8. Einheit: «1817 – Clemens Brentano, Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl» Autor Lebenslauf Clemens Brentano (1778 – 1842) mit beispielhafter romantischer Künstlerbiographie; stritt sich oft mit seinen Eltern, weigerte sich zur Kaufmannslehre (er entstammt einer wohlhabenden italienischen Kaufmannsfamilie) und brach das Bergbau und später das Medizinstudium ab → er war gegen das bürgerliche Philistertum, stattdessen war er von Kunst ergriffen. Seine Großmutter war die deutsche Schriftstellerin Sophie von La Roche (1771, „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“), ihre Tochter Maximiliane (Clemens Mutter) begegnete Goethe (und war später die Vorlage für Lottes schwarze Augen). Brentano war durch das Geld seiner Familie finanziell unabhängig. Er heiratete Sophie Mereau, eine (heute archivierte) emanzipierte Schriftstellerin und die erste, die ihr Schreiben zum Brotberuf gemacht hat und ihre Bücher selber vermarktet hat, jedoch war ihre literarische Zusammenarbeit mit ihrem Mann nicht sonderlich fruchtbar; sie starb früh an den Folgen einer Todgeburt. Mit Achim von Arnim verband Brentano eine lebenslange Freundschaft und Zusammenarbeit (Des Knaben Wunderhorn), durch Brentanos Schwester Bettina auch verschwägert. 1815: Schaffenskrise Brentanos, er zweifelt an der Kraft seiner Sprache (vgl. Brief auf S. 3 des Handouts), er revertiert zum Katholizismus (wie Eichendorff, Brüder Schlegel u.a.), er bezeichnet Literatur eines nicht von Gott berufenen Dichters als zweitrangig; 1817: Generalbeichte → Umpolung seiner Bibliothek, er versteigert viele seiner Bücher und sammelt theologische Schriften, beschreibt die Visionen der Nonne Anna Katharina Emmerick, kein Interesse an weltlicher Dichtung mehr und wirft frühere Literatur über Bord, was seiner späteren Rezeption geschadet hat. Nach seinem Tod wurden seine früheren Werke bearbeitet, damit diese besser ins religiöse Bild Brentanos passen. Werke Deckten ein weites Spektrum an Formen und Wissensgebieten ab, tlw. als „progressiv“ bezeichnet, andere sahen in Brentanos Schaffen „katholische Propaganda“ (Heine), v.a. Schriftsteller der Moderne beriefen sich auf Brentano; Lyrik: volkstümlich, niveauvoll, artifiziell, Schema der Wiederholung Dramatik: Zwanzig Dramen (irrelevant, da nicht aufführbar), geprägt von romantischer Universalpoesie; z.B. „Die Gründung Prags“. Epik: zahlreiche Erzählungen, Märchen und Satiren; z.B. „Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter“. Textgestalt Inhalt: IchErzähler trifft auf alte Bäuerin, die vor dem Haus des Herzogs schläft. Er stellt sich ihr als Schreiber vor (und leugnet damit sein Schriftstellertum) → sie bittet ihn um eine Bittschrift an den Herzog → sie beginnt die beiden Lebensgeschichten zu erzählen; Kasper (ihr Enkel): ein Ulan, der das Patenkind der Bäuerin – Annerl – liebt und sehr viel von Ehre hält, die Gnade wird bei ihm ausgeklammert. Die Mühle, in der er eines Tages übernachtet, wird überfallen, die Diebe stehlen aber nur Kaspers Pferd und den Reisesack, Kasper nimmt wegen seiner Ehre die ihm vom Müller angebotene Entschädigung nicht an → er findet heraus, dass sein Vater und sein Stiefbruder die Diebe sind, aus Ehrgefühl bringt er sie vor Gericht und begeht wegen der Familienschande Selbstmord am Grab seiner Mutter; die Großmutter will nun ein ordentliches Begräbnis für ihren Enkel, das bekommen aber nur melancholische Selbstmörder, nicht verzweifelte → religiös grundiert: Auferstehung der Toten auf der Anatomie nicht möglich; Annerl: Das Patenkind der Alten, hat von Kasper lange nichts gehört und sich einem adeligen Verführer hingegeben, das daraufhin entstandene Kind tötet sie → ihr droht nun die Hinrichtung; Vorgeschichte: Die Alte mit Annerl bei einem Scharfrichter, dessen Schwert in Annerls Anwesenheit zu schwingen beginnt (Hunger nach Blut), bei der Hinrichtung verbeißt sich der Kopf des Angeklagten in Annerls Schürze (→ mit der Schürze erstickt Annerl später ihr Kind!). Thema der Bittschrift soll die Bestattung Annerls neben Kasper sein, denn Gerechtigkeit sei wichtiger als Pardon, doch der Ich Erzähler will intervenieren und Annerls Begnadigung beim Herzog veranlassen, was ihm auch gelingt. Der Graf Grossinger soll die Hinrichtung verhindern → Lauf gegen die Zeit, doch vor der Menschenmasse scheut das Pferd des Erzählers, das des Herzogs stürzt sogar → sie kommen um Haaresbreite zu spät, Grossinger gesteht, dass er Annerls Verführer und Kindsvater ist, worauf ihn die Menge misshandelt. Zum Schluss folgt eine Bündelisierung verschiedenster Auflösungen: Grossinger begeht Selbstmord, die alte Bäuerin stirbt bei Annerls Begräbnis, der Herzog heiratet seine Mätresse (Grossingers Schwester), Entrückung durch das Monument bei den Gräbern → allegorisches Standbild der Ehre, Gnade und Gerechtigkeit. Titel „Geschichte“: Entstehungsgeschichte weitgehend im Dunkeln, er soll sie aber in vier Tagen geschrieben haben und erschien 1817 in einem Sammelband (vgl. Diel und Kreiten, S.2 des Handouts), beide Episoden mit Volksgut vermischt, Elemente direkt aus dem eigenen „Des Knaben Wunderhorn“ (vgl. S.1 des Handouts; „schöne Nanerl“), „Weltlich Recht“ im Kontrast zum göttlichen Recht, das unvollkommene Menschenwerk, deshalb kommt die Gnade zu spät, das Erzählen der Geschichte wird selbst zum Thema → was ist Rahmen und was ist Binnenhandlung? Der Erzählrahmen ist selbst Teil der Handlung, vom Sitzen und Erzählen → allmähliche Aufklärung, die Bäuerin als Vertreterin des naturnahen Erzählens, der IchErzähler als professioneller. Der Tag der Hinrichtung als „Ehrentag“ bezeichnet; das Ende des Erzählrahmens sehr dynamisch und mit Spannungsmomenten → verflechtet sich mit Binnenhandlung → Novellenzyklus „en miniature“; Binnenhandlung mit Binnenhandlung (Kasper, der von einem frz. Offizier erzählt, auf den die Prügelstrafe zurückgeht) – Ehre in der Binnengeschichte sehr wichtig → öffentliche Strafe für Diebe und die Kindsmörderin. Kasperl und Annerl: Diminutivformen suggerieren Unbeschwertes bzw. eine Liebesgeschichte, doch eigentlich sehr tragisch; Liebe nicht zentral, auch wenn die beiden verbunden sind, beide werden aus Verzweiflung gewalttätig, aus dem tüchtigen/rechtschafferischen „brav“ resultiert Selbstzerstörung, während „schön“ aus Annerl ein Objekt sexueller Begierde macht. Der Titel ist eine reine Lesertäuschung. Realgeschichtlicher Hintergrund Eine werkimmanente Interpretation ist angebrachter, nur Ansätze der historischen möglich: Krieg gegen die Franzosen In Brentanos anderen Werken sind die Franzosen negativer dargestellt, in dieser Erzählung eher positiv; Behandlung in der Binnenerzählung (frz. Offizier) → preußische Heeresreform, Idee eines Volksheeres und der Wehrpflicht, dadurch Vorbildwirkung; körperliche Züchtigung als Erziehungsmittel → steht mit den Grundrechten in Konflikt (vgl. S.1 des Handouts „Die Freiheit der Rücken“) Prügelstrafe als „unehrenhaft“ angesehen → war im Bürgertum nicht mehr rechtschaffen und stand mit der Soldatenehre im Widerspruch. Ländliches Leben Der Prolog spielt im bürgerlichen Milieu, die Bauerngeschichte kam später im Frührealismus zum Zuge, diese Geschichte nur ein Teil, alle soziale Schichten werden behandelt (vom Bauer bis zum Herzog), außerdem fehlt eine genaue Topographie des Dörflichen, die bäuerliche Vorstellungen werden ebenfalls nicht erwähnt Kindsmord Dieses Thema seit Sturm und Drang Hochkonjunktur („Faust“: Gretchen lehnt Begnadigung ab), ein großes Spektakel, aber trotzdem relativ seltene Hinrichtungen, Brentano bedient sich einer bis dahin schon überholten Justizpraxis Motiv und Symbolstruktur Rose Am Beginn erwähnt, Grossinger gibt der Alten einen Taler und eine Rose, diese weckt in ihr die Erinnerung an ihren toten Gatten, Rose als Symbol der Liebe (Jugenderinnerung), aber auch des Todes (Erinnerung an den toten Mann, „Es ist ein Zeichen, dass ich zu ihm kommen soll, und darauf freue ich mich herzlich.“) und auch des Trosts (gemeinsam mit Kaspers Kranz für Annerl); ein ambivalentes Symbol, Schmerz (Dornen), Blut (rote Farbe), Vergänglichkeit (Abszission/Verwelken der Blüten) → Mehrfachkodierung Kranz Symbol der Ewigkeit (weder Anfang noch Ende), ebenfalls Vergänglichkeit; Kasper hat zwei Kränze, einen für das Grab seiner Mutter und einen Jungfernkranz für Annerl (die aber ihre Unschuld schon an Grossinger verloren hat); Kugel durch Kaspers Herz am Grab der Mutter → aus dem Lebenskranz wird ein Totenkranz. Grab mehrfach kodiert: Ort des Sterbens, Symbol für Sehnsucht und Vereinigung (Zusammenfügung von Großmutter, Mutter und der beiden Liebenden), gemeinsames Grab als Kern der Bittschrift (religiös grundiert: für Jüngstes Gericht, gemeinsam auferstehen) Pferd in der Kaspergeschichte gestohlen → Kausalkette in Gang gesetzt; bei Annerl: Ritt gegen die Zeit, gegen die Zwanghaftigkeit des Schicksals, durch das Aufscheuen und dem Sturz der Pferde kommen die Retter zu spät. Schleier Symbol der Gnade und für die Beziehung zwischen dem Herzog und seiner Mätresse, der Schwester des Grafen Grossinger, auf dem Weg zum Hinrichtungsplatz vom IchErzähler ein Schleier gefunden, der es als gutes Omen interpretiert → Umkehrung erfolgt: nach der Hinrichtung auf Annerl gelegt → Ehrsymbol Schwert Element einer Schauergeschichte, Symbol für Gerechtigkeit; das Unbegreifliche blickt in die sonst realistische Geschichte ein (in der AnnerlVorgeschichte) – basiert auf einer volkstümlichen Überlieferung; Das Zittern der Henkersschwerte deutet auf den Hunger nach neuen Opfern hin → findet sich in Scharfrichtermemoiren, die Brentano nachweislich besaß (und nach seiner Generalbeichte versteigerte) Schürze sexuell konnotiert, die Ehre des Annerl (die von der Alten als hübsch beschrieben wird) ist in permanenter Gefahr; sie ist ein fatales Requisit und spielt Rollen in schicksalshaften Wendungen und schüren das Unheil; der Kopf der verurteilten Jägers Jürge fliegt auf das junge Annerl zu und verbeißt sich in dessen Schürze → ein Vorverweis auf ihr Schicksal, Determinismus; wird später in leichten Abwandlungen oft wiederholt (die Szene der Hinrichtung des Jägers auf zwei verschiedene Arten erzählt, die sich widersprechen – es gibt mehrere Theorien, war Brentano einfach nur schlampig?); Schürze als Mordinstrument (Erstickung des Kindes), nach Annerls Exekution bedeckt die Bäuerin die Trennstelle von Kopf und Leib mit ihrer Schürze; als Reliquie wird die Schürze, in die sich Jürge reinbaß in der Kunstkammer des Herzogs aufbewahrt. Der Text ist ökonomisch komponiert, die erzählerischen Motive sind ambig und wie in anderen romantischen Geschichten uneindeutig; Symbole und Motive in parallelen Handlungen und Vorverweisen eingebaut, tlw. konkurrierende Zeichenketten, Verhüllung und Verletzung, eine artifizielle Erzählstruktur (vgl. S.2 des Handouts, Kierkegaard): volkstümlich, aber auch tieferes in Gegenständen und Symbolen versteckt, das Volkstümliche nur eine Masche → eine raffinierte künstlerische Erzählung Gnade und Ehre Lied der Gräfin Grossinger (verbindet Gnade mit Liebe), wirkt wie ein Volkslied (Tonfall), andererseits eine hohe Dichte an Abstracta, der Zugang ist bewusst verstellt, die Poesie im Gewand des Naturnahen, die Schlichtheit der Geschichte steht einer komplizierten Struktur gegenüber; Gerechtigkeit bildet aber Leerstelle im Lied (vgl. S.3 des Handouts, Gockel), diese wird erst durch den Erzähler verfolgt. Die Ehre hingegen häufig verwendet, im Kontext zwischen Privatem und Öffentlichem, der Ehrverlust ist an ein Publikum gebunden: Kaspers Soldatenehre wirkt selbstvernichtend, Annerls einzige Mitgift ist ihre eigene Ehre, die durch die Ehrenlosigkeit des Verführers bedroht ist; beide sühnen für den Ehrverlust, Kasper durch Selbstmord, Annerl durch das Gericht. Sexuelle Verfehlung aber stärker bestraft als wirtschaftliche, der Ehrverlust der Mutter (Annerl) → auf Kind übertragen, die Ehrverluste der Grossingers (er: Verführung, sie: illegitime Beziehung zum Herzog) unterschiedlich gelöst, er bringt sich um, sie wird durch Einsicht des Herzogs seine Gattin. Die Gnade in zwei verschiedenen Erscheinungen: Gnade Gottes und die weltliche Gnade des Herzogs. Großmutter: Rückbindung an Religion, sie schöpft Kraft durch ihren Glauben, keine Ehrverklammerung, durch das gemeinsame Begräbnis die Ehre und die Gnade zusammengeschnürt
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