das Krankenhaus 03/2016: Gesundheitspolitik in der EU

3.2016
das
Krankenhaus
Politik
Marc Schreiner
Gesundheitspolitik in der EU und in den Mitgliedsstaaten
Wo ist die Bruchstelle?
D
ie Möglichkeiten der Europäischen Union, wirkliche Gesundheitspolitik zu betreiben, sind begrenzt. Der EUGrundlagenvertrag in seiner aktuell gültigen Fassung, nach
dem Ort der letzten Verhandlungen als „Lissabon-Vertrag“ genannt („... über die Arbeitsweise der Europäischen Union“),
überträgt den supranationalen Institutionen Europäische
Kommission, Europäisches Parlament und dem Ministerrat
nur eingeschränkte Kompetenzen, um die Gesundheit der EUBevölkerung politisch zu regeln.
Gesundheitspolitik – gewollt nur ein kleiner
EU-Kompetenzbereich
Nach dem Lissabon-Vertrag hat die EU insbesondere ergänzende Kompetenzen, um die Mitgliedsstaaten beispielsweise
bei der Bekämpfung grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren oder der allgemeinen Prävention zur Verbesserung der
Gesundheit zu unterstützen. Hierzu soll die EU die Koordinierung der mitgliedsstaatlichen Gesundheitspolitiken unterstützen und den gegenseitigen Erfahrungsaustausch befördern.
Neben diesen ergänzenden Kompetenzen gibt es eine genuine EU-Gesundheitspolitik nur in bestimmten Bereichen.
So können Mindeststandards für die Qualität und Sicherheit
von Organen und Substanzen menschlichen Ursprungs sowie
von Blut und Geweben oder für Arzneimittel und Medizinprodukte erlassen werden. Ihre Gesetzesvorschläge stützt die
Europäische Kommission indes zumeist nicht nur auf den Artikel 168 („Gesundheitswesen“) des Lissabon-Vertrags. Regelmäßig wird zusätzlich die umfassende Kompetenzgrundlage
zur Herstellung eines integrierten Binnenmarkts (Artikel 114)
herangezogen, wie beispielsweise bei der sogenannten EU-Patientenrechte-Richtlinie. Die Durchmischung der Kompetenzgrundlagen zeigt deutlich, dass sich mitgliedsstaatliche Gesundheitskompetenzen und europäische Binnenmarktzuständigkeiten gegenseitig beeinflussen, gar verdrängen können.
Die Vertragsparteien in Lissabon haben versucht, diese
Bruchstelle zu definieren. Danach sollen die Mitgliedsstaaten
für die Organisation ihrer Gesundheitssysteme und der medizinischen Versorgung allein zuständig sein. Die Verantwortung umschließt dabei die Verwaltung und die Finanzierung
der Systeme. Die Verteidigung dieser „roten Linie“ fällt bereits
bei der Diskussion um gesundheitspolitische Initiativen
schwer. Oft werfen die EU-Mitgliedsstaaten der Europäischen
Kommission vor, diese Grenze mit ihren Maßnahmen zur Disposition zu stellen und lehnen einen stärkeren Einfluss der
Staatengemeinschaft auf die Sozial- und Gesundheitspolitik
der Mitglieder strikt ab.
Diese zurückhaltende Position der Mitgliedsstaaten kann
für den engen Bereich der Gesundheitspolitiken vielleicht
noch mit Mühe aufrechterhalten werden. Die Idee der Mitgliedsstaaten, die gesundheitliche Versorgung – und damit
auch die Krankenhausversorgung autark zu gestalten, ist trotz
der schriftlichen Fixierung im Lissabon-Vertrag hinfällig. In
fast allen Politikbereichen haben die Mitgliedsstaaten der EU
weitreichende Gestaltungsmacht übertragen, die davon auch
umfassend Gebrauch macht. So kann die EU – oftmals ohne
die möglichen Auswirkungen auf die Krankenhausversorgung
bedenken zu können – Gesetze erlassen, die sich unmittelbar
auf den Versorgungsalltag und auf die Strukturen der KranX
kenhäuser auswirken können.
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Politik
Einzelmaßnahmen mit Auswirkungen auf
Krankenhäuser
Arbeit
Besonders weitgreifend sind beispielsweise die Auswirkungen
europäischer Arbeitspolitik. So hat die EU zahlreiche Initiativen im Bereich Arbeitsschutz ergriffen. Seither müssen nach
EU-Recht im Umgang mit Risiko-Patienten besondere Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Durch spezielle Schutzvorrichtungen auf Kanülen sollen Krankenhausmitarbeiter vor Blutinfektionen durch Nadelstichverletzungen geschützt werden.
Ausnahmsweise orientierte sich Brüssel dabei weitestgehend
an einer zuvor schon bestehenden Regelung aus Deutschland
(der TRBA 250). Mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie wurde hingegen kräftiger Anpassungsbedarf in den Mitgliedsstaaten fällig.
Mit den Regelungen darf über eine Schwelle von 48 Wochenarbeitsstunden nur auf Basis tarifvertraglicher Einigung hinaus
gearbeitet werden („opt out“) und die Bereitschaftszeit zählt in
Gänze als Arbeitszeit. Durch diese Vorgaben bedingt mussten
allein in deutschen Krankenhäusern rund 30 000 neue Vollzeitstellen besetzt werden. Neben den immensen zusätzlichen
Personalkosten hat diese Regelung vor allem zu einer künstlichen Verknappung des Fachkräfteangebots geführt. Zahlreiche Stellen in Krankenhäusern können nur schwer besetzt
werden, oftmals müssen Fachkräfte aus dem Ausland rekrutiert werden. Bereits zum Ende des Jahres 2015 sollte die Europäische Kommission die aus dem Jahr 2003 stammende Regelung überarbeiten. Doch wird man auch im Jahr 2016 weiterhin vergeblich auf die Gesetzesinitiative warten. Ein solch
heikles Thema könne mit Blick auf den drohenden Austritt von
Großbritannien aus der EU zurzeit nicht angegangen werden.
Und tatsächlich hat die EU-Arbeitszeitrichtlinie im Vereinigten Königreich stets für Verärgerung gesorgt. Großbritannien
pocht sogar auf Ausnahmen und macht diese zur Bedingung
für einen Verbleib in der EU. Auf eine Bewegung in der Debatte um eine Entschärfung der Arbeitszeitregelung werden die
Krankenhäuser daher noch weiter warten müssen. In der Zwischenzeit hat sich die Europäische Kommission dem Fachkräftemangel in der EU gewidmet. In einem großen EU-Projekt
werden derzeit Maßnahmen für grenzüberschreitende Ausbildung und Personalplanung überlegt. Das Dilemma, durch Gesetzte einmal ausgelöste Folgen mit Reformen zu korrigieren,
wird in einer EU, die auf viele verschiedene Interessen Rücksicht nehmen muss, nur zu deutlich.
Berufsanerkennung
Der Binnenmarkt sollte auch durch die Realisierung der Arbeitnehmerfreizügigkeit hergestellt werden. Bürger sollen nahezu barrierefrei ihre Arbeitskraft in anderen EU-Staaten anbieten können. Dazu wurde für eine Reihe von Berufen, unter
ihnen Ärzte, Krankenpflegekräfte und Hebammen, ein System
der automatischen Anerkennung eingeführt. Danach werden
in Deutschland erworbene Berufsqualifikationen im EU-Ausland direkt anerkannt und ermöglichen die leichte Arbeitsauf180
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nahme. Bei der letzten Überarbeitung der sogenannten „EUBerufsanerkennungsrichtlinie“ sollte für Krankenpflegekräfte
eine zwölfjährige allgemeine Schulausbildung vor Aufnahme
der Ausbildung vorausgesetzt werden. Nur mit viel Mühe ist es
gelungen, eine zehnjährige Schulausbildung ebenfalls genügen zu lassen und somit erhebliche Nachwuchsprobleme für
einen Gesundheitsberuf zu vermeiden, bei dem rund die Hälfte der Auszubildenden lediglich zehn Jahre die Schule besucht
hat. Sie hätten die Ausbildung erst gar nicht beginnen dürfen.
Doch auch wenn es gelungen ist, die besonders negative Auswirkung zu vermeiden, wirkt die EU-Richtlinie selbst in die
aktuelle Diskussion zum Pflegeberufsgesetz hinein. Bei der
möglichen Zusammenlegung von Krankenpflege- und Altenpflegekräfteausbildung müssten Kapazitäten geschaffen werden, die allen Auszubildenden eines Jahrgangs theoretische
und praktische Stunden in der Kinderkrankenpflege ermöglichen. Dies ist zwingender Bestandteil der EU-Vorgaben für
die automatische Anerkennung von Berufserlaubnissen für
Krankenpflegekräfte und müsste bei einer Generalisierung der
Pflegekräfteausbildung auch von Altenpflegekräften durchlaufen werden. Zurzeit sucht die Politik nach Lösungen. Ungeachtet dieser aktuellen Debatte wurde jetzt, im Februar 2016, EUweit ein System eines elektronischen Berufsausweises für
Ärzte, Krankenpflegekräfte, Physiotherapeuten und Apothekern eingeführt. Dabei handelt es sich um ein elektronisches
Verfahren, das alle Nachweise als Grundlage für die OnlineBeantragung der automatischen Anerkennung ermöglicht. Zugleich dient es auch als Warnmechanismus für den Fall, dass
einer Fachkraft die Ausübung ihres Berufs im Herkunftsland
verboten worden ist oder sonstige Beschränkungen bestehen.
Krankenhäuser sollten diese Entwicklung nun in ihrer Personalverwaltung berücksichtigen können.
Weitere Maßnahmen und Vorgaben
Mit der EU-Datenschutzgrundverordnung wird die Übermittlung von gesundheitsbezogenen persönlichen Daten umfassend geregelt und Anforderungen an die Einwilligung der
Patienten zur Datenübertragung definiert. Zurzeit überlegt die
Europäische Kommission, wie man den Elektrizitätsmarkt in
Spitzennachfragezeiten stabilisieren kann, indem man alle
verfügbaren Stromproduzenten zur Energieeinspeisung verpflichtet. Expressis verbis sind auch Krankenhäuser mit ihren
Notstromaggregaten in die Überlegungen einbezogen. Die Ergebnisse einer zurzeit laufenden öffentlichen Konsultation will
die Brüsseler Behörde vor Ergreifen möglicher Maßnahmen
zum Ende des Jahres berücksichtigen.
Nach den überarbeiteten Regeln einer EU-Flugsicherheitsverordnung stand der Betrieb von Hubschrauberlandeplätzen an deutschen Krankenhäusern auf der Kippe. Nur
durch Verhandlungen mit der Bundesregierung konnte die
weitere Nutzung zunächst gesichert werden, wird aber nach
kurzer Beobachtungsfrist wahrscheinlich erneut zu diskutieren sein.
Beispielhaft sei die noch final zu beschließende Netzwerkund Informationssicherheitsrichtlinie genannt, die inhaltlich
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vergleichbar ist mit dem gerade verabschiedeten IT-Sicherheitsgesetz der Bundesregierung. Danach sollen gesellschaftsrelevante Infrastrukturen wie Krankenhäuser beispielsweise
vor terroristischen Attacken oder Cyber-Angriffen besser geschützt werden. Investitionen in Hardware- und Software-Infrastrukturen werden notwendig sein. Relevant sind auch die
unter Wettbewerbsrecht einzuordnenden Entwicklungen. Gestützt auf das sogenannte Monti-Paket der EU über die Rechtmäßigkeit von Beihilfen, wird derzeit der Ausgleich eines in
einem Calwer Krankenhaus entstandenen Defizits durch den
dortigen Landkreis auf seine Rechtmäßigkeit hin gerichtlich
überprüft.
Nach den EU-rechtlichen Vorgaben zum Zahlungsverzug
geraten auch Krankenhäuser nach einer verstrichenen Zahlungsfrist von 30 Tagen automatisch in Verzug und müssen
neben zusätzlichen Strafzinsen auch eine pauschale Beitreibungsaufwendung in Kauf nehmen.
Generelle Entwicklungen wirken auch im
Kleinen
Neben diesen Beispielen für Einzelmaßnahmen aus anderen
Politikbereichen außer Gesundheitspolitik und ihren Auswirkungen auf die Krankenhäuser gibt es auch noch generelle
Entwicklungen, die die Kompetenzverteilung im Bereich Gesundheitspolitik zwischen Mitgliedsstaaten und EU nachhaltig
verschieben können.
Hier sind die zurzeit verhandelten Freihandelsabkommen,
zum Beispiel der EU mit den USA, zu nennen. Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (Transatlantic
Trade and Investment Partnership TTIP) wird sich möglicherweise auf die Zulassung von Medikalprodukten oder Arzneien
auf dem europäischen Markt auswirken. Grundsätzlich besteht
zurzeit auch die theoretische Möglichkeit, dass Entscheidungen der Gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen oder Krankenhausplanungsentscheidungen der Bundesländer auf Antrag ausländischer Marktteilnehmer vor
einem speziellen Schiedsgericht überprüft werden können.
Auch wenn der Abschluss eines solchen Handelsabkommens
als nicht wahrscheinlich gilt, werden die Verhandlungen genau
beobachtet werden müssen.
Von eher allgemeinem Charakter ist auch das Europäische
Semester, nachdem EU-Mitgliedsstaaten sich ihre Haushalte
vorab von der Europäischen Kommission genehmigen lassen
sollen und deren Einhaltung durch die Brüsseler Behörde evaluiert wird. Diese kann Mitgliedsstaaten auch Empfehlungen
geben. Für Deutschland empfahl die Europäische Kommission
unlängst im Bereich der Gesundheitspolitik, die Kosteneffizienz der öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen
und Pflege zu verbessern. Die Europäische Kommission hat
damit versucht, mit einem fiskalpolitischen Instrument die in
Lissabon vertraglich abgesicherte Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für Verwaltung und Finanzierung ihrer Gesundheitssysteme zu beeinflussen.
Letztlich hat auch die Arbeitsweise der Institutionen Auswirkung auf die Kompetenzverteilung zwischen EU und Mit-
Politik
gliedsstaaten und damit letztlich auch darauf, wer über die
Ausgestaltung der Gesundheitssysteme bestimmt. So ist es
mittlerweile üblich in Brüssel und Straßburg, dass Gesetze
in einem einzigen Durchgang abgestimmt werden. Dazu
werden Kompromisse zwischen Europäischem Parlament,
dem Rat und der Europäischen Kommission im sogenannten Trilog von nur wenigen Beteiligten verabredet und danach von den Institutionen in der Regel offiziell so verabschiedet. Dies verkürzt Einflussmöglichkeiten für alle Beteiligten und kann dazu beitragen, dass notwendige Kompetenzfragen nicht gestellt werden. Zum anderen mandatiert
der Europäische Gesetzgeber seit einiger Zeit in geradezu
inflationärem Ausmaß spezielle Gremien mit der Festlegung
von vermeintlichen Detailfragen in sogenannten delegierten
Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten. Unter der Federführung der Europäischen Kommission erarbeiten Experten Regelungen, die die Regelungen aus Verordnungen oder
Richtlinien in die Praxis umsetzen sollen. Dabei geht es allerdings oft auch um Fragen, die in ihrer strukturellen und
kompetenzrechtlichen Tragweite zum Zeitpunkt der Mandatierung nicht richtig eingeschätzt werden konnten, beispielsweise bei der Zulassung von Europäischen Referenzkrankenhäusern durch EU-Gremien an der Planungskompetenz der
Bundesländer vorbei. Letztlich wird damit die Bruchstelle
der gesundheitspolitischen Kompetenz auch auf dieser Ebene ständig mit verhandelt.
Die gesundheitspolitische Kompetenz der EU ist gewollt
beschränkt worden und diese Entscheidung grundlagenvertraglich dokumentiert. Der Krankenhausalltag wird jedoch
durch eine fast unerschöpfliche Reihe von Maßnahmen aus
allen anderen Politikbereichen teils erheblich und strukturell
mit gestaltet. Die eigentlich vorgesehene Zuständigkeit der
Mitgliedsstaaten für die Organisation und Finanzierung ihrer
Gesundheitssysteme gerät somit ganz legitim unter Druck.
Verstärkt wird diese Vermischung unterschiedlicher Zuständigkeiten durch die aktuelle Art und Weise, mit der die Abstimmungsprozesse gestaltet werden. Krankenhäuser werden daher auch in Zukunft ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf Gesundheitspolitik beschränken, sondern umfassend die Brüsseler Politik beachten müssen.
Anschrift des Verfassers
RA Marc Schreiner, LL.M., Leiter EU-Politik/Internationale Beziehungen, Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V., Wegelystr. 3,
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