Was erlebte Jürgen Todenhöfer wirklich im Land des IS?

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BESTSELLER
Der Märchenonkel
Jürgen Todenhöfer, Politiker, Manager, Welterklärer, hat sich mit
einem Buch über seine Reise zum IS ein Denkmal gesetzt. Ein
junger Mann, der ihn nach Syrien und in den Irak begleitete, erlebte
allerdings manches anders.
Von Özlem Gezer
Todenhöfers Facebook-Seite auf Richters iPad
K
urz bevor Matthias Richter zum „Islamischen Staat“ aufbricht, sitzt er an einer Hotelbar an der türkischen Grenze
und trinkt Whisky. Frederic, sein bester Freund, sitzt ihm gegen1 of 21
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über, sie trinken gemeinsam, sie trinken auf Eis, sie mischen mit
Cola, sie rauchen Zigarette, vielleicht die letzte.
DER MÄRCHENONKEL
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ARTIKEL VORLESEN LASSEN
Sie warten noch auf Jürgen, der oben auf dem Zimmer seine Tasche packt. Jürgen ist Frederics Vater, er ist ihr Reiseführer, er ist
Deutschlands bekanntester Moslemversteher, er ist Jürgen Todenhöfer.
Es ist der Beginn einer Reise, die drei Männer aus München nach
Syrien führen wird, nach Rakka, in die Hauptstadt der Tyrannen,
von dort weiter in den Irak, nach Mossul. Eine Reise, bei der sie
mit den Henkern des „Islamischen Staats“ sprechen wollen und
mit deren Sklaven, eine Reise, bei der sie hoffen, sich frei bewegen zu dürfen, in einem Gebiet, wo Europäern wie ihnen normalerweise der Kopf abgeschnitten wird.
Auf dieser Reise wird Matthias Richter Protokoll führen, Frederic
Todenhöfer wird filmen, und Jürgen Todenhöfer wird seine
Wahrheit finden. Nach ihrer Rückkehr wird er diese Wahrheit zu
Geld machen, er wird das tun, was er oft tut nach seinen Reisen
zum Bösen, er wird einen Bestseller schreiben. Der Bestseller, um
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den es hier geht, heißt „Inside IS – 10 Tage im ,Islamischen
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t'“, erschienen im April 2015, über 100 000 verkaufte Exemplare,
bundesweite Lesereisen, eines der erfolgreichsten Sachbücher des
Jahres, Dokumentarfilm in Arbeit, Theaterstück dazu, bald.
Die Reise wird Jürgen Todenhöfer zum IS-Experten des Jahres
befördern, er wird durch die Talkshows des Landes ziehen und
dem deutschen Zuschauer die Terroristen in der Ferne erklären,
im Frühjahr, im Sommer, im Herbst, nach den Anschlägen von
Paris, es gibt immer Anlässe. Er wird dort sitzen und die Zeilen
seines Buches als die „gnadenloseste Abrechnung“ mit dem IS bezeichnen.
Es ist ein Buch, dessen gedruckte Wahrheit aber in Teilen eine andere ist als die, die Matthias Richter, der Protokollant des Bestsellers, erlebt hat auf dieser Reise.
„Es ist mehr ein Roman als ein Sachbuch“, sagt er.
Im Juni hatte Richter das erste Mal Kontakt zum SPIEGEL aufgenommen. Er bot einen Bericht zum Abdruck an, mit dem Titel:
„Reise ins Kalifat“, Protokoll seiner Reise mit Jürgen Todenhöfer
zum „Islamischen Staat“. Das Manuskript, eine Art Tagebuch von
18 Seiten, beschrieb viele Details des Reiseverlaufs, schilderte Begegnungen mit Dschihadisten, aber es fiel gleich auf, dass sich
Richters Darstellung in Teilen nicht mit den Inhalten von Todenhöfers Bestseller deckte, der doch von derselben Reise erzählte.
In den Monaten danach folgten deshalb viele Gespräche mit Matthias Richter, um die Unstimmigkeiten zu klären, zuletzt ein gemeinsamer, detaillierter Durchgang durch das Sachbuch und der
Abgleich mit Richters eigenem Tagebuch und seinen Erinnerungen. So wurde die Recherche auch für ihn selbst, Richter, eine
Spurensuche und eine Erfahrung. Es ging ihm zu Beginn um Richtigstellungen und auch um die Wahrheit. Am Ende wurde ihm
klar, dass er von den Todenhöfers, von Vater und Sohn, auch tief
enttäuscht ist. Richter war bereit zu erzählen, wie alles begann
und was er erlebte auf dieser Reise.
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Es war im Frühsommer 2014, Jürgen Todenhöfers Entschluss, ins
Gebiet des IS reisen zu wollen, stand fest. Frederic Todenhöfer
schrieb deshalb für seinen Vater Kämpfer des IS auf Facebook an,
Matthias Richter führte Protokoll, wenn Todenhöfer mit diesen
Leuten skypte und über Reisebedingungen verhandelte, sie trafen
Mütter von ausgereisten Dschihadisten zum Gespräch. Matthias
Richter half Todenhöfer gern, schließlich war er auch sein Held,
von seiner Jugend an.
Todenhöfer ist ein Mann mit vielen Talenten. Früher war er Richter, er saß 18 Jahre lang für die CDU im Bundestag, er war Medienmanager, Vorstandschef bei Burda, und mit dem Rentenalter
wurde er zum Freiheitskämpfer, ein Christ, der den Islam verteidigte und es damit weit brachte, bis hin zu einem Interview, das
er mit dem syrischen Diktator Baschar al-Assad führen durfte.
Er erinnert sich nicht an einen Balkon, der zur Straße ging, nur
an einen Balkon zum Hinterhof.
Mit Todenhöfers Sohn ist Matthias Richter eng befreundet, seit
beide 15 Jahre alt sind. Damals wollte Richter Profifußballer werden und Frederic so wie sein Vater, der große Jürgen Todenhöfer.
Matthias Richter und Frederic Todenhöfer verbindet eine besondere Freundschaft, die andere nicht immer verstehen, eine, die
beide mit den großen Themen der Weltpolitik verband, in der
E-Mails von Assad eine Rolle spielten oder Gutachten über Osama Bin Laden. Eine Freundschaft, bei der man dort Urlaub machte, wo andere Krieg führten. In Afghanistan bei den Warlords, in
Israel, im Gazastreifen, auf Demonstrationen mit Palästinensern,
mit Tränengas. Matthias Richter und sein Freund reisten oft in die
Gefahr. Richter sagt, „andere steigen auf den Mount Everest, wir
mögen keinen normalen Urlaub, Baden auf Mallorca, wir mögen
es extrem“.
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Diese Reisen haben Matthias Richter oft geholfen in seinem Leben; als er, beispielsweise, einen Kreuzbandriss hatte und spürte,
dass es nichts mehr werden würde mit der Fußballkarriere – und
das Abitur schmiss. Frederic Todenhöfer nahm seinen Freund mit,
nach Afghanistan. Richter sah das Elend der Menschen und lernte
dadurch die Chancen schätzen, die er in Deutschland hatte, ein
Motivationstrip. Die beiden Freunde reisten zu Todenhöfers Stiftungen, halfen den Armen in der Ferne, so wie sie es von ihrem
Vorbild kannten, sie fühlten sich nützlich. Als sie zurück waren,
holte Richter das Abitur nach, begann ein Studium, zuerst in
Wien, dann in München.
Heute ist Matthias Richter Volljurist, 32 Jahre alt, auch sein
Freund Frederic Todenhöfer ist 32, er war Marketingstudent in
New York und ist heute Musikproduzent und Hobbyfilmer.
In der Vergangenheit saß Matthias Richter oft gemeinsam mit
dem Freund in seinem Zimmer und wertete Artikel aus, um dessen Vater zu imponieren. Wenn Jürgen Todenhöfer den Bundespräsidenten Joachim Gauck verklagen wollte, schrieb Matthias
Richter Gutachten, wenn „der Jürgen“, wie Richter Todenhöfer
nennt, Morddrohungen bekam und keine offizielle Sicherheitsfirma beauftragen wollte, begleitete Richter ihn zu Lesungen nach
Berlin, immer gern, immer umsonst. Matthias Richter hat breite
Schultern, er macht sich gut als Bodyguard.
Auch der Trip zum IS passte wieder gut in die Zeit. Richter war
gerade durch mit seinem zweiten Staatsexamen, er hatte keinen
Job, Todenhöfer wollte ihm ein Praktikum vermitteln, Warteschleife, Motivationsloch, „Islamischer Staat“.
Die Rückkehr von dieser Reise ist etwa ein Jahr her, Matthias
Richter liegt in einer Hängematte in seinem Zimmer im Süden
von München, auf dem Schreibtisch das Handbuch „Global Terrorism“, in seiner Hand der Bestseller.
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JÜRGEN TODENHÖFERS LEBEN IN FOTOS
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FOTOSTRECKE Medienmanager, Publizist, Politiker: die wichtigsten Stationen im
Leben von Jürgen Todenhöfer im Überblick.
Matthias Richter blättert durch die Seiten, stoppt bei Kapitel VIII,
Überschrift: Reise in den „Islamischen Staat“, Grobe Skizzen eines Albtraums, Seite 164: Es sind die Zeilen, in denen er das erste
Mal auftaucht. Matthias Richter heißt in dem Buch nur „Malcolm“, so taufte Jürgen Todenhöfer seinen dritten Mann, der anonym bleiben sollte, aus Sicherheitsgründen, wie Todenhöfer behauptete.
In der Szene, die Richter jetzt liest, ist Malcolm der alte Schul<
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freund von Frederic, der sich am letzten Tag, wenige
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Abreise, noch aufdrängt, weil er mitkommen möchte zu den Terroristen. Und Jürgen Todenhöfer ist der gütige Vater, der einwilligt, weil sein Sohn ihn darum bittet, dass der Freund mitkommen
darf.
Richter versteht nicht, warum er so eingeführt wird. Am letzten
Tag. Auf den letzten Drücker. Er, der Monate lang die Reise mit
Todenhöfer vorbereitete, der ganze Abende im Hofbräuhaus mit
den Todenhöfers saß, um die Reisedetails zu besprechen, der mit
seinen Eltern stritt und zwei Wochen auf gepackten Koffern saß
und auf die Abreise wartete. Aber Matthias Richter versteht vieles nicht, wenn er durch dieses Buch blättert, für das er Protokoll
führte.
Richter sagt, erst habe er bei der Lektüre des Buches hier und da
gestutzt. Später habe er nur noch darauf geachtet, ob er das, was
er las, überhaupt erlebt hatte. Irgendwann, sagt Richter, habe er
verstanden, dass all die Szenen, die Jürgen Todenhöfer schildert,
weniger dokumentarisch gemeint sind, sondern vielmehr eine
dramaturgische Funktion erfüllen. Die einen sollen Glaubwürdigkeit erzeugen, die anderen Spannung, sie sollen moralisieren oder
auf angebliche Bedrohungen hinweisen.
Es sind Szenen wie die während des Fluges in die türkische Stadt
Adana. An Bord sind auch Schulmädchen, mit ihnen will Todenhöfer über deren Stadt gesprochen haben. In der Szene wundert
er sich über ihre gute Laune, obwohl sie unweit der syrischen
Grenze leben.
„Das haben wir nie getan“, sagt Richter. „Wenn der Jürgen fliegt,
dann fliegt er und unterhält sich nicht ständig.“ Richter fragt auch:
In welcher Sprache hätten sie miteinander reden sollen? Und warum sollten Mädchen aus der Südtürkei Angst vor dem IS haben?
Im Abschnitt Dritter Tag, Seite 204, wird ein Balkon beschrieben,
die Szene spielt in ihrer Wohnung in Rakka, jener Stadt, in der
die drei Deutschen nie allein auf die Straße, sich nicht
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gen, nicht mit Zivilisten sprechen dürfen. Das Besondere dieses
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Balkons war laut Todenhöfer, dass man von ihm aus das Straßenleben beobachten konnte. Ein Hochsitz mit unverstelltem Blick
auf die Schlächter, gewissermaßen. Die Terroristen hätten ihnen
jedoch verboten, diesen Balkon zu betreten.
Cheeseburger ist nichts für uns. "You are, what you eat!", lege
ich noch eins drauf.
Im Buch steht nun, dass sich Jürgen Todenhöfer dieser Anweisung
immer wieder widersetzt habe und auf diesen Balkon gegangen
sei, um das Straßenleben zu beobachten, um sich mit eigenen Augen ein Bild zu machen. So beschreibt er seinen Kampf gegen die
Verbote, seinen Sieg im Balkonkampf.
Matthias Richter erinnert sich nicht an ein Balkonverbot. Er erinnert sich auch nicht an einen Balkon, der zur Straße rausging. Er
erinnert sich nur an einen Balkon, auf dem eine Wäscheleine gespannt war. Auf diese Leine sollten sie ihre nasse Kleidung zum
Trocknen hängen, jeden Tag. Nach Richters Erinnerung durften
sie auf diesen Balkon, wann immer sie wollten. Sie wollten aber
nie darauf, weil man, zum einen, von dort nur in einen verlassenen Innenhof blicken konnte. Zum anderen sei es draußen auf
dem Balkon „saukalt“ gewesen, im Dezember, in Rakka.
Erster Tag, Seite 179, GPS-Sender: „Ein Glück, dass Frederic vor
unserer Abreise in München keine GPS-Geräte gefunden hatte,
die klein genug gewesen wären, um sie zu verstecken. Wir wollten sie für den Fall mitnehmen, dass man uns entführen würde ...
Wir wären jetzt in Erklärungsnot“, schreibt Todenhöfer. Matthias
Richter sagt: „Wir haben uns schon in Deutschland bewusst dagegen entschieden, weil wir wussten, dass wir durchsucht werden
bei der Ankunft, und nicht das Vertrauen der Dschihadisten verlieren wollten.“
Zweiter Tag, Seite 184, Juden: „Frederic erzählt von
seinen
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schen Freunden in New York.“ Matthias Richter sagt, sein Freund
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kenne zwar einen Rabbi dort, habe aber sonst keine jüdischen
Freunde in New York. Und über Juden hätten sie nicht mit den
Islamisten gesprochen, es sei kein gutes Thema mit ihnen.
Achter Tag, Seite 261, Frauen: Die Dschihadisten erzählen von einem Freund, der sich eine jesidische Sklavin gekauft habe, Todenhöfer schreibt: „,Scheißgeschichte!', sagt Frederic, der dem IS die
Sklaverei ungemein übel nimmt.“
Richter sagt, „wir haben Protokoll geführt und auf Erzählungen
gewartet, bei denen sie sagten, eine Jesidin sei so teuer wie eine
Kalaschnikow. Wir waren dankbar für solche Sätze und haben
diejenigen, die sie aussprachen, nicht dafür kritisiert“.
Siebter Tag, Seite 255, Antiamerikanismus: Todenhöfer steht mit
seinem Sohn und Matthias Richter vor einem Restaurant, sie warten auf ihre Reiseführer, die sich Cheeseburger kaufen, im Buch
lässt Jürgen Todenhöfer sich sagen: „Ich kann euren amerikanischen Fast-Food-Fraß nicht so richtig mit der Lebensweise der
ersten vier Kalifen vereinbaren ... ,You are, what you eat!', lege
ich noch eins drauf ... Frederic, Malcolm und ich warten vor dem
Laden. Cheeseburger ist nichts für uns.“
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S „Wir haben auch Cheeseburger gegessen“, sagt Matthias Richter.
„Was hätten wir sonst essen sollen, wenn wir uns ohne unsere Begleiter nicht bewegen durften?“
Matthias Richter, der Protokollant, war oft frustriert auf dieser
Reise; weil sie sich nicht frei bewegen durften, sondern von den
Terroristen herumgeführt wurden wie eine Touristengruppe; weil
die Interviews, die sie führten, von Terroristen übersetzt wurden,
manchmal sprachen Menschen minutenlang mit ihnen, übersetzt
wurden aber nur wenige Wörter. Richter hätte sich gewünscht,
dass diese Zensur, gegen die sich Todenhöfer versucht habe zu
wehren, wie Richter sagt, in dem Buch mehr zum Thema gemacht
worden wäre.
Stattdessen verstopft Todenhöfer sein Buch mit Szenen, in denen
er, Todenhöfer, als mutiger Mann beschrieben wird. Als einer, der
die Regeln der Terroristen bricht. Als einer sogar, der den Dschihadisten Angst gemacht haben will, weil er sich, zum Beispiel, einen Sprengstoffgürtel umlegte und daran herumspielte.
Die Rede ist hier von Dschihadisten, die zum IS kamen, weil sie
lieber im Paradies leben würden als auf der Erde. Die sich auf
Selbstmordattentäter-Listen setzen lassen und ungeduldig darauf
warten, sich in die Luft sprengen zu können. Und diese Dschihadisten also bekommen Angst, wenn Jürgen Todenhöfer an einem
Sprengstoffgürtel herumspielt?
Matthias Richter ist sich sicher, dass „der Jürgen“ gute Absichten
hatte bei ihrer Abreise, dass er wirklich seiner angekündigten
Mission folgen wollte: „die Wahrheit zu finden und den Feind zu
kennen“. Während ihrer Vorbereitungen hatten sie eine lange
Liste angelegt, die für Richter ein Beleg dafür war, dass Todenhöfer wirklich die Wahrheit finden wollte. Auf ihrer Wunschliste
stand: Jesiden interviewen, Gefangene treffen, verschleppte Journalisten sprechen, berühmte Deutsche wie Deso Dogg oder den
britischen Henker Jihadi John sehen. Rumlaufen in Rakka, reden
mit Zivilisten, vielleicht den Kalifen zum Schluss,<Abu Bakr
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al-Baghdadi.
Richter sagt, gleich zu Beginn der Reise habe man ihnen einen dicken deutschen Dschihadisten mit roten Haaren zur Seite gespannt, der, als er noch in Solingen lebte, auf den Namen Christian Emde hörte. Nun jedoch, in seinem zweiten Leben in Rakka,
sei er der deutsche Pressesprecher des IS und heiße Abu Qatadah,
sagte er. Er sagte auch, es sei verboten, bekannte Gesichter des IS
zu treffen, weil die Führung nichts mehr vom „Kult um einzelne
Personen“ halte, zumindest nicht um die, die Jürgen Todenhöfer
sich wünschte als Gesprächspartner. Fortan wich ihnen der Dicke
nicht mehr von der Seite.
Was der Reisegruppe Todenhöfer in den nächsten Tagen geboten
wurde, war eine vom „Islamischen Staat“ durchgeplante PR-Tour,
die allerdings weniger eindrucksvoll war als jene, die zuvor ein
Reporter des amerikanischen Magazins „Vice“ unternommen hatte. Der „Vice“-Reporter hatte keinen dicken Deutschen mit roten
Haaren an den Hacken, er durfte sich, im Sommer 2014, durch
Rakka bewegen und konnte beobachten, wie dort Frauen auf offener Straße gemaßregelt wurden.
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Talkshowgast Todenhöfer
Todenhöfer kommt nicht auf den Gedanken, die PR-Maschine des
IS, in deren Getriebe er gerät, zu beschreiben. Das widerspricht
offenbar der Rolle, die er für sich selbst vorgesehen hat. Er
schreibt: „Bisher haben kein westlicher Journalist und sein Team
den ,Islamischen Staat' lebend verlassen. Warum sollte es bei uns
anders sein?“ An anderer Stelle fragt er: „Journalisten wird doch
sonst der Kopf abgeschnitten. Wieso dürfen wir filmen?“ Drei Seiten weiter: „Für IS-Leute ist das alles neu. Warum können wir
uns so frei bewegen? Bisher kannten sie Westler nur in Gefangenenuniform oder tot.“
Matthias Richter muss lachen, als er das Wort „frei“ vorliest.
Klar, sagt er, habe sich Todenhöfer mal gewehrt, wenn der Ton
zu hart wurde oder ihm die Verbote nicht passten. Ihre Begleiter
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hätten ihnen aber in aller Ruhe gesagt, dass dies die
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sie haben könnten, und entweder nähmen sie die oder es gehe zurück in die Türkei, das sei ihre Entscheidung. „Und der Jürgen hat
das genommen, was er bekam“, sagt Richter, und er bekam Christian Emde alias Abu Qatadah, 24 Stunden, acht Tage.
Emde ist der Prototyp des deutschen Durchschnitts-Dschihadisten: zu Hause gescheitert, aktenkundiges Mitglied einer militanten Zelle irgendwo in NRW, in Deutschland eine Null, in Syrien
immerhin ein Lakai von Terroristen. Figuren wie Emde sind diejenigen, die der IS eigentlich nicht braucht an der Front. Emde sagt
das selbst an einer Stelle des Buches, die Ausländer seien nicht
beliebt, zumindest nicht zum Kämpfen, sie sind gute PR-Gesichter.
Matthias Richter versteht nicht, warum Todenhöfer Emde größer
machte, als er war. Warum er nicht schrieb, was Emde für eine
Wurst war. Einer, der den ganzen Tag Kekse mit flüssiger Schokofüllung aß und schlechte Laune bekam, wenn man von seiner
Cola trinken wollte. Dass er sich in seinen Bungalow sperrte und
sich mit seinem Laptop vorbereitete auf das Interview, das Todenhöfer mit ihm führen wollte, „nervös wie ein Schulkind“ sei
er gewesen, sagt Matthias Richter.
Es ist das Interview, das den jungen Deutschen mit dem roten
Bart weltweit bekannt machte, fast eine Million Klicks auf
YouTube brachte, erfolgreich wie kaum ein anderes IS-Video, das
auf CNN und im deutschen Fernsehen mehrfach ausgestrahlt wurde, immer wieder, wenn Jürgen Todenhöfer dem deutschen Zuschauer von seiner harten Abrechnung mit den Terroristen in Syrien berichtete. In dem Video stehen Todenhöfer und Emde auf
einem Hügel, beide tragen Palästinensertücher um den Kopf, zwei
bewaffnete Kämpfer stehen im Hintergrund. Der Schauplatz ist
gut gewählt. Im Hintergrund die eroberte Stadt Mossul.
Dass Christian Emde auf diesen Hügel von den zwei Kämpfern
geschoben werden musste, weil er zu schwer war, um allein hochzukommen, wird von Todenhöfer nicht erwähnt, <
Richter H
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es so.
Protokollant Richter: „Es ist mehr ein Roman als ein Sachbuch“
In Todenhöfers Werk wird Emde von Seite zu Seite größer. Selbst
scheinbare Belanglosigkeiten, die er erzählt, entfalten mit ihrem
Fortgang bedrohliche Bedeutung. Emde erzählt beispielsweise,
dass sein Bürostuhl zu schmal sei für seine Leibesfülle, mit weit
über hundert Kilogramm. Deswegen habe er sich <
einen Stuhl
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stellt, aus Mossul, aus dem amerikanischen Konsulat.
Todenhöfers Interviews werden zu Abspielflächen islamistischer
Propaganda. Es ist, als sei er vom IS gut gecastet worden für diesen Job, aus Sicht der Terroristen ist er ein idealer Multiplikator:
Seine Facebook-Seite hat mehr als eine halbe Million Likes, er
sitzt seit Jahren in allen deutschen Talkshows, er macht Lesereisen, schreibt Bestseller. Im Buch sagt Christian Emde zu Todenhöfer, er sei eingeladen worden, weil einige seiner Bücher auf
Arabisch erschienen sind.
Todenhöfer redet auf seiner Reise mit IS-Kämpfern, die ihm von
allerlei Heldengeschichten berichten. Einer erzählt, wie sie mit
nicht mehr als 300 Männern die Millionenstadt Mossul erobert
hätten, gegen 24 000 Mann der irakischen Armee. Todenhöfer
fragt ihn: „Warum sind 24 000 vor 300 Mann davongelaufen?“
Ganz einfach, „das ist die Stärke unseres Glaubens“, sagt ihm der
Kämpfer. Es seien nicht die Waffen, es sei Allah, der Allmächtige,
der ihnen immer wieder zum Sieg verhelfe, das gehört zu den
klassischen Mythen der islamischen Geschichte.
Todenhöfer trifft den Polizeichef, der ihm versichert, die Lage in
der Provinz und in ihrer Hauptstadt Mossul sei durch die Präsenz
der IS-Kämpfer und der IS-Polizei ruhig, sicher und stabil geworden. Die Provinz habe in ihrer langen Geschichte noch nie so viel
Frieden erlebt. Nach Jahren der Anarchie könnten die Menschen
endlich wieder beruhigt aus ihren Häusern gehen. Ohne Angst
vor Überfällen oder vor dem Tod. Manchmal vergehe eine ganze
Woche ohne eine einzige Strafanzeige. Dank Allah und der islamischen Polizei. Und wenn sie mal nicht präsent seien auf den
Straßen, dann vermisse sie das Volk.
Todenhöfer trifft, auf einem Pritschenwagen, einen Kämpfer, der
das deutsche Maschinengewehr MG3 bedient, er posiert damit für
die Kamera, nach Aussagen des stolzen Kämpfers stammt es aus
den deutschen Waffenlieferungen an die Peschmerga. Die Kämpfer fragen lachend, ob die Deutschen den Kurden<nicht noch
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Waffen schicken könnten. Und was sie nicht erbeuteten, kauften
sie einfach auf dem Schwarzmarkt. So steht es dann auch in Todenhöfers Buch. Die Szene spielt wenige Monate nachdem die
Lieferung deutscher Waffen beschlossen worden ist. Im Buch sind
diese Waffen allerdings schon bei den Kurden angekommen und
von Islamisten erbeutet worden.
Todenhöfer wird, auf Seite 256, beinahe zum Opfer eines amerikanischen Drohnenangriffs. Er schreibt: „Die Piloten haben uns
längst entdeckt. Als früherer Pilot von Sportmaschinen weiß ich,
wie gut man selbst mit bloßem Auge von oben sieht. Und die da
oben haben modernste Fernsichtgeräte. Uns wird mulmig. Ich
denke an den Satz: ,Wenn du die Rakete hörst, bist du tot.'“
Wenige Absätze später heißt es: „Wir haben ein Gefühl großer
Hilf- und Wehrlosigkeit. Irgend so ein Feigling im Computerraum
eines fernen Landes hat unser Leben in der Hand.“
Autor Todenhöfer mit Islamist Emde: „Wenn du die Rakete hörst, bist du tot“
Todenhöfer scheint den Tod zu spüren, aber nach einer Flucht auf
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einen nahe gelegenen Fußballplatz kehrt er bei Anbruch
der
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kelheit zurück, setzt sich in den Bungalow, über dem die „Todesmaschinen“ kreisen, schaltet die Heizungsventilatoren ein, um
das Geräusch der Drohnen nicht hören zu müssen, und wartet ab,
was passiert. Die Begleiter, die Terroristen, sie seien davongelaufen, schreibt er.
Matthias Richter sagt: „Warum sollten wir uns dort verstecken,
wenn darauf gezielt wird? Wir sind mit unseren Begleitern auf
den Fußballplatz und haben den Zivilisten beim Fußballspielen
zugeguckt.“
Matthias Richter hat sich lange gefragt, warum er selbst als Malcolm so unsichtbar blieb in diesem Buch, warum er verloren ging
auf dieser Reise, als Freund, als Mitreisender, als Protokollant, als
Zeuge.
Erst im letzten Kapitel spielte Richter alias Malcolm dann für Todenhöfer wieder eine relevante Rolle; es ist allerdings eine, die
Matthias Richter nie gespielt haben will.
Im Kapitel X, Nachwort zu Jihadi John, wird Malcolm von seinem
Freund Frederic zu Jürgen Todenhöfer nach Hause bestellt, Wochen nachdem sich Vater und Sohn in ihr Ferienhaus zurückgezogen haben, mit Richters Protokollen, aber ohne Richter.
Sie arbeiten in diesem Ferienhaus an dem Buch, und dabei fällt
ihnen, angeblich, etwas Erschreckendes auf: Der Fahrer, der sie
zehn Tage lang durch das Land des IS chauffierte, soll eine verblüffende Ähnlichkeit mit Jihadi John gehabt haben, dem
schlimmsten Henker des IS. Diese Ähnlichkeit sei ihnen bei der
Ansicht zweier Videos aufgefallen, die es von Jihadi John auf
YouTube gibt.
Im letzten Kapitel heißt es: „Frederic ruft Malcolm an und bittet
ihn, kurz vorbeizukommen. Eine halbe Stunde später spielt er
Malcolm die zwei Videos vor. Ohne ein Wort zu sagen. Malcolm
reißt die Augen weit auf. Immer wieder murmelt er: ,Das gibt's
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doch nicht.' Als es durch ist, schaut er uns völlig verwirrt
an: ,Das>
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kann doch alles nicht wahr sein. Das ist unser Fahrer.' Wortlos
und auch ein wenig ratlos trennen wir uns. Ratlos, weil wir unsicher sind, ob ich in meinem Buch erwähnen soll, dass wir im ,Islamischen Staat' wahrscheinlich jeden Tag mit dem brutalsten Henker der Welt zusammen waren.“
Matthias Richter erinnert sich an den Besuch bei Todenhöfer ganz
anders. Er sagt, sein Freund Frederic habe ihm fünfmal hintereinander dieselbe Frage gestellt: „Guck doch mal, das ist doch unser
Fahrer, Matthias, oder?“ Er habe ihm ein Video von Jihadi John
gezeigt. Matthias Richter habe seinem Freund gesagt: „Das kann
sein, das kann aber auch nicht sein. Hängende Augenlider, lange
Haare, die wollen doch alle aussehen wie Mohammed, was ist
daran besonders?“ Es gibt diese Frage nicht im Buch, im Bestseller.
Unumstritten ist Jürgen Todenhöfer nie gewesen. Nicht, bevor er
in das Gebiet des IS fuhr, schon gar nicht, als er von dort zurückkehrte und darüber ein Buch schrieb, das sich rasend gut verkaufte. Er hat damit neue Bewunderer gefunden, die sagen: Gut, dass
sich einer mal dorthin getraut hat. Zensur hin oder her, wenigstens habe man echte Bilder, wirkliche Erlebnisse. Und Jürgen Todenhöfer hat damit Kritiker auf sich gezogen, die ihm vorwerfen,
er habe sich vor den Karren der Terroristen spannen lassen, er sei
die beste Propagandamaschine, die der IS je bekommen konnte.
Einer davon, mutmaßlich der mit der größten Kompetenz, ist von
nun an Matthias Richter. Dessen Schilderungen, die zu dem vorliegenden Text führten, weist Jürgen Todenhöfer über seinen
Rechtsanwalt kategorisch zurück. Er hat an seinem Buch nichts zu
korrigieren. Allenfalls zu ergänzen.
So habe der Balkon ihrer Wohnung in Rakka neben dem Blick auf
zwei Innenhöfe sehr wohl auch „freie Sicht auf die gegenüberliegende Straße“, auf Dutzende von Balkons und zwischen zwei Gebäuden hindurch auch auf eine etwas weiter entfernte Kreuzung
gewährt. In Bezug auf Jihadi John ergänzt Todenhöfer,
dass
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Was erlebte Jürgen Todenhöfer wirklich im Land des IS? DER S...
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Richter zunächst eine Audiodatei mit dessen Stimme vorgespielt
hätten. Richter habe dazu sinngemäß geäußert, das sei doch der
Fahrer.
Und was Jürgen Todenhöfer über Matthias Richter alias Malcolm
in seinem Buch nicht so detailgetreu erwähnte, das reicht er dem
SPIEGEL jetzt, ebenfalls über seinen Rechtsanwalt, nach. „Zur
Person Ihres Informanten“ will noch gesagt sein: „Seine optischen
wie akustischen Wahrnehmungsmöglichkeiten waren erheblich
eingeschränkt, weil sein bevorzugter Aufenthaltsort, eines beharrlichen Durchfalls wegen, das Klo war.“
So steht Darstellung gegen Darstellung. Jürgen Todenhöfer, das
lässt sich festhalten, hat seinen eigenen, ganz besonderen Blick,
auf die Dinge und die Menschen.
Mail: [email protected], Twitter: @OEZLEM_GEZER
ÜBER DIE AUTORIN
Özlem Gezer, 1981 in Hamburg geboren, studierte Jura, arbeitete für den „Stern“ und
das ZDF in Istanbul, besuchte die Henri-Nannen-Schule und ist seit Januar 2012 beim
SPIEGEL. Neben Aspekten der Zuwanderung aus Südosteuropa beschäftigte Gezer
sich in den vergangenen Jahren vor allem mit dem Thema Islamismus.
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Medienmanager, Publizist, Politiker: die wichtigsten Stationen im Leben
von Jürgen Todenhöfer im Überblick.
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DER SPIEGEL 03/2016
FOTOS: MILOS DJURIC / Der Spiegel; DIETER BAUER / IMAGO;
ULLSTEIN BILD (oben); HORST GALUSCHKA/ IMAGO; STAUFFENBERG / EVENTPRESS (unten);
PICTURE ALLIANCE / DPA (oben); STAUFFENBERG / EVENTPRESS
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