Adelheid Ganz: Die Kunst, Bücher zu lesen

Internationale Vereinigung
für Atemrhythmisch Angepasste Phonation
Adelheid Ganz-Wetter: über lautes Lesen
Aus:
Lesepropädeutik von J.A.Bergk – die Kunst Bücher zu
lesen, 1799; Nachdruck Jena 1966
Hier zitiert aus:
Erich Schön – der Verlust der Sinnlichkeit oder die
Verwandlungen des Lesers, Mentalitätswandel um 1800,
Klett 1987
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Internationale Vereinigung
für Atemrhythmisch Angepasste Phonation
Adelheid Ganz-Wetter: über lautes Lesen
Lautes Lesen vertritt die Stelle eines Spaziergangs. Die Anstrengung, die es uns
kostet, setzt unser Blut in Bewegung, verhütet die Stockung der Säfte, und
verscheucht Krankheiten und Missvergnügen. Bei regnigtem Wetter, oder bei
ungesunder Witterung, oder in Krankheit müssen wir daher zum Lautlesen unsere
Zuflucht nehmen, um dadurch die Vergnügungen und die Wohltätigkeit eines
Spaziergangs im Freien zu ersezzen, den uns jetzt ein ungünstiges Geschick
versagt.
Wenn wir eine Sprache, sowohl Muttersprache, als jede fremde, gut sprechen und
verstehen lernen wollen, so müssen wir öfters laut lesen, damit sich unser Gehör an
die Töne gewöhne, und damit das Ungewöhnliche derselben nicht uns im Sprechen
hindere. Es kann jemand ein grosser Kenner einer Sprache seyn, und doch die
Worte des Andern beim Sprechen nicht verstehen, weil er die Töne nicht
unterscheiden, und einzeln auffassen kann. Er will ganze Reihen übersehen, gerät
dadurch in Verwirrung, und kann das Gesagte nicht begreifen.
Wer mit Affekt und Eindringlichkeit sprechen lernen will, muss öfters laut lesen, weil
er bei dieser Art von Lektüre in den Sinn des Buches tiefer eindringen muss, und
jeder Empfindung ihren Ton zu geben sucht. Er bemüht sich, die Töne wieder zu
geben, die in ihm das Buch angeschlagen hat. Die Lektüre von inhaltsreichen
Büchern erweckt überdies noch einen Wechsel der Gefühlen, Begriffen und
Begehrnissen, der uns den Ausdruck leicht macht, weil er unsern Geist angenehm
unterhält. Er ist Seelenspeise, der unsere Kräfte stärkt und ihnen Lust zu neuen
Anstrengungen einflösst.
Durch lautes Lesen kann man fehlerhafte Sprachorgane verbessern, wenn man nur
die Töne langsam, nachdrücklich und deutlich ausspricht. Demosthenes
vervollkommnete seine Sprachorgane durch Schreien: uns leistet lautes Lesen
dieselben wohltätigen Dienste.
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