Arbeit mit bewegungsunruhigen Kindern

 „Auf zu neuen Abenteuern“ Atemtherapeutische Arbeit mit bewegungsunruhigen Kindern von Claudia Juretzo-­‐Schroll Atemtherapeutin, Ergotherapeutin, Heilpraktikerin in München Einführung und Symptomatik von bewegungsunruhigen Kindern: Seit einigen Jahren wenden sich vermehrt Eltern und Ärzte an mich, die Unterstützung und Hilfe in der Begleitung von bewegungsunruhigen und aufmerksamkeitsschwachen Kindern suchen. Die Kinder werden vom Arzt mit den Diagnosen ADHS (Attention Deficit Hyperaktivity Dissorder), HKS (Hyperkinetisches Syndrom), HS (hyperaktives Syndrom) zu mir geschickt. Bei ADHS, der Diagnose mit der am stärksten ausgeprägten Symptomatik liegt die sogenannte „klassische Trias“ vor: Bewegungsunruhe, mangelnde Aufmerksamkeit, mangelnde Impulskontrolle. Typisch für ADHS ist, dass die Symptomatik sehr viel schwerwiegender ist, als im üblichen Entwicklungsverlauf von gleichaltrigen Kindern. Sie beginnt meist schon im Kindergartenalter und existiert länger als 6 Monate. Die Kinder sind infolge ihrer Symptomatik in ihrer Sozialkompetenz stark beeinträchtigt. Bewegungsunruhe, Aufmerksamkeitsschwäche und mangelnde Impulskontrolle können aber auch durch seelische Kümmernisse, eine nervös-­‐asthmatische Konstitution, vegetativ-­‐
rhythmische Instabilität, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Störungen im kranio-­‐zervikalen Übergangsbereich, Teilleistungsstörungen, Traumatas ausgelöst werden. Vom Nutzen der Diagnose: Die Diagnose bereitet mich auf besonders spezifische Verhaltensweisen des Kindes vor. Und sie gibt mir Hinweise darauf, was in der Gestaltung unserer gemeinsamen Stunden wichtig sein wird, wie klare Regeln, verbale Wiederholungen, Reizreduzierung etc. Eine Zusammenfassung bestimmter „Wesenseigentümlichkeiten“ ist hilfreich, um Angebote zur Unterstützung von Anfang an gezielter einsetzen zu können. Neben der Diagnose, die auf die Schwächen des Kindes hinweist, erscheint mir eine ressourcenorientierte Sichtweise, welche die Stärken des Kindes nicht nur wahrnimmt, sondern sie wo immer möglich, herausarbeitet und betont, unerlässlich. Damit lege ich den Grundstein für eine vertrauensvolle Beziehung, das Kind fühlt sich gesehen und kann sich einlassen. Welche Wesenseigentümlichkeiten zeigen sich in der Begegnung mit diesen Kindern? In meinen Berichten an die behandelnden Ärzte schreibe ich zu Beginn oft: „Die Stunden verlaufen sehr lebendig! Das Kind ist sehr aufgeschlossen und mit hohem Gerechtigkeitssinn ausgestattet. Es ist begeisterungsfähig, impulsiv, kreativ, originell und humorvoll!“ Dies sind Eigenschaften, die bei diesen Kindern immer wieder auftauchen. Daneben gibt es aber auch Machtkämpfe und große Überzeugungsarbeit, die hyperaktive Kinder einfordern. Ausschweifendes Weltinteresse mündet häufig in erhöhte Ablenkbarkeit. Bei „zwanghaftem Getrieben sein“ ist das Körperbewusstsein von diesen Kindern nicht klar entwickelt. Andere haben trotz ihrer Impulsivität eine ausgesprochen gute „kinästhetische Intelligenz“. Ich erlebe häufig eine ausgeprägte visuelle Dominanz, während die auditive Wachsamkeit meist nicht sehr stark entwickelt ist. Ihre Zukunftsorientiert bringt mit sich, dass Handlungen teilweise wenig reflektiert werden und sie Rückbesinnung eher „ langweilig“ finden. Ihre Impulsivität „soviel wie möglich, jetzt“ fordert große Gelassenheit und Unerschütterlichkeit vonseiten der therapeutischen Begleiter. Unruhe und großer Bewegungsdrang bewirken in der Regel Hoch-­‐ und Kurzatmigkeit, da der Atem-­‐ und Bewegungsfluss sich von Natur aus angleichen. Diese Kinder haben mit ihrem in die Zukunft vorauseilenden Weltinteresse kaum Zeit, sich mit ihrem Atem im Bauchraum zu verankern. Atemlos eilen sie von einer höchst interessanten Aktion zur nächsten. Es gibt häufig Schwankungen im basalen Sinnesfeld und der Schmerz-­‐ und Berührungsempfindlichkeit. Auffallend ist die rasche, manchmal plötzlich auftretende Ermüdbarkeit nach gezielten motorischen Aktivtäten. Und: die meisten dieser Kinder lieben die Kommunikation und das Fragenstellen über alles! Immer! Wie fange ich an: Die erste Stunde gilt dem Kennenlernen von Mutter und Kind. Einfache Spielangebote wie Trampolinspringen, Luftballonspiele oder Blase-­‐Spiele dienen dem sich „beschnuppern“ und geben einen ersten Eindruck über die Interaktionsfähigkeit des Kindes. Die zweite Stunde steht einem Elterngespräch zur Verfügung. Hier erhebe ich eine biographische Anamnese und lege besonderen Wert darauf, dass nicht nur die Schwächen des Kindes sondern vor allem auch seine Stärken benannt werden können. Die Eltern stehen häufig unter einem großen seelischen Druck und es ist wichtig, ihnen Strategien und Denkansätze zur Verfügung zu stellen, die ihnen helfen, im Alltag Gelassenheit und Klarheit zu bewahren. In der dritten Stunde ist das Kind in der Regel allein mit mir zusammen. Ich greife noch wenig in den Spielverlauf ein. Ich will das Kind wahrnehmen, so, wie es ist. So, wie es sich, in der für es ungewohnten Situationen, einbringen und darstellen kann. Fallbeschreibung: Die Mutter von Max (5 Jahre) sucht mich mit ihm auf, weil Max im Kindergarten immer wieder aneckt. Die Kindergärtnerinnen sind alarmiert. Er ist sehr unruhig, zeigt sich sozial wenig integriert, stört häufig mit seiner Unruhe die Aktivitäten in der Gruppe. Kommt es zu Konflikten, schlägt er zu. Er kann nicht wahrnehmen, dass er mit Aggression andere verletzt. Ist die Mutter unterwegs, beschimpft und beleidigt Max ohne Anlass fremde Menschen, was der Mutter äußerst unangenehm ist. Sie fürchtet sich schon vor Außenaktivitäten mit Max, weil sie nie weiß, was kommen wird, wenn sie mit ihm unterwegs ist. Mit seinem älteren Bruder und seiner älteren Schwester kommt es häufig zu Konflikten, weil Max sehr zerstörerisch in harmonische Situationen eingreift. Er fühlt sich schnell gekränkt und ausgegrenzt. Max kommt mit seiner Mama -­‐ er versteckt sich mürrisch hinter ihrem Bein. „Hallo Max!“ Ich strecke ihm freundlich die Hand hin…er stampft grußlos an mir und meinem ausgestrecktem Arm vorbei. Er soll sich nun die Schuhe ausziehen und Übersocken anziehen. Die Mutter hilft ihm. Grummelnd schmeißt er seine Schuhe auf den Boden, der Stuhl wackelt, weil er so kräftig mit den Beinen schlenkert. Der Sockenkorb fällt um. Endlich sind die Socken angezogen und rein in den Therapieraum. „O.K! „ denke ich mir! Im großen Therapiezimmer habe ich Schnüre verspannt. Max ist sofort begeistert.. lacht, springt über die Schnüre, probiert aus, welche Höhen er meistern kann. Ich motiviere ihn, mehre Sprungarten auszuprobieren. So langsam „nehmen wir Fühlung miteinander auf“, aber er schaut mich noch nicht wirklich an. Er spricht nicht mit mir. Ich nehme einen Luftballon dazu und erkläre ihm wie das Spiel gehen kann: „Wir werfen uns den Luftballon zu und wenn wir ihn gefangen haben, springen wir schnell in ein anderes Feld und werfen uns den Ballon wieder zu“. Max versteht sofort, und schießt den Luftballon los...nur nicht zu mir. Ziellos kreist der Luftballon über unseren Köpfen. Dabei kommt mein kleiner Holzfrosch in sein Blickfeld. „Wie geht der?“ will Max wissen. Ich bewege mich mühsam über die Schnüre hin zu Max und dem Frosch, setzte zu einer ausführlichen Antwort an… .aber Max ist schon wieder weg, hat am anderen Ende des Raumes den menschlichen Demonstrationsschädel aus Kunststoff entdeckt. Luftballon vergessen, Fäden vergessen, hin zum Schädel. Ich hinterher . „Wie alt ist der?“ will Max jetzt interessiert wissen. Ich setze zu einer Antwort an. „ Der ist…“. Max fällt mir ins Wort und sagt, er hätte auch einen Zuhause. „Der leuchtet!“ erklärt er begeistert. Ich atme tief durch und denke, wir sollten doch nochmals zu meinem Angebot zurückkehren und es gelingt mir, Max noch einmal zu motivieren. „Luftballon in die Luft, mir zu werfen...“ Er vergisst, dass ich seine Mitspielerin bin, wirft den Ballon in die Lüfte, ahnt schon, dass er nicht gezielt werfen kann. Max`s Spiel wird so langsam ein erzürntes Spiel, und der Geduldsfaden reißt wortwörtlich. Max sieht die Fäden nicht mehr, er rennt wütend dem Ballon hinterher, zieht die Fäden und die Gegenstände, an denen sie befestigt sind, mit. Fäden reißen Stühle fallen, die Leiter kippt. Ein Gepolter bricht los und Max ist sehr betroffen, weiß sich nicht mehr zu helfen. Mit den Worten „das ist mir auch schon öfter passiert...“ nehme ich die Anspannung aus der Situation und beginne, mit Max gemeinsam die Fäden wieder zusammenzusuchen, zu verknoten. Wir wuchten die Leiter wieder auf und die Stühle und die Murmelbahn…. Und jetzt ist Kontakt entstanden, ich habe einen Zugang gefunden. Er schaut mich an, wenn wir miteinander reden. Aber Luftballonspiel ist jetzt nicht mehr dran. Ich denke an Erdung! „Max, du könntest doch ein Tier sein, das unter den Schnüren wohnt. Die Schnüre könnten gefährliche Schlingpflanzen sein…Was könnte das für ein Tier wohl sein?“ Sofort ist Max wieder begeistert. “ Ein Löwe, ein Löwe!“ ein Löwe unter den Kianen (Lianen)! „Wo ist die Löwenhöhle?“ frage ich. „Nein, ein Tiger, ein Tiger ist es“ ruft Max dazwischen. „Ok, wo wohnt den der Tiger?“ „Nein, eine Schlange, ja eine Schlange kriecht am Boden!“ „Na gut, dann eben eine Schlange, wo ist die Schlangenhöhle?“ Max wischt sofort irgendwie unter den Schnüren durch. Es gibt noch gar keine Höhle. Schnell hole ich eine Decke. Und lege sie aufgeworfen auf den Boden. „Ist das ein guter Versteckplatz für die Schlange?“ frage ich. Max robbt zur Decke und brüllt mich gefährlich an… Also doch ein Tiger! Dacht´ ich`s mir doch! „Das Spiel könnte so gehen: du bist der schlafende Tiger. Ich bin ein Bär und schleiche mich an deine Höhle und will dir was klauen. Du hast die Augen zu und rollst dich wie ein Päckchen zusammen (ich mache es ihm vor). Wenn du mich nahe bei dir hörst, springst du hoch und brüllst und verscheuchst mich. Wie brüllt ein Löwe? Wir üben Brüllen! “(Uahhhffrrahhhuah!) Max ist schon wieder begeistert. Also, er in der Höhle, ich in Bärenstellung... bin rund 3 Meter von ihm entfernt, mache sehr sehr achtsam einen Schritt in seine Richtung, gesammelt…der Tiger brüllt schon fürchterlich und ist hochgesprungen. „Max, warte, bis ich ein bisschen näher gekommen bin. Du hast mich doch noch gar nicht hören können, oder?!“ Ok. Alles zurück in Ausgangsposition. Tiger schläft, Bär setzt einen Schritt an und schon wieder großes Gebrüll und Fauchen, der Tiger steht gefährlich nahe am Rand seiner Höhle. „Aber was machst du mit dem Gong?“ „Was für ein Gong ? Ach der, ja…also..“ Schon wieder brüllt der Löwe! Ich zurück in Ausgangsposition…. „Können wir jetzt was anderes spielen?“ Uff! (Beim Schreiben merke ich, wie sehr ich diese Impulsivität, dieses Suchen nach Beziehung und diese spontanen Abenteuer liebe) Bei meiner Beschreibung wird vermutlich deutlich, dass Entspannungsangebote, wie von Eltern und Lehrern häufig gewünscht, bei Kindern mit solch einem Energielevel nicht gut ankommen können. Kriterien zur Beobachtung und erste Eindrücke: Mein Augenmerk gilt von Anfang an der Kontaktfähigkeit von Max, richtet sich auf seine Vorlieben. Ich nehme seine grobmotorische Geschicklichkeit wahr, möchte etwas über sein Gliedmaßenbewusstsein erfahren. Ferner ist es mir wichtig, sein Körper-­‐Bewusstsein, seine Sammlungsfähigkeit und seinen Atemrhythmus kennenzulernen. Ich habe gemerkt, dass Max zu Beginn der Stunde keinen direkten Kontakt zu mir haben wollte. Erst durch das gemeinsame Bewältigen einer konfliktbehafteten Situation hat er sich geöffnet. Er hat große Freude an Bewegung gezeigt und war sehr experimentierfreudig. Mit räumlicher und sozialer Begrenzung tat er sich schwer. Die visuelle Dominanz und seine Begeisterungsfähigkeit ließen ihn schnell von einem Thema zum anderen springen. Es war nicht leicht für ihn, sich in ein Angebot zu vertiefen. Er zeigte sich emotional sehr impulsiv, auf seine Bedürfnisse sollte ich sofort eingehen. Seine Frustrationstoleranz war nicht sehr stark ausgeprägt. Sein Atem pulsierte tendenziell kurz und hoch. Das tiefe Hineinatmen in den Körper schien ihm fremd. Wie baue ich die nächsten Stunden auf: Ich hole Max dort ab, wo er steht. Ich vermeide daher zunächst zu starke räumliche und zeitliche Grenzsetzung. Ich gebe Spielregeln und organisatorische Regeln vor, lasse mich innerhalb derer aber auf seine Bedürfnisse und Ideen ein. Ich baue in seine Spielideen meine atemtherapeutischen Impulse ein. Da sein Körperbewusstsein nicht gut entwickelt ist, pflanze ich in unser Spiel Anregungen ein, durch die er seine Wahrnehmungs-­‐, Empfindungs-­‐ und Spürfähigkeit stärken kann. Dazu kommen Angebote, die die Sammlungs-­‐fähigkeit und die Steuerungsfähigkeit des Körpers stärken. Ein Blick in die atemtherapeutische Werkstatt: Ich möchte einige Anregungen zu folgenden Behandlungsschwerpunkten geben. Ablenkbarkeit: Balanceübungen auf Seilen, Balken, Turngeräten Übungen zur inneren Sammlung wie Lauschspiele, Spiele, in denen ein Sinn hervorgehoben, ein anderer „ausgeschaltet“ wird. Innere Sammlung: Anschleichspiele, Tastspiele, kindgerechte Atemmassagen und Atembehandlungen . überschießende Impulsivität: Aus der Beschleunigung in die Verlangsamung, „Widerstandsarbeit“, Angebote, die eine Planung verlangen. Atmung: Spiele am Boden, Bodenhaftung stärken, Bewegungsspiele mit sprachlichem/metasprachlichem Ausdruck, Singen z.B. innerhalb eines Rollenspieles. Ich-­‐Bewusstsein Unbedingtes Stärken der Ressourcen, Einüben von Sozialkompetenz über vertrauensvolles Miteinander. Grundsätzliche Prinzipien in der therapeutischen Begegnung mit Kindern: Das Kind und ich gestalten die Therapiestunde gemeinsam, ich vermeide geschlossene Übungsangebote. Ich schenke dem Kind innerhalb eines weitgespannten Rahmens viel innere und äußere Bewegungsfreiheit. Der Atemrhythmus, das Wechselspiel zwischen Aktivität, Rezeptivität und der Ruhepause kann uns eine hilfreiche Orientierung in der Gestaltung eines atemtherapeutischen Settings geben. Die Bedürfnisse und die momentane Verfassung des Kindes sind richtungsweisend für die Gestaltung der Therapiestunde, die sich aus dem interaktiven Wechselspiel zwischen Kind und Therapeuten entwickelt. Ich ermögliche dem Kind durch meine Haltung, Seelisches mit dem Körperlichen zu verbinden, “ Ich-­‐Anteile“ zu stärken und körperlich zu integrieren. Möchte ich mich mit Experimentierfreude auf die Abenteuerlust dieser Kinder einlassen, ist eine vorurteilsfreie, unvoreingenommen Aufmerksamkeit und Achtsamkeit notwendig. Es geht um „Schatzsuche statt Fehlerfahndung“ (Eckehart Schiffer). Um bewegungsunruhigen Kindern „Halt“ geben zu können, ist es an uns, „unerschütterlich wie ein Berg“ in unserer Mitte verwurzelt zu sein. Aber das ist für uns Atemtherapeuten doch die leichteste Übung! Praxis Claudia Juretzko-­‐Schroll Atemtherapeutin, Ergotherapeutin, Heilpraktikerin Hohenwarterstr. 5 80686 München Tel. und Fax (089) 56 77 21 Claudia_Juretzko-­‐[email protected] www.atemtherapie-­‐muenchen.de