopf geht. Den Sonntag darauf darf sein Nachbar am Schreibpult nach Hause fahren. Dessen Bruder ist Musiker von Beruf. Der kennt die neue
Weise vielleicht noch nicht. Da schreibt der erste Bruder dem zweiten aus dem Gedächtnis in Noten
nieder, was er gehört hat, damit dieser es schwarz auf weiß habe, lesen, abspielen, üben und dort
seinem Bruder, dem Musiker, vorspielen und weitergeben könne – mündlich natürlich, denn der
Musiker kann ja doch nicht lesen, auch nicht Noten schreiben. Für seinen Mitbruder im Kloster
schreibt also unser erster Mönch ein oder zwei, vielleicht auch ein paar Stücke auf ein zufällig leer
gebliebenes Blatt Pergament – und so sind uns heute ein paar Stücke Tanzmusik des Mittelalters
überliefert, als Bucheinband vielleicht: Alle Quellen mündlicher Tanz- und Instrumentalmusik lassen gleichermaßen die Zufälligkeit der Überlieferung erkennen.«
Die Einspielungen:
1. Early Music Consort of London
1970
2’46
DECCA 436 219-2 LC 0171
21
2. Ulsamer Collegium
3. The Dufay Collective
4. Unicorn
5. New York’s Ensemble of Early Music
6. Modo antiquo
7. Alla francesca
8. Capella de Minstrers
9. Hespèrion XXI
1972
1991
1994
1995
1995
2002
2003
2006
3’29
10’00
6’10
3’10
5’47
12’30
5’42
4’35
Archiv 439 964-2 LC 0113
Continuum CCD 1042 LC ?
Naxos 8.553131 LC5537
Lyrichord 8016
LC ?
Opus 111 30-142 LC 5718
Opus 111 30025 LC 5718
Plicanus 0307
L C?
Alia vox AVSA 9848
L C?
Der Notensatz stammt aus Otto Hamburg, Musikgeschichte in Beispielen, Wilhelmshaven 1976.
Mittwoch, 6. 4. 2016
»Dialog mit dem Mittelalter«
7. Die Motette der Ars antiqua: Minimal Music des Hohen Mittelalters
Die Mottete des 13. Jahrhunderts – insgesamt hat die Motette des Mittelalters mit der der Renaissance nur die Bezeichnung gemeinsam – ist in etlichen Handschriften auf uns gekommen, die alle
in Paris angelegt wurden. Von der Funktion her betrachtet handelt es sich wohl um Unterhaltungskunst für den musikalische gebildeten hohen Klerus. Von der Faktur her betrachtet um zweibis vierstimmige Sätze von einer Aufführungsdauer vom ein bis zwei Minuten. Die Frage ist, ob
und wie man diese Musik für den Hörer unserer Zeit interpretatorisch ausbreiten kann.
Die Verfeinerung der rhythmisch-metrischen Niederschrift von Musik vom modalen zum mensuralen Prinzip findet im Rahmen jener Gattung statt, die im 13. Jahrhundert begründet wurde und in
der sich die musikalische Kunst der Zeit am subtilsten entfaltet: in der Motette. Die mittelalterliche
Motette (lat. Motetus) ist von ihrer Substanz her betrachtet das Bruchstück eines Organums. Kompositorisch ist sie nach Vorbild der Discantuspartien bzw. der Klauseln gestaltet: Grundlage ist ein
Melisma aus einem Gesang des Gregorianischen Chorals, welches zum Zwecke seiner mehrstimmigen Bearbeitung erst einmal in eine rhythmisierte Gestalt gebracht werden muss. Zuerst geschieht
dies auf der Grundlage der Modi, später nach den Regeln und mit den Zeichen der Mensuralnotation. Diese Stimme wird Tenor (erste Silbe betont!) genannt; sie ›trägt‹ die Komposition, sie ist die
Stützstimme des Satzes. Über ihr werden zwei bis drei neue Stimmen komponiert (Motetus oder
Duplum – Triplum – Quadruplum). Nach diesem Prinzip sind bereits die Discantuspartien im Organum um die Klauseln geformt. Jede Stimme – und das ist wesensbestimmend für die neue Gattung
der Motette – trägt einen eigenen Text. Die Motette des 13. Jahrhunderts ist also raffinierte Kunstgestaltung in Musik und Wort, was auch schon aus der Herleitung der lateinischen Gattungsbezeichnung motetus hervorgeht, in der sich das altfranzösische ›mot‹ (Wort) verbirgt.
Was die Entstehung der Gattung Motette betrifft, ist man lange Zeit davon ausgegangen, dass sie
aus einer Textierung der Oberstimme(n) einer Klausel hervorgegangen sei. Dann wäre sie vom Ursprung her eine besondere Art des Tropus. Ein solcher lässt sich aber eher als Sonderfall nachweisen. In der neueren Musikwissenschaft ist die Frage nach der Entstehung der Motette Gegenstand
einer hochspezialisierten Diskussion. Statt dass man im Tropus ihren Ursprung sieht, spricht man
davon, dass der Disantus, die subtilste Satzstruktur innerhalb des Organums, lediglich als die gestalterische Basis für ein genuin neues, textlich-musikalisches Sinngefüge gedient habe.
Was die textliche Disposition der Motette betrifft, so sind mehrere geistliche (lateinische),
mehrere weltliche (volkssprachliche) oder sogar eine Mischung von weltlichen und geistlichen Texten möglich, wobei sich diese Texte in der Regel subtil aufeinander beziehen und sich gegenseitig
kommentieren – auch wenn ein Gebet mit einem höchst erotischen Gedicht kombiniert wird!
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Im Falle vierstimmigen Motette »Plus bele que flor« wird deutlich, dass in den Texten die
Übergänge zwischen Geistlichem und Weltlichem bisweilen fließend sind. Der Ausruf »O Gott«
lässt die Vermutung entstehen, dass der Dichter – der hohen Liebe huldigend – auch im Triplum die
unerreichbarste aller Frauen im Sinn hat, nämlich die himmlische Jungfrau Maria. Zwei bedeutende
Dichtersänger des Mittelalters wenden sich in ihren Liedern allein ihr zu: Der Trouvère Goutier de
Coincy (um 1177–1236) singt der ehrbaren Jungfrau, die im Himmel und auf der Erde verehrt werde, um sein Herz und sein Gemüt zu trösten. Und Alfons der Weise bittet Maria im Vorwort seiner
Cantigas de Santa María, so möge ihn als ihren Troubadour gnädigst anerkennen. Wie auch das
Quadruplum der Motette zeigt, lassen sich die Ideale und sprachlichen Bilder der ›fin amour‹ ohne
Bruch auf die ›Marienminne‹ übertragen, die möglicherweise als eine Quelle des mittelalterlichen
Minnesangs überhaupt angesehen werden kann. Wie subtil das Spiel zwischen geistlicher und weltlicher Bedeutungsebene ist, wird im Hinblick auf die vorliegende Motette noch deutlicher, wenn
man sich den Ursprung des Tenors und auch seinen größeren textlichen Sinnzusammenhang vergegenwärtigt. Er stammt aus einem Responsorium, dass nicht zum alten Repertoire des geistlichen
Chorals gehört, sondern auf Fulbert, Bischof von Chartres (ca. 960–1028), zurückgeht: »Virgo Dei
Genitrix virga est, flos Filius eius.«, »Die Jungfrau und Gottesgebärerin ist der Zweig, die Blüte ist
ihr Sohn.«
Quadruplum: Plus bele que flor
Schöner als eine Blume
ist in meinen Augen die,
der ich ergeben bin.
So lange ich lebe, wird die Freude
und Lust meiner Liebe
keine andere empfangen als diese Blume,
die im Paradies wächst:
sie ist die Mutter unseres Herrn,
die euch, meine Freunde,
und uns wiederum gemeinsam
auf immer zu eigen haben möchte.
Triplum: Quant revient et fuelle er flor
Wenn Blätter und Blüten wiederkehren
zu Beginn des Sommers, dann, o Gott,
denke ich an die Liebe,
die mir alle Zeit sanft und freundlich gesinnt war.
Das tröstet mich sehr, denn ihr guter
Wille lindert meine Schmerzen;
Ehre und Wohltaten empfange ich reichlich,
weil ich in ihren Diensten stehe.
Motetus: L’autrier joer m’en alai
Neulich ging ich hinaus auf verschlungenen Pfaden.
Da betrat ich einen Obstgarten,
um einige Blumen zu pflücken
und fand dort eine hübsche Dame
von lieblichem Aussehen.
Sie hatte ein frohes Herz und sang voller Inbrunst:
23
›Ich bin der Liebe voll‹! Was soll ich tun?
Sie ist der Grund meiner Liebe;
was immer man auch sagt, - ich werde lieben.
Tenor:
FLOS FILIUS E[IUS]
Die Blume ist ihr Sohn
Übersetzung Beiheft der CD ›Love’s Illusion‹, Music from The Montpellier Codex, Harmonia mundi france 1994
In mehreren Handschriften sind die Motetten des 13. Jahrhunderts überliefert, die nach ihrem Aufbewahrungsort benannt sind: Bamberg – Montpellier – Burgos. Allein die beiden ersten
enthalten fast 500 Kompositionen! Die Motetten-Handschriften haben das Format eines großen
Chorbuchs und sind für die Praxis konzipiert. Auf den einzelnen Seiten sind die Stimmen so in Kolumnen angelegt, dass für die Sänger aller Stimmen gleichzeitig umgeblättert werden muss. Diese
Art der Aufzeichnung bedeutet auch, dass die Stimmen solistisch vorgetragen wurden; der Tenor,
der nur wenige Textsilben des melismatischen Choralauschnitts trägt, wurde möglicherweise instrumental ausgeführt, z. B. auf einer Fidel gespielt.
Die Einspielungen
1976 Early Music Consort of London
Archiv Produktion 453 185-2
1992 Ensemble Gilles Binchois
Harmonic HCD 9245
1994 Anonymus 4
Harmonia mundi france
1995 Sinfonye
Lunadisc LUNCD 333
1996 Discantus
Opus 111 OPS 30-172
1999 Camerata nova
Stradivarius STR 33476
2000 La Reverdie
Arcana A 307
Mittwoch, 4. 5. 2016
»Dialog mit dem Mittelalter«
8. Beatriz, Condesa de Dia: »A chantar m’er de so q’ieu no voldria«
Die Gräfin von Dia, die im 12. Jahrhundert lebte, gehört zu Kreis der okzitanischen
Dichtersängerinnen, die Trobairitz genannt werden. Vier Liedtexte sind von ihr überliefert;
zu einem ist auch die Melodie erhalten. Viele Sängerin haben in vergangenen Jahrzehnten
24
versucht, dieser herzzerreißenden Liebesklage einer Frau einen überzeugenden interpretatorischen Ausdruck zu verleihen.
Béatrice de Die (ca. 1140?) (okzitanisch: Beatritz de Dia)
»Vida: ›Die Gräfin von Dia war die Gattin Herrn Wilhelms von Poitiers, eine schöne und edle
Dame; sie verliebte sich in Herrn Raimbaut von Orange und dichtete auf ihn viele gute und schöne
Lieder.‹
Mit Béatrice de Die stoßen wir auf eine jener
zwanzig Troubaritze, die uns bekannt sind. Die
Gräfin von Die gehört nach literarischen Kriterien
zu den wichtigsten von ihnen, gleichwohl lediglich
fünf Lieder von ihr erhalten geblieben sind. Im
Einführungskapitel über die weiblichen Troubadours haben wir bereits darauf hingewiesen, daß
das Vorhandensein von Dichterinnen im Mittelalter
auf Okzitanien beschränkt blieb; wir müssen jedoch einräumen, daß die Forschung erst in den
letzten Jahren verstärkt begonnen hat, sich der
Rolle der weiblichen Vertreter in der höfischen Lyrik anzunehmen. Vielleicht steht auf diesem Gebiet
noch die eine oder andere Überraschung aus.
Das schmale Werk von Béatrice zeichnet sich nicht
nur durch seinen dichterischen Rang aus, sondern
es läßt sich an ihm exmplarisch studieren, daß die
Frauen die Themen der höfischen Lyrik grundsätzlich anders angingen als die Vertreter des anderen Geschlechts. Keine blutleeren Ideale, kein freiwilliger Selbstverzicht zum Zwecke eigener Erhöhung, sondern ehrlich empfundene Leidenschaft
und schmerzhaft gefühlte Trauer über Unerreichbarkeit oder das abweisende Verhalten des Geliebten kommen darin zum Ausdruck. In den epischen Werken einer Marie de France wird zudem die
heuchlerische Moral der höfischen Gesellschaft angeprangert, in der dem Mann sexuelle Befriedigung durchaus zugestanden wurde, die Frau hingegen an die Fesseln der ehelichen Zweckgemeinschaft gebunden bleiben mußte, um nicht als Hure angesehen zu werden. Die Aussagen der weiblichen Dichter des Mittelalters sind bei der Erforschung der höfischen Gesellschaft bisher wenig berücksichtigt worden; zöge man sie bei Betrachtungen über die Lage der Frauen in der Realität und
in der Poesie stärker heran, müßten die Denkmuster einer männlich dominierten Mittelalterforschung neu überdacht werden.
Daß Frauen, die sich als Dichterinnen begriffen und in dieser Rolle die herrschende Ideologie des
Mittelalters bewußt oder unbewußt in Frage stellten, einen schweren Stand hatten, belegt die Anekdote, die über den Troubadour Raimon de Miraval und seine Ehefrau Gaudairenca überliefert ist.
Ihre Betätigung als Verfasserin fand die Mißbilligung ihres Gatten:
›Miraval… sagte zu seiner Gattin, er wollte keine Frau haben, die dichten könne; ein Troubadour im
Haus sei genug; sie sollte sich darauf vorbereiten, zum Haus ihres Vaters zurückzukehren, denn er
betrachte sie nicht länger als seine Ehefrau‹.
Die Identität von Béatrice de Die ist nicht geklärt. Die spärlichen Angaben der Vida stehen im Widerspruch zu anderen Quellen. Sie war verheiratet mit einem Guillem de Poitiers, bei dem es sich
aber nicht um den ›ersten Troubadour‹ gehandelt haben kann. Es gab auch keine Frau, deren Mann
eines solchen Namens den Titel de Die getragen hat. Allerdings gab es einen Guillem de Poitiers,
25
der Legende nach ein unehelicher Sohn aus der großen Familie der Grafen von Poitiers, welcher mit
einer Dame von Vienlois verheiratet war, deren Sohn als der ›Graf von Die‹ erscheint.
Diese Frau war die Tochter von Guiges IV., des Erbprinzen von Viennois, der jung starb und zwei
junge Zwillingstöchter hinterließ. Es ist möglich, daß unsere Troubaritz einer dieser Zwillinge gewesen ist. Der Guillem de Poitiers, den sie heiratete, war allerdings ein Herr von Valentinois und
nicht von Dia. Eine Erklärungsmöglichkeit wäre, daß sie, nachdem sie eine Gräfin durch Geburt
und Heirat geworden war, den Titel nach der Annahme ihres Sohnes angenommen hat. Ob es sich
bei dem Raimbaut d’Orange, in den sie verliebt war und den sie in ihren Liedern besang, um den
bekannten Troubadour gehandelt hat, ist zweifelhaft. Vermutlich war der Angebetete ein Neffe des
Sängers.
(Quelle: Carsten Seibold / Bettina Musiol, Südfrankreich – Auf den Spuren der Troubadours, München, Knaur, 1989)
»A chantar m-er de so q’ieu no voldria«
Ich muß davon singen, obwohl ich nicht will, / so sehr verzehre ich mich nach dem einen, dessen
Freundin ich bin, / denn ich liebe ihn über alles, was ist. / Bei ihm sind Mitleid und Höflichkeit
umsonst, noch helfen mir Schönheit, Tugend, Verstand. / Denn ich werde getäuscht und betrogen,
was nur ich verdiente, wäre ich spröde.
II Mein Trost ist, daß niemals, / in meinem Verhalten ich gegen Euch fehlte, mein Freund, / denn ich
liebe Euch mehr als Seguis je liebte Valensa. / Es ist mir eine Wohltat, wenigstens in der Liebe Euch
überlegen zu sein, mein Freund, denn Ihr seid der Tapferste von allen. / Mir zeigt Ihr Euch stolz in
Worten und Verhalten, doch seid Ihr liebenswürdig zu allen anderen.
III Mich erstaunt Euer Hochmut gegen mich, mein Freund, und gibt Anlaß mir, mich zu beklagen. /
Es ist unrecht, daß eine andre Liebe Euch mir raubt, / ganz gleich, was ich sage oder gewähre. / Erinnert Euch, wie unsre Liebe begann! / Gott füge, nicht meine Schuld bringe die Trennung!
IV Die Vollkommenheit Eurer Person / und Eure großen Verdienste ängstigen mich, / denn nah und
fern kenn ich keine, ist sie zur Liebe bereit, / die Euch sich nicht zuneigt. / Doch Ihr, mein Freund,
seid wohl erfahren, / um die Euch Ergebenste zu erkennen und unsres Paktes zu gedenken!
V Zu etwas sollten Tugend und Adel mir nutzen, / dazu Anmut und Schönheit und vor allem mein
treues Herz! / Darum sende ich Euch dieses Lied als Boten an den Ort, an dem Ihr weilt. / Laßt
mich wissen, mein schöner und edler Freund, was macht Euch so hochmütig und hart gegen mich. /
Ich weiß nicht zu sagen: Ist es Hochmut oder böser Wille?
VI Aber sage ihm auch, mein Bote, / daß zuviel Stolz schon vielen Menschen Unglück brachte.
(Übersetzung aus dem Beiheft der CD Cansós de Trobairitz, Hesperien XX, EMI 1978)
Die Einspielungen im Vergleich:
1. Ensemble Sinfonye (instrumentale Estampie)
2. Pilar Figueras & Clemencic Consort
3. Montserrat Figueras & Hespèrion XX
4. Martin Best Mediaeval Ensemble
5. Sigrid Hausen & Estampie
6. Catherine Bott
7. Evelyn Tubb & Ensemble
8. Brigitte Lesne & Alla Francesca
9. Regina Kabis & A Chantar
1992
1976
1978
1983
1990
1996
2008
2009
2015
26
Mittwoch, 1. 6. 2016
»Dialog mit dem Mittelalter«
9. Martin Codax: Cantigas de Amigo (13. Jahrhundert)
Die Grafschaft »Portucale« war ursprünglich ein kastilisches Lehen an einen burgundischen Grafen.
Aus ihr entwickelte sich das unabhängige Königreich Portugal, welches um 1150 auch von Kastilien anerkannt wurde. Es gab jedoch weiterhin viele verbindende Elemente zwischen Spanien und
Portugal, so das Galicisch-Portugiesische. Diese Sprache, die dem heutigen Portugiesischen sehr
verwandt ist, wurde an der Nordwestküste der iberischen Halbinsel in der heutigen, spanischen Provinz Galicien (mit der Hauptstadt Santiago de Compostela) und in Portugal gesprochen. Gleichzeitig war sie im Königreich Kastilien und León die Sprache der Lyrik. Vom 12. bis zum 14. Jahrhundert bildete das Galicisch-Portugiesische die sprachliche Grundlage einer besonderen Gattung höfischer Dichtkunst, der Cantiga. Drei Cancioneros überliefern viele Hunderte Lieder, allerdings ohne
Musik. Nur zwei Dokumente verbinden Text und Musik: Erst 1990 entdeckte der amerikanische
Wissenschaftler Harvey Sharrer das Fragment eines Cancioneros mit sieben Liebesliedern (Cantigas d’amor) des portugiesischen Königs Dom Dinis aus dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts.
Zur gleichen Zeit dichtete der Galicier Martin Codax seine Lieder an einen Freund (Cantigas de
amigo), die 1913 von dem Madrider Buchhändler Pedro Vindel als Einbandmakulatur einer CiceroAusgabe wiederentdeckt wurde. Diese sieben Lieder sind nicht nur das älteste Dokument galicischportugiesischer Dichtkunst mit Musik, sondern auch der erste Liederzyklus der europäischen Musikgeschichte. Die Cantigas de amigo repräsentieren eine besondere Gattung der Lyrik, deren Ursprünge in der arabischen Dichtkunst zu suchen sind. Es sind »Frauenlieder«, gedichtet und gesungen von einem Mann! Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gefühle einer Verliebten auszudrücken, die ihrem Freund, der in der Ferne weilt, voller Sehnsucht entgegen singt. Martin Codax lässt
seine Geliebte an den Gestaden von Vigo stehen, einer Stadt an der Westküste Spaniens in der Nähe
der portugiesischen Grenze.
!
Die Übertragung der Cantigas de amigo in moderne Notation gestaltet sich sehr problamtisch, besonders wenn man sich entschiedet, die Melodien mit einer bestimmten Taktart zu »synchronisieren«. Deshalb kann die wiedergegebene Übertragung des fünften Liedes im 3/4-Takt nur als eine
mögliche Sichtweise der mittelalterlichen Aufzeichnung gelten.
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I: Ondas do mar de Vigo
Ihr Meereswellen von Vigo,
habt ihr ihn geseh’n, meinen Freund?
Und - mein Gott! kommt er wohl bald?
Ihr schäumenden Wellen von Vigo,
habt ihr ihn geseh’n, meinen Liebsten?
Und - mein Gott! kommt er wohl bald?
Habt ihr meinen Freund gesehen,
nach dem ich mich so sehne?
Und - mein Gott! kommt er wohl bald?
Habt ihr meinen Liebsten gesehen,
um den ich mich so sorge?
Und - mein Gott! kommt er wohl bald?
II: Mandad' ei comigo
Kunde hab’ ich vernommen,
dass mein Freund wiederkommt:
Und ich gehe, Mutter, nach Vigo!
Vernommen hab’ ich die Kunde,
dass mein Liebster kommt:
Und ich gehe, Mutter, nach Vigo!
Denn mein Freund, er kommt wieder,
kommt heil und lebendig:
Und ich gehe, Mutter, nach Vigo!
Denn mein Liebster kommt wieder,
kommt lebendig und heil:
Und ich gehe, Mutter, nach Vigo!
Denn er kommt heil und lebendig
und als des Königs Freund:
Und ich gehe, Mutter, nach Vigo!
Denn er kommt lebendig und heil
und als des Königs Vertrauter:
Und ich gehe, Mutter, nach Vigo!
V: Quantas sabedes amar
Ihr, die ihr sie kennt, die Liebe zum Freund,
kommt mit hinunter zum Meer von Vigo,
Und baden wollen wir in den Wellen.
28
Ihr, die ihr sie kennt, die Liebe zum Liebsten,
kommt mit hinunter zum schäumenden Meer:
Und baden wollen wir in den Wellen.
Kommt mit hinunter zum Meer von Vigo,
da sehen wir meinen Freund,
Und baden wollen wir in den Wellen.
Kommt mit hinunter zum schäumenden Meer,
da sehen wir meinen Liebsten.
Und baden wollen wir in den Wellen.
(Übersetzung: © Marion Hayens)
Die Einspielungen im Vergleich:
1. Catherine Bott & The New London Consort
2. Rosa & Begogña Olavide & Ensemble Calamus
3. Drew Minter & The Newberry Consort
4. Hazel Ketchum & Sonus
5. Triphonia
x. Regina Cabis & Ens. A Chantar
6. Vivibiancaluna Biffi & Pierre Hamon (Flöten)
1991
1991
1993
1996
2010
2011
2015
Mittwoch, 6. 7. 2016
»Dialog mit dem Mittelalter«
10. Gautier de Coincy: Miracles de Notre Dame
»Gautier wurde vermutlich um 1177 in dem Dorf Coincy in Nordfrankreich geboren. 1214 wird er
zum Prior des Klosters Vicq-sur-Aisne ernannt, und am 19. Juni 1233 zum Großprior des Klosters
Saint-Médard in Soissons. Diese Stelle hat er drei Jahre lang inne, bis zu seinem Tode am 25. September 1236. Im großen und ganzen führte Gautier ein unauffälliges, zurückgezogenes Leben. Aber
fürs Dichten und die Musik war er begabt; er ist sicher mehr als nur ein einfacher, gehorsamer Prior
und Sonntagsdichter. Selbstverständlich schreibt er aus Liebe zur Jungfrau Maria, und auch, weil er
in und um Soissons von Reliquien, Heiligtümern und wundersamen Ereignissen umgeben ist. Aber
vor allem schreibt er deswegen, weil er eine unbändige Schreiblust hat. Nichts hält ihn au! Assoziationen, Reime, Spielereien sprudeln aus ihm heraus wie ›surrealistische‹ Wirbelstürme. Er dröhnt,
›assonanzt‹, ›schüttelt Reime‹, jongliert mit Buchstaben, Silben und Wörtern. Dieser Autor, den
manche als kleines, kränkliches Männlein, als Naiven einfachen Herzens beschreiben, hat in Wirklichkeit eine kernige, temperamentvolle, gebieterische und zweideutige Feder. Gautiers Mirakelsammlung hatte viel Erfolg; bekannt sind mehr als achtzig Manuskripte. Neben dem Leben der Heiligen Christine umfaßt das Werk Gautiers zwei Bücher mit Mirakeln unserer Lieben Frau, verfaßt
zwischen 1214 und 1236, mit einem Umfang von mehr als vierzigtausend Versen. Das erste Buch
enthält zwei Prologe, 35 Mirakel und zehn Marienlieder, das zweite einen Prolog, 23 Mirakel und
acht Lieder, sowie Gebete und Marienanrufungen. Gautier ist ein Virtuose der Schreibkunst. Er
verwendet Reimhäufungen, Dreireime und viele andere Reimformen, spielt mit leoninischen Rei-
29
men (Identität von zwei oder mehr Silben) und mit der rima equivoca, dem zweideutigen Reim […]
Aber nicht die Spielerei an sich interessiert Gautier: es ist die Intuition, daß es im Wortmaterial
selbst einen zu entdeckenden Sinn gibt. Es gibt, so glaubt er, gute Buchstaben, wie das O von Léocade, der toledischen Jungfrau, deren Reliquien Gautier in Vicq-sur-Aisne bewacht, oder M, A, R
und I, aus denen man MARIA zusammensetzen kann, ein Wort, das im Munde schmilzt wie Honig.
Und dann gibt es schlechte Buchstaben wie das S von serpent (›Schlange‹) oder das F von fu (afrz.
›Holz‹), dem Holz der Kreuzigung. Seine Poesie ist konkrete Poesie.
Gautier ist auch Musiker. Bevor er 1193 unter Abt Bertran ins Kloster SaintMédard in Soissons eintritt, muß er Schüler der Klosterschule gewesen sein; laut Poquet (der seine Werke im 19. Jahrhundert veröffentlichte) eine renommierte Schule, laut Koenig (seinem modernen Verleger) eine mittelmäßige. Letzterer nimmt an, daß Gautier nach seinem Eintritt in den Orden eine Zeitlang an der
Universität von Paris die Theologie studierte. Selbstverständlich hat er die Musik sorgfältig studiert
– warum nicht in der Gegend von Laon, einer Stadt nahe bei Soissons, die zudem im Mittelalter ein
bedeutendes Zentrum für musikalische Aufzeichnungen war. Oder vielleicht frequentierte er einen
der damals um Soissons zahlreichen Trouvères, wie etwa seinen Zeitgenossen Richard de Fournival.
Selbst wenn Gautier nicht ›Komponist‹ im heutigen Wortsinn ist, selbst wenn er sich bei anderen
die Melodien für seine Lieder ausleiht, selbst wenn er sich unbekümmert der Kontrafaktur und der
›Liedfüllung‹ bedient, hat er zumindest ein echtes Talent für ›Arrangement‹, wie man heute sagen
wurde, ja mehr noch, denn seine Lieder sind vielfach Meisterwerke.
Das Organum, das Triplum, den Diskantus kennt er gut. Köstlich karikaturiert er den Gesang seiner
brüllenden und johlenden Zeitgenossen. Von der Musik hat er sehr klare Vorstellungen:
›Wir Priester, wir Sänger, wir Kleriker, wir Mönche, wir müssen Tag und Nacht die Frau besingen,
die zum Verweilen ins Paradies all jene mitnimmt, die ihr treulich dienen. Aber ich sehe viele, die
so recht faul sind! Ziemlich grölen, ziemlich schreien, ihre Kehle ziemlich anstrengen» aber die Saite ihrer Drehleier nicht richtig spannen: ihr Gesang ist jämmerlich! Ihr Mund belügt und mißstimmt
Gott, wenn sie im Herzen nicht übereinstimmen. Gott und die Mutter Gottes finden also an einem
diskantierenden, quintierenden, organierenden Mund nicht mehr Gefallen als an einem kreischenden Esel.
Ich kenne welche, deren Stimme früher oder später wird verdrossen, wenn sie nicht mit starkem
Wein begossen! Singen können sie allein» wenn erhitzt sie sind vom Wein. Aber wenn der Wein sie
geheilt, dann organieren und feiern sie und rühren das ganze Kloster. Ich kenne welche, deren
Stimme schwach und rauh ist, aber wenn guter Wein sie stärkt, dann singen sie laut, werden stimmhaft (das macht guter Wein, nicht Bier!). Dann grölen und schreien sie und beten zu St. Torkel, dem
Sohn der Taumelnden, dem Heiligen, der nicht mehr gerade gehen läßt.
Gott hört nicht auf den Mund, wenn das Herz nichtfromm ist. Aus dem Herzen muß die Quelle
springen, die Gott unsere Stimme gefällig macht. Eine hohe und klare Stimme gefällt Gott und der
Mutter Gottes nicht unbedingt. Einer singt tief und ungehobelt, doch Gott hört ihn lieblicher als jenen, der hoch organiert und hoch quintiert. Nicht mehr als eine Feige schätzt Gott die schöne helle
und gefällige Stimme, den Klang der Harfe oder der Drehleier, des Plasterions, der Orgel, der
Gigue, wenn das Herz nichtfromm ist.
Gott hört auf die Absicht, nicht auf Stimme noch Instrument.‹
Für Gautier hat die Musik eine Funktion. Außerhalb dieser Funktion ist sie nur Gaukelei. ›Wenn ihr
für die Mutter Gottes singt, werdet ihr beim Singen bezaubert: selig, wer so singt.‹ Und selig ist
auch, wer zuhört….«
»Entendez tuit Ensemble« – Höret all zusammen ihr Priester und ihr Laien,/ es ist kein schön’rer
Lai als vom Heil unsrer Lieben Frau. / Kein schön’rer Lai kann sein als das Ave Maria. / Diesen Lai
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sangen die Engel, da Gott sich vermählte.
Eva übergab uns dem Tode / und Eva brachte uns Weh, / aber das Ave befreite uns / und brachte uns
sicher heim.
Ave dir, der ein Engel sagte »Gnadenvolle« / du Dame, in der soviel Freude und soviel Gnade
liegt, / daß der Heilige Geist aus dir sein Heiligtum machte. / Wer dies nicht also glaubet, ist verloren und verdammt. /
Ave, in deinem heiligen Leibe dort schlief der Dominus. / Wir haben noch nie geschlafen in einer so
herrlichen Kammer. / Was dein heiliger Leib kann enthalten und tragen und nähren dazu, / das können Himmel und Erde nicht fassen und nicht
»Ma vièle« – Meine Fiedel will ein schönes Liedlein spielen / für die Schöne, / deren Nam’ all’
überragt, / in der Gott zum Menschen werden wollt / einstmals Engel und Erzengel laut singen ihr
im Paradies.
Wessen Seele von der Galle rein soll sein, / der muß beten Tag und Nacht zur Lieben Frau. / Narrenliebe werfet ab ihr zulieb. Wer nicht liebt von ganzem Herz sie, den nenn’ man einen Schuft.
All und jeder, der nunmehr mit Eifer fromm / dient der Jungfrau, die einst barg zu unserem Heil, /
Fleisch geworden, der er war, unsern Heiland, / hat im Himmel schon sein Bett, Kammer und Haus
bereitet.
Frische Rose, Lilienblume, Eglantine, / wer dich lobet, liebt und dient von ganzem Herz, / hat gefunden schon den Weg nach dort oben, / aber fern und unten geht, wer nicht ist dein Schuldner.
(Kommentar und Übersetzung der Liedtexte aus dem Beiheft der CD Les Miracles de Nostre-Dame,
Ensemble Alla Francesca, Opus 111)
Die Einspielungen im Vergleich:
1. Allegria
2. Alla Francesca
3. The London Consort
4. The Harp Consort
1994
1995
2002
2003
Zur heutigen Rezeption der Musik des Mittelalters siehe auch: Bernhard Morbach, Die Musikwelt des Mittelalters, Bärenreiter-Verlag, Kassel 2004, woraus auch etliche Textpassagen dieses Manuskripts stammen.