Das Christ-Siemens-Touraine-Syndrom DAS CHRIST-SIEMENSTOURAINE-SYNDROM Klinik, Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle einer Hypodontie bei ektodermaler Dysplasie ELISABETH PARSCHÉ*, WALTHER A. WEGSCHEIDER*, FRANK WEILAND**, GERWIN ARNETZL*, AGNES WALTER* und RUDOLF O. BRATSCHKO* * Abteilung für Prothetik, Restaurative Zahnheilkunde und Parodontologie ** Abteilung für Kieferorthopädie der Universitätsklinik für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Graz (Text français voir page 134) Das Christ-Siemens-Touraine-Syndrom beschreibt eine Reihe von Störungen der Abkömmlinge ektodermalen Gewebes, die immer mit fehlenden Zahnanlagen verbunden sind. Eine ausgeprägte Hypodontie bei ektodermaler Dysplasie wird vorgestellt und Therapie sowie Verlaufskontrolle über 7 Jahre und Procedere werden beschrieben und diskutiert. Dabei wird besonders auf die Problematik des Wachstums von Kieferknochen und Kiefergelenken beim teil- und totalprothetisch versorgten Kind und Jugendlichen eingegangen. Schlüsselwörter: Anhidrotische ektodermale Dysplasie, Hypodontie, Christ-Siemens-Touraine Syndrom, Jugendlichenbehandlung Einleitung Das Christ-Siemens-Touraine-Syndrom, eine Manifestationsform der ektodermalen Dysplasie, ist charakterisiert durch eine Systemdysplasie von – vorwiegend, wenn auch nicht ausschliesslich – Abkömmlingen des ektodermalen Gewebes. Betroffen sind speziell die Zähne, die Haut und die Hautanhangsgebilde (Haare, Schweissdrüsen, Talgdrüsen und Nägel). Als Kernsymptome finden sich mehr oder weniger stark ausgeprägt Hypohidrose, Hypotrichose und Hypodontie (PARSCHÉ et al. 1990) (Tab. I). Dermatologischerseits zeigt sich eine trockene, schuppige, oft ekzematöse Haut, bedingt durch eine verminderte oder fehlende Anlage von Schweiss- und Talgdrüsen (an-, hypohidrotische Form). Dadurch kommt es zu einer verminderten Schweisssekretion mit konsekutiven Störungen der Wärmeregulation. Diese manifestieren sich bereits im frühen Säuglingsalter in Form von rezidivierenden Fieberschüben «unerklärlicher Ursache» und können durch Wärmestauung zu lebensbedrohlichen Korrespondenzadresse: OÄ Dr. Elisabeth Parsché, Abteilung für Prothetik, Restaurative Zahnheilkunde und Parodontologie, Universitätsklinik für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Auenbruggerplatz 12, A-8036 Graz, Österreich Zuständen bis hin zum «plötzlichen unerklärlichen Kindstod» (UTHOFF 1989) führen. Durch eine verminderte Anlage der Schleimdrüsen im Bronchopulmonalbereich kommt es zu rezidivierenden respiratorischen Infekten, atrophische Schleimhautprozesse in der Nase führen zu einer Störung von Geschmacks- und Geruchssinn. Weiters findet man ein Fehlen der Lanugobehaarung sowie Nageldys- bzw. aplasien (Tab. II). Typisch sind besondere äussere Merkmale im Bereich des Schädels: tief angesetzte, abstehende Ohren, eine Hypoplasie der Wimpern und Augenbrauen, eine periorbitale Fältelung und Pigmentierung der Haut, Stirnhöcker, Sattelnase und dünnes, depigmentiertes, gekraustes Haupthaar (HUBER et al. 1967, NIEDERLE 1971, BORKENSTEIN et al. 1983) (Tab. III). Andere Symptome wie Hornhautdystrophie, Katarakt, Irisdysplasie, Glaukom, Optikusatrophie, Pigmentdegeneration der Netzhaut, Blepharophimose, Mikrophthalmie, Alakrimie, Ohrmuscheldysplasien, Taubheit, Hyposmie, Hyposialie, Hypogeusie, Dysphalangien (Oligooder Polydaktylie), LKG-Spalten, Kyphoskoliose oder reduzierte Intelligenz sind seltener bzw. anderen Formen der ektodermalen Dysplasie zuzuordnen (LEIBER & OLBRICH 1966) (Tab. II). Das Erscheinungsbild ist familiär erblich. Die Vererbung erfolgt x-chromosomal-rezessiv, aber auch autosomaldominant oder -rezessiv, wobei die Träger meist milde, primär unauffällige Zeichen des Vollbildes aufweisen. Die Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol. 108: 2/1998 127 Praxis – Fortbildung Möglichkeit der Entwicklung dieser Dysplasie im Gefolge einer Embryopathie (chemisch, thermisch, Röntgen, Viren) sollte ebenfalls in Betracht gezogen werden (NIEDERLE 1971, TUFFLI 1983). Das Verteilungsmuster der Hypodontie zeigt, dass am häufigsten die 6-Jahres-Molaren im Oberkiefer und die oberen mittleren Incisivi angelegt sind, im Milchgebiss sind es die oberen ersten Schneidezähne, die oberen Canini und die oberen zweiten Molaren. Die Zähne, die am häufigsten fehlen, sind die oberen ersten Prämolaren und die unteren Frontzähne, im Milchgebiss die oberen und unteren zweiten Schneidezähne sowie die oberen und unteren ersten Molaren (FRAYSSE et al. 1987, TSO et al. 1985) (Abb.1). Daneben kommt es auch zu Schmelz- und Zahndysplasien, meist in Form von Zapfenzähnen, sowie zu Dentitionsstörungen mit verspätetem Durchbruch von Milch- und bleibenden Zähnen (FRAYSSE et al. 1987, TSO et al. 1985). Der anodonte Kiefer bildet keinen Processus alveolaris aus, so bleibt das Höhenwachstum des Kiefers im Vergleich zum Basiswachstum zurück, und es resultiert daraus eine prominente Kinnpartie (HUBER et al. 1967) (Tab. IV). Tab. I Kernsymptome – Hypohidrose – Hypotrichose – Hypodontie Tab. II – trockene, schuppige, ekzematöse Haut – Störungen der Wärmeregulation – häufig respiratorische Infekte – Störung von Geschmacks- und Geruchssinn – Fehlen der Lanugobehaarung – Nageldysplasien – Hornhautdystrophie – Katarakt – Irisdysplasie – Glaukom – Optikusatrophie – Netzhautdegeneration – Blepharophimose – Mikrophthalmie – Alakrimie – Ohrmuscheldysplasien – Taubheit – Hyposmie – Hyposialie – Hypogeusie – Dysphalangie – LKG-Spalten – Kyphoskoliose – Minderwuchs – Red. Intelligenz Bleibendes Gebiss R OK L R OK L R UK L R UK L Zähne, die am häufigsten angelegt sind Zähne, die am häufigsten fehlen Abb. 1 Verteilungsmuster der Hypodontie im Milch- und im bleibenden Gebiss Fig. 1 Hypodontie de la denture de lait et définitive Typische Facies – tief angesetzte abstehende Ohren – Hypoplasie der Wimpern und Augenbrauen – dünnes, depigmentiertes, gekraustes Haupthaar – periorbitale Pigmentierung der Haut – Wulstlippen – Sattelnase – Stirnhöcker Auch unser Patient wurde im Alter von einem Jahr wegen auffallender Unruhezustände bei höheren Temperaturen, Gedeihstörung und chronisch-respiratorischen Infekten an der Universitäts-Kinderklinik Graz aufgenommen, wo eine hypohidrotische ektodermale Dysplasie diagnostiziert wurde. Am Schädelröntgen fiel bereits damals das Fehlen von Milchzahnkeimen und Anlagen bleibender Zähne auf. Der Durchbruch von 51 und 61 erfolgte im Alter von zwei Jahren, 53 und 63 brachen mit vier Jahren durch. Dentale Anomalien – Hypodontie – Schmelzdysplasien – Zahndysplasien (Zapfenzähne) – Dentitionsstörungen – Kieferkammaplasien 128 Anamnese Der kleine Patient ist das einzige Kind seiner Eltern. Durch eine molekulargenetische Untersuchung (indirekte Genotypanalyse), die durch das genetische Institut der Universität Graz veranlasst wurde, konnte der Konduktorinnen-Status der Mutter, einer Tante und der Grossmutter des Patienten verifiziert werden. Ein Bruder der Mutter ist im Alter von zwei Wochen an einer Temperaturentgleisung verstorben. Häufige und seltenere Symptome seltene Symtome Tab. IV Hauptanliegen Ein fünfjähriger Bub mit einer ektodermalen Dysplasie wurde von der Grazer Universitäts-Kinderklinik an die Abteilung für Prothetik, Restaurative Zahnheilkunde und Parodontologie der Universitäts-Zahnklinik Graz zur Versorgung seiner ausgeprägten Hypodontie überwiesen. Hauptanliegen des kleinen Patienten und seiner Eltern war es, im Interesse der Förderung der Kau- und Sprechfunktion und vor allem für die Integration und Akzeptanz des Knaben in der Gruppe möglichst frühzeitig mit der prothetischen Behandlung zu beginnen. Milchgebiss Häufige Symptome Tab. III Fallbeschreibung Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol. 108: 2/1998 Erstbefund Extraoral: Klinisch ist das Kind von kleinem Wuchs, normaler Intelligenz und zeigt den typischen äusserlichen Aspekt. Auffallend ist besonders die Prominenz des Kinns bei relativer bimaxillärer Mikrognathie mit Wulstlippen und ausgeprägter Mentolabialfalte. Das Christ-Siemens-Touraine-Syndrom Enoral: Bei der Erstinspektion finden sich im OberkieferFrontbereich vier spitze, kleine, hell gefärbte Milchzähne mit breiten Diastemen, die als zwei Incisivi und zwei Canini bezeichnet werden können, der Oberkieferseitenzahnbereich ist unbezahnt, das Kieferkammwachstum zurückgeblieben (Abb. 2). Der Unterkiefer ist vollkommen zahnlos, der Kieferkamm nur gering ausgebildet (Abb. 3). Röntgen: Das Orthopantomogramm zeigt im Oberkiefer vier gleichmässig über die Front verteilte Milchzähne, sowie die vier Keime der dazugehörigen bleibenden Zähne. Im Oberkieferseitenzahnbereich sowie im gesamten Unterkiefer sind weder Milchzähne noch Anlagen bleibender Zähne zu erkennen (Abb. 4). Im weiteren Verlauf kam es zum Durchbruch der beiden bleibenden Incisivi im Oberkiefer, die beiden bleibenden Canini sind bis zum heutigen Tag bei persistierenden Milchzähnen impaktiert (Abb. 5 und 6). Abb. 2 Der hypodonte Oberkiefer mit vier Zapfenzähnen und breiten Diastemen Fig. 2 cées Maxillaire supérieur avec quatre dents coniques, très espa- Diagnose Die Grunddiagnose Christ-Siemens-Touraine-Syndrom wurde an der Universitäts-Kinderklinik Graz gestellt, als der Patient ein Jahr alt war. Zahnärztlicherseits liegt eine vollkommene Anodontie im Unterkiefer und eine ausgeprägte Hypodontie im Oberkiefer vor. An den unbezahnten Kieferabschnitten findet sich ein Ausbleiben der Alveolarfortsatzbildung, die beiden Kiefer sind hypognath. Behandlungsablauf Therapeutisch empfiehlt sich die möglichst frühzeitige prothetische Versorgung – also ab dem vierten Lebensjahr –, um ein effizientes Kauen und ein verständliches Sprechen zu ermöglichen. Psychologisch von besonderer Bedeutung ist die Herstellung einer guten Ästhetik, da der Patient erst dann von seiner Umgebung akzeptiert und in diese voll integriert wird (TSCHERNITSCHEK 1994, UTHOFF 1989). Erste Versorgung: Unser Patient wurde im Alter von fünf Jahren erstmals prothetisch versorgt: Im Oberkiefer wurden die vier Frontzähne unverändert belassen und eine Coverdenture angefertigt. Die Abformung zur Herstellung des Meistermodells erfolgte mittels eines gummielastischen Abformmaterials (Polysulfid), die über die Eigenbezahnung gezogene Kunststoffplatte musste im Bereich der Canini perforiert werden, um die passende Vertikaldimension zu erreichen. Im Unterkiefer ist nur eine totalprothetische Versorgung möglich, die in typischer Weise hergestellt wurde. Die Bissnahme erfolgte in zentrierter Kondylenposition, die Okklusion wurde jedoch auf eine weiter anterior gelegene Position eingestellt, die im Artikulator durch Protrusion simuliert werden kann. Dadurch soll sich ein funktionskieferorthopädischer Effekt mit Anregung des Unterkieferwachstums ergeben (TEUSCHER 1988). Die Vertikaldimension wurde dabei möglichst hoch gehalten, um das drohende Absinken zu verhindern und die durch die Protrusion entstandene progene Seitenansicht auszugleichen, was im Fernröntgen deutlich ersichtlich ist (Abb. 7 und 8). Decurs Das Kind kommt mit dem Zahnersatz ausgezeichnet zurecht und wird von seiner Umgebung voll akzeptiert. Nach 11/2 Jahren zeigen sich bei halbjährlichen Kontrollen keinerlei Veränderungen. Der kleine Patient trägt den Zahnersatz nur tagsüber, um das natürliche Wachstum der Alveolarfortsätze nicht zu behindern. Die Ernährung ist problemlos, die Eigenbezahnung durch gute Hygiene kariesfrei. Zweite Versorgung: Nach zwei Jahren ist die Vertikaldimension deutlich zu niedrig – Sprechabstand ca. 5 mm Abb. 3 Klinischer Befund des anodonten Unterkiefers Fig. 3 Situation clinique du maxillaire inférieur édenté Abb. 4 Das erste Orthopantomogramm zeigt im Oberkiefer die vier Frontmilchzähne mit den Keimen der bleibenden ersten Incisivi und Canini, der Unterkiefer ist schmal, bei völligem Fehlen jeglicher Zahnanlage. Fig. 4 Le premier OPG montre au maxillaire supérieur les quatre dents de lait avec les germes des premières incisives et canines définitives; la mandibule est mince vu l’absence de structures dentaires. – und die Bisssituation durch eine Vorverlagerung des Unterkiefers verändert. Es wird die Anfertigung einer neuen zweiten Versorgung notwendig. Obwohl der Patient subjektiv keinerlei Probleme mit seinen Prothesen angibt, zeigen der Vergleich der neuen mit der alten Versorgung sowie auch die Überzeichnung der Ausgangssituation mit der aktuellen Situation im Fernröntgen, dass doch ein beträchtliches Wachstum der Kiefer in der Zwischenzeit stattgefunden hat (Abb. 9 und 10). Die Bissnahme erfolgt in zentraler Relation, remontiert werden die Prothesen jeSchweiz Monatsschr Zahnmed, Vol. 108: 2/1998 129 Praxis – Fortbildung Abb. 5 Das aktuelle Orthopantomogramm: Nach dem Durchbruch der bleibenden Incisivi finden sich im Oberkiefer zwei querliegende, impaktierte, bleibende Eckzähne, die Wurzeln der dazugehörigen Milchzähne sind noch voll ausgebildet, die unbezahnten Kieferkammabschnitte hochgradig atrophiert. Fig. 5 L’OPG. Après l’éruption des incisives définitives, on remarque la présence de deux canines définitives «encombrées» par les racines des dents de lait correspondantes, encore très bien formées; le segment édenté est nettement atrophique. Aktueller Befund Exoral: Heute ist der Patient 12 Jahre alt, er ist ein fröhliches, aufgewecktes Kind, er ist intelligent, er ist ein guter Schüler und kommt mit seiner prothetischen Versorgung gut zurecht (Abb. 11 und 12). Äusserlich fällt seine Erkrankung sowohl en face als auch en profil kaum mehr auf. Enoral finden sich im Oberkiefer zwei bleibende Incisivi und die beiden persistierenden, noch vollkommen festen Milcheckzähne, an denen eine sehr dünne Schmelzschicht und eine geringfügige Zahnhalskaries zu erkennen sind. Der schwerwiegendste Befund ist sicherlich das Ausbleiben der Alveolarfortsatzbildung im Bereich der unbezahnten Kieferkammabschnitte. Klinisch: In der klinischen Funktionsanalyse finden wir Zeichen der Parafunktion – Schliffacetten, eine diskoordinierte Mundöffnung sowie schmerzhafte Muskeldruckpunkte. Der auffallendste Befund ist eine massive subklinische Hypermobilität, der Kompressionstest ist leicht muskelpositiv und ebenfalls gibt der Patient eine leichte Druckschmerzhaftigkeit der Kiefergelenke an, wobei er sehr empfindlich ist und nicht genau zu verifizieren ist, ob dieser Schmerz wirklich besteht. Röntgen Im aktuellen Orthopantomogramm zeigen sich im Oberkiefer zwei querliegende, impaktierte bleibende Eckzähne, die Wurzeln der dazugehörigen persistierenden Milchzähne sind noch voll ausgebildet. Auch hier ist das extreme Ausbleiben des Kieferkammwachstums und die geringe Knochenhöhe der Mandibularkörper zu sehen (Abb. 5). Im jüngsten Fernröntgen sieht man – ähnlich der Ausgangssituation (Abb. 7) – den aufrotierten und nach vorne gezogenen Unterkiefer sowie die wesentliche Verbesserung des Profils (Abb. 8), das Oberkieferwachstum hat etwas geringer dazu stattgefunden, es können jedoch beide Kiefer als orthognath bezeichnet werden, die Wachstumstendenz ist horizontal (Abb. 9). In der Überzeichnung mit und ohne Prothese fällt auf, dass der Höhenunterschied nicht mehr so gross ist wie zu Beginn der Behandlung, es hat also durch die Hebung der Vertikaldimension auch die unbewusste Abstandhaltung zugenommen. Abb. 6 Die aktuelle Situation im Oberkiefer-Aufbissröntgen. Die beiden impaktierten Eckzähne sollen kieferorthopädisch an die bleibenden Milchincisivi angereiht werden. Fig. 6 Situation actuelle sur une radiographie supérieure. Les deux canines devraient orthodontiquement être amenées à la place des dents de lait. doch in Kopfbissstellung und die Okklusion in dieser protrusiven Position eingestellt, was wiederum einen funktionskieferorthopädischen Effekt auf das Unterkieferwachstum bewirken soll. In der weiteren Folge kommt es zum Zahnwechsel, die beiden mittleren Milchincisivi gehen verloren, die bleibenden brechen durch. In dieser Zeit wird die Prothese laufend ausgeschliffen. Dritte Versorgung: Nach dem Ende des Zahndurchbruchs wird die Herstellung einer dritten Versorgung notwendig. Hierbei wird nach denselben Kriterien wie bisher – Hebung der Vertikaldimension, Protrusion und Ausformung des Profils – vorgegangen. Durch die Hebung der Vertikaldimension wird das Kinn nach unten und hinten rotiert, welcher Effekt durch die Protrusion wieder ausgeglichen wird. 130 Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol. 108: 2/1998 Abb. 7 Fernröntgen – Ausgangssituation: Durch Hebung der Vertikaldimension kommt es zu einer ästhetischen Verbesserung des Profils sowie durch Protrusion des Unterkiefers zur Anregung des Unterkieferwachstums (–––––– ohne Prothese, - - - - - - mit Prothese). Fig. 7 Radiographies à distance. L’augmentation de la hauteur verticale améliore le profil et la protusion de la mandibule la croissance du maxillaire (–––– sans prothèses, - - - - - avec prothèses). Das Christ-Siemens-Touraine-Syndrom Abb. 8 a, b Auch das aktuelle Fernröntgen ohne (a) und mit (b) Prothese zeigt den nach vorne gezogenen und aufrotierten Unterkiefer und die damit verbundene deutliche Verbesserung desProfils. Fig. 8a, b La radiographie actuelle avec ou sans prothèses montre la correction du profil par le mouvement d’avancement et de rotation du maxillaire iinférieur. Im Funktionsorthopantomogramm zeigt sich die Hypermobilität und die Beweglichkeit des Kondylus über die Eminentia artikularis hinaus sowie die nach vorne gezogenen Kondylen auf dem Bild ohne Prothese, welcher Effekt mit Prothese noch verstärkt wird. Ein Bild, das für eine funktionskieferorthopädische Therapie als durchwegs normal zu bezeichnen ist (Abb. 13). Prognose Mit zunehmendem Alter verschieben sich die Grössenverhältnisse zwischen Nase und übrigen Gesichtspartien immer mehr zuungunsten der Nase. Die Nasenwurzel wirkt eingesunken, bedingt durch das Vorstehen der Stirne, die Lippen werden immer wulstiger, das Kinn springt immer weiter vor. Die Prognose quo ad vitam ist gut. Die Patienten erreichen im allgemeinen eine normale Körpergrösse, sind voll berufsfähig und haben eine normale Lebenserwartung (HUBER et al. 1967). Abb. 9 Das Oberkieferwachstum ist im Vergleich zum Unterkiefer etwas zurückgeblieben, es können aber beide Kiefer als orthognath bezeichnet werden (––––– Ausgangsbefund, - - - - - - aktueller Befund). Fig. 9 Comme le maxillaire supérieur a connu, en comparaison avec le maxillaire inférieur, un retard de croissance, les deux maxillaires sont décrits comme orthognates (––––– situatuon du début, - - - - - situation actuelle) Procedere Vierte Versorgung: Vor allem wegen der klinisch-funktionsanalytischen Befunde, die auf Parafunktionen schliessen lassen, ist die Anfertigung einer neuen, nun vierten Versorgung dringend notwendig geworden. Dabei wird die Hebung der Vertikaldimension nicht mehr im Vordergrund stehen, man wird vielmehr grössten Wert auf eine gute Front-Eckzahn-Führung legen, um die Parafunktion Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol. 108: 2/1998 131 Praxis – Fortbildung hintanzuhalten, sowie, altersentsprechend, die funktionskieferorthopädische Therapie beenden und eine zentrale Okklusion herstellen. Zusätzlich ist geplant, die beiden querliegenden bleibenden Canini chirurgisch freizulegen und kieferorthopädisch hinter die beiden persistierenden Milchincisivi, deren Wurzeln noch sehr schön ausgebildet sind, zu stellen (Abb. 6). Nach Ende des Wachstums ist im Oberkiefer ein kombiniert festsitzend-abnehmbarer Zahnersatz geplant, im Unterkiefer soll eine Kieferkammplastik mit abschliessender totalprothetischer Versorgung durchgeführt werden. Bei entsprechender Knochenentwicklung ist im Unterkiefer auch eine implantatprothetische Lösung in Erwägung zu ziehen. Bis dahin wird weiterhin ein halbjährliches Recall durchgeführt, um die derzeitige Versorgung bei Bedarf zu erneuern. Fig. 10 Même si le patient ne présente pas de problème dans le port de ses prothèses, la comparaison entre les derniers appareils et les précédents montre qu’il y a eu pendant ce laps de temps une croissance de l’os. Abb. 11 a, b Der Patient ohne und mit Prothesen en face Fig. 11a, b Le patient sans prothèses et avec, de face Abb. 12a, b Der Patient ohne und mit Prothesen, Profilansicht Fig. 12a, b Le patient sans prothèses et avec, de profil Abb. 13 Im Funktionsorthopantomogramm ohne (a) und mit (b) Prothese stellen sich die Hypermobilität sowie die nach vorne gezogenen Kondylen dar, welcher Effekt auf dem Bild mit Prothese (b) noch verstärkt ist. 132 Abb. 10 Obwohl der Patient subjektiv keinerlei Probleme mit seinen Prothesen angibt, zeigt der Vergleich der neuen mit der alten Versorgung, dass doch ein beträchtliches Kieferwachstum in der Zwischenzeit stattgefunden hat. Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol. 108: 2/1998 Fig. 13 Sur l’orthopantomogramme fonctionnel avec (a) et sans (b) prothèses, on note l’hypermobilité ainsi que la position avancée des condyles, effet que l’on observe bien sur l’image avec prothèses (b). Das Christ-Siemens-Touraine-Syndrom Diskussion Die Hypodontie ist ein Kernsymptom der in vielen Formen auftretenden ektodermalen Dysplasien. Eine prothetische Versorgung sollte so früh wie möglich, spätestens jedoch ab dem vierten Lebensjahr erfolgen. Dies soll sowohl die soziale Integration fördern, als auch zur wesentlichen Verbesserung der Kaufähigkeit führen. Daneben muss der Zahnersatz unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung der meist spärlich vorhandenen Eigenbezahnung und Erhaltung bzw. Hebung der Vertikaldimension angefertigt werden. Letzteres dient der ästhetischen Verbesserung des Profils und der Frontalansicht, da auf diese Weise die Untergesichtshöhe dem Normalen angenähert, die progene Seitenansicht verbessert und der Eindruck der Wulstlippen und Sattelnase vermindert wird. Durch die damit verbundene Entlastung der Kiefergelenkskörper kann das mandibuläre Wachstum unbehindert in späteren Jahren stattfinden. In unserem Fall kam es auch zu einem annähernd normgerechten Wachstum des Oberkiefers, obwohl hier keine wachstumsfördernden Massnahmen gesetzt wurden. Möglicherweise war der wachsende Unterkiefer in der Lage, den Oberkiefer mitzunehmen. Auch die Tatsache, dass die Prothesen nachts nicht getragen wurden, scheint sich auf das Kieferwachstum positiv ausgewirkt zu haben, ebenso wie die häufige Neuanfertigung des Zahnersatzes (durchschnittlich in 2-Jahres-Abständen). Ob dies einen nachweisbaren Einfluss hat, muss nach unserem jetzigen Wissensstand allerdings dahingestellt bleiben. Zusätzlich muss man bei dem prothetisch versorgten Kind leider auch mit der Hemmung des Wachstuns der Kieferkämme rechnen, welche von den Prothesen bedeckt sind. Diesen Effekt konnten wir auch bei unserem Patienten beobachten. Ob dieser Effekt primär durch das Fehlen der Zahnkeime oder primär durch die Prothese auftritt, kann jedoch nur schwer beurteilt werden. Möglicherweise sind aber auch dafür eher genetische als mechanische Faktoren ausschlaggebend, da auch Fälle mit gut ausgebildetem Kieferkamm beschrieben sind (HUBER et al. 1967). Eine kieferorthopädische Lösung des Problems scheint problematisch, da die Anwendung von herkömmlichen kieferorthopädischen Methoden wegen der geringen Zahnzahl schwierig ist. Dennoch werden wir versuchen, durch Anreihen der beiden impaktierten Eckzähne die Ausgangssituation für eine spätere teleskopgetragene Lösung zu verbessern. Nach Beendigung des Wachstums werden wir bei diesem Patienten jedoch auch eine implantatgetragene Versorgung in Erwägung ziehen, vorausgesetzt, es wird während des Wachstums genug Kieferbasisknochen gebildet. Über den weiteren Verlauf wird zu gegebener Zeit berichtet werden. Literatur BORKENSTEIN M, MUNTEAN W, MILEDER P: You make the diagnosis: hypohydrotic ectodermal dysplasie. Padiatr Padol 18 (2): 187–189 (1983) FRAYSSE E, FRAYSSE H, SEBAG F, DAMERY C, BARNIER G, PERRIER D’ARC G: Christ-Siemens-Touraine-Syndrom. Therapeutic case review. Rev Stomatol Chir Maxillofac 88 (3): 185–189 (1987) HUBER E G, VANUVA H, ZENKER C H: Kongenitale anhidrotische Ektodermaldysplasie. Padiatr Padol 3: 59–70 (1967) LEIBER B, OLBRICH G: Wörterbuch der klinischen Syndrome, 4. Aufl. Urban & Schwarzenberg, München, Berlin pp. 46, 121 (1966) NIEDERLE J: Anhidrotische ektodermale Dysplasie. Mschr Kinderheilkunde 119: 96–100 (1971) PARSCHÉ E, WEGSCHEIDER W A, MILEDER P, BANTLEON H P: Die Behandlung der Hypodontie bei ektodermaler Dysplasie. Z Stomatol 87/8: 437–444 (1990) TEUSCHER U: Quantitative Behandlungsresultate mit der Aktivator-Headgear-Kombination: Wachstum und Therapieeffekte. 1. Aufl. Hüthig, Heidelberg (1988) TSCHERNITSCHEK H, SCHELLER H, LÖHLEIN K: Die prothetische Versorgung von Kindern mit umfangreichen Zahnnichtanlagen. Quintessenz 45: 1395–1404 (1994) TSO M S, GAWFORD P J, MILLER J: Hypodontia, ectodermal dysplasia and sweatpore count. Br dent J 158(2): 56–60 (1985) TUFFLI G A, LAXOVA R: Brief clinical report: new, autosomal dominant form of ektodermal dysplasia. Am J Med Genet 14: 381–384 (1983) UTHOFF D: Christ-Siemens-Touraine-Syndrom - Odontologie – Kinderheilkunde – HNO – Dysraphie. Zahnärztl Praxis 1, 13–15 (1989) Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol. 108: 2/1998 133
© Copyright 2025 ExpyDoc