„Urin-auf-Bundesflagge“-Fall

Materialien
zu den Ausstellungstafeln
Kunst und Strafrecht
Prof. Dr. Dr. Uwe Scheffler
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie
Kunst und Staatsgefährdung
§ 86a StGB Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (Auszug)
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
1. im Inland Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 bezeichneten Parteien oder Vereinigungen1 verbreitet oder öffentlich, in einer Versammlung oder in von ihm verbreiteten Schriften (§ 11 Abs. 3)2 verwendet …
§ 90a StGB Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole (Auszug)
(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3)2
2. die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpft,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
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1 Nr. 1: Kennzeichen „einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Partei oder einer Partei oder Vereinigung, von der unanfechtbar festgestellt ist, dass sie Ersatzorganisation einer solchen Partei ist“,
Nr. 2: Kennzeichen „einer Vereinigung, die unanfechtbar verboten ist, weil sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, oder von der unanfechtbar festgestellt ist, da sie Ersatzorganisation einer solchen verbotenen Vereinigung ist“,
Nr. 4: Kennzeichen „einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation“.
2 „Den Schriften stehen Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen in denjenigen Vorschriften
gleich, die auf diesen Absatz verweisen.“
Abb.: http://fancommunity.kissonline.com/index.php?/gallery/image/33684-kiss-alive-35-paris-bercy-france-170608-poster / http://www.kissarmywarehouse.com/cart.php?m=product_detail&p=3426KISS / Abb.: Buntbuch-Verlag GmbH
Plakate zur Kiss Alive/35 World Tour 2008
Jürgen Holtfreter: Umschlagrückseite von H. Venske / N. Ney / S. Merian / G. Unmack, Laßt mich bloß in Frieden, Buntbuch-Verlag Hamburg 1982
„Urin-auf-Bundesflagge“-Fall
Stand: November 2015
Letzte Modifizierung: 8.1.2016
Jürgen Holtfreter: Umschlagrückseite von H. Venske / N. Ney / S. Merian / G. Unmack, Laßt mich bloß in Frieden, Buntbuch-Verlag Hamburg 1982
Im September 1981 erschien im (dem „Kommunistischen Bund“ [KB] nahestehenden) Hamburger „Buntbuch-Verlag“ das Taschenbuch „Laßt mich bloß in Frieden“, eine als „Lesebuch" bezeichnete, durch Karikaturen und Collagen aufgelockerte Zusammenstellung antimilitaristischer Prosa und Poesie. Die vordere Umschlagseite des Buches zeigt einen Soldaten mit Totenkopf und Stahlhelm.
Abb. aus: Laßt mich bloß in Frieden, Hamburg 1982, vordere Umschlagseite / Motiv: Jürgen Holtfreter
Das 158-seitige Büchlein (188 x 128 mm), 17,80 DM teuer, in der „Zeit“ als „betont pazifistisches, aggressives, etwas pubertäres
Gesinnungsbuch, geschrieben für eine sehr linke Blase, nicht zum Überzeugen Nachdenklicher“ charakterisiert 1, wurde herausgegeben von Henning Venske, Norbert Ney, Svende Merian und Gerd Unmack.
Der erstgenannte Herausgeber Henning Venske (* 1939), der seit Anfang der 1960er Jahre auch als Theater- und Filmschauspieler,
Kabarettist, Rundfunk- und Fernsehmoderator sowie Kinderbuchautor bekannt geworden war, wurde seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend als Journalist (etwa bei der linken Monatszeitschrift „Konkret“) sowie als Satiriker politisch aktiv. Auf seiner Homepage hat
Venske hierzu notiert 2:
In den 70er Jahren mehrere – auch juristische – Auseinandersetzungen mit den öffentl.-rechtl. Sendeanstalten, Hausund Sendeverbote: „Er hat den Freiraum für Satire immer
wieder erheblich überschritten” (Hess. Rundf.). „Deutschlands meistgefeuerter Satiriker“ (Gerd Wollschon 3).
Seit 1980 war Venske Chefredakteur des 1982 eingestellten Satiremagazins „Pardon“, in gewisser Weise der Vorläufer der „Titanic“.
Norbert Ney (* 1951), später besonders als Reiseschriftsteller bekannt geworden, hatte 1979 vor „Laßt mich bloß in Frieden“ den
kleinen Band „Nichtsdestotrotz – Gedichte, Gerüchte, Aforismen, Collagen & Fotozitate“, veröffentlicht, der auch schon antimilitaristische Prosa enthielt (Textprobe: „Vorsicht! Du sollst nicht töten, / sagt die Bibel. / Deshalb liefert unser Staat die Waffen / lieber
gleich ins Ausland ...“). 1983 gab Ney mit der Mitherausgeberin von „Laßt mich bloß in Frieden“ Svende Merian „Nicht mit Dir und
1
Hanno Kühnert: Der Strahl auf die Fahne, Die Zeit vom 13.9.1985 (http://www.zeit.de/1985/38/der-strahl-auf-die-fahne).
Siehe dort unter „Vita“ (http://www.venske.de/vita/). Siehe dazu auch Michael Schwelien: „Ich stehe im Keller“, Die Zeit vom 5.9.1980
(http://www.zeit.de/1980/37/ich-stehe-im-keller).
3
Gerd Wollschon (* 1944; † 2012) war ein deutscher Autor, Musiker und Kabarettist, u.a. Gründungsmitglied und Texter der Politrock-Band
und Kabarettgruppe „Floh de Cologne“. Er war auch Mitautor von „Laßt mich bloß in Frieden“.
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nicht ohne Dich“ heraus, ein „an- und aufregendes Lesebuch mit Geschichten, Gedichten, Briefen, Erinnerungen zu einem beziehungsreichen Thema“ (Produktbeschreibung). Auch Venske schrieb hier mit („Eine schöne Beziehung“).
Die Schriftstellerin Merian (* 1955) war 1980 mit dem autobiographischen Roman „Der Tod des Märchenprinzen“ (wie „Laßt mich
bloß in Frieden“ im „Buntbuch-Verlag“ veröffentlicht) bekannt geworden, damals ein „Kultbuch der Alternativszene“ („Der Spiegel“),
das sie zum „Shootingstar der Szene“ („Hamburger Abendblatt“) machte. Venske verfasste übrigens unter dem Pseudonym „Arne
Piewitz“ 1983 ein parodistisches Buch mit dem Titel „Ich war der Märchenprinz“ als Antwort (wiederum „Buntbuch-Verlag“).
Über Gerd Unmack, der nur ein Gedicht zu „Laßt mich bloß in Frieden“ beitrug („Kriegerdenkmal am Stephansplatz“), notiert das
dortige Autorenverzeichnis: „geb. 1941, Verlagsangestellter in Hamburg, Veröffentlichung von Gedichten in Anthologien. Mitglied in
der AGAV [Arbeitsgemeinschaft Alternativer Verlage und Autoren].“
Aufregung verursachte „Laßt mich bloß in Frieden“ weniger wegen der Beiträge von prominenten Autoren wie Ingeborg Drewitz,
Erich Fried, Dorothee Sölle oder Gerhard Zwerenz, sondern wegen des rückseitigen Covers, das das Bundesverfassungsgericht
später wie folgt umschrieben hat 4:
Auf der Umschlagrückseite ist eine aus zwei Fotografien zusammengesetzte Collage abgebildet ... Die untere Hälfte der Darstellung
besteht aus einer Schwarz-Weiß-Aufnahme eines Gelöbniszeremoniells der Bundeswehr, bei dem Soldaten eine Bundesflagge
ausgebreitet halten. Im Hintergrund erkennt man ein Kasernengebäude, vor dem ein mit einer Bundesfahne geschmücktes Rednerpult aufgebaut ist, an dem ein weiterer Soldat steht. Zwischen diesem und der Kaserne befindet sich ein vollmastbeflaggter Fahnenmast.
Abb. aus: Laßt mich bloß in Frieden, Hamburg 1982, hintere Umschlagseite / Motiv: Jürgen Holtfreter (Ausschnitt)
Der Himmel über dem Kasernengebäude bildet den Hintergrund des Farbfotos, aus dem die obere Hälfte der Collage besteht. Sie
zeigt einen mit Hemd und Hose bekleideten männlichen Torso von den Knien bis zur Hüfte, der wie ein Riese hinter dem Kasernendach aufragt. Der geöffnete Hosenschlitz wird durch die rechte Hand des Mannes in Urinierhaltung verdeckt. Hinter der Hand tritt ein
gelber Urinstrahl hervor, der im Wege der Fotomontage in das untere Bild auf die dort ausgebreitete Fahne gelenkt wird. Unter der
Fahne ist auf dem Erdboden eine gelbe Urinpfütze dargestellt.
Abb. aus: Laßt mich bloß in Frieden, Hamburg 1982, hintere Umschlagseite / Motiv: Jürgen Holtfreter (Ausschnitt)
4
BVerfGE 81, 278 (280) – Bundesflagge (Einfügung der Abbildungen von hier).
3
Die Collage stammte 5 – genauso wie das vordere Umschlagbild und einige satirische Darstellungen im Buchinnern – von Jürgen
Holtfreter (* 1937 in Rostock), den es in den 1960er Jahren aus der DDR in die westdeutsche linkssozialistische Szene verschlagen
hatte, nach damaliger Selbstdarstellung „frei von erlernten Berufen freiberuflich tätig als Plakatmaler, Zeitungsmacher, Büchermacher, Fotomonteur“ 6. Bis vor wenigen Jahren war er für Titelgestaltung/Grafik/Layout in „diesseits – Das humanistische Magazin“,
sowie in „Freitag – Die Ost-West-Wochenzeitung“ (heute: „Der Freitag“) verantwortlich.
Bis heute andauernden Ruhm erlangte Holtfreter für ein 1968 gemeinsam mit dem damaligen Stuttgarter Kunststudenten (und heutigen Medienkünstler) Ulrich „Zwiebel“ Bernhardt (* 1942) gestaltetes Plakat für den „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“
(SDS).
Abb.: http://www.sagen.at/fotos/showphoto.php/photo/37433/size/big/cat/ / Motiv: Jürgen Holtfreter, Ulrich Bernhardt
Das massenhaft bis in die 1970er Jahre nachgedruckte Plakat gehörte damals zur Grundausstattung tausender linker Wohngemeinschaften und alternativer Szene-Treffs; es wurde zur „fast schon nostalgischen Ikone des magischen Umbruchjahres 1968 verklärt“ 7: Es war so erfolgreich, weil es den damals zum geflügelten Wort gewordenen Slogan der Werbeagentur „McCann-Erickson“
für die Deutschen Bundesbahn „Alle reden vom Wetter. Wir nicht." persiflierte 8.
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Der obere Teil der Collage basierte auf einem ursprünglich 1974 in der französischen Satirezeitschrift „Hara-Kiri“ abgebildeten Foto („Sparen Sie Warmwasser, pissen Sie auf Ihre Füße”).
Abb.: http://fr.1001mags.com/parution/hara-kiri/numero-158-novembre-1974/page-48-49-texte-integral (Screenshot)
Hara-Kiri Nr. 158 vom November 1974, S. 48 f.
6
Laßt mich bloß in Frieden, S. 145.
7
Jürgen Krause: Alle reden vom Wetter. Wir nicht., in: Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hrsg.), Das Kunstwerk des Monats September 2003 (https://www.lwl.org/landesmuseum-download/
kdm/archiv/2003/kdm_09_2003.pdf).
8
Diese Werbung inspirierte übrigens nicht nur Holtfreter. Der Plakatkünstler Klaus Staeck (* 1938) wurde für seine an die Bahnwerbung
angelehnten satirischen Angriffe gegen den Rüstungskonzern „Rheinmetall“ (1981) sowie (optisch zudem der damaligen Informationsreihe
„Die Bundesregierung informiert“ nachempfunden) gegen die Chemieunternehmen „Hoechst AG“ und „Kali-Chemie“ (1990) von den dort
abgebildeten Managern vor zahlreiche Gerichte gezogen – letztlich obsiegte zu beiden Grafiken die Meinungs- sowie die Kunstfreiheit
Staecks (siehe OLG Karlsruhe, NJW 1982, 647 zu „Alle reden vom Frieden“ und OLG Frankfurt/M., Urteil vom 17.121992 – 6 U 88/91 [bei
juris]; BGH, NJW 1994, 124; BVerfG [Kammer], NJW 1999, 2358 zu „Alle reden vom Klima“).
Abb.: https://www.uni-heidelberg.de/universitaet/heidelberger_profile/interview/staeck.html / Motiv: Klaus Staeck
Abb.: http://www.artefakt-sz.net/kunsthistoriker-im-gespraech/kaempfer-fuer-oeffentlichen-raum / Motiv: Klaus Staeck
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Abb.: Deutsches Plakat Museum, http://www.spiegel.de/fotostrecke/68er-plakate-fotostrecke-106475.html / Motiv: Carolus Horn, Margot Müller, Gerhard Schneider
Auch Holtfreters Plakat seinerseits ist bis heute viele Male zur Vorlage von Grafiken gemacht worden.
Abb.: http://www.onesolutionrevolution.de/allgemein/warum-diese-euro-krise/
Abb.: http://tinypic.com/view.php?pic=2ymefr8&s=5
Abb.: http://lizaswelt.tumblr.com/post/36547230460/sds-fcb / Motiv: Liza
Abb.: http://www.wackerfans.at/GBD-EM.html
Abb.: http://pg.blogsport.de/texte/
Abb.: http://www.kontextwochenzeitung.de/kultur/82/plakativ-934.html
Ob Holtfreter mit seinem Buchrückumschlag von „Laßt mich bloß in Frieden“ möglicherweise die US-amerikanische Illustratorin
Nancy Stahl (*1949) inspiriert hatte, die 1999 für das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ das Cover zur Titelgeschichte „Ist
Europa noch zu retten?“ mit dem Brüsseler „Manneken Pis“ vor der Europaflagge entwarf, ist pure Spekulation.
Abb.: http://www.coverbrowser.com/covers/spiegel/6
Der Spiegel 12/1999
Es dauerte nicht lange, bis gegen Holtfreter und die vier Herausgeber Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Schon am 5. Januar
1982 wurde auf Beschluss des Amtsgerichts Hamburg gemäß § 111b Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 74d Abs. 1 StGB 9 die Beschlagnahme des Buches sowie der zur Herstellung ihrer Umschlagrückseite gebrauchten oder bestimmten Vorrichtungen angeord9
§ 74d Abs. 1 StGB (Einziehung von Schriften und Unbrauchbarmachung) lautet damals wie heute:
Schriften (§ 11 Abs. 3), die einen solchen Inhalt haben, dass jede vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis ihres Inhalts den Tatbestand eines
Strafgesetzes verwirklichen würde, werden eingezogen, wenn mindestens ein Stück durch eine rechtswidrige Tat verbreitet oder zur Verbreitung bestimmt worden ist. Zugleich wird angeordnet, dass die zur Herstellung der Schriften gebrauchten oder bestimmten Vorrichtungen, wie Platten, Formen, Drucksätze, Druckstöcke, Negative oder Matrizen, unbrauchbar gemacht werden.
§ 111b Abs. 1 StPO, zwischenzeitlich mehrfach geändert, regelt, dass dann, wenn eine Einziehung im folgenden Strafverfahren zu erwarten ist, die vorherige Beschlagnahme der betreffenden Sachen möglich ist. Einzelheiten bei der Beschlagnahme von (Druck-)Schriften regeln §§ 111m und 111n StPO.
5
net 10. Ab dem 20. Januar 1982 wurden die Räumlichkeiten des „Buntbuch-Verlages“ in Hamburg sowie die des Buchvertriebs, der
„Prolit“ in Lollar bei Gießen, durchsucht und dort wie auch bei Durchsuchungen anderswo zahlreiche Buchexemplare beschlagnahmt.
Das Landgericht Hamburg wies die dagegen gerichtete Beschwerde am 16. Februar 1982 zurück 11:
... die inkriminierte Fotomontage [stellt] eine Verunglimpfung der Flagge der Bundesrepublik Deutschland dar ... (§ 90a Abs. 1 Ziffer
2 StGB). ...
Die inkriminierte Fotomontage genießt – auch wenn man sie in Anwendung eines weitgefaßten Begriffes von Kunst als künstlerische
Satire versteht – weder den Schutz von Art. 5 Abs. 1 GG noch den von Art. 5 Abs. 3 GG. Denn sie stellt nicht bloß eine in vielfacher
Form denkbare straflose Übertreibung, sondern eine eindeutige Mißachtung der Flagge der Bundesrepublik Deutschland dar. ... der
satirische Angriff [richtet sich] ... nach dem eindeutigen optischen Eindruck gezielt gegen die Flagge und erst dadurch und mittelbar
gegen das Fahneneidszeremoniell.
Eine derartige durch das Strafrecht verbotene Verunglimpfung ist weder im Rahmen der öffentlichen Diskussion über Krieg und
Frieden noch in dem speziellen der Auseinandersetzung über das Fahneneidszeremoniell gerechtfertigt.
(Nur) gegen Holtfreter, den (Mit-)Herausgeber Ney, der die Collage als Buchbeitrag angenommen hatte, sowie Meike Lüdemann,
zuständige Mitarbeiterin des „Buntbuch-Verlages“, erhob die Staatsanwaltschaft als Verantwortliche für das Verbreiten der Collage
Anklage wegen Verunglimpfung der Flagge der Bundesrepublik Deutschland gemäß § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB.
Das Amtsgericht Hamburg sprach jedoch alle drei am 3. Dezember 1982 frei 12 – „Gericht: Pamphlet ist Kunst“, empörte sich Axel
Springers „Hamburger Abendblatt“ 13. Aus den Urteilsgründen:
Die inkriminierte Fotomontage stellt nach der Überzeugung des Gerichts ein Werk der Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Satz 1
Grundgesetz dar. ...
Die Fotomontage ... wird ... trotz der hohen Realitätsnähe der Kunstform von dem um Verständnis bemühten Durchschnittsbetrachter als satirisches Kunstwerk verstanden, welches sich gegen den Fahneneid, nicht aber gegen die Fahne selbst richtet. ...
Eine verfassungskonforme Auslegung des § 90a StGB (siehe hierzu OLG Bremen JR 1979, 118 ff. [119]) führt daher dazu, daß ein
Verunglimpfen der Flagge und der Farben der Bundesrepublik Deutschland durch die Verbreitung der Fotomontage nicht erfolgt ist.
Gegen die damit verbundene Aufhebung der Beschlagnahme legte die Staatsanwaltschaft Sofortige Beschwerde ein, der das Landgericht Hamburg am 24. März 1983 stattgab 14:
Es sind dringende Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass die Strafbarkeit der Angeklagten gemäß § 90 StGB nicht durch die in Art. 5
Abs. 3 Grundgesetz gewährte Kunstfreiheitsgarantie ausgeschlossen ist. Infolge der Kunstfreiheitsgarantie gelten für die Kunst die
Schranken der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Grundgesetz nicht (BVerfGE 30, 173). Die Kunst kann gemäß
BVerfGE 33, 52, 71 nur durch die Verfassung selbst, d. h. durch oberste Grundwerte der Verfassung, insbesondere den Bestand der
Bundesrepublik Deutschland und ihrer demokratischen Grundordnung eingeschränkt werden.
Es ist bereits zweifelhaft, ob die Fotomontage ein Kunstwerk darstellt. Das gilt insbesondere unter Berücksichtigung von BVerwGE
39, 197, 207, wonach der Begriff der Kunst ein gewisses künstlerisches Niveau voraussetzt 15.
Auch wenn es sich um ein Kunstwerk handeln sollte, ist nach Ansicht der Kammer eine Verurteilung gemäß § 90a Abs. 1 Ziff. 2
StGB nicht ausgeschlossen durch Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz.
Nach Auffassung der Kammer ist nämlich auch die Bundesflagge oberster Grundwert der Verfassung im Sinne von BVerfGE 33, 52,
71 (vgl. Würtenberger JR 79, 309 ff., 312; Dreher/Tröndle, StGB, 41. Aufl. 1983, § 90a Rdn. 6). Dies entspricht auch BVerfGE 30,
173 f., 193, wonach ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen
Wertordnung durch Verfassungsauslegung zu lösen ist, also im Wege einer Abwägung zu prüfen ist, ob im Einzelfall der Kunstfreiheit oder dem durch das Strafgesetz geschützten Verfassungswert Vorrang gebührt (so auch Willms in LK zum StGB, 1980, § 90a
Rdn. 9; Rudolphi in Systematischer Kommentar zum StGB, § 90a Rdn. 15).
Nach Auffassung der Kammer bestehen dringende Gründe dafür, daß im vorliegenden Falle der in Art. 22 Grundgesetz bestimmten
Bundesflagge der Vorrang gebührt.
Halten wir fest:
Das Landgericht Hamburg sieht zunächst die Collage wohl noch als Kunstwerk an, sie „genießt“ aber nicht den „Schutz von Art. 5
Abs. 3 GG“.
Das Amtsgericht Hamburg sieht dagegen die Collage eindeutig als Kunstwerk an und verneint deshalb ein „Verunglimpfen“ im Wege
„verfassungskonformer Auslegung“.
10
AG Hamburg, Beschluss vom 5.1.1982 – 152 Gs 8/82 (unveröffentlicht).
LG Hamburg, DuR 1982, 206.
12
AG Hamburg, DuR 1983, 335.
13
Hamburger Abendblatt vom 7.12.1982 (http://www.abendblatt.de/archiv/1982/article203312045/Gericht-Pamphlet-ist-Kunst.html).
14
LG Hamburg, DuR 1983, 338. Das von der Staatanwaltschaft ebenfalls eingelegte „unbestimmte Rechtsmittel“ gegen das freisprechende
Urteil des AG Hamburg verlief im Sande.
15
Es sei kurz angemerkt, dass das BVerwG dies in seiner vom LG Hamburg zitierten „Die Sünden der Söhne“-Entscheidung (E 39, 197)
nicht gesagt hatte. Im Wortlaut: „Der Grundsatz ‚Kunstschutz geht vor Jugendschutz‘ gilt entgegen BVerwGE 23, 104 (110) nicht uneingeschränkt. Aus dem Wort ‚dient‘ in § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS ergibt sich, daß n i c h t j e d e s E rg e b n i s k ü n s t l e ri s c h e n B e m ü h e n s d e m J u g e n d s c h u t z s c h l e c h t h i n v o rg e h t , s o n d e rn n u r e i n s o l c h e s , d a s e i n b e s t i m m t e s Ma ß a n k ü n s t l e ri s c h e m N i v e a u b e s i t zt . Dies beurteilt sich nicht allein nach ästhetischen Kriterien, sondern auch nach dem Gewicht, das das Kunstwerk für die pluralistische
Gesellschaft nach deren Vorstellungen über die Funktion der Kunst hat. Kunstwerke, die dem nicht genügen, können gegenüber den Erfordernissen des Jugendschutzes keinen Vorrang beanspruchen.“ (Hervorhebungen von hier).
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Das Landgericht Hamburg lässt sodann offen, ob es sich bei der Collage um ein Kunstwerk handelt, weil jedenfalls „der Bundesflagge der Vorrang gebührt“.
Keinen besseren Eindruck hinterließ die Justiz in dem Parallelverfahren, das auf den am 21. Januar und am 17. Mai 1982 zwecks
Beschlagnahme des Taschenbuches „Laßt mich bloß in Frieden" erfolgten Durchsuchungen des Buchvertriebs, der „Prolit“, beruhte,
und das noch mehr Instanzen beschäftigte.
Angeklagt wurde der „Prolit“-Geschäftsführer wegen des Verkaufs von 949 Exemplaren des Taschenbuches.
Zunächst verhängte am 19. November 1982 das Amtsgericht Gießen gegen ihn eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 50 DM 16:
Der Angeklagte hat sich strafbar gemacht wegen Verunglimpfung von Staatssymbolen, Vergehen nach § 90a Abs. 1 Ziff. 2 StGB. ...
Die ... Umschlagrückseite ... stellt eine Verunglimpfung der Farben und der Bundesflagge der Bundesrepublik dar, denn das Urinieren auf die Bundesflagge bedeutet eine Verächtlichmachung dieses Staatssymboles, das nach Form und Inhalt einer erheblicheren
Ehrenkränkung gleichkommt. Die Betrachtung der Abbildung läßt einen anderen objektiven Sinngehalt nicht zu.
Bemerkenswert und bislang wohl noch von keinem bundesrepublikanischen Gericht im juristischen Gehalt unterboten, gab das
Amtsgericht Gießen zu Kunst und Kunstfreiheit noch von sich 17:
Abgesehen davon, daß auch Kunst nicht schrankenlos ist, sondern Grenzen der Gesetze unterliegt, kann das Gericht keinerlei Ansätze erkennen, wieso die ... Abbildung solche grundgesetzlich zu schützende Kunst darstellen sollte. Es mag sein, daß irgendein
Professor aus seiner subjektiven Bewertung irgendeine sogenannte Kunst in diesem Bild entdecken mag, aber an eine solche Bewertung ist das Gericht nicht gebunden.
Der Angeklagte ging in die Sprungrevision. Der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt/M. betonte zwar, dass das Amtsgericht Gießen „zu Unrecht der auf der Druckschrift abgebildeten Collage die Qualität eines Kunstwerkes i.S. von Art. 5 III GG abgesprochen“ habe, denn es habe „den im Strafrecht maßgeblichen erweiterten Begriff der Kunst verkannt“. Gleichwohl wollte das Gericht die Revision als unbegründet verwerfen, woran es sich aber gehindert sah, weil es „bei Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung von der Entscheidung des BGH im Verfahren 3 StR 6/71 abweichen müsste“ 18. Deshalb legte das Oberlandesgericht die Sache zunächst am 2. November 1983 dem Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 GVG 19 vor:
... der BGH [meint], daß die Kunstfreiheitsgarantie bei einem in künstlerische Form gekleideten Angriff auf die Bundesfarben nur
dann hinter den Schutz der Bundesfarben zurücktreten muß, wenn die subjektive Zielrichtung des Künstlers dahin geht, das Objekt
als Mittel zum Kampf gegen die verfassungsmäßige Ordnung einzusetzen, und wenn von dem Objekt eine gezielte Breitenwirkung
ausgeht, die sich zugleich als Gefährdung unserer verfassungsmäßigen Ordnung darstellt (vgl. BGH [Urteil vom 10.7.1974] – 3 StR
6/71 I, S. 12). ...
Der Senat vermag sich dieser Auffassung, die die Schutzwirkung des § 90a StGB gegenüber Art. 5 III GG weitgehend einengt, nicht
anzuschließen, weil sie der Tatsache, daß in § 90a I Nr. 2 StGB mit dem Schutz der Bundesflagge zugleich auch ein Schutzgut der
Verfassung betroffen ist, nicht gerecht wird. Dieses Schutzgut von Verfassungsrang ist bereits dann verletzt, wenn die Bundesflagge
i.S. des § 90a I Nr. 2 StGB verunglimpft wird. Bei der Abwägung, ob der Kunstfreiheitsgarantie oder dem in Art. 22 GG statuierten
Schutz der Verfassung für das staatliche Symbol der Bundesflagge der Vorrang einzuräumen ist, muß das in Art. 5 III GG gewährte
Individualgrundrecht nach Auffassung des Senats hinter die durch Art. 22 GG – und in ihrer strafrechtlichen Ausformung in § 90a
StGB – geschützten Belange der staatlichen Gesamtheit zurücktreten. Die Strafbarkeit einer Handlung nach § 90a StGB kann hiernach nicht davon abhängig gemacht werden, ob die Verunglimpfung der Bundesrepublik oder der Bundesflagge in ihrer Auswirkung
zu einer Gefahr für den Bestand der Bundesrepublik oder ihrer Grundordnung führen kann, sie ergibt sich vielmehr – davon unabhängig – allein aus dem Umstand, daß § 90a StGB Grundwerte unserer staatlichen Ordnung schützt, hinter denen die individuellen
Freiheiten zurückzutreten haben.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs ließ sich über 20 Monate Zeit. Am 24. Juli 1985 entschied er, nicht (jedenfalls nicht zur
Sache) zu entscheiden 20:
16
AG Gießen, DuR 1983, 339.
Dazu hat später in ungewöhnlicher Deutlichkeit das BVerfG (E 81, 178 [296]) bemerkt: „Das Urteil des Amtsgerichts [Gießen] genügt
schon deshalb nicht den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, weil es die Collage von vornherein nicht dem Schutzbereich der
Kunstfreiheit zuordnet. Der zusätzliche Hinweis, daß auch Kunst nicht schrankenlos sei, sondern Grenzen der Gesetze unterliege, räumt
den Verfassungsverstoß nicht aus. Diese ‚Hilfserwägung‘ läßt nicht einmal ansatzweise das Bewußtsein erkennen, daß die Grenzen der
Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind ...“
18
OLG Frankfurt/M., NStZ 1984, 119.
19
„Will ein Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung ... von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes abweichen, so hat es die Sache
dem Bundesgerichtshof vorzulegen.“
20
BGH, NJW 1986, 1271.
17
7
Der BGH hat die Sache an das OLG [Frankfurt/M.] zurückgegeben. ... Die Vorlegungsvoraussetzungen sind nicht gegeben.
Das OLG Frankfurt hat das Urteil des BGH vom 10.7.1974 [3 StR 6/71 I] in einem wesentlichen Punkt mißverstanden 21: Es besagt
nicht, daß bei einem in künstlerische Formen gekleideten Angriff auf die Bundesflagge die Kunstfreiheitsgarantie nur unter ganz bestimmten, erschöpfend definierten Voraussetzungen hinter den Schutz der Bundesfarben zurücktreten muß. ...
Der 3. Strafsenat des BGH hat verdeutlicht, daß der Widerstreit zwischen der Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes und einer
den Bestand der Bundesrepublik und ihre Grundordnung nicht gefährdenden Verunglimpfung der Bundesflagge nur über eine fallbezogene Abwägung zu lösen ist, für die eine Vielzahl von Gesichtspunkten von Bedeutung sein kann. ...
Dem OLG ist ... Gelegenheit zu geben, die Entscheidungserheblichkeit der Divergenz erneut zu prüfen.
Hierfür gab der Bundesgerichtshof dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. als „Segelanweisung“ 22 mit auf den Weg:
Der Senat hält es für möglich, daß das OLG zu dem Ergebnis gelangt, auch nach Durchführung der vom BGH geforderten fallbezogenen Abwägung sei die Revision zu verwerfen.
Nunmehr – mit über zweijähriger Verzögerung – verwarf der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt/M. am 17. Januar 1986
die Sprungrevision des „Prolit“-Geschäftsführers – die vom Bundesgerichtshof für erforderlich gehaltene Abwägung gehorsam und
ausführlichst dem seit jeher für richtig gehaltenen Ergebnis zuführend 23 – man lese schmunzelnd:
Der Senat folgt vorliegend dieser Auslegung des Urteils vom 10.7.1974 [BGH 3 StR 6/71 I]. Die erforderliche fallbezogene Abwägung auf der Grundlage der amtsgerichtlichen Feststellungen ergibt, daß es sich bei der Darstellung des auf die Bundesflagge urinierenden Mannes um eine besonders üble Verunglimpfung handelt. Die Bundesflagge, Symbol der Bundesrepublik Deutschland
und ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung, wird durch den auf die Flagge urinierenden Mann besonders verächtlich gemacht und damit Ehre und Ansehen des von ihr symbolisierten Staates und seiner Ordnung erheblich verletzt. Der Angriff richtet
sich auch nicht gegen diejenigen, die die Flagge nach der der Thematik der Druckschrift innewohnenden Vorstellung mißbrauchen
könnten, sondern gegen die Flagge und die von ihr symbolisierte Staatlichkeit selbst. Dies gilt insbesondere, weil die Flagge auf der
Collage bei einem Fahneneidzeremoniell der Bundeswehr gezeigt wird. Bei der Zeremonie unter Einbeziehung der Bundesflagge
handelt es sich um eine Äußerung des Staates, deren Bedeutung er durch die feierliche Form hervorgehoben hat. Unabhängig davon, wie man zu der öffentlichen Vereidigung steht, liegt daher in der Verunglimpfung der Bundesflagge bei diesem Anlaß eine empfindliche Herabsetzung von Ehre und Ansehen des Staates. Von der Verunglimpfung der Flagge und des von ihr symbolisierten
Staates geht vorliegend auch eine erhebliche Breitenwirkung aus. Die Verbreitung der Schmähung in Bildform auf dem Einband eines Buches wirkt wesentlich nachhaltiger als etwa Verbreitung durch Handzettel. Bücher leben länger als diese. Bücher werden ferner nicht nur weiterverkauft, sondern auch verliehen. Eine Bilddarstellung auf dem Einband ist für den Besitzer stets präsent, ohne
daß er das Buch lesen muß. Die Wirkung des Einbands auf Käufer oder Entleiher ist nicht anders, als es die Ausstellung des Buchs
im Schaufenster wäre. Wie schon dargelegt, berührt die Verunglimpfung der Flagge auch den Staat und seine Ordnung, die von der
Mehrheit der Bevölkerung bejaht werden. Demgegenüber muß die dem einzelnen zustehende Kunstfreiheitsgarantie zurücktreten.
Das folgt aus der Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums innerhalb der Bevölkerung. Hiernach bestehen unter dem Gesichtspunkt der Kunstfreiheit keine Hindernisse, die Verunglimpfung der Bundesflagge strafrechtlich nach § 90a StGB zu ahnden.
Beinahe „trotzig“ konnte es sich das Oberlandesgericht Frankfurt/M. dennoch nicht verkneifen, in einem Amtlichen Leitsatz zusätzlich noch zu betonen, dass seiner Auffassung nach niemals zwischen der Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG und dem Schutz für das
staatliche Symbol der Bundesflagge in Art. 22 GG abzuwägen ist, sondern Letzterem immer Vorrang gebührt:
Der Senat hält jedoch an seiner Auffassung fest, deren Anwendung vorliegend dahingestellt bleibt, daß die Kunstfreiheitsgarantie
des Art. 5 III GG durch § 90a StGB eingeschränkt wird; den durch diese Strafbestimmung geschützten Verfassungsrechtsgütern
kommt ein so hoher Rang zu, daß das individuelle Grundrecht der Kunstfreiheit ihnen gegenüber genauso zurücktreten muß wie
hinter den an Ehre und Menschenwürde orientierten sozialen Geltungs- und Anerkennungsanspruch des einzelnen.
21
Das Urteil des 3. BGH-Senates (auch bekannt als „Notstandsschwein“- oder „Sparschweinchen“-Entscheidung) ist wiedergegeben bei jurion (JurionRS 1974, 12371). Es ging um eine größere Anzahl von aus Plastik in der Form eines Schweins hergestellten Spardosen mit den
Farben der Bundesrepublik Deutschland sowie mit einem Hakenkreuz auf weißem kreisförmigem Untergrund, die HP „Pepe“ Alvermann
(* 1931; † 2006), ein Pop-Artist, 1965 gefertigt und an verschiedene Kunstsammlungen, Museen und Galerien in der Bundesrepublik
Deutschland verschickt hatte, um sie dort zum Verkauf anbieten zu lassen. Die „deutschen Notstandsschweine" sollten Protest gegen die
nach Alvermanns Ansicht verfassungswidrigen Notstandsgesetze ausdrücken. Siehe dazu Der Spiegel vom 19.7.1971 (http://
www.spiegel.de/spiegel/print/d-43144950.html); NRhZ-Online vom 15.4.2015 (http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=21501).
Abb.: images.lottissimo.com, http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=21501
22
Unter „Segelanweisung“ versteht man gemeinhin Hinweise eines Rechtsmittelgerichts an die untere Instanz, auf welchem Weg oder mit
welcher Begründung das gewünschte Ergebnis seine Billigung finden könnte.
23
OLG Frankfurt/M., NJW 1986, 1272.
8
Kaum eine Überraschung, dass so viel grundsätzliches rechtliches Durcheinander eine Verfassungsbeschwerde des nunmehr seit
vier Jahren von den Strafverfolgungsbehörden belangten „Prolit“-Geschäftsführers zur Folge hatte 24.
Das Bundesverfassungsgericht verband die Verfassungsbeschwerde mit einer zweiten, die ebenfalls das Motiv des Rückumschlages des Buches „Laßt mich bloß in Frieden“ betraf und eine strafrechtliche Verurteilung zum Gegenstand hatte, die durch eine Meldung über die Beschlagnahmeaktionen Anfang 1982 durch die Hamburger Staatsanwaltschaft ausgelöst worden war.
Es ging um Peter Jochen Bosse, Inhaber des in Michelstadt ansässigen „Neuthor-Verlags“ und in den 80er Jahren Redakteur der
Zeitschrift „Mitbürger! – Odenwälder Flugschrift” 25, einem von Mai 1979 bis April 1987 in 68 Ausgaben erschienen DKP-nahen lokalen Forum im alternativen Milieu, vertrieben im Raum Odenwaldkreis und Darmstadt.
Folgen wir – weitgehend wörtlich – den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts 26:
Der Beschwerdeführer Bosse gehörte 1982 der Redaktion der Zeitschrift „Mitbürger! – Odenwälder Flugschrift" an.
Abb.: Mitbürger! – Odenwälder Flugschrift Nr. 20 vom März/April 1982, S. 1
In deren Nr. 20 vom März/April 1982 stand auf Seite 8 eine Meldung über Durchsuchungsaktionen der Hamburger Staatsanwaltschaft, deren Ziel die Beschlagnahme des Buches „Laßt mich bloß in Frieden" war. In der Meldung war der Titel des Buches allerdings verfremdet in: „Laßt uns bloß in Frieden!", weil er gleichzeitig als Überschrift eines daran anschließenden Kommentars des
Mitherausgebers des Buches, Henning Venske, zu den staatlichen Maßnahmen diente.
-
Abb.: Mitbürger! – Odenwälder Flugschrift Nr. 20 vom März/April 1982, S. 8
Seite 11 der Zeitschrift trug die Überschrift „Dem Täter auf der Spur" mit der Erläuterung „12386. Folge des beliebten Preisrätsels
unserer Hamburger Staatsanwaltschaft". Gezeigt wurden auf dieser Seite die beiden Fotos, aus denen die Collage auf der Umschlagrückseite des genannten Buches hergestellt worden war. Hier wurden sie jedoch nur an der linken Ecke aneinander stoßend
in leichter Schrägstellung zueinander abgedruckt. Gestrichelte Bildränder mit Scherensymbolen forderten zum Ausschneiden der
Bilder auf.
24
BVerfGE 81, 278.
Siehe dazu Odenwalder Geschichten vom 14.6.2005 (http://www.odenwald-geschichten.de/?p=330).
26
BVerfGE 81, 278.
25
9
Abb.: Mitbürger! – Odenwälder Flugschrift Nr. 20 vom März/April 1982, S. 11
Den Fotos war folgender Text zugeordnet:
Heutiges Motto: Um dem Täter auf die Spur zu kommen, müssen
wir ihm auf die Spur kommen!
Die Aufgabe: Nehmen Sie Schere und Kleister zur Hand und basteln Sie aus den alltäglichen Fotos unten eine ganz gemeine Verunglimpfung.
Kleine Hilfestellung: Denken Sie zuerst nach, was die Bilder ausdrücken könnten!
Neben dem Bild mit dem urinierenden Mann waren folgende Bedeutungsalternativen angegeben:
a) Ein Bild aus der Serie „Der kleine Feuerwehrmann"?
b) Der Herr Senator probiert gerade ein neues Rasierwasser aus?
c) Ein Reklamefoto aus der Broschüre „Darum brauchen wir den
Rhein-Main-Donau-Kanal"?
Neben dem Foto des Vereidigungszeremoniells standen folgende Möglichkeiten zur Wahl:
a) Nach alter stilvoller Hausmannsart wird bei der Bundeswehr
das Teekochen eingeübt?
b) Der Herr Bundespräsident hat ein neues Schneuztuch?
c) Alles Gute kommt von oben?
Nach einem Hinweis auf „wertvolle Preise" schloss die Seite mit der Aufforderung, Lösungen an die „Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht Hamburg" (die es nicht gibt) am Karl-Marx-Platz in Hamburg (den es auch nicht gibt) zu schicken.
Das Amtsgericht Michelstadt verurteilte den Beschwerdeführer wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole zu einer
Geldstrafe von 30 Tagessätzen in Höhe von je 30 DM – und zwar nicht nur nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB 27, sondern auch nach
Nr. 1 der Vorschrift, denn er habe nicht nur die Bundesflagge verunglimpft, sondern auch „die Bundesrepublik Deutschland böswillig
verächtlich gemacht“ 28:
Die Bilder sind einander so zugeordnet, daß der Eindruck entsteht, als ob sie, eigentlich zusammengehörend, nur etwas
„verrutscht" seien und damit die Vorstellung eines auf die Bundesflagge urinierenden Mannes hervorgerufen. ...
In der Darstellung kommt ihrer Form und ihrem Inhalte nach eine häßliche, besonders verletzende und rohe Missachtung des Staates und seines Symbols, der Bundesflagge, zum Ausdruck. Der Flagge wird darin nichts anderes bescheinigt, als daß sie es „wert" sei, darauf die Notdurft zu verrichten. Die Flagge symbolisiert die Bundesrepublik Deutschland.
Damit wird zugleich der Staat als der Achtung des Bürgers unwürdig hingestellt.
Die Böswilligkeit folgt unmittelbar aus der widerwärtigen Art der Anordnung und Verbindung der beiden Bilder ...
Die Prüfung einer Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt der Kunstfreiheitsgarantie aus Artikel 5 Abs. 3 Grundgesetz
führte nicht dazu, die Rechtswidrigkeit zu verneinen.
Die Kunstfreiheitsgarantie erstreckt sich zwar auch auf Personen, die eine Mittlerfunktion zwischen Künstler und Publikum ausüben, also auf diejenigen, die ein Kunstwerk veröffentlichen und verbreiten (Bundesverfassungsgericht NJW
1971 S. 1645 – 1646 –). Es war aber schon zweifelhaft, ob die Fotomontage überhaupt als Kunstwerk im Sinne des Artikel 5 Abs. 3 Grundgesetz angesehen werden konnte (und ihr nicht als bloßem „Machwerk“ die rechtlich allein bedeutsa27
§ 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB: „Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) ... die Bundesrepublik
Deutschland oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder böswillig verächtlich macht ..., wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
28
AG Michelstadt, Urteil vom 19.4.1983 – 2 Js 10855/82 Cs. Das bislang unveröffentlichte Urteil sei hier ausführlicher wiedergegeben.
10
me Kunstwerkeigenschaft zu versagen war – zur Notwendigkeit dieser Prüfung: Bundesverfassungsgericht am angegebenen Ort). Auch wenn man die Kunstwerkeigenschaft bejahte, so hatte jedenfalls das Recht der künstlerischen Betätigung (und der Verbreitung des Kunstwerks) zurückzutreten hinter dem durch § 90a StGB ausgedrückten Verbot, die
Bundesrepublik Deutschland und ihre Staatssymbole zu verunglimpfen.
Trotz des Wortlautes von Artikel 5 Abs. 3 Grundgesetz bis das Grundrecht der Kunstfreiheit nicht schrankenlos garantiert. Grenzen werden ihr jedoch nur durch die Verfassung selbst gezogen, wobei ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der
Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen ist (Bundesverfassungsgericht am
angegebenen Ort; später etwas anders: NJW 1972 S. 1934; dazu kritisch: Würtenberger JR 1979 S. 309). Die in Artikel
5 Abs. 3 Grundgesetz garantierte Kunstfreiheit kann ihre Grenzen also nur in anderen Verfassungswerten finden und
muß gegen diese abgewogen werden.
Zu diesen Verfassungswerten zählen auch die durch § 90a StGB geschützten Gemeinschaftsgüter des Ansehens und
der Würde des Staates. Hinter beiden Rechtsgütern steht die Bestandskraft der Bundesrepublik Deutschland und ihrer
verfassungsmäßigen Ordnung (untergliedert in Bejahung, Bereitschaft zum Engagement und Sensibilität für Gefahren),
sowie der durch das Bekenntnis zu diesen Objekten berührte öffentliche Friede (vergl. dazu und zum folgenden:
Schroeder JR 1979 S. 89).
Das Ansehen insbesondere der Verfassung ist für deren Existenz lebensnotwendig. Gerade der freiheitlich demokratische Rechtsstaat kann auf die Zustimmung der Bürger zu den Grundwerten der Verfassung nicht verzichten und ist in
hohem Maße von der Massenloyalität der Bürger abhängig. Angriffe auf diese Zustimmung kommen bereits einem Angriff auf seine Existenz gleich (Schroeder am angegebenen Ort). Das Ansehen von Staat und Verfassung offenbaren
sich in ihrer Bedeutung als strafrechtlich geschützte Rechtsgüter, wenn es um die Bestrafung der Verunglimpfung von
Staatssymbolen geht (vergl. zum folgenden: Würtenberger JR 1979 S. 309 ff. mit weiteren Hinweisen).
Denn der Schutz von Staatssymbolen dient unmittelbar dem Schutz des Ansehens des Staates. Existenz und Einheit der
Staatsgemeinschaft bedürfen einer steten Gegenständlichmachung, die vor allem mit Hilfe von Staatssymbolen zu erreichen versucht wird. Sie haben die wichtige Funktion der inneren Festigkeit der von den Bürgern repräsentierten Staatsgemeinschaft zu dienen.
Waren somit die Schutzobjekte des § 90a StGB als fundamentale Verfassungswerte anzuerkennen, so mußten bei der
Abwägung mit dem konkurierenden Verfassungswert der Kunstfreiheit weiter berücksichtigt werden die Gefahrensituationen, die sich auf die Geltung der Verfassungswerte, Würde und Ansehen des Staats ungünstig auswirken. In der Gegenwart ist offenkundig, daß der Staat, die Verfassung und die Staatssymbole nicht unerheblichen Angriffen ausgesetzt
sind. Angesichts der vielgestaltigen Aggressionen darf nicht vergessen werden, daß die Weimarer Republik infolge dauernder Angriffe auf ihren Bestand, wie sie nicht zuletzt durch die damalige Symbolverachtung zum Ausdruck kamen, unterging (Würtenberger am angegebenen Ort S. 313). Eine fehlende Selbstverteidigung des Staates gegen Verunglimpfungen lähmt die Bereitschaft zum (auch kritischen) Engagement in Staat und Verfassung und führt zu Resignation und
Staats- und Verfassungsverdrossenheit (Schröder am angegebenen Ort S. 90).
Bei Berücksichtigung dieser Überlegungen kam das Gericht zu der Überzeugung, daß § 90a Abs. 1 StGB eine gültige
und legitime Schranke der Kunstfreiheitsgarantie darstellte.
Für die Ermittlung des Inhalts der Fotomontage, die in Anwendung der Kunstform der Satire (oder Karikatur) die Äußerung einer bestimmten Meinung in einer übertriebenen, bzw. verzerrten Form darbot, auf ihren strafbaren Inhalt im Hinblick auf § 90a StGB, mußte zwischen dem objektiven Sinn der Darstellung und ihrer Einkleidung unterschieden werden.
Kern der Aussage der Fotomontage ist, wie man es auch dreht oder wendet, die Mißachtung [der] (bei der Rekrutenvereidigung verwendeten) Flagge (und damit der durch sie symbolisierten Bundesrepublik Deutschland). Es wird nicht die
Militarisierung des öffentlichen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland angeprangert. Der Angriff richtet sich unmißverständlich nicht gegen diejenigen, welche die Flagge (nach der inneren Logik der Behauptung) mißbrauchen, sondern
gegen diese selbst.
Die Fotomontage enthält keinen verschlüsselten satirischen Gehalt, sondern ist leicht zu durchschauen.
Der Aussagekern, die Mißachtung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Fahne, wird durch die Einkleidung unterstützt. Das Urinieren auf die Fahne stellt eine in starker Weise herabsetzende Schmähkritik dar, durch welche die Flagge
als besonders verachtenswert hingestellt wird. Die satirische Form dient nicht der überspitzenden Darstellung eines Teiles des wirklichen Lebens, sondern dazu, um eine besondere Heftigkeit des ehrabschneidenden Angriffs auszumachen.
Denn nicht die Flaggenzeremonie selbst, als Ausschnitt eines als nicht hinnehmbar empfundenen realen Lebensvorganges wird künstlerisch verzerrt, als vielmehr der Angriff gegen die Bundesrepublik Deutschland und ihre Flagge durch
das, was als satirische oder karikierende Überspitzung ausgegeben wird, verstärkt.
Die Fotomontage als satirisches oder karikierendes Kunstwerk verstanden, war somit verbotswidrig im Sinne des § 90a
StGB.
Bosse scheiterte in der Berufung am Landgericht Darmstadt 29:
Durch den mittels der Anordnung der beiden Bilder wiedergegebenen Vorgang des Urinierens auf die Fahne wurde die
Bundesflagge in einer besonders schimpflichen und widerwärtigen Weise verächtlich gemacht. Für jeden unbefangenen
Betrachter kam durch eine solche Fotomontage zum Ausdruck, daß die Bundesflagge nicht mehr wert sei, als daß man
auf sie seine Notdurft verrichte. Zugleich wurden damit das Ansehen und die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland in einer besonders verletzenden und häßlichen Weise herabgesetzt. Die ausgebreitete Bundesflagge in der Hand der Soldaten stand bei der Vereidigungszeremonie in besonderem Maße für Ansehen, Würde und
verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik, für deren Bestand die Rekruten beim Fahneneid den Einsatz ihres
Lebens in feierlicher Form gelobten. Die grobe Mißachtung der Fahne bedeutete in diesem Zusammenhang, daß auch
der Staat, dem das Treuegelöbnis galt, so viel wert sei wie die Fahne, in der er sich versinnbildlicht, nämlich nichts. Die
Böswilligkeit dieser Mißachtung ergab sich unmittelbar aus der Art der Anordnung und Verbindung der beiden Bilder. So
mußte jeder objektive Betrachter den Aussagegehalt der Fotomontage und ihres Begleittextes verstehen. Daran ändert
nichts, daß nach der Vorstellung des Angeklagten Angriffsziel der Fotomontage der Fahneneid und das Vereidigungszeremoniell sein sollten, nicht aber die Flagge und der Staat, dem das Treuegelöbnis geleistet wurde. Auch wenn der Urin
29
LG Darmstadt, Urteil vom 20.9.1983 – 2 Js 10855/82 Cs - 1 Ns. Auch dieses bislang unveröffentlichte Urteil sei hier ausführlicher wiedergegeben.
11
nicht der Fahne galt, sondern dem Vereidigungszeremoniell, so traf er doch die Fahne und war die Verächtlichmachung
der Flagge und des Ansehens des Staates das Mittel, um dadurch das Vereidigungszeremoniell selbst anzugreifen. Es
bleibt eine Verunglimpfung der Fahne und des Staates, auch wenn dies nicht der Zweck der Abbildungen sein sollte,
sondern nur das Mittel zu dessen Erreichung. Um das vereidigungszeremoniell – auch in scharfer Form – anzugreifen,
hätte es andere, weit wirkungsvollere Möglichkeiten gegeben. Für den objektiven Betrachter stellte sich das Vereidigungszeremoniell auf der Fotomontage als komplexer Vorgang dar, der die Fahne, die durch diese symbolisierte staatliche Ordnung und das Treuegelöbnis in eins zusammenfaßte, ohne daß sich nach dem Aussagegehalt des Bildes trennen ließ, daß der Urin ... nicht der Fahne gelten sollte, sondern dem Vereidigungszermoniell, das sich wiederum um die
Fahne als dessen symbolischen Beziehungspunkt abspielte. ...
Es kann dahinstehen, ob die ... Fotomontage ein Kunstwerk im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG war. Jedenfalls vermag auch
die Kunstfreiheitsgarantie keine Verunglimpfung der in § 90a StGB geschützten Rechtsgüter zu rechtfertigen. Trotz des
Wortlauts von Art, 5 Abs. 3 GG sind dem Grundrecht der Kunstfreiheit verfassungsimmanente Grenzen durch die grundgesetzliche Wertordnung gezogen. Zu den übergeordneten Verfassungswerten, die durch § 90a StGB geschützt werden, gehören das Ansehen und die Würde des Staates, die auf der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik
Deutschland beruhen. Auch der Bundesflagge als Staatssymbol Kommt als Schutzobjekt des § 90a StGB ein gleichhoher Rang zu. Die Bundesflagge in dieser Bedeutung ist ein Sinnbild für den freiheitlich demokratischen Rechtsstaat. Sie
hat eine integrierende Wirkung auf alle sich zu diesem Staat und seiner Verfassung bekennenden Bürger. Gerade die
freiheitliche Demokratie ist von der sich ständig erneuernden Zustimmung ihrer Bürger zu den Grundwerten ihrer Verfassung abhängig: sie findet ihren Ausdruck auch in der Zustimmung zu den Staatssymbolen. Eine Verunglimpfung von
Staatssymbolen rührt an das Ansehen des Staates, wie er sich in den Augen seiner Bürger darstellt. Die Kunstfreiheitsgarantie hat demgegenüber zurückzutreten.
Das Oberlandesgericht Frankfurt/M. – allerdings diesmal nicht der 2., sondern der 5. Strafsenat – verwarf die Revision schließlich
ohne nähere Begründung als offensichtlich unbegründet 30.
Auch Bosse legte daraufhin Verfassungsbeschwerde ein.
Das Bundesverfassungsgericht holte zu den Verfassungsbeschwerden Stellungnahmen der Hessischen Landesregierung und der
Bundesregierung ein.
Dem Bundesminister der Justiz erschien es bereits zweifelhaft, ob die Collage „als Kunst anzusehen“ sei. Es handele sich bei ihr
„um eine primitive Darstellung obszöner Handlungen ohne erkennbaren künstlerischen Aussagewert ... allein zu dem Zweck geschaffen ..., politische Wirkungen zu erzielen“. Jedenfalls, da war sich Bundesminister der Justiz mit dem Hessische Ministerpräsidenten einig, habe die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG hier hinter die kollidierende Schutznorm des Art. 22 GG, durch den
die Bundesflagge Verfassungsrang erhalten habe, zurückzutreten.
Das Bundesverfassungsgericht trat jedoch der geballten Meinungsmacht aus Politik und Fachgerichtsbarkeit entgegen und befand
beide Verfassungsbeschwerden für begründet. „Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.“ Dieser Beschluss ging als „Bundesflaggen“-Entscheidung in die verfassungs- und strafrechtliche Literatur ein.
Zunächst legte das Bundesverfassungsgericht anhand zweier von ihm schon früher entwickelten Kunstbegriffe dar, dass es sich bei
der Collage um Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG handelt:
Bei der Darstellung auf der Umschlagrückseite des Buches „Laßt mich bloß in Frieden" handelt es sich um eine aus Fotografien zusammengesetzte Collage. Sie entspricht damit einer inzwischen herkömmlichen Form bildender Kunst, ohne daß geklärt zu werden
braucht, ob und in welchem Umfange die dabei verwendeten Lichtbilder als solche „Kunst" im Sinne der Kunstfreiheitsgarantie sind.
Damit bezog sich das Bundesverfassungsgericht auf den in seinem Beschluss zum „Anachronistischen Zug“ 31 zugrunde gelegten
formalen Kunstbegriff 32: Das Wesentliche eines Kunstwerkes könne auch darin gesehen werden, „daß bei formaler, typologischer
Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind“ – ein Kunstbegriff, „der nur an die Tätigkeit und die
Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpft“. Die Collage ist seit den „Papiers collés“ der Kubisten Werktypus der
Bildenden Kunst, insbesondere aus dem Dadaismus oder der Pop Art nicht wegzudenken.
30
OLG Frankfurt/M., Beschluss vom 10.6.1987 – 5 Ss 8/84 (unveröffentlicht).
Der „Anachronistische Zug“ bezeichnet ein 1980 in München aufgeführtes politisches Straßentheater, das auf dem 1947 entstandenen
gleichnamigen Gedicht von Bertolt Brecht basierte und in dessen Rahmen der damalige Bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß
beleidigt worden sein sollte.
32
BVerfGE 67, 213 (226 f.).
31
12
Abb.: Jacqueline Hyde – Centre Pompidou, MNAM-CCI /Dist. RMN-GP / Succession Picasso, https://www.centrepompidou.fr/cpv/resource/cn7rLjE/ryn8zgj
Abb.: http://walter-benjamin-bluemchen.tumblr.com/post/726707468/kurt-schwitters-1887-1948-das-undbild
Abb.: http://es.phaidon.com/agenda/art/articles/2011/september/13/richard-hamilton-father-of-pop-art-1922-2011/
Pablo Picasso (* 1881; † 1973): La Bouteille de vieux marc, verre et journal (1912/13). Paris, Centre Pompidou, Cabinet d'art graphique
Kurt Schwitters (* 1887; † 1948): Das Undbild, Merzbild (1919). Stuttgart, Staatsgalerie
Richard Hamilton (* 1922; † 2011): Just What Is It That Makes Today's Homes So Different, So Appealing? (1956). Tübingen, Kunsthalle
Das Bundesverfassungsgericht wollte offenbar jedoch nicht darauf abstellen, dass (wie es an anderer Stelle im „Bundesflaggen“Beschluss hervorhebt 33) „die Collage als Karikatur, also als satirische Darstellung, einzuordnen“ ist. Karikatur und Satire sind eigentlich ebenfalls ein Werktypus der Bildenden Kunst bzw. der Literatur („Dichtkunst“).
Das Bundesverfassungsgericht hatte jedoch schon in der „Strauß-Karikaturen (als kopulierendes Schwein)“-Entscheidung von der
„Sonderstellung von Satire und Karikatur“ gesprochen, bezeichnete sie dort allerdings außerdem ausdrücklich als „Kunstgattung“ 34 –
wie dann auch wieder im „Bundesflaggen“-Beschluss 35. Später jedoch, 1992, hat es dann im „Titanic (/ geb. Mörder)“-Beschluss 36
nicht mehr von der Satire als einer Kunstgattung gesprochen, sondern differenziert 37:
Der Beitrag ... ist ... durch satirische Verfremdung geprägt. Seine satirischen Elemente heben ihn jedoch noch nicht in
den Rang eines durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Kunstwerks. Satire kann Kunst sein; nicht jede Satire ist jedoch Kunst. Das ihr wesenseigene Merkmal, mit Verfremdungen, Verzerrungen und Übertreibungen zu arbeiten, kann
ohne weiteres auch ein Mittel der einfachen Meinungsäußerung ... sein.
Nun ist der „Titanic“-Beschluss nicht nur deshalb problematisch, weil er keine Kriterien nannte, anhand derer beurteilt werden könnte, wann Satire den Bereich der Meinungsfreiheit überschreitet und an der Kunstfreiheitsgarantie teilhat 38. Die Differenzierung in
„künstlerische“ und „einfache meinungsäußernde“ Satire scheint zudem die regelmäßig vom Bundesverfassungsgericht (ein paar
Sätze später auch in der „Bundesflaggen“-Entscheidung wieder 39) untersagte „staatliche Stil- oder Niveaukontrolle“ doch zuzulassen. Der Beschluss wirft insbesondere die Frage auf, ob er damit nicht letztlich den formalen Kunstbegriff als – zumindest alleiniges
Kriterium – „beerdigt“ hat.
Das im „Titanic“-Beschluss später zum Ausdruck gekommene Unbehagen, Satire allgemein der Kunstfreiheit zu unterstellen, dürfte
das Bundesverfassungsgericht schon im „Bundesflaggen“-Beschluss veranlasst haben, sie im Zusammenhang mit dem formalen
Kunstbegriff nicht zu erwähnen.
Das Bundesverfassungsgericht beließ es aber nicht nur bei dem formalen Kunstbegriff:
Neben diesen ausschließlich formalen, typologischen Aspekt tritt ein inhaltlicher. Der Schöpfer des Werks trifft durch die nicht maßstabsgerechte Zuordnung der Fotografien zueinander, also durch eine bildhafte und gleichzeitig verfremdende Verknüpfung zweier
Lebensvorgänge, eine eigenständige interpretationsfähige und -bedürftige Aussage. Er bringt im Wege freier schöpferischer Gestaltung seine Auffassung zu der Vereidigungszeremonie zum Ausdruck. Damit genügt die Collage zugleich den wertbezogenen
Grundanforderungen, die das Bundesverfassungsgericht in der Mephisto-Entscheidung aufgestellt hat (vgl. BVerfGE 30, 173, 189).
Das Bundesverfassungsgericht hob hier auf den sogenannten materialen Kunstbegriff ein, den es 1971 im „Mephisto“-Beschluss 40
entwickelt hatte 41:
Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Er33
BVerfGE 81, 278 (294).
BVerfGE 75, 369 (377).
35
BVerfGE 81, 278 (294).
36
In einem im Satiremagazin „Titanic“ im März-Heft 1988 enthaltenen Beitrag wurde der Schmerzensgeld begehrende Kläger des Ausgangsverfahrens in der ständigen Rubrik „Die sieben peinlichsten Persönlichkeiten” neben anderen Personen – „Desiree Becker (geb.
Nosbusch), Richard v. Weizäcker (geb. Bürger)" – namentlich aufgeführt und sein Name mit dem Klammerzusatz „(geb. Mörder)" versehen,
weil er sich trotz einer Querschnittslähmung bemühte, bei der Bundeswehr zu einer Wehrübung einberufen zu werden.
37
BVerfGE 86, 1 (9).
38
Siehe dazu Schmidt-De Caluwe, NVwZ 1992, 1167 f.
39
BVerfGE 81, 278 (291).
40
BVerfGE 30, 173 (188 f.). In der Entscheidung ging es um den Roman „Mephisto“ des Schriftstellers Klaus Mann (* 1906; † 1949), in
dem der verstorbene Schauspieler Gustav Gründgens herabgewürdigt worden sein sollte.
41
BVerfGE 30, 173 (188 f.).
34
13
lebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht
werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht
Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.
Der Vollständigkeit halber: In der „Bundesflaggen“-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht nicht auch noch den ebenfalls
in seiner Entscheidung zum „Anachronistischen Zug“ entwickelten dritten Kunstbegriff herangezogen 42, der dem materialen näher
steht als dem formalen: den offenen Kunstbegriff. Während der materiale mehr auf den schöpferischen Akt des Künstlers blickt, fokussiert der offene eher den interpretativen Aspekt: Das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung liegt nach diesem
Kunstbegriff darin, „daß es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so daß sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt“.
Der Umstand, dass selbst die mit der Collage beschäftigten Gerichte sich nicht in der Interpretation einig geworden sind, ob sie sich
gegen den Fahneneid oder gegen die Fahne selbst richtet, mag dafür sprechen, auch den offenen Kunstbegriff zu bejahen.
Offenbar als Reaktion auf die Stellungnahme des Bundesjustizministeriums der Justiz, das den Kunstcharakter der Collage auf dem
Buchumschlag anzweifelte, weil sie eine „primitive Darstellung obszöner Handlungen“ sei und nur den Zweck habe, „politische Wirkungen zu erzielen“, ergänzte das Bundesverfassungsgericht, seine Rechtsprechung aus dem „Strauß-Karikaturen“-Beschluss wiederholend:
Die Anstößigkeit der Darstellung nimmt ihr nicht die Eigenschaft als Kunstwerk. Kunst ist einer staatlichen Stil- oder Niveaukontrolle
nicht zugänglich (vgl. BVerfGE 75, 369, 377 [Strauß-Karikaturen]). Die Tatsache, daß der Künstler mit seinem Werk eine bestimmte
Meinung vermitteln will, entzieht es gleichfalls nicht dem Schutz des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Eine Meinung kann – wie es bei der
engagierten Kunst üblich ist – durchaus in künstlerischer Form kundgegeben werden. Maßgebliches Grundrecht bleibt in diesem
Fall Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, weil es sich um die spezielle Norm handelt (vgl. BVerfGE 30, 173, 200 [Mephisto]; 75, a.a.O.) 43.
Sodann begründete das Bundesverfassungsgericht, warum es vorliegend den Geschäftsführer eines Buchvertriebs und den Redakteur eines Regionalblättchens, die beide vielleicht noch nie Pinsel oder Schere in die Hand genommen haben, in den Schutz der
Kunstfreiheit stellt:
Die Kunstfreiheit streitet für die Beschwerdeführer, obwohl sie nicht Schöpfer der jeweiligen Werke sind. Der personelle Geltungsbereich dieses Grundrechts erstreckt sich auch auf den Wirkbereich des Kunstwerks (vgl. BVerfGE 30, 173, 189 [Mephisto]; st. Rspr.).
Das bedeutet, daß alle Personen, die eine unentbehrliche Mittlerfunktion zwischen Künstler und Publikum ausüben, in den Grundrechtsschutz einbezogen sind. Zu diesem Personenkreis müssen auch diejenigen gezählt werden, die – wie die Beschwerdeführer –
daran mitwirken, das Kunstwerk geschäftsmäßig zu vertreiben.
Diese ständige Rechtsprechung war von keinem der vorhergehenden Gerichte 44 und auch nicht den Stellung nehmenden Regierungen in Frage gestellt worden – was hinsichtlich des Redakteurs der Zeitschrift „Mitbürger! – Odenwälder Flugschrift“ etwas überraschen vermag: Hat Bosse wirklich daran mitgewirkt, das Kunstwerk Holtfreters zu vertreiben? Konnte er sich auf das Grundrecht berufen? „Wirkt“ auch der daran „mit“, ein „Kunstwerk geschäftsmäßig zu vertreiben“, der es im redaktionellen Teil seiner von ihm geschäftsmäßig vertriebenen Zeitschrift zur Grundlage eines eigenständigen neuen Beitrages („Preisrätsel“) macht?
Im vom Bundesverfassungsgericht angeführten „Mephisto“-Beschluss hatte es dazu nichts Einschlägiges formuliert, sondern nur betont 45:
Nicht nur die künstlerische Betätigung (Werkbereich), sondern darüber hinaus auch die Darbietung und Verbreitung des
Kunstwerks sind sachnotwendig für die Begegnung mit dem Werk als eines ebenfalls kunstspezifischen Vorganges; dieser „Wirkbereich", in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird, ist der Boden, auf dem die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG vor allem erwachsen ist. Allein schon der Rückblick auf das nationalsozialistische
Regime und seine Kunstpolitik zeigt, daß die Gewährleistung der individuellen Rechte des Künstlers nicht ausreicht, die
Freiheit der Kunst zu sichern. Ohne eine Erstreckung des personalen Geltungsbereichs der Kunstfreiheitsgarantie auf
den Wirkbereich des Kunstwerks würde das Grundrecht weitgehend leerlaufen.
Dementsprechend ist es zwar völlig unproblematisch, den Geschäftsführer der „Prolit“, die von den „Machern“ des Buches mit dessen Vertrieb beauftragt war, in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG aufzunehmen. Ohne Buchvertrieb wären das Buch und die
Collage auf der Umschlagseite im wahrsten Sinne des Wortes wirkungslos.
Aber übte auch der andere Beschwerdeführer, der Redakteur des „Mitbürgers!”, eine, wie das Bundesverfassungsgericht fordert,
„unentbehrliche Mittlerfunktion zwischen Künstler und Publikum“ aus? Wirkte Bosse daran mit, Holtfreters Kunstwerk „geschäftsmäßig zu vertreiben“? Ist nicht vielmehr zu konstatieren, dass das Urheberrecht nicht jedem Dritten erlaubt, ein Werk zu verbreiten (§
17 UrhG), und auch nicht, es umzugestalten (§ 23 UrhG), was Bosse mit seinem Zweiteilen getan hat?
42
BVerfGE 67, 213 (227).
Ergänzend führte das BVerfG (S. 192 f.) aus: „Zur Kunstqualität der im Rahmen des ‚Preisrätsels‘ verwendeten Collage gilt das ... Gesagte. Daran ändert es nichts, daß die beiden Fotografien in leichter Schrägstellung zueinander abgedruckt sind. Daß und in welcher Weise die Bilder ‚zusammengehören‘, verdeutlicht auch diese Art ihrer Anordnung hinreichend.“
44
Schon das AG Hamburg, DuR 1982, 335 (336) hatte mit dieser Begründung nicht nur Holtfreter, sondern auch die Mitangeklagten, den
Mitherausgeber Ney und die Angestellte des „Buntbuch-Verlages“, freigesprochen: „Nicht nur der Angeklagte Holtfreter, sondern auch die
Angeklagten Ney und Lüdemann stehen unter dem Schutz der Kunstfreiheit, denn Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz garantiert die Freiheit
der Betätigung im Kunstbereich auch insoweit, als es zur Herstellung der Beziehung zwischen Publikum und Künstler der publizistischen
Medien bedarf und Personen hierbei vermittelnd tätlg sind (BVerfG NJW 1971, 1646 [Mephisto]).“
45
BVerfGE 30, 173 (189).
43
14
Abb.: Mitbürger! – Odenwälder Flugschrift Nr. 20 vom März/April 1982, S. 11 (Ausschnitt)
Konkret: Soll wirklich auch derjenige der Kunstfreiheit des Urhebers eines Kunstwerkes teilhaftig werden, der es in (wirtschaftlicher)
Konkurrenz zum Künstler (und nicht „für“ den Künstler) geschäftsmäßig verwertet 46, oder es verändert, gar (zumindest aus Sicht des
Künstlers) entstellt (vgl. § 14 UrhG)?
Im konkreten Fall lassen sich diese Bedenken allerdings zerstreuen: Auf Seite 8 im „Mitbürger!“ findet sich ein Text, der
vermutlich von Bosse verfasst wurde, jedenfalls presserechtlich zu verantworten war und nur als Werbung wenigstens
um Solidarität für das Buch verstanden werden kann. Der Text stellt die Durchsuchungen abwertend als „geballte Aktion“
der Staatsanwaltschaft dar und endet damit, den Mitherausgeber von „Laßt mich bloß in Frieden“ Venske zu nennen,
den (allerdings leicht abgewandelten) Titel übergroß zentral wiederzugeben sowie verklausuliert darauf hinzuweisen,
dass das Buch in Südhessen erhältlich sei („... im Odenwald ... schon gesehen worden“).
Abb.: Mitbürger! – Odenwälder Flugschrift Nr. 20 vom März/April 1982, S. 8 (Ausschnitt)
Darunter folgte ein Text Venskes, der dort Gelegenheit hatte, dort den Inhalt und die politische Stoßrichtung des Buches
auf mehr als einer halben Seite zu verteidigen.
Kurzum: Bosse und sein „Mitbürger!“ waren darin eingebunden, das Buch mit Holtfreters Collage „geschäftsmäßig zu
vertreiben“.
Eine andere Frage ist es, ob Bosse seinerseits ohnehin als Urheber dieser „neuen“ Collage im „Mitbürger!“ selbst als Künstler in den
Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG einbezogen werden muss 47.
46
Vgl. BGHZ 143, 214 (229 f.) – Marlene: „Der Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, es handele sich um Werbemaßnahmen für das Musical, die von der Kunstfreiheit gedeckt seien. Zwar fällt auch die Werbung für ein Kunstwerk unter den Schutz des
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Denn die Kunstfreiheit schützt nicht nur die eigentliche künstlerische Betätigung, den ‚Werkbereich‘ des künstlerischen Schaffens, sondern auch den ‚Wirkbereich‘, in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird. Hierzu zählt auch
die Werbung für das Kunstwerk (vgl. BVerfGE 77, 240, 251 f. m.w.N.). Mit dem Bildnis und dem Namen von Marlene Dietrich sollte jedoch
nicht für das Musical geworben, sondern ausschließlich der Absatz der damit ausgestatteten Produkte gefördert werden.“
47
Siehe dazu das BVerfG (S. 192): „... die Collage [ist] in eine Satire eingebettet ..., die sich gegen staatliche Verfolgungsmaßnahmen richtet. Da aber diese selbst am Schutz des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG teilnimmt, ändert sich dadurch die verfassungsrechtliche Einordnung
nicht.“
15
Sodann stellte das Bundesverfassungsgericht – in Übertragung seiner bisherigen Rechtsprechung seit dem „Mephisto“-Beschluss 48
auf den vorliegenden Fall der Verunglimpfung staatlicher Symbole – fest: „Obwohl die Kunstfreiheit vorbehaltlos gewährleistet ist,
schließt dies eine Bestrafung der Beschwerdeführer nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht von vornherein aus“:
Die Garantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG findet ihre Grenzen nicht nur in den Grundrechten Dritter. Vielmehr kann sie mit Verfassungsbestimmungen aller Art kollidieren (vgl. BVerfGE 30, 173, 193 [Mephisto]; Lerche, BayVBl. 1974, S. 177, 180 f.); denn ein geordnetes menschliches Zusammenleben setzt nicht nur die gegenseitige Rücksichtnahme der Bürger, sondern auch eine funktionierende staatliche Ordnung voraus, welche die Effektivität des Grundrechtsschutzes überhaupt erst sicherstellt. Kunstwerke, welche
die verfassungsrechtlich gewährleistete Ordnung beeinträchtigen, unterliegen daher nicht erst dann Schranken, wenn sie den Bestand des Staates oder der Verfassung unmittelbar gefährden. Vielmehr muß in allen Fällen, in denen andere Verfassungsgüter mit
der Ausübung der Kunstfreiheit in Widerstreit geraten, ein verhältnismäßiger Ausgleich der gegenläufigen, gleichermaßen verfassungsrechtlich geschützten Interessen mit dem Ziele ihrer Optimierung gefunden werden (vgl. BVerfGE 77, 240, 253 [Herrnburger
Bericht]).
„Verhältnismäßiger Ausgleich“, „Optimierung“ – der Auffassung des 2. Strafsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt/M., den durch
§ 90a StGB geschützten Verfassungsrechtsgütern komme „ein so hoher Rang zu, daß das individuelle Grundrecht der Kunstfreiheit
ihnen gegenüber ... zurücktreten m uß“ 49, ist damit eindeutig eine Absage erteilt. In dem zitierten „Herrnburger Bericht“-Beschluss 50
hatte das Bundesverfassungsgericht schon 1987 diese „Optimierung“ noch präziser erläutert 51:
[Es] reicht ... nicht aus, die Einschränkung des vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts formelhaft mit dem „Schutz der
Verfassung" oder mit der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zu rechtfertigen. Eine solche pauschale Betrachtung
würde dem hohen Rang dieser Grundfreiheit sowie dem Umstand nicht gerecht, daß das Grundgesetz auf verfassungsrechtlicher Ebene nur ganz bestimmte Vorkehrungen zu ihrem Schutz vorsieht. Es ist daher geboten, anhand einzelner
Grundgesetzbestimmungen die konkret verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter festzustellen, die bei realistischer
Einschätzung der Tatumstände der Wahrnehmung des Rechts aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG widerstreiten, und diese in
Konkordanz zu diesem Grundrecht zu bringen.
Das Bundesverfassungsgericht wiederholte im „Bundesflaggen“-Beschluss diese Ausführungen nahezu wörtlich 52 und ergänzte, bezogen auf den Fall 53:
§ 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB ... schützt die Flagge der Bundesrepublik Deutschland als staatliches Symbol. Dieser Schutz ist in der Verfassung begründet. Dies läßt sich allerdings weder unmittelbar noch ausschließlich aus Art. 22 GG folgern. Dessen normative Aussage beschränkt sich auf die Festlegung der Bundesfarben.
„... läßt sich weder unmittelbar noch ausschließlich aus Art. 22 GG folgern“! Eine – jedenfalls auf den ersten Blick – überraschende
Aussage. Vor allem das OLG Frankfurt/M. hatte doch ausdrücklich § 90a StGB als „strafrechtliche Ausformung“ von Art. 22 GG angesehen 54 – und deshalb, wie auch das Landgericht Hamburg, der Hessische Ministerpräsident und der Bundesminister der Justiz
Art. 22 GG als Schutznorm, als direkten Widerpart zu Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verstanden.
Aber das Bundesverfassungsgericht hat Recht. Nur so wird die schlichte Aussage des (heutigen 55) Abs. 2 des Art. 22 GG „Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold“ nicht überfordert. Denn der Gehalt der Norm beschränkt sich in der Tat „auf die Festlegung der Bundesfarben“ 56 – und selbst das nur „implizit“: „Art. 22 Abs. 2 GG regelt a us dr üc k l ic h nur die Bundesflagge“ 57.
48
BVerfGE 30, 173 (193) – Mephisto: „... ist das Freiheitsrecht nicht schrankenlos gewährt. Die Freiheitsverbürgung in Art. 5 Abs. 3 Satz 1
GG geht wie alle Grundrechte vom Menschenbild des Grundgesetzes aus, d.h. vom Menschen als eigenverantwortlicher Persönlichkeit, die
sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltet (BVerfGE 4, 7 [15 f.]; 7, 198 [205]; 24, 119 [144]; 27, 1 [7]). Jedoch kommt der Vorbehaltlosigkeit des Grundrechts die Bedeutung zu, daß die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind. Da die Kunstfreiheit keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber enthält, darf sie weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden, welche ohne verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt und ohne ausreichende
rechtsstaatliche Sicherung auf eine Gefährdung der für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendigen Güter abhebt. Vielmehr ist
ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen.“
49
OLG Frankfurt/M., NJW 1986, 1272 (1274) (Hervorhebung von hier); ähnlich NStZ 1984, 119 (121).
50
Für eine Aufführung des von Bertolt Brecht verfassten und von Paul Dessau vertonten Chorwerks „Herrnburger Bericht“, das Vorkommnisse im Zusammenhang mit einem Treffen der FDJ thematisiert, hatten Ensemblemitglieder 1982/83 unter Verwendung des verbotenen
FDJ-Emblems geworben.
51
BVerfGE 77, 240 (255) – Herrnburger Bericht.
52
BVerfGE 81, 278 (293): „Dabei ist allerdings zu beachten, daß sich Einschränkungen dieses vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts
nicht formelhaft mit allgemeinen Zielen wie etwa dem ‚Schutz der Verfassung‘ oder der ‚Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege‘ rechtfertigen lassen; vielmehr müssen anhand einzelner Grundgesetzbestimmungen diejenigen verfassungsrechtlich geschützten Güter konkret
herausgearbeitet werden, die bei realistischer Einschätzung der Tatumstände mit der Wahrnehmung des Rechts aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1
GG kollidieren ...“
53
Ausdrücklich zustimmend Classen in v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 22 Rn. 27.
54
OLG Frankfurt/M., NStZ 1984, 119.
55
2006 wurde Art. 22 GG um einen zweiten (die Hauptstadt Berlin betreffenden) Absatz erweitert, der dem bisherigen einzigen, die Bundesflagge betreffenden Absatz vorangestellt wurde, so dass die Bundesflagge seitdem (bei unverändertem Wortlaut) in Abs. 2 des Art. 22
GG geregelt ist.
56
Siehe Wieland in Dreier, Grundgesetz – Kommentar, 2. Aufl. 2004 ff. (2. Bd. 2006), Art. 22 Rn. 19: „Art. 22 in seiner lakonischen Kürze ist
auf Ausführungsbestimmungen angelegt ...“; ähnlich Klein in Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 134. Aktualisierung 2008, Art. 22 Rn.
95.
57
Scholz in Maunz/Dürig, Grundgesetz, 71. Erg.-Lfg. 2014, Art. 22 Rn. 42 (Hervorhebung von hier); ähnlich Klein in Bonner Kommentar,
GG, Art. 22 Rn. 93; Wieland in Dreier, GG, Art. 22 Rn. 18; Huber in Sachs, Grundgesetz – Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 22 Rn. 11.
16
Die nicht nur schlichte, sondern auch klare Aussage des Art. 22 Abs. 2 GG hat ihren Hintergrund in dem vor allem zu Zeiten der
Weimarer Republik erbittert geführten sog. „Flaggenstreit“ 58. Sie zielte auf eine eindeutige Absage an den (damaligen) Konkurrenten
Schwarz-Weiß-Rot, die Farben des Deutschen Reiches.
Das 1871 gegründete Deutsche Kaiserreich hatte die von Otto von Bismarck propagierte preußisch-brandenburgisch-hanseatisch
geprägte schwarz-weiß-rote Handelsflagge 59 des Norddeutschen Bundes 60 (Farben Preußens: Schwarz-Weiß / traditionelle Farben
Brandenburgs sowie Holsteins und diverser norddeutscher Hansestädte [insbesondere der Freien Städte Lübeck, Bremen und
Hamburg], die „Hansefarben“: Weiß-Rot 61) als Handels- und später auch als Nationalflagge übernommen 62.
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Flaggenstreit#Weimarer_Republik
Knapp 50 Jahre später, im Gefolge der Novemberrevolution und des Sturzes der Monarchie in Deutschland, wurden nach einem erbitterten Streit zwischen den politischen Lagern am 3. Juli 1919 in der konstituierenden Nationalversammlung in Weimar stattdessen
jedoch Schwarz-Rot-Gold zu den Farben der Weimarer Republik erklärt. (Bei der Diskussion im Verfassungsausschuss hatte sich
die [M]SPD zusammen mit der Mehrheit der Demokraten [DDP] und der katholischen Zentrumspartei [die „Weimarer Koalition“] für
Schwarz-Rot-Gold ausgesprochen, hingegen eine starke Minderheit der DDP, die Deutsche Volkspartei [DVP] und die Deutschnationalen [DNVP] für Schwarz-Weiß-Rot. Die äußerste Linke, die USPD, befürwortete die Einführung von Rot als Reichsfarbe.)
Die damalige Nationalflagge entsprach damit unserer heutigen Bundesflagge.
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Flaggen_der_Weimarer_Republik
Für die Befürworter von Schwarz-Weiß-Rot war dies keine Entscheidung, die einfach zu akzeptieren war, der Stachel saß tief 63:
„... wir [waren] der Meinung ..., daß die einmal übernommene Fahne, an die sich so viele Traditionen knüpfen, unter der der Aufstieg
unseres Volkes erfolgt und unter der soviel Opfermut bewiesen ist, nicht in der Stunde der Not aufgegeben werden konnte, ohne
daß sich das Volk selbst aufgibt“, resümierte der DDP-Abgeordnete Erich Koch-Weser, später Reichsinnen- sowie -justizminister.
Der Abgeordnete Wilhelm Kahl (DVP), Kennern der damaligen Strafrechtsreform eigentlich als ausgleichender Charakter bekannt,
echauffierte sich: „In den Augen der Feinde ist es eine Selbstentwertung, wenn wir nach diesem Unglück unsere Fahne wechseln.“
Die Verfechter von Schwarz-Rot-Gold argumentierten jedoch ähnlich traditions- und geschichtsbewusst: Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, Mitgründer der DDP, schrieb etwa schon im November 1918: „Wir müssen die alten Fahnen und Farben des
ersten deutschen romantischen Freiheitstraumes hissen, denn unsere Aufgabe ist, die deutsche Geschichte beim Werk des Jahres
[18]48 wieder anzuknüpfen.“
58
Siehe ausführlich Michael Seeger: Der Flaggenstreit der Weimarer Republik (Hintergrund, Verlauf, Analyse, Deutung) (http://
www.michaelseeger.de/fr/Flaggenstreit/Texte/histhgrun.htm).
59
Einer Nationalflagge bedurfte es nicht, denn der Norddeutsche Bund repräsentierte keine Nation, sondern nur ein Staatenbündnis.
60
Verordnung, betreffend die Bundesflagge für Kauffahrteischiffe vom 25.10.1867: „Die Bundesflagge, welche von den Kauffahrteischiffen
der Bundesstaaten fortan als Nationalflagge ausschließlich zu führen ist ..., bildet ein längliches Rechteck, bestehend aus drei gleich breiten horizontalen Streifen, von welchen der obere schwarz, der mittlere weiß und der untere roth ist.“
61
Das waren die Farben, unter denen die deutschen Schiffe auf den Weltmeeren am meisten bekannt waren.
62
§ 1 der Verordnung über die Führung der Reichsflagge vom 8.11.1892: „Die Bundesflagge in der durch die Verordnung vom 25. Oktober
1867 ... für die Schiffe der deutschen Handelsmarine festgestellten Form bildet die deutsche Nationalflagge.“
63
Die folgenden Zitate aus Seeger: Der Flaggenstreit der Weimarer Republik (http://www.michaelseeger.de/fr/Flaggenstreit/Texte/
histhgrun.htm).
17
Die Farbkombination Schwarz-Rot-Gold hat, darauf spielt Heuss an, eine längere, vor allem aber ganz andere Tradition
als das kaiserliche Schwarz-Weiß-Rot 64:
In Zusammenhang mit der Idee eines deutschen Nationalstaates waren die drei Farben erstmals während der Befreiungskriege (1813–1815) gegen Napoleon I. in Erscheinung getreten. Sie entstammen den Farben der Uniformen des
Lützowschen Freikorps, einer Freiwilligeneinheit des preußischen Heeres unter Führung des Generalmajors Ludwig
Adolf Wilhelm v. Lützow. Die Truppe trug schwarze Uniformen mit roten Vorstößen und goldfarbenen Messingknöpfen.
Ein politisches Bekenntnis war diese Farbkombination allerdings nicht, sie hatte pragmatische Gründe: Insbesondere die
Schwarzfärbung privater Kleidungsstücke oder von Beuteuniformen war die billigste Möglichkeit der Vereinheitlichung
der Uniformröcke.
Abb.: Ziko van Dijk, https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%BCtzowsches_Freikorps (Ausschnitt)
Uniform Lützowsches Freikorps. Rastatt, Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte
Die 1815 in Jena gegründete Urburschenschaft 65, zu der viele ehemalige Lützower gehörten 66, die aus Not und als Ausdruck ihrer Haltung ihren Waffenrock im Zivilleben, vor allem an der Universität weiter trugen, führte diesen Farben erstmals offiziell, und zwar 1816 auf einer schwarz-roten Fahne mit einem goldenen Eichenzweig und goldener Umrandung.
Allerdings wurden diese drei Farben von den Studenten fälschlicherweise für die alten Farben des Heiligen Römischen
Reiches, das 1806 untergegangen war, gehalten (dessen Farben waren aber nur Schwarz und Gold) 67. Es ging damals
also auch, was oft nicht genügend beachtet wird, um die Erinnerung an das alte Kaiserreich: „Zufall und altdeutsche
Tradition wirkten also bei der Entstehung der ... deutschen Farben zusammen“ 68
64
Siehe zum Folgenden ausführlich Erardo Cristoforo Rautenberg: Schwarz-Rot-Gold: Das Symbol für die nationale Identität der Deutschen!, 3. Aufl. 2008, S. 41 ff. (http://www.aktionsbuendnis-brandenburg.de/sites/default/files/Schwarz-Rot-Gold_0.pdf).
65
Am 12.6.1815 gründeten Jenaer Studenten, enttäuscht, dass auf dem Wiener Kongress die deutsche Kleinstaaterei restauriert worden
war, eine „Burschenschaft“, womit sie die „Gesamtheit der Burschen“ (Bewohner einer Burse, einer damaligen studentischen Wohngemeinschaft) meinten. Alle Studenten sollten sich nicht weiter in den traditionellen landsmannschaftlichen Verbindungen zusammenschließen, sondern ohne Rücksicht auf ihre regionale Herkunft für einen Einheitsstaat aller Deutschen einsetzen.
66
Von den elf Gründern sollen mindestens acht im Lützowschen Freikorps gekämpft haben. Theodor Eschenburg: Deutsche Staatssymbole, Die Zeit vom 27.7.1962 (http://www.zeit.de/1962/30/deutsche-staatssymbole/).
67
Das Wappen des Heiligen Römischen Reiches zeigte einen schwarzen Adler in goldenem Feld. Zwar wurden seit dem 13./14. Jahrhundert dessen Klauen und Schnabel („Waffen“) in Rot dargestellt, was aber nichts daran änderte, dass die Reichsfarben Schwarz und Gelb
waren.
Abb.: The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Albrecht_Altdorfer_044.jpg
Albrecht Altdorfer (* um 1480; † 1538): Triumphzug Kaiser Maximilians (1513/15) (Ausschnitt). Wien, Albertina
68
Peter Reichel: Schwarz-Rot-Gold: kleine Geschichte deutscher Nationalsymbole nach 1945, 2005, S. 16.
18
Abb.: http://www.jenapolis.de/2014/12/19/nicht-genehmigtes-zeigen-der-fahne-der-urburschenschaft-auf-pegida-demo/
1818, auf dem Burschentag in Jena, schlossen sich die Burschenschaften zur Allgemeinen Deutschen Burschenschaft
zusammen und wählten Schwarz-Rot-Gold, unter dem Einfluss der französischen „drapeau tricolore“, in Form einer Trikolore als ihr einheitliches Banner.
„... je mehr ... die Studenten, in erster Linie die Burschenschaften, zum Träger des Gedankens der staatlichen Einigung
– der Freiheit durch Einheit wurden – desto mehr wurden ihre Farben zu Sinnbildern einer nationalen deutschen Bewegung. ... Von den Studenten übernahmen Handwerker, Turner, ja weite Kreise des Bürgertums die Farben. Eine Reihe
von Liedern, die diese Farben besangen, sorgten in der sangesfreudigen Zeit für die Verbreitung. Es ist die Zeit, in der
das gesungene Wort und die wehenden Farben einen starken Einfluß auf die politische Gesinnungsbildung ausübten.“ 69
Am 27. Mai 1832, auf dem dem Streben nach nationaler Einheit, Freiheit und Volkssouveränität gewidmeten Hambacher
Fest in der damals zu Bayern gehörigen Rheinpfalz, der bis dato mit ungefähr 25.000 Teilnehmern aus allen Bevölkerungsschichten größten Veranstaltung, auf der liberale und demokratische Forderungen einer breiten Öffentlichkeit präsentiert wurden, wurden Fahnen mit den Farben Schwarz-Rot-Gold geschwenkt.
Abb.: Deutsches Historisches Museum, Berlin, https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/das-hambacher-fest-am-27-mai-1832.html
Hans Mocznay (* 1906; † 1996) (nach einem zeitgenössischen Stich [vermutlich] von Erhard Josef Brenzinger [*1804; † 1871]):
Das Hambacher Fest am 27. Mai 1832 (vermutlich 1948). Berlin, Deutsches Historisches Museum
Spätestens während der Märzrevolution 1848/49 erhielten diese Farben im Volksbewusstsein der Deutschen als Farben
der deutschen demokratischen Tradition vollends die Geltung als Nationalsymbol.
Abb.: http://geschichte1848-1871.npage.de/revolution-1848.html
Barrikadenkämpfe gegen die Truppen des preußischen Königs am 18. März 1848 in der Breiten Straße nahe dem Stadtschloss in Berlin
69
Eschenburg: Deutsche Staatssymbole, Die Zeit vom 27.7.1962 (http://www.zeit.de/1962/30/deutsche-staatssymbole/).
19
In der Frankfurter Nationalversammlung hing die von dem Nazarener Philipp Veit im März 1848 geschaffene „Germania“
mit der schwarz-rot-goldenen Fahne im Hintergrund vor der Orgel auf der Empore der Paulskirche.
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Germania_%28Philipp_Veit%29
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter_Paulskirche (Markierung von hier)
Philipp Veit (*1793; † 1877): Germania (1848). Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum
Kolorierter Stich der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche (1848/49)
nach einer Zeichnung von Leo (Ludwig) v. Elliot (* 1816; † 1890)
Erstmals offiziell anerkannt wurden die Farben im Flaggengesetz der Frankfurter Nationalversammlung vom 12. November 1848 70. (Das Gesetz bezeichnete allerdings den untersten Streifen der Flagge als gelb.) Mit der Auflösung der Nationalversammlung im Frühjahr 1849 war die Errichtung eines deutschen Nationalstaats jedoch schnell gescheitert und
das Flaggengesetz obsolet.
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_Reich_1848/1849
Mit dem Scheitern der Revolution verschwanden die Farben Schwarz-Rot-Gold bald wieder aus dem öffentlichen Leben.
Die schwarz-rot-goldene Flagge war es, 1870 insbesondere von Seiten Bayerns ins Gespräch gebracht, die schon Bismarck wegen
ihrer Rolle in der Revolution von 1848/49 unbedingt verhindern wollte: „... der preußische Troupier [will] nichts von schwarz-rot-gelb
wissen ... Sonst ist mir das Farbenspiel ganz einerlei. Meinethalben grün und gelb und Tanzvergnügen oder auch die Fahne von
Mecklenburg-Strelitz“ 71 – übrigens eine blau-gelb-rote Trikolore.
Die nach dem erbitterten Streit der Parteien umstrittene Wahl von Schwarz-Rot-Gold zu den Farben der Weimarer Republik im Juli
1919 in der Nationalversammlung wurde jedoch mit einem Kompromiss erkauft: Schwarz-Weiß-Rot sollten weiter als Farben der
Handels- (und auch Kriegs-)Flagge fungieren, der allerdings – etwas kurios – eine Gösch in den Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold
zugefügt wurde 72.
70
Reichsgesetz betreffend die Einführung einer deutschen Kriegs- und Handelsflagge (Auszug):
Art. 1. Die deutsche Kriegsflagge besteht aus drei gleich breiten, horizontal laufenden Streifen, oben schwarz, in der Mitte roth, unten gelb.
In der linken oberen Ecke trägt sie das Reichswappen in einem viereckigen Felde, welches zwei Fünftel der Breite der Flagge zur Seite hat.
Das Reichswappen zeigt in goldenem (gelbem) Felde den doppelten schwarzen Adler mit abgewendeten Köpfen, ausgeschlagenen rothen
Zungen und goldenen (gelben) Schnäbeln und desgleichen offenen Fängen.
Art. 3. Die deutsche Handelsflagge soll aus drei gleich breiten, horizontalen, schwarz, roth, gelben Streifen bestehen, wie die Kriegsflagge,
jedoch mit dem Unterschiede, daß sie nicht das Reichswappen trägt.
71
Moritz Busch: Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich, 1878, S. 156.
Art. 3 Abs. 1 WeimRV: „Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold. Die Handelsflagge ist schwarz-weiß-rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke.“
72
20
Abb.: http://www.flaggenlexikon.de/fdtlhiwr.htm
Die Flaggen des Deutschen Reiches zur Zeit der Weimarer Republik zeigen sich somit resultierend aus der unsicheren politischen
Lage in Deutschland als ein Kompromiss aus demokratisch-bürgerlichen Symbolen und, als ein Zugeständnis an die politische
Rechte bzw. an die Monarchisten, aus Symbolen des Kaiserreichs.
Anstatt dass sich die Gemüter durch die Kompromisslösung mit der Zeit beruhigten, nahm der Flaggenstreit an Schärfe zu: „Aus den
zwei Farbensymbolen des republikanischen Reichs wurden Kampfflaggen der in scharfem Gegensatz zueinanderstehenden Blöcke.
An Stelle der e in e n Nationalflagge, die als ein staatliches Friedenssymbol über allen wehen sollte, gab es deren zwei, die zu Symbolen des innerstaatlichen Streits wurden. Es ging im Grunde nicht so sehr um die Symbole. Sie waren vielmehr Sinnbilder entgegengesetzter politischer Vorstellungen und Richtungen.“ 73
Zahlreiche Plakate zu den beiden Reichstagswahlen 1924 dokumentieren dies anschaulich.
Konrad-Adenauer-Stiftung, http://www.wahlplakate-archiv.de/wahlen/reichstagswahl-1924-mai/
Wahlplakate der „Weimarer Koalition“ (SPD, Zentrum, DDP) 1924
Abb.: http://www.museen.thueringen.de/Objekt/DE-MUS-871510/lido/1587
Abb.: Deutsches Historisches Museum, Berlin, Inv. Nr.: 1990/130,https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/innenpolitik/dnvp.html
Abb.: Deutsches Historisches Museum, Berlin, P 64/238, http://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/wahlplakat-der-dvfp-1924.html
Wahlplakate der DVP, der DNVP und der DVFP 74 1924
Nach und nach gewann Schwarz-Weiß-Rot auch weiter an Boden: So erließ der 1925 nach dem Tod des ersten Reichspräsidenten
Friedrich Ebert (SPD) neu gewählte Reichspräsident, der erzkonservative Paul v. Hindenburg, am 5. Mai 1926 eine neue FlaggenVerordnung 75. Darin wurde verfügt, dass alle deutschen Auslandsmissionen „an außereuropäischen Plätzen und an solchen europäischen Plätzen, die von Seehandelsschiffen angelaufen werden“, zusätzlich die Handelsflagge zu hissen hatten. Die Verordnung,
durch die letztlich das Symbol der alten Ordnung gleichberechtigt neben die Farben der Republik gerückt wurde, löste einen Sturm
der Empörung republikanisch gesinnter Kräfte aus.
1933, nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, wurde Schwarz-Weiß-Rot wieder zur Nationalflagge des Deutschen
Reiches und Schwarz-Rot-Gold sofort verboten. Von 1933 bis 1935 wurde die schwarz-weiß-rote Flagge zusammen mit der (eben73
Eschenburg: Deutsche Staatssymbole, Die Zeit vom 27.7.1962 (http://www.zeit.de/1962/30/deutsche-staatssymbole/).
Die Deutschvölkische Freiheitspartei (DVFP) entstand im Dezember 1922 als Abspaltung der DNVP. Zur Reichstagswahl im Mai 1924
ging die DVFP eine Listenvereinigung mit Ersatzorganisationen der nach dem Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923 verbotenen NSDAP ein,
die Anfang 1925 zerbrach. Die ab 1925 als Deutschvölkische Freiheitsbewegung (DVFB) auftretende Partei versank spätestens 1928 in
der Bedeutungslosigkeit.
75
Zweite Verordnung über die deutschen Flaggen vom 5.3.1926 (RGBl. I, 217).
74
21
falls schwarz-weiß-roten 76) Hakenkreuzflagge, eigentlich Parteiflagge der NSDAP und angeblich von Hitler selbst entworfen 77, gezeigt 78. Ab 1935 wurde – ohne grundsätzliche Abkehr von der schwarz-weiß-roten Trikolore 79 – nur noch die Hakenkreuzfahne gehisst 80 – bis zum Zusammenbruch Nazi-Deutschlands 1945 81.
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Flagge_Deutschlands#Nationalsozialismus
Varianten der Nationalflagge 1933–1935 und 1935–1945 (weiße Scheibe „etwas nach der Stange verschoben“)
Bei der Abfassung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland debattierte der Parlamentarische Rat 1948/49 auch über
die Flaggenfarbe. Schon im Ausschuss für Grundsatzfragen, in dem die Flaggengestaltung beraten wurde, war Konsens, zu den
Farben Schwarz, Rot und Gold zurückzukehren („Schwarz-Weiß-Rot [ist] durch die Nazis versaut worden“ 82) – lediglich die Gestaltung als Trikolore wurde kontrovers diskutiert. Der Antrag Carlo Schmids (SPD), Art. 22 GG solle die Fassung „Die Bundesflagge ist
Schwarz-Rot-Gold“ enthalten, wurde schließlich mit 49 gegen eine Stimme angenommen.
76
„In der Wirkung steht diese Farbenzusammenstellung [Schwarz-Weiß-Rot] ... hoch über allen anderen erhaben. Es ist der strahlendste
Akkord, den es gibt.“ (Adolf Hitler: Mein Kampf).
77
„Ich selbst hatte unterdes nach unzähligen Versuchen eine endgültige Form niedergelegt; eine Fahne aus rotem Grundtuch mit einer
weißen Scheibe und in deren Mitte ein schwarzes Hakenkreuz. Nach langen Versuchen fand ich auch ein bestimmtes Verhältnis zwischen
der Größe der Fahne und der Größe der weißen Scheibe sowie der Form und Stärke des Hakenkreuzes.“ (Adolf Hitler: Mein Kampf).
78
Erlass des Reichspräsidenten (v. Hindenburg) über die vorläufige Regelung der Flaggenhissung vom 12.3.1933: „Am heutigen Tage, an
dem in ganz Deutschland die alten schwarz-weiß-roten Fahnen zu Ehren unserer Gefallenen auf Halbmast wehen, bestimme ich, daß vom
morgigen Tage bis zur endgültigen Regelung der Reichsfarben die schwarz-weiss-rote Fahne und die Hakenkreuzflagge gemeinsam zu
hissen sind. Diese Flaggen verbinden die ruhmreiche Vergangenheit des Deutschen Reichs und die kraftvolle Wiedergeburt der Deutschen
Nation. Vereint sollen sie die Macht des Staates und die innere Verbundenheit aller nationalen Kreise des deutschen Volkes verkörpern!“
79
Hermann Göring sprach im „Völkischen Beobachter“ vom 17.9.1935 von der „Achtung, die wir vor der alten Flagge schwarz-weiß-rot haben“, und weiter: „Die alte Flagge, sie ist in Ehren eingerollt worden. Sie gehört einem vergangenen Deutschland der Ehre an.“ (Zit. nach
Wikipedia [https://de.wikipedia.org/wiki/Flagge_Deutschlands#Nationalsozialismus]).
80
Art. 1, 2 ReichsflaggenG vom 15.9.1935 (RGBl. I, 1145): „Die Reichsfarben sind schwarz-weiß-rot. ... Reichs- und Nationalflagge ist die
Hakenkreuzfahne. Sie ist zugleich Handelsflagge.“
81
Das ReichsflaggenG wurde aufgehoben durch das Kontrollratsgesetz Nr. 1 vom 20.9.1945.
82
Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) in der 18. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 5.11.1948 (Deutscher
Bundestag / Bundesarchiv [Hrsg.], Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5 Ausschuß für Grundsatzfragen,
1993, S. 491).
22
Am 23. Mai 1949 trat der Parlamentarische Rat unter der neuen Bundesflagge zur feierlichen Ausfertigung und Verkündung des
Grundgesetzes letztmalig zusammen 83.
Abb.: dpa, http://www.general-anzeiger-bonn.de/news/politik/joachim-gauck-unser-land-article1356478.html
83
Auf dem 3. Deutschen Volkskongress (einer Art Vorparlament in der Sowjetischen Besatzungszone) am 29./30.5.1949 brachte der Oberbürgermeister von Ostberlin Friedrich Ebert jr. (SED) den Vorschlag ein, Schwarz-Rot-Gold als Farben der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zu wählen („Ich bin der Meinung, daß es kein besseres, in der deutschen Geschichte tiefer begründetes Zeichen der deutschen Einheit gibt, als die alten Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold. Um dieses Banner scharten sich zu allen Zeiten die Kämpfer für Deutschlands Einheit, für eine glückliche Zukunft des Landes und des Volkes“). Sein Antrag wurde einstimmig gebilligt. Mit dem Tag der Staatsgründung der DDR, dem 7.10.1949, wurde die schwarz-rot-goldene Trikolore Flagge der DDR (Gesetz über Staatswappen und -flagge vom
26.9.1949). Die damalige Verfassung formulierte in Art. 2 Abs. 1: „Die Farben der Deutschen Demokratischen Republik sind Schwarz-RotGold.“
Durch Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Staatswappen und die Staatsflagge der Deutschen Demokratischen Republik vom
1.10.1959 ergänzte die DDR die Flagge um ihr (durch Gesetz vom 26.10.1955 eingeführtes) Staatswappen, um so eine Unterscheidung zu
der Flagge der Bundesrepublik zu schaffen. Die DDR-Verfassung von 1968 bestimmte denn auch in Art. 1 Abs. 3 und 4: „Die Staatsflagge
der Deutschen Demokratischen Republik besteht aus den Farben Schwarz-Rot-Gold und trägt auf beiden Seiten in der Mitte das Staatswappen der Deutschen Demokratischen Republik. ... Das Staatswappen der Deutschen Demokratischen Republik besteht aus Hammer
und Zirkel, umgeben von einem Ährenkranz, der im unteren Teil von einem schwarz-rot-goldenen Band umschlungen ist.“
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Flagge_der_Deutschen_Demokratischen_Republik#cite_ref-2
In der Bundesrepublik reagierte man empört. Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) rügte den „Zonenstaat", wie die DDR damals von westlicher Seite genannt wurde, „das deutsche Volk mit der Verfälschung seiner Fahne" zu „beleidigen". Schon am 2.11.1959
beschlossen die Innenministerien des Bundes und der Länder, das Zeigen der DDR-Flagge sei verfassungswidrig und ziehe als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung polizeiliche Maßnahmen nach sich. Erst am 22.7.1969, zum Ende der (ersten) Großen Koalition, verfügte die Bundesregierung „daß die Polizei nirgendwo mehr gegen die Verwendung von Flagge und Wappen der DDR einschreiten sollte“. (Näher Wolf-Sören Treusch: 50 Jahre Spalterflagge – Eine deutsch-deutsche Politposse mit sportlichem Hintergrund. Manuskript für eine Sendung des Deutschlandfunks am 9.6.2009 [http://www.deutschlandfunk.de/spalterflagge-pdf-dokument.media.
14edd550e6e6a1d8a62a2b1dbcbe1c58.pdf]; Justus Johannes Meyer: Politische Spiele – Die deutsch-deutschen Auseinandersetzungen auf dem Weg zu den XX. Olympischen Sommerspielen 1972 und bei den Spielen in München, Diss. phil. Hamburg 2010, S. 132 ff.
[http://ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2010/4701/pdf/Dissertation.pdf]).
Nach der „Wende“ schlug die Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR" des Zentralen Runden Tisches im April 1990 Schwarz-Rot-Gold
zusammen mit dem Symbol der unabhängigen Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen" als neues Staatswappen vor. (Art. 43 des
Verfassungsentwurfs: „Die Staatsflagge der Deutschen Demokratischen Republik trägt die Farben schwarz-rot-gold. Das Wappen des
Staates ist die Darstellung des Mottos ‚Schwerter zu Pflugscharen‘.").
Abb.: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Michael Jensch, Axel Thünker, http://www.zum.de/Faecher/G/BW/Landeskunde/rhein/kultur/ausstell/hdg_bonn/flagge_zeigen/entwurf.htm
23
Die normative Aussage des Art. 22 GG „Festlegung der Bundesfarben“ beinhaltet somit also zuvörderst eine klare Absage an
„Schwarz-Weiß-Rot“ 84: „Wo immer bei der Ausgestaltung ... [der Bundesflagge und vergleichbarer Staatssymbole] Farben auftreten,
dürfen es jedenfalls nicht die Farben schwarz-weiß-rot sein.“ 85
Nun richtet sich dieses Postulat nur an staatliche Stellen, nicht an Privatpersonen. Das Zeigen der schwarz-weiß-roten Flagge ist jedermann erlaubt (was vor allem im Umkreis „rechter“ Gruppierungen auch geschieht).
Abb.: Johannes Hartl, http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/plauen-zeigt-flagge-gegen-nazis-7635
Revolutionäre Nationale Jugend Vogtland am 14. April 2012 in Plauen (Sachsen)
Jedermann darf auch andere Flaggen, etwa die anderer Staaten, irgendwelcher Organisationen oder Phantasieflaggen verwenden 86; die Grenze bestimmt erst § 86a StGB, das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, der insbesondere das Zeigen von Hakenkreuz-Flaggen verbietet.
Schließlich ist das Zeigen der deutschen Flagge ein „Jedermann-Recht“ 87 – jedes Fußball-Länderspiel erinnert daran unübersehbar.
Verboten ist es lediglich, „unbefugt ... eine Dienstflagge des Bundes“ oder „solche ..., die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind“, zu
benutzen 88. Es ist jedem auch erlaubt, Abwandlungen der deutschen Flagge zu schwenken, zu zeichnen oder in Collagen zu verwenden – die Grenze bildet hier allerdings § 90a StGB.
Soweit diese Norm nun aber (nur) als „strafrechtliche Ausformung“ des Art. 22 Abs. 2 GG zu verstehen wäre, folgte daraus, dass die
„Verunglimpfung" im Sinne von § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB allenfalls hinsichtlich der „Festlegung der Bundesfarben“ möglich wäre. Die
Norm müsste dann insoweit etwa so gelesen werden: „Wer ... die Festlegung der Farben der Flagge der Bundesrepublik Deutschland ... verunglimpft, wird ... bestraft.“ Anders formuliert: Tangiert eine Verwendung nicht die „Festlegung der Bundesfarben“, könnte
eine „Verunglimpfung“ nicht von § 90a Abs.1 Nr. 2 StGB umfasst sein.
Der Anwendungsbereich der Norm wäre dann gering.
Spielen wir ihn einmal kurz durch:
Art. 22 Abs. 2 GG könnte auf Grundlage dieser Interpretation eine (wohl eher nur theoretisch denkbare) „Verunglimpfung“ im Sinne
von Art. 90a Abs. 1 Satz 2 StGB abdecken, wenn ein deutscher Künstler ähnlich dem US-amerikanischen Pop-Artisten Jasper
Johns die Flagge seines Heimatlandes in völlig anderen Farben darstellt 89. Gerhard Richter, einer der bedeutendsten deutschen
Gegenwartskünstler, kommt dem halbwegs nahe; er hat auf den Farbtafeln seiner riesigen Glasarbeit „Schwarz, Rot, Gold“ in der
Eingangshalle des Berliner Reichstagsgebäudes die Farben der deutschen Bundesflagge nicht richtig wiedergeben; seine Farben
84
Jarass in Jarass/Pieroth, Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland – Kommentar, 12. Aufl. 2012, Art. 22 Rn. 4: „Die Vorschrift wendet sich gegen das ‚Schwarz-Weiß-Rot‘ des monarchistischen Obrigkeitsstaates und des nationalsozialistischen Deutschland“.
85
Herzog in Maunz/Dürig, Grundgesetz, 33. Erg.-Lfg. 1997, Art. 22 Rn. 18.
86
Klein in Bonner Kommentar, GG, Art. 22 Rn. 97.
87
Herzog in Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 22.
88
§ 124 OWiG Benutzen von Wappen oder Dienstflaggen
(1) Ordnungswidrig handelt, wer unbefugt
1. das Wappen des Bundes oder eines Landes oder den Bundesadler oder den entsprechenden Teil eines Landeswappens oder
2. eine Dienstflagge des Bundes oder eines Landes
benutzt.
(2) Den in Absatz 1 genannten Wappen, Wappenteilen und Flaggen stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind.
(3) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden.
89
Abb.: http://www.wikiartis.com/jasper-johns/werke
Abb.: http://rogallery.com/Johns_Jasper/w-85/johns_flags.htm
Jasper Johns (* 1930): White Flag (1955). New York, Museum of Modern Art
Jasper Johns: Flag Moratorium (1969)
24
„erinnern“ vielmehr nur an sie 90: „So variiert etwa das ‚Gold‘ zwischen Ocker und Senffarben.“ 91 Auch der Deutsche Fußball-Bund
(DFB) könnte mit seinen „Weltmeister-Trikots“ von 2014 den Bereich von Art. 22 Abs. 2 GG tangiert haben, wenn er erklären ließ,
durch die Brustgrafik aus drei unterschiedlichen Rottönen würde (ebenso wie durch die schwarz-rot-goldenen Aufdrucke auf früheren Trikots 92) „die deutsche Flagge interpretiert“ 93. „Wenn ... die Staatsfarben verwendet werden sollen ..., so müssen es die von
Art. 22 festgelegten Farben schwarz-rot-gold sein.“ 94
Abb.: https://www.gerhard-richter.com/de/art/search/?p=3&sp=32&referer=search&title=schwarz%2C+rot%2C+gold
Abb.: http://www.fussball-guru.de/nationalmannschaft/das-neue-deutschland-4-sterne-trikot-2014-jetzt-vorbestellen/ / Design: Christian Binger, Jürgen Rank
Gerhard Richter (* 1932): Schwarz, Rot, Gold (1999)
DFB-Trikot Home 2014
90
Deutscher Bundestag, Presse und Kommunikation: Gerhard Richter (http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/kunst/kuenstler/
richter).
91
So zu den Entwürfen Richters Texte zur Kunst 32 vom Dezember 1998, Edition Gerhard Richter (http://www.textezurkunst.de/editionen/
gerhard-richter2).
Abb: https://www.textezurkunst.de/artist-editions/gerhard-richter2/
Gerhard Richter: Schwarz, Rot, Gold (1998)
92
Das „Weltmeister-Trikot“ von 1990 mit seiner Interpretation als schwarz-rot-goldene „Fieberkurve“:
Abb.: http://www.funsporting.de/Funsport-Shop/Fussballtrikots/DFB_Trikot_WM_2006/dfb_trikot_wm_2006.html
93
News-Meldung des DFB vom 12.11.2013 (im Internet noch zu finden unter http://web.archive.org/web/20131112165206/http://
www.dfb.de/news/de/d-nationalmannschaft/das-ist-das-neue-trikot-der-nationalmannschaft-fuer-die-wm-2014/48853.html).
Schaut man ganz genau hin, entdeckt man allerdings, dass die drei roten Streifen in der „Chevron-Form“ (Modedesigner Michael
Michalsky) oben bzw. unten von ganz schmalen Streifen in Schwarz und Ocker (oder Gold?) umrahmt werden.
Abb.: http://www.fussballnationalmannschaft.net/4-sterne-deutschland-trikots-t-shirts-der-fussball-nationalmannschaft-1233972.html
94
Herzog in Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 17 (mit Bezug auf die Bundesorgane).
25
Art. 22 Abs. 2 GG ist ferner nicht nur berührt, wenn (Neo-)Nazis die „deutschen“ Farben mit „Schwarz-Rot-Senf" 95 (oder „-Mostrich“ 96)
umschreiben („verunglimpfen“?), sondern auch, wenn Bands ihre Alben „Schwarz Rot Braun“ 97 oder Maler ihre Bilder „Schwarz, Rot,
Gelb“ 98 nennen – vielleicht sogar, wenn Boulevard-Zeitungen Kampagnen mit dem Slogan „[tierisch 99] schwarz-rot-geil“ 100 ins Leben
rufen 101.
Abb.: http://www.amazon.de/Schwarz-Rot-Braun-Ep-Swiss-die-Andern/dp/B00LF00KIG
Abb.: http://www.profutura.ch/produkte/kunst_edition/guenther_uecker_2.htm
Abb.: http://umfrage.menshealth.de/?survey_id=104
Swiss & Die Andern: Schwarz-Rot-Braun (2014)
Günther Uecker (* 1930): Schwarz, Rot, Gelb (2009)
Sticker der Bild-Zeitung vom 7. Juli 2006+
95
Siehe BVerfG (Kammer), NJW 2009, 908 mit Anm. Preisner, NJW 2009, 897.
Siehe KG, Urteil vom 22.12.2003 – (2) 3 StE 2/02 - 5 (1) (2/02) (bei juris); siehe auch OLG Braunschweig, NJW 1953, 875; RG, JW 1929,
2352 (Nr. 16) („Mostrichfahne“).
97
Auszug aus dem Text von „Schwarz Rot Braun“ der Punkband „Swiss & Die Andern“: „Ich wohn' in Schwarz-Rot-Gold mit etwas braun /
Wir lieben unsren Dackel einmal mehr als unsre Frau‘n / Wir kaufen deutsche Autos, denn nur den' kann man trau'n.“
Auch die Punkband „Toxoplasma“ hatte 1992 auf ihrer LP „Gut & Böse“ einen – eindeutig gegen neonazistische Tendenzen gerichteten –
Song „Schwarz Rot Braun“ veröffentlicht: „Schwarz Rot Braun / Sind die Farben deiner Fahne / Schwarz Rot Braun / Und du hast nichts
dazugelernt / Schwarz Rot Braun / Die Zeit läuft rückwärts statt nach vorne / Schwarz Rot Braun / Darum wirst du wieder untergehen.“
98
Vgl. auch BGH, Urteil vom 16.11.1959 – 3 StR 45/59 (JurionRS 1959, 10932); RG, JW 1929, 1148: „schwarz-rot-hühnereigelb”. Bundesregierung bzw. Bundestag verwenden übrigens in ihrem RAL 1021 („Rapsgelb“) bzw. RAL 1028 („Melonengelb“). Siehe dazu Rautenberg,
NJW 2001, 1984.
96
99
Abb.: http://www.bild.de/news/leserreporter/fg-em-5-aufmacher-4764400.bild.html
100
Mit Abwandlungen wie – ohne Anspruch auf auch nur ansatzweise Vollständigkeit – wie „schwarz-rot-sexy“, „schwarz-Zunge-raus“,
„schwarz-knutsch“, „schwarz-rot-schwanger“, „schwarz-rot-tierisch“, „schwarz-rot-mäh“, „schwarz-rot-hüh“, „schwarz-rot-grunz“, „schwarzrot-muuh“, „schwarz-rot-wuff“, „schwarz-rot-miau“, „schwarz-rot-pieps“, „schwarz-rot-blubb“, „schwarz-rot-brumm“, „schwarz-rot-laut“,
„schwarz-rot-lach“, „schwarz-rot-smile“, „schwarz-rot-triller“, „schwarz-rot-haarig“, „schwarz-rot-süß“, „schwarz-rot-lecker“, „schwarz-rotwitzig“, „schwarz-rot-Party“, „schwarz-rot-müde“, „schwarz-rot-schräg“, „schwarz-rot-heul“.
101
Mit sexistischer Tendenz nicht nur von „Bild“ selbst des Öfteren wieder aufgegriffen, sondern auch von Porno-Portalen.
Abb.: http://www.bild.de/news/leserreporter/wm/schwarz-rot-geil-12800782.bild.html (Screenshot, Ausschnitt)
Abb.: http://www.fundorado.de/sexblog/unsere-camgirls-sind-schwarz-rot-geil/
„Perfekte WM-Figur: Nicole (29) aus Wittingen (Niedersachsen) macht mit ihrem sexy Bikini und mega-hohen Leder-Overknees die Fans ganz heiß.“
„... selbst ein paar nackte, eingeölte Chicks mit prallen Brüsten und nichts anderem als versauten Spielereien vor der Webcam im Kopf, sind vom
Fußball-Syndrom befallen und schwenken selbst während der heißesten Live-Show noch die deutsche Fahne vor der Cam!”
26
Art. 22 Abs. 2 GG legt – trotz seines kargen Wortlautes – darüber hinaus auch noch fest, dass die Bundesflagge aus Streifen in den
drei Farben besteht 102.
Das hat Bedeutung für die sogenannte „Wirmer-Flagge“ 103, die in den letzten Jahren vermehrt in „rechten“ Kreisen, etwa bei „Pegida“-Demonstrationen, aufgetaucht ist. Die Flagge, die ein schwarzes, golden gefasstes Kreuz mit leicht zum Mast verschobenen
Querbalken auf rotem Grund zeigt, wurde 1944 von Josef Wirmer (* 1901; † 1944), einem Zentrumspolitiker, der zum Unterstützerkreis des Umsturzversuches vom 20. Juli 1944 gehörte, als zukünftige Nationalflagge entworfen. Im Parlamentarischen Rat war auf
Initiative der CDU 1948 diskutiert worden, eine Variante als Bundesflagge zu wählen 104.
102
Siehe Herzog in Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 13: „... die Zeichensetzung (‚schwarz-rot-gold‘ und nicht etwa ‚schwarz, rot, gold‘) [spielt]
eine bedeutsame Rolle ... Während die ‚Kommata-Fassung‘ nämlich nichts über die Verteilung der drei Farben auf der Flagge ausgesagt
..., legt die ‚Bindestrich-Fassung‘ die Bundesrepublik auf die Form der Trikolore, also der Dreistreifenflagge ... fest ...“ Siehe auch Klein in
Bonner Kommentar, GG, Art. 22 Rn. 122 f.; Wieland in Dreier, GG, Art. 22 Rn. 19; Jarass in Jarass/Pieroth, GG, Art. 22 Rn. 4; Classen in
v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 22 Rn. 22.
Ideen also wie die von „mobil“, dem „Magazin der Deutschen Bahn“, „Design-Expertinnen“ wie die Modeschöpferin Anna von Griesheim
(* 1966) oder die Art-Direktorin der „Bild“-Zeitung Veronika Illmer (* 1963/64) zu bitten, „schönere Deutschlandfahnen“ als das „brave
Schwarz-Rot-Gold“ zu entwerfen (mobil 10/2015, S. 74), stoßen also schnell an die Grenzen von Art. 22 Abs. 2 GG.
103
Auch als „Stauffenberg-Flagge“, „Kreuzflagge“ oder „Widerstandsflagge“ bezeichnet.
Am 5. November 1948 schlug die CDU/CSU im Ausschuss für Grundsatzfragen folgende Fassung des entsprechenden Verfassungsartikels vor: „Die Flagge des Bundes zeigt auf rotem Grunde ein schwarzes liegendes Kreuz und auf dieses aufgelegt ein goldenes Kreuz.“
(Deutscher Bundestag / Bundesarchiv [Hrsg.], Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5 Ausschuß für Grundsatzfragen, 1993, S. 485).
104
Abb.: Jaume Ollé, http://www.crwflags.com/fotw/flags/de!1949.html#int
Es waren damals noch zwei andere Varianten einer schwarz-rot-goldenen Flagge im Gespräch gewesen: Robert Lehr (CDU, vormals
DNVP), Mitglied des Parlamentarischen Rates und später Bundesminister des Innern, schlug eine Flagge nach Vorbild des Star Spangled
Banner der USA vor, bei der für jedes Bundesland ein goldener Stern in die schwarze Gösch der roten Flagge eingefügt werden sollte. Der
vor allem über die deutsche Einheitsbewegung des 19. Jahrhunderts forschende Historiker Paul Wentzcke sprach sich für eine „Republikanische Trikolore“ aus, die wie die französische Trikolore vertikal geteilt sein sollte.
Abb.: Jaume Ollé, http://www.crwflags.com/fotw/flags/de!1949.html#int
Letztere Flagge dürfte übrigens mit Art. 22 Abs. 2 GG noch vereinbar sein; die horizontale Anordnung soll (nur) auf einer „jahrzehntelangen, zu Gewohnheitsrecht verfestigten Staatspraxis“ beruhen (Heintschel von Heinegg in Beck'scher Online-Kommentar GG, 25. Edition
2015, Art. 22 Rn. 4; ähnlich Huber in Sachs, GG, Art. 22 Rn. 9, die allerdings missverständlich von einer (längsgestreiften) „v e rt i k a l e n
Anordnung“ sprechen [Hervorhebung von hier]). Siehe auch Klein in Bonner Kommentar, GG, Art. 22 Rn. 123; Wieland in Dreier, GG, Art.
22 Rn. 18; Classen in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 22 Rn. 22.
27
Abb.: http://www.pi-news.net/2012/05/em-2012-kultig-feiern-mit-der-widerstandsflagge/ (Ausschnitt)
Aufgrund der „Bindestrich-Fassung“ soll von Art. 22 Abs. 2 GG ferner noch die Reihenfolge der drei farbigen Streifen festgelegt
sein 105.
Tom Buhrow, damals „Tagesthemen“-Sprecher, sollte also Acht geben, nicht mit dem bei seiner Anmoderation eines Berichts zum
Fußball-Länderspiel der Bundesrepublik gegen die Türkei 2008 in der Hintergrundgrafik zu sehenden Farbendreher (lässt man dieses Gelb als Gold durchgehen) in Verbindung gebracht zu werden 106. Und der frühere Tennis-Star Boris Becker könnte seinen
Fauxpas anlässlich eines Länderspiels gegen Algerien während der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien 2014 vielleicht noch damit entkräften, dass aufgrund einer kolorierter Lithographie vom Hambacher Fest 1832 des Öfteren die Vermutung aufgestellt worden ist, dass damals die Farbenreihung genauso gold-rot-schwarz war wie bei Beckers „Kriegsbemalung“ vor dem Fernseher 107.
105
Herzog in Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 13; Siehe Wieland in Dreier, GG, Art. 22 Rn. 18; Heintschel von Heinegg in BeckOK, GG, Art.
22 Rn. 4; anderer Ansicht Sannwald in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Kommentar zum Grundgesetz, 13. Aufl. 2014, Art. 22 Rn. 25.
106
Im Lied „Wir hatten gebauet ein stattliches Haus“ des Schriftstellers und Jenaer Urburschenschaftlers August von Binzer (* 1793;
† 1868) von 1819, in dem zum ersten Mal die drei Farben Schwarz, Rot und Gold genannt wurden, hieß es in der ursprünglichen Fassung
noch „Roth Schwarz und Gold“.
Und wenn wir schon beim Fußball sind: Was für eine Reihenfolge hatten eigentlich die Farbtupfer bei der Fußball-WM 1994 auf dem weißen Trikot von Klinsmann, Völler & Co.? Schwarz-Gelb(Gold)-Rot-Schwarz? Und darüber ein Kragen in Gelb(Gold)-Rot-Schwarz? (Siehe
dazu farbimpulse.de vom 6.6.2012 [http://www.farbimpulse.de/Schwarzer-Adler-Fieberkurve-und-Schwingenmuster.nationaltrikot.0.html]).
Abb.: Kunz/Augenklick, http://www.conti-online.com/generator/www/de/de/contisoccerworld/themes/01_background/30_fifa_2014/43_dfb_stars/04_dfbstar_1994_klinsmann_de.html
107
Abb.: Peter Haag-Kirchner, CC BY-NC-ND, http://www.handelsblatt.com/technik/forschung-innovation/schneller-schlau/schneller-schlau-war-die-deutschlandfahne-urspruenglich-gold-rot-schwarz/10093044.html
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Flagge_Deutschlands
Erhard Josef Brenzinger: Der Zug auf das Hambacher Schloss am 27. Mai 1832 (1832) (voll- bzw. teilkoloriert)
Gruppen mit reichsdeutschen Bestrebungen wie der Verein „Aufbruch Gold Rot Schwarz“ haben sich auf mehrere entsprechende Kolorierungen bezogen und geschlussfolgert, dass die wahren deutschen Nationalfarben Gold-Rot-Schwarz seien.
28
Abb.: https://www.psiram.com/ge/index.php/Aufbruch_Gold-Rot-Schwarz
Vereinslogo von „Aufbruch Gold Rot Schwarz“
Auch bei Aufmärschen von Rechtsextremen tauchen gelegentlich umgedrehte Deutschlandflaggen auf.
Abb.: http://freie.welt.de/2015/09/06/faschistischer-antifaschismus-marke-kreml-und-npd/
Heidenau (Sachsen) im August 2015 (daneben die Flagge der Donezker Volksrepublik)
Die dem badischen Maler und Zeichner Erhard Josef Brenzinger, Teilnehmer am Hambacher Fest, zugeschriebene Federlithographie ist im
Original schwarz-weiß 1832 als Beilage zu der Zeitschrift „Der Zeitgeist“ erschienen.
Abb.: http://app.handelsblatt.com/technik/forschung-medizin/schneller-schlau-fehler-bei-der-kolorierung/10093044-2.html?mwl=ok
Das Motiv wurde nachträglich koloriert und existiert in verschiedenen Varianten, nicht nur mit gold-rot-schwarzer Flagge. Historiker wie
Ludger Tekampe, Sammlungsleiter des Historischen Museums der Pfalz in Speyer, das eine solche Kolorierung beherbergt, vermuten, es
sei bei den nachträglichen Kolorierungen zu „Übertragungsfehlern beim Farbdreiklang gekommen sein". (Näher Martin Dowideit: War die
Deutschlandfahne ursprünglich Gold-Rot-Schwarz?, Handelsblatt vom 26.6.2014 [http://app.handelsblatt.com/technik/forschung-medizin/
schneller-schlau-war-die-deutschlandfahne-urspruenglich-gold-rot-schwarz/10093044.html]). Bei genauem Hinsehen ist zudem zu erkennen, dass bei der Speyerer Kolorierung auch eine weitere Fahne (ganz links am Bildrand in Höhe der großen Fahne) anders, nämlich rotgelb-schwarz, gefärbt ist.
Abb.: Peter Haag-Kirchner, CC BY-NC-ND, http://www.handelsblatt.com/technik/forschung-innovation/schneller-schlau/schneller-schlau-war-die-deutschlandfahne-urspruenglich-gold-rot-schwarz/10093044.html (Ausschnitt)
Auch in der Festbeschreibung von Johann Georg August Wirth (* 1798; † 1848), einem der Initiatoren des Hambacher Festes, ist von
Schärpen in „schwarz, roth und gold“ die Rede.
Abb.: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/wirth_nationalfest01_1832?p=19 (Screenshot, Ausschnitt)
Johann Georg August Wirth: Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach, Erstes Heft, 1832, S. 11
29
Abb.: http://www.pi-news.net/2008/06/falsche-deutschlandfahne-absicht-oder-lapsus/
Abb.: Instagram/Boris Becker, http://www.t-online.de/unterhaltung/stars/id_70061162/boris-becker-malt-sich-deutschland-fahne-falsch-herum-ins-gesicht.html
ARD-Tagesthemen vom 21. Juni 2008
Instagram-Posting vom 30. Juni 2014 (Ausschnitt)
Daneben sind, so heißt es, auch Ergänzungen an dem Farbdreiklang unzulässig: „[Art. 22 GG legt] mit aller gebotenen Klarheit fest,
daß die Bundesflagge nur schwarz-rot-gold ist. Daraus ist vor allem herzuleiten, daß eine Kombination ... mit irgendwelchen Zeichen, Figuren oder Symbolen (wie etwa Kreuzen, Wappen oder Tierbildern) unter der Geltung des Grundgesetzes nicht zulässig
ist.“ 108
Abb.: http://www.steffensmeier.de/allgemein/deutsch-tuerkische-freundschaft (Ausschnitt)
Abb.: https://kammerspartakus.wordpress.com/2010/07/28/polizeiliche-vorladung-wegen-bananen-flagge/ (Ausschnitt)
Schließlich zeigt die schon von Wirth erwähnte und heute auf dem Hambacher Schloss ausgestellte, von Johann Philipp Abresch (* 1804;
† 1861) an der Spitze des Zuges getragene Fahne, die als „Ursprung der heutigen deutschen Nationalflagge“ gilt, eindeutig, wenn auch
stark ausgeblichen, die Reihenfolge schwarz-rot-gold: Sie trägt im roten Streifen die Aufschrift „Deutschlands Wiedergeburt“, die bei umgekehrter Reihung auf dem Kopf stünde.
Abb.: EPei, https://kosmologelei.wordpress.com/2015/08/page/3/
108
Herzog in Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 14 – allerdings: „Für Flaggen, Fahnen usw., die lediglich für Teile der Staatsorganisation (einzelne Staatsorgane, Behörden u.ä.) stehen, gilt etwas anderes.“
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarz-Rot-Gold
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Flagge_Deutschlands
Landesflagge von Rheinland-Pfalz
Flagge des deutschen ISAF-Kontingents der Bundeswehr in Afghanistan
Das Hissen einer um eine Banane ergänzte Bundesflagge hat in den letzten Jahren mehrere (letztlich eingestellte) Ermittlungsverfahren
nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB ausgelöst, siehe Justizfreund vom 13.10.2013 (http://blog.justizkacke.de/?p=4426).
30
Gleiches habe auch für „eine Kombination mit anderen Farben (wie sie etwa in Art. 3 Satz 2 WeimVerf. für die damals so genannte
Handelsflagge vorgesehen war)“ zu gelten 109.
Vielleicht ist auch noch zuzugestehen, man könne „dem Text des Art. 22 ... entnehmen, daß die Streifen der Bundesflagge ... gleich
breit sein müssen“ 110. Dann würden sich die „diagrammatische Arbeit“ „Korrektur der Nationalfarben“ des Malers und Grafikers KP
Brehmer, aber auch die (frühere) Dienstflagge der Deutschen Bundespost 111 mit dieser Verfassungsnorm stoßen.
Abb.: https://medienwatch.wordpress.com/kp-brehmer-kritisches-denkvermogen-gefordert/
Abb.: Kandschwar, https://de.wikipedia.org/wiki/Bundespostflagge
KP Brehmer (* 1938 † 1997): Korrektur der Nationalfarben, gemessen an der Vermögensverteilung (1970)
Dienstflagge der Deutschen Bundespost (1950–1994)
109
Herzog in Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 14.
Schwarz-Weiß-Rot-Gold wird gelegentlich als (verpasster) Kompromiss im Weimarer Flaggenstreit angeführt, siehe Manuel Ruoff: Unselig
war der Zwist, nicht der Kompromiß, Preußische Allgemeine Zeitung vom 29.4.2006.
Abb.: http://www.marine-seewoelfe.de/alldeutschesreich/index9.php
An der „East Side Gallery“ in Berlin-Friedrichshain befindet sich das Mauergemälde „Vaterland“ des Berliner Künstlers Günther Schaefer,
als „eine Kombination zwischen der deutschen und israelischen Flagge, als Friedenssymbol und Zeichen für Völkerverständigung zu verstehen“, vorübergehend noch ergänzt durch die palästinensischen Farben.
Abb.: Günther Schaefer, http://www.taringa.net/posts/imagenes/18720057/East-Side-Gallery-Arte-en-el-muro-de-Berlin.html
Abb.: http://www.berliner-mauer-kunst.net/v7-intpeaceact.htm (Ausschnitt)
Günther Schaefer (* 1954): Vaterland (1990 / restauriert 2009). Berlin, East Side Gallery
Variation im September 2004
110
Herzog in Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 13; Classen in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 22 Rn. 22; anderer Ansicht Klein in Bonner
Kommentar, GG, Art. 22 Rn. 123; Sannwald in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 22 Rn. 25. Siehe auch Ziff. I.1 der Anordnung über die deutschen Flaggen des Bundespräsidenten vom 13.11.1996 (BGBl. I, 1729): „Die Bundesflagge besteht aus drei gleichbreiten Querstreifen, oben schwarz, in der Mitte rot, unten goldfarben ...“
111
Der breite rote Mittelstreifen stammte insofern aus vorkonstitutioneller Zeit, als dass die Bundespostflagge von der Reichspostflagge der
Weimarer Republik abgeleitet war. Auch die Flagge der Post der DDR war an diesem historischen Vorbild orientiert, erhielt aber einen verschmälerten roten Streifen – optisch mithin durchaus machbar.
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Reichspostflagge
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Bundespostflagge
Reichspostflagge (1921–1933)
Dienstflagge der Deutschen Post der DDR (1955–1973)
31
Aber mehr ist dem kargen Wortlaut des Art. 22 Abs. 2 GG beim besten Willen nicht zu entnehmen.
Als Grundlage für § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB, soweit er die „Verunglimpfung“ der Flagge etwa durch die Grafik Holtfreters auf dem
rückseitigen Umschlag von „Laßt mich bloß in Frieden“ betrifft, „passt“ Art. 22 Abs. 2 GG nicht: Es geht dort nicht um die „Verunglimpfung“ der Farb-, auch nicht der Formwahl der Flagge, also nicht um die „Festlegung der Bundesfarben“. Die Flagge wird zwar
durch das dargestellte Beurinieren unwürdig behandelt – aber nicht in Farbe und Form „verunglimpft“. „Die Bundesflagge ist
schwarz-rot-gold“ – diesen Aussagegehalt, selbst bei extensiver Interpretation, hat Holtfreter nicht angegriffen.
Anders betrachtet: Wäre § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB die „strafrechtliche Ausformung“ von Art. 22 Abs. 2 GG, so wäre es nur schwer
möglich, sich durch Bildwerke der „Verunglimpfung“ der Farben oder der Flagge der Bundesrepublik Deutschland strafbar zu machen. Unter den Tatbestand der Norm würden dann am ehesten noch Darstellungen fallen, die die – schon aus Zeiten des Weimarer Flaggenstreits bekannte 112 – verunglimpfende Titulierung der Farben als „Schwarz-Rot-Scheiße" visuell umsetzen 113.
Abb.: http://bong-zeitung.de/?cat=1&paged=3
Bong Zeitung vom 8. Juni 2012
Und dieses restriktive (Zwischen-)Ergebnis zeigt sich auch dann als richtig, wenn man bedenkt, dass § 90a Abs. 2 StGB nicht nur
„die Farben, die Flagge“, sondern gleichgeordnet auch „das Wappen oder die Hymne“ der Bundesrepublik (lassen wir die Erstreckung auf Ländersymbole schon einmal außer Acht) aufzählt. Für diese Symbole fehlt jedoch eine Art. 22 Abs. 2 GG vergleichbare
112
Heinrich August Winkler berichtet von einem Bürger, der 1922 von „Schwarz-Rot-Scheiße“ sprach und in erster Instanz freigesprochen,
im Berufungsverfahren zu einer Geldstrafe von 30 Mark verurteilt wurde. (Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933: die Geschichte der
ersten deutschen Demokratie, 4. Aufl. 2005, S. 177).
113
Die Darstellung stilisierten Kotes in schwarz-rot-goldener Farbe würde dagegen nicht genügen, sofern die Farben „stimmen“. Die Form
selbst ist durch Art. 22 Abs. 2 GG nicht vollständig geregelt, so dass die Farben auch ungewöhnliche Formen annehmen können.
Abb.: http://www.deutschland-lese.de/index.php?article_id=743
Abb.: http://www.spreadshirt.de/schei%C3%9Fe+deutschland+t-shirts (Ausschnitt)
Abb.: http://www.flaggenbilder.de/deutschland/deutschland-fahne-019-herz-transparent-200x230_flaggenbilder.de.gif.html
Das war Glück, kann man launig einwerfen, für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, deren schachbrettartiges 1994er WM-Trikot
(„Schwingendesign") die Flaggenfarben in den Augen mancher nicht nur wegen der Anordnung der Farben, sondern auch von der Form
her diskreditierte („Geschmacksverirrung“ [„Frankfurter Allgemeine Zeitung“]), „weil es die Spieler ein wenig wie Mitglieder eines Fanfarenzugs aussehen ließ“ („farbimpulse.de“).
Abb.: http://www.ebay-kleinanzeigen.de/s-anzeige/raritaet-original-dfb-trikot-shirt-1994/357828215-234-4376 (Ausschnitt)
32
Verfassungsnorm 114; der Gebrauch der dritten Strophe vom „Lied der Deutschen“ von Hoffmann v. Fallersleben als Nationalhymne
hat sogar nicht einmal eine einfachgesetzliche Grundlage, 1948/49 war ihre (Weiter-)Verwendung noch hochumstritten 115. (Erst im
April/Mai 1952 erfolgte ein offizieller Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Adenauer und Bundespräsident Heuss, der festlegte,
dass das „Deutschlandlied“ Nationalhymne blieb, zu offiziellen Anlässen jedoch nur die dritte Strophe gesungen werden sollte 116.
Nach der deutschen Wiedervereinigung erklärte Bundespräsident Richard v. Weizsäcker in einem Brief an Bundeskanzler Helmut
Kohl am 19. August 1991 ausschließlich die dritte Strophe des „Deutschlandliedes“ zur offiziellen Nationalhymne des vereinten
deutschen Volkes; Kohl stimmte dem in seinem Antwortschreiben vom 23. August 1991 zu 117.)
Diese Situation war dem Bundesverfassungsgericht bei seiner „Bundesflaggen“-Entscheidung voll bewusst. Denn am gleichen Tage (!), also auch am 7. März 1998, hatte es über die Verfassungsbeschwerde des damaligen Chefredakteurs des Nürnberger
Stadtmagazin „Plärrer“ zu entscheiden, der durch den Abdruck einer „Deutschlandlied ‘86“ titulierten Fassung der deutschen Nationalhymne nach § 90a Abs.1 Nr. 2 StGB wegen Verunglimpfung der Nationalhymne durch alle Instanzen verurteilt worden war 118.
Abb.: Plärrer September 1986, S. 118 (Ausschnitt)
Das Bundesverfassungsgericht führte dort aus 119:
Ebenso wie die Bundesflagge wird die Nationalhymne durch § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB als Symbol der Bundesrepublik
Deutschland geschützt. Dieser Schutz der Hymne ist wie derjenige der Flagge (vgl. den [„Bundesflaggen“-]Beschluß
vom heutigen Tage ...) in der Verfassung begründet.
Das Bundesverfassungsgericht hatte also klar erkannt, dass es, was das hinter § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB stehende geschützte Verfassungsgut betrifft, bei Flagge und Hymne nur einheitlich entscheiden konnte – und einfach auf die (dann auch in der Amtlichen
Sammlung vorweg abgedruckte) Entscheidung vom gleichen Tag – „unseren“ Fall betreffend – verwiesen.
114
Kritisch dazu Scholz in Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 11.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verboten die Alliierten (Gesetz Nr. 154 der amerikanischen Militärregierung vom 14.7.1945;
Anordnung britische Militärregierung vom 18.8.1945) zunächst das Deutschlandlied mit allen drei Strophen. Der hymnenlose Zustand führte
zu kuriosen Situationen. Beim ersten internationalen Radrennen in Köln erklang 1949 bei einer Siegerehrung nach den Hymnen Belgiens
und der Schweiz der 1948er Karnevalsschlager „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien" (Volksmund für die Trizone, d.h. die drei
Westzonen); Bundeskanzler Konrad Adenauer wurde bei einem Staatsbesuch in Chicago mangels Hymne mit „Heidewitzka, Herr Kapitän"
empfangen, ebenfalls ein Karnevalsschlager (von 1936) mit zudem unpolitischem Text in Kölner Mundart. Beide Stücke stammten von dem
Kölner Komponisten und Schlagersänger Karl Berbuer (* 1900; † 1977). Zur konstituierenden Sitzung des Ersten Bundestages am
7.9.1949 war „Ich hab‘ mich ergeben“ erklungen, ein 1820 von dem Jenaer Urburschenschaftler Hans Ferdinand Maßmann (* 1797;
† 1874) gedichtetes patriotischen Volks- und Studentenlied.
116
Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 51 vom 6.5.1952, S. 537 (als Faksimile abgebildet von der Stiftung
Bundeskanzler-Adenauer-Haus [http://www.adenauerhaus.de/downloads/NOvember.pdf]).
117
Siehe die Bekanntmachung der Briefe des Bundespräsidenten vom 19.8.1991 und des Bundeskanzlers vom 23.8.1991 über die Bestimmung der 3. Strophe des Liedes der Deutschen zur Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland (http://www.gesetze-im
-internet.de/nhbrfbek/----.html).
118
Der Text stammt wohl von dem Schriftsteller und Satiriker Horst Tomayer (* 1938; † 2013), der für den Begleittext im „Plärrer“
(„Tomayers deutsche Hitparade – heute: Das Deutschlandlied 1986“) verantwortlich zeichnete. Tomayer veröffentlichte das „Deutschlandlied ‘86“ 1988 nochmals in seinem Buch „Hirnverbranntes und Feinziseliertes“ („Zinnober-Verlag“). Er wurde deshalb zusammen mit seinem Verleger Hans-Helmuth Röhring wegen Verunglimpfung der Nationalhymne angeklagt, vom Amtsgericht Hamburg aber freigesprochen (Hamburger Abendblatt vom 8.2.1989 [http://www.abendblatt.de/archiv/1989/article203826311/Satiriker-freigesprochen.html]). Tomayer war übrigens auch Mitautor von „Laßt mich bloß in Frieden“ – so schließt sich der Kreis.
119
BVerfGE 81, 298 (308) – Nationalhymne.
115
33
Schauen wir also, wo denn der Schutz der Symbole des § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB in der Verfassung jenseits von Art. 22 GG vom
Bundesverfassungsgericht im „Bundesflaggen“-Beschluss verortet worden ist:
Eine ... Bedeutung kommt dieser Grundgesetzbestimmung [Art. 22 GG] ... insoweit zu, als sie das Recht des Staates voraussetzt,
sich zu seiner Selbstdarstellung solcher Symbole zu bedienen. Zweck dieser Sinnbilder ist es, an das Staatsgefühl der Bürger zu
appellieren (Würtenberger, JR 1979, S. 311 unter Berufung auf H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 226). Das Grundgesetz nimmt
diese, auch von der Flagge ausgehende Wirkung nicht lediglich in Kauf. Als freiheitlicher Staat ist die Bundesrepublik vielmehr auf
die Identifikation ihrer Bürger mit den in der Flagge versinnbildlichten Grundwerten angewiesen. Die in diesem Sinne geschützten
Werte geben die in Art. 22 GG vorgeschriebenen Staatsfarben wieder. Sie stehen für die freiheitliche demokratische Grundordnung.
Aus dieser Bedeutung der Bundesflagge ergibt sich das der Kunstfreiheit widerstreitende Schutzgut der Strafnorm. Dient die Flagge
durch die von ihr verkörperten Staatsleitziele als wichtiges Integrationsmittel, so kann ihre Verunglimpfung die für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates beeinträchtigen.
Wie war das noch? „Einschränkungen dieses vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts [lassen sich] nicht formelhaft mit allgemeinen Zielen wie etwa dem ‚Schutz der Verfassung‘ oder der ‚Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege‘ rechtfertigen ...; vielmehr
müssen anhand einzelner Grundgesetzbestimmungen die ... [kollidierenden] verfassungsrechtlich geschützten Güter konkret herausgearbeitet werden ... “ 120 – Wo ist denn nun aber hier die konkrete Herausarbeitung verfassungsrechtlich geschützter Güter anhand einzelner Grundgesetzbestimmungen? Man lese den wortreichen Text mehrmals – entdeckt man dann konkret Greifbares hinter Phrasen wie „Appell an das Staatsgefühl“, „von der Flagge ausgehende Wirkung“, „wichtiges Integrationsmittel“, „Autorität des
Staates“?
Hätte nicht vielmehr das Bundesverfassungsgericht angesichts des Dilemmas, das der Wortschwall kaum verdecken kann, anerkennen sollen, dass hinter § 90a Abs 1 Nr. 2 StGB (zumindest über Art. 22 Abs. 2 GG hinaus) kein verfassungsrechtliches Schutzgut steht – mit der sofort ins Auge springenden Konsequenz, dass die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG (fast) immer einer
Strafbarkeit nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB entgegenstehen würde?
Diese Erkenntnis bliebe freilich vordergründig. Denn geht man mit der herrschenden Ansicht im Strafrecht – einzelne Meinungsverschiedenheiten in der Sache wie in der Terminologie außer Betracht gelassen – davon aus, dass Strafrechtsnormen, die nicht dem
Schutz eines Rechtsgutes dienen, verfassungswidrig sind, stünde die Grundgesetzverträglichkeit von § 90 Abs. 1 Nr. 2 StGB grundsätzlich in Frage.
Dass es hier an einem Rechtsgut fehlt, wird in der strafrechtlichen Literatur zwar gelegentlich betont 121. Nach den Deutungen der
herrschenden Ansicht bezweckt § 90a StGB entweder die Gewährleistung des Bestandes der Bundesrepublik, ihrer Länder und ihrer verfassungsmäßigen Ordnung, oder die Sicherstellung der Existenz des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats als Garant
für die Rechtsgüter seiner Bürger, oder aber den Schutz des Ansehens der Bundesrepublik, der Bundesländer, der verfassungsmäßigen Ordnung und bestimmter Staatssymbole vor Herabwürdigungen – oder sogar alles zusammen, wie man etwa im „Münchener
Kommentar“ lesen kann 122:
„Die ... Strafvorschrift schützt nicht etwa die ‚Staatsehre‘, sondern soll den Bestand der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Bundesländer und ihrer verfassungsmäßigen Ordnung, mithin in weit vorverlagerter Weise die Existenz des freiheitlichen demokratischen
Rechtsstaats als Garant für die Rechtsgüter seiner Bürger gewährleisten. ... Daneben soll allgemein das Ansehen der drei genannten Schutzobjekte sowie bestimmter Staatssymbole gegen Herabwürdigungen geschützt werden. So soll verhindert werden, dass
sich durch die straflose Hinnahme derartiger Schmähungen ein allgegenwärtiges Klima der Nichtachtung des Staates und seiner
Symbole ausbreitet ...“
Das Bundesverfassungsgericht – genauer gesagt, die 1. Kammer des 1. Senats – hatte vor wenigen Jahren in einem ebenfalls die
Farben und die Flagge der Bundesrepublik betreffenden Fall Gelegenheit, sich nochmals zum verfassungsrechtlich geschützten Gut
des § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB zu äußern 123:
Gegen den ... Straftatbestand des § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken prinzipieller Art (vgl. BVerfGE 81, 278, 290, 293 [Bundesflagge]; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten
Senats vom 29. Juli 1998 – 1 BvR 287/93 –, NJW 1999, S. 204, 205). § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB schützt die Farben und
die Flagge der Bundesrepublik Deutschland als staatliches Symbol. Dieser Schutz ist in der Verfassung begründet. Da
die Flagge durch die von ihr verkörperten Staatsleitziele als wichtiges Integrationsmittel dient, kann ihre Verunglimpfung
die für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates beeinträchtigen (vgl. BVerfGE 81, 278, 293 f.).
Die „für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates“ – das soll also offenbar das „anhand einzelner Grundgesetzbestimmungen ...konkret herausgearbeitete“ verfassungsrechtlich geschützte Gut hinter § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB sein. – Nun ja ... die Formulierung war auch schon in einem der acht Sätze aufgetaucht, mit dem die konkrete Herausarbeitung in der „Bundesflaggen“Entscheidung unternommen worden war.
Halten wir sie also fest!
Im „Bundesflaggen“-Beschluss betonte das Bundesverfassungsgericht, nachdem es so wortreich und mühsam dieses verfassungsrechtlich geschütztes Gut hinter § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB aufgespürt hatte, unvermittelt:
Im Lichte des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG darf der Symbolschutz indessen nicht zur Immunisierung des Staates gegen Kritik und selbst
gegen Ablehnung führen. Es bedarf daher im Einzelfall einer Abwägung der widerstreitenden Verfassungsrechtsgüter.
120
BVerfGE 81, 278 (293); ähnlich schon E 77, 240 (255) – Herrnburger Bericht.
Roland Hefendehl: Kollektive Rechtsgüter, 2002, S. 360; Sabine Benthin: Subventionspolitik und Subventionskriminalität, 2011, S. 234.
122
Steinmetz in Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2012, § 90a Rn. 1.
123
BVerfG (Kammer), NJW 2009, 908 – Schwarz-Rot-Senf.
121
34
Die Sätze können nur als Reaktion darauf verstanden werden, dass in Übereinstimmung mit einer besonders im Staatsrecht beheimateten Auffassung 124 der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt/M. bis zuletzt hartnäckig an seiner Auffassung festgehalten hatte, „daß die Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 III GG durch § 90a StGB eingeschränkt wird; den durch diese Strafbestimmung
geschützten Verfassungsrechtsgütern kommt ein so hoher Rang zu, daß das individuelle Grundrecht der Kunstfreiheit ihnen gegenüber ... zurücktreten m uß“ 125.
Erkennt man allerdings, auf welch dünnem Eis sich die Annahme eines Verfassungsgutes der „für den inneren Frieden notwendigen
Autorität des Staates“ bewegt, würde man eher meinen können, dass eine Buchrückseite eines „etwas pubertären Gesinnungsbuches“ („Die Zeit“) und ein albernes „Preisrätsel“ in einem Lokalblättchen wie dem „Mitbürger! – Odenwälder Flugschrift" kaum die
friedensnotwendige Staatsautorität so tangieren können, dass ein individuelles Grundrecht wie die Kunstfreiheit eingeschränkt werden darf.
Letztlich sah das offenbar auch das Bundesverfassungsgericht so, das im Einzelnen darlegte, weshalb die Verurteilungen beider
Beschwerdeführer durch diverse Gerichte den „verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt“.
Schlussendlich machte das Bundesverfassungsgericht allgemein klar, dass bei einer satirischen Darstellung wie dieser Collage zwischen Aussagekern und verfremdender Einkleidung unterschieden werden müsse; es sei überhaupt nicht um die Missachtung der
Bundesflagge gegangen; vielmehr habe sich die Aussage „gegen das staatliche Zeremoniell der Vereidigung oder des Gelöbnisses
von Soldaten“ gerichtet und damit „die Ablehnung, wenn nicht den Abscheu gegen den Wehrdienst“ zum Ausdruck gebracht:
Ihrem Gehalt nach ist die Collage als Karikatur, also als satirische Darstellung, einzuordnen. Den heute noch gültigen Weg zur
werkgerechten Interpretation solcher Kunstschöpfungen hat das Reichsgericht gewiesen (RGSt 62, 183; vgl. BVerfGE 75, 369,
377 f. [Strauß-Karikaturen]). Da es dieser Kunstgattung eigentümlich ist zu übertreiben, zu verzerren und zu verfremden, erfordert
ihre rechtliche Beurteilung die Entfernung des in Wort und Bild gewählten satirischen Gewandes (RGSt, a.a.O., S. 184), damit ihr eigentlicher Inhalt ermittelt werden kann. Dieser Aussagekern und seine Einkleidung sind sodann gesondert daraufhin zu überprüfen,
ob sie den Unrechtsvorwurf tragen. Denn die Maßstäbe für die Beurteilung der Einkleidung sind anders und weniger streng als die
für die Bewertung des Aussagekerns, weil der Einkleidung die Verfremdung wesenseigen ist (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 378). ...
... Aussagekern der Darstellung [ist nicht] die Mißachtung der Bundesflagge und des durch sie symbolisierten Staates, Einkleidung
dagegen das Fahneneidzeremoniell. Schon wegen der Thematik des Buches, aber auch unabhängig davon, drängt sich dem Betrachter eine entgegengesetzte Interpretation auf. Die Karikatur hat vorrangig antimilitaristische und nur insoweit antistaatliche Tendenz. Sie richtet sich gegen das staatliche Zeremoniell der Vereidigung oder des Gelöbnisses von Soldaten und bringt damit die Ablehnung, wenn nicht den Abscheu gegen den Wehrdienst zum Ausdruck. Die Abbildung zeigt zwar ein staatliches Symbol, dem eine
unwürdige Behandlung zuteil wird; damit sollen aber nicht die Staatlichkeit überhaupt oder die verfaßte Ordnung der Bundesrepublik
Deutschland insgesamt angegriffen werden. Angriffsziel ist der Staat nur insoweit, als er für die Einrichtung des Militärdienstes verantwortlich ist und ihm durch die Verwendung seiner Symbole bei der Inpflichtnahme der Soldaten zu einer besonderen Legitimation
verhilft. Dieser Aussagekern wird eingekleidet und verfremdet durch den Mann, der auf das bei der Zeremonie verwendete staatliche
Symbol uriniert.
Lässt die Entscheidung tatsächlich „Augenmaß für die Belange der Gemeinschaft vermissen“, wie man im „Bonner Kommentar“ lesen kann 126? Ist sie wirklich „haarsträubend“, wie Horst Sendler, bis 1991 Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, meinte 127?
Wohl eher nicht.
In Frankreich, wo in der Verfassung die Flagge ähnlich wie im deutschen Grundgesetz festgelegt wird (Art. 2 Abs. 2 Constitution de
la Cinquième République française: „L'emblème national est le drapeau tricolore, bleu, blanc, rouge“) gab es 2010 einen zumindest
vergleichbaren Fall, der trotz großer Aufregung nicht einmal zur Anklage führte:
Bei einem Fotowettbewerb in Nizza zum Themenbereich „Die Reflexion in all ihren Spielarten / von oben nach unten, von unten
nach oben / politisch unkorrekt“ („le reflet dans tous ses états / de haut en bas, de bas en haut / politiquement incorrect") war am 6.
März 2010 in der Kategorie „politiquement incorrect“ das Fotos des 25jährigen Amateurfotografen Frédéric Laurent, auf dem die
französische Trikolore anscheinend als Toilettenpapier verwendet wird, ausgezeichnet und in einer großen Buchhandlung ausgestellt worden.
Abb.: http://ripostelaique.com/Un-individu-se-torche-avec-le.html
124
Vgl. Herzog in Maunz/Dürig, GG, Art. 22 Rn. 29: Güterabwägung statt eines „jederzeitigen, umfassenden Vorrangs des Schutzes der
Staatssymbole“ sei „unbefriedigend“. Klein in Bonner Kommentar, GG, Art. 22 Rn. 140: Weitgehende Unterordnung des Ehrschutzes der
Meinungsäußerungsfreiheit lasse „Augenmaß für die Belange der Gemeinschaft vermissen“; siehe auch Sendler, NJW 1993, 2158.
125
OLG Frankfurt/M., NJW 1986, 1272 (1274) (Hervorhebung von hier).
126
Klein in Bonner Kommentar, GG, Art. 22 Rn. 140.
127
Sendler, NJW 1993, 2158.
35
Der Veranstalter des Wettbewerbs, die Handelskette „Fnac“, nahm das Foto nach heftigen Protesten unter anderem von Veteranenverbänden aus der Ausstellung, entschuldigte sich und strich das Bild aus der Liste der prämierten Werke. Das Bild wurde jedoch
noch in der Lokalausgabe der Gratiszeitung „Metro“ vom 19. März 2010 abgedruckt.
Daraufhin schaltete der Lokalpolitiker Eric Ciotti, Abgeordneter der konservativen „Union pour un mouvement populaire“ (UMP; heute: „Les Républicains“) und Präsident des Generalrats des Départements Alpes-Maritimes, die französische Justizministerin Michèle
Alliot-Marie (ebenfalls UMP) ein, die die Staatsanwaltschaft von Nizza aufforderte zu prüfen, ob das Foto einen Strafbestand erfüllt.
Die Staatsanwaltschaft verneinte einen Verstoß gegen Art. 433-5-1 Code pénal (frz. StGB) 128, die einzig in Betracht kommende
Strafnorm, die erst am 18. März 2003 durch das Heimatschutzgesetz (La loi sur la sécurité intérieure) als Reaktion auf das Ausbuhen der französischen Nationalhymne, der Marseillaise, bei Fußballspielen in den Code pénal eingefügt worden war; Art. 433-5-1
Code pénal pönalisiere zwar die öffentliche Beleidigung der Marseillaise oder der Trikolore. Es fehle jedoch am Tatbestandsmerkmal „während einer organisierten oder von den Behörden geregelten Veranstaltung“ („au cours d'une manifestation organisée ou
réglementée par les autorités publiques“). „Diese Geschichte ist viel schlimmer, als wenn die Marseillaise in Stadien ausgebuht
wird!" 129, tobte der regionale UMP-Politiker Charles-Ange Ginésy.
Die Nizzaer Staatsanwaltschaft sah sich aber auch deshalb an der Verfolgung Laurents, der übrigens eine „provocation politique“
bestritt 130, gehindert, weil der französische Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) in einer Entscheidung vom 13. März 2003 verdeutlicht hatte, dass vom Geltungsbereich von Art. 433-5-1 Code pénal „Werke des Geistes“ („œuvres de l'esprit“) ausgenommen
seien 131.
Justizministerin Alliot-Marie erließ daraufhin am 21. Juli 2010 ein Dekret – in Deutschland würde man wohl sagen: eine Rechtsverordnung – über die Kriminalisierung der Beleidigung der Trikolore (Décret relatif à l'incrimination de l'outrage au drapeau tricolore) 132. Die neue Übertretung („contravention“) sieht unter anderem für die Verwendung der Trikolore in „entwürdigender Weise“
(„manière dégradante“) eine Geldstrafe bis 1.500 Euro vor 133.
Dieser französische Fall unterscheidet sich von dem „Urin-auf-Bundesflagge“-Fall dadurch, dass auf dem Foto eine reale Fahne
(scheinbar) beschmutzt wird und nicht nur Flaggenfoto per Collage in einen „verunglimpfenden“ Zusammenhang gebracht wird.
Vervollständigen wir den „Urin-auf-Bundesflagge“-Fall deshalb mit einem Blick auf zwei weitere Fälle, in denen deutsche schwarzrot-goldene Fahnen in Verbindung mit körperlichen Ausscheidungen gebracht werden: Den „Jubelfähnchen“- sowie den „Schnäuztuch“-Fall
„Jubelfähnchen“-Fall
Das Landgericht Aachen hatte es 1995 als Berufungsgericht mit einem Fall zu tun, indem der Stolberger Aktionskünstler Christian
Wagemann (* 1959) eine (kleine) deutsche Bundesfahne in einen Haufen Pferdemist gesteckt hatte.
Die Aktion ist fotografisch nicht dokumentiert; man muss sie sich wohl in etwa so vorstellen:
Abb.: Elias Schwerdtfeger, https://www.flickr.com/groups/machdeutsch/pool/
128
Art. 433-5-1 Code pénal
Le fait, au cours d'une manifestation organisée ou réglementée par les autorités publiques, d'outrager publiquement l'hymne national ou le
drapeau tricolore est puni de 7500 euros d'amende.
Lorsqu'il est commis en réunion, cet outrage est puni de six mois d'emprisonnement et de 7500 euros d'amende.
129
TF1News vom 20.4.2010 („Cette histoire est bien pire que La Marseillaise sifflée dans les stades!") (http://lci.tf1.fr/france/societe/la
-photo-politiquement-incorrecte-qui-cree-la-polemique-5823370.html).
130
BFMTV vom 22.4.2010 (im Internet noch zu finden unter http://web.archive.org/web/20140906183818/http://www.bfmtv.com/societe/s
-essuie-drapeau-francais-108857.html).
131
Décision n° 2003-467 DC (Nr. 104) (http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-con..c/decision-n-2003-467-dc-du-13-mars-2003.855.html).
132
Décret n° 2010-835 relatif à l'incrimination de l'outrage au drapeau tricolore (http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte
=JORFTEXT000022509096&categorieLien=id).
133
Art. R645-15 Code pénal
Hors les cas prévus par l'article 433-5-1, est puni de l'amende prévue pour les contraventions de la cinquième classe le fait, lorsqu'il est
commis dans des conditions de nature à troubler l'ordre public et dans l'intention d'outrager le drapeau tricolore :
1° De détruire celui-ci, le détériorer ou l'utiliser de manière dégradante, dans un lieu public ou ouvert au public ;
2° Pour l'auteur de tels faits, même commis dans un lieu privé, de diffuser ou faire diffuser l'enregistrement d'images relatives à leur commission.
...
36
Wagemann war deshalb in erster Instanz vom Amtsgericht Aachen wegen der Verunglimpfung staatlicher Symbole gemäß § 90a
Abs. 1 Nr. 2 StGB zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt worden.
Das Landgericht Aachen sprach ihn dann jedoch frei 134:
... eine Verunglimpfung der staatlichen Symbole i.S. des § 90a StGB und damit ein strafbares Verhalten des Angeklagten [kann]
nicht festgestellt werden. Die inkriminierte Aktion des Angeklagten kann nicht losgelöst von den Gesamtumständen gesehen werden, die dazu geführt haben.
Die „Gesamtumstände“ beschrieb das Landgericht so:
Der Angeklagte, der sich dem antifaschistischen Engagement verschrieben hat, dem linken politischen Spektrum zuzuordnen ist und
sich als Aktionskünstler bezeichnet, hatte schon seit vielen Jahren an den Veranstaltungen der Arbeitsgemeinschaft soldatischer
Verbände am Totensonntag in Aachen am Marienburg-Ehrenmal an der Ludwigsallee teilgenommen, um gegen die Verherrlichung
des Kriegsgeschehens und gegen neonazistische Tendenzen zu demonstrieren.
Zum Hintergrund:
Der Rundbau der Marienburg von 1512 ist einer der wenigen erhalten gebliebenen Türme der ehemaligen Stadtbefestigung und gehört zu den Baudenkmälern der Stadt Aachen.
Abb.: http://de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/198599
Schon um 1929 gab es Pläne, dort eine Gedenkstätte für die toten Soldaten des 1. Weltkrieges, die aus Aachen stammten, zu errichten. Aber erst in der Nazizeit wurde dieser Bau realisiert. Die Einweihung der Marienburg als Ehrenmal fand am 6. August 1933
statt. „Aachen neigt sich in Dankbarkeit vor den toten Soldaten und grüßt die Lebenden – Sieg Heil!“, schloss Aachens damaliger
NSDAP-Oberbürgermeister Quirin Jansen seine Eröffnungsrede 135.
Im 2. Weltkrieg schwer beschädigt, wurde die Marienburg 1955 wieder als Ehrenmal eingeweiht – nunmehr für die Toten zweier
Weltkriege.
Abb.: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marienburg,_Aachen_XIV.jpg?uselang=de
Inschrift: „Dieses im Jahre 1512 zur Verstärkung der äusseren Stadtmauer errichtete Bollwerk, Marienburg genannt,
wurde 1932 zu einem Ehrenmal umgestaltet. Im Kriegsjahr 1944 stark beschädigt, 1950–1955 wiederhergestellt.“
134
LG Aachen, NJW 1995, 894.
Näher hierzu (und zum Folgenden) Volkshochschule Aachen (Hrsg.), Wege des Vergessens; Gedenktafelübersicht: 16. Ludwigsallee,
„Marienburg“ (http://www.wgdv.de/wege/marienburg.htm).
135
37
Bis 1992 fanden an dieser Stelle am Totensonntag, also dem Sonntag im November nach dem „Volkstrauertag“, an dem aller Opfer
der Kriege und der NS-Zeit gedacht wurde, „Heldengedenkfeiern“ militärischer Traditionsverbände statt, mit Unterstützung der Bundeswehr und teils auch unter Beteiligung von rechtsextremen, NS-lastigen Organisationen 136.
Das Landgericht Aachen fuhr zu den „Gesamtumständen“ fort:
Insbesondere weil in den vergangenen Jahren bei mehreren Gelegenheiten die Reichskriegsflagge, eine Ersatzfahne für die Hakenkreuzflagge, gezeigt worden war, hatten sich der Angeklagte sowie weitere Gesinnungsgenossen zu einer satirischen Aktion gegen
das auch für den 24.11.1991 [Totensonntag] erwartete Zeigen der Reichskriegsflagge entschlossen.
In der rechtsradikalen Szene machte man in der Vergangenheit immer wieder von der kaiserlichen Reichskriegsflagge Gebrauch.
Bereits in der Weimarer Republik wurde sie von extrem rechts stehenden Parteien und Organisationen als Symbol verwendet, etwa
1923 vom „Bund Reichskriegsflagge“ Ernst Röhms, dem späteren „Stabschef“ der SA.
Auch heute noch wird die Reichskriegsflagge des Kaiserreichs, aber auch die (zunächst noch hakenkreuzlose) des nationalsozialistischen Deutschlands bis 1935 im rechtsextremen Spektrum verwendet. Sie gilt als die nächstbeste Alternative zur verbotenen Hakenkreuzfahne 137 – noch aussagekräftiger als die auch gern verwendete schwarz-weiß-rote Nationalflagge des Deutschen Kaiserreiches.
Abb.: http://de.wikipedia.org/wiki/Reichskriegsflagge
Kaiserliche Reichskriegsflagge (verschiedene Versionen; hier die letzte von 1903–1919)
Reichskriegsflagge 1933–1935
Das Landgericht Aachen weiter zu den „Gesamtumständen“ der Aktion Wagemanns:
Unter anderem deshalb, weil es bei früheren Veranstaltungen am Totensonntag auch zu körperlichen Auseinandersetzungen und zu
Festnahmen durch die Polizei gekommen war, war von seiten des Angeklagten und seiner Gesinnungsgenossen zur Vermeidung
einer Eskalation ein Protest mit kulturellen Mitteln beabsichtigt. Deshalb hatte [man] sich Dekorationsstoff in den Farben
schwarz/rot/gelb besorgt. Damit wolle man einerseits sogenannte „Jubelfähnchen”, die die Flagge der Bundesrepublik Deutschland
symbolisieren sollten, herstellen, wollte diesen Dekorationsstoff aber auch als Schärpe tragen. Es war vorgesehen, die „Jubelfähnchen” als Antwort auf das Zeigen der Reichskriegsflagge in den Boden zu stecken, um dieser Flagge etwas entgegen zu setzen.
Als dann tatsächlich sich ein ... Mann mit einer Reichskriegsflagge in der Hand neben den Eingang des Ehrenmals stellte, steckte
der Angeklagte das an einem Stock befestigte etwa handtellergroße Fähnchen, welches die Flagge der Bundesrepublik Deutschland
farblich symbolisierte, in einen Haufen Pferdemist, der dort zufälligerweise wahrscheinlich von einem Polizeipferd hinterlassen worden war.
Das Fähnchen steckte nur kurze Zeit in dem Pferdehaufen und wurde dann von dem Einsatzleiter der Polizei ... nach ... etwa 5 bis
10 Sekunden, vielleicht auch etwas längerer Zeit, herausgezogen. Dabei fragte der ... [Einsatzleiter] den Angeklagten, ob das denn
sein müsse. Der Angeklagte antwortete, Ja, das müsse sein, das geschehe aus Protest gegen das Zeigen der Reichskriegsflagge
und machte hierzu weitere Ausführungen.
Diese Feststellungen genügten dem Landgericht Aachen, das angefochtene Urteil des Amtsgerichts Aachen aufzuheben und
Wagemann freizusprechen:
136
Die Gedenkfeier am Totensonntag des Jahres 1992 wurde Thema einer Kleinen Anfrage der PDS / Linke Liste an die Bundesregierung
vom 1.12.1992 (BT-DrS 12/3925). Die Bundestagsgruppe nannte dort als „Beispiel“, das „die Zusammenarbeit zwischen Rechtsextremisten
und Bundeswehrangehörigen bzw. das Hoffähigmachen des Neofaschismus“ belegen würde: „Anläßlich des Totensonntags am 22. November 1992 wurde u.a. auch in Aachen wie in jedem Jahr der toten Soldaten der beiden Weltkriege gedacht. Zu einer Gedenkfeier am
Ehrenmal lud der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft soldatischer Verbände Aachens (AGsV) ein. An diesem Gedenktag beteiligten sich
u.a. eine Abordnung der Bundeswehr, Militärpfarrer sowie Mitglieder des Bundestages. Die diesjährige Gedenkansprache in Aachen hielt
Frank Heimig von der rechtsextrem durchsetzten ‚Brunner Burschenschaft Libertas zu Aachen‘. Diese Burschenschaft gehört zu den
schlagenden Verbindungen mit den besten Kontakten zum rechtsextremistischen Lager.“
137
Siehe Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Symbole und Zeichen der Rechtsextremisten, 2008, S. 39 (im Internet noch zu finden
unter http://web.archive.org/web/20090117140644/http://www.verfassungsschutz.de/download/SHOW/broschuere_0810_RE_Kennzeichen_
12.11.08.pdf): „Die Führung der ‚Reichskriegsflagge‘ erfüllt weder einen Tatbestand des Strafgesetzbuches noch des Ordnungswidrigkeitengesetzes. Dennoch kann die ‚Reichskriegsflagge‘ nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht dann sichergestellt werden, wenn dies
in konkreten Einzelfällen die erforderliche, geeignete und verhältnismäßige Maßnahme ist, um konkrete Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren. Das ist z.B. dann der Fall, wenn die Flagge Kristallisationspunkt einer konkret drohenden Gefahr ist
und diese sich dadurch beheben lässt. Die Verwendung und Verbreitung der Reichskriegsflagge von 1935–1945 [mit einem Hakenkreuz]
ist jedoch gem. §§ 86, 86a StGB strafbar ...“
38
Seine Einlassung, er habe mit seiner Aktion in satirischer Form nicht die Bundesrepublik Deutschland bzw. ihre Symbole verächtlich
machen wollen, sondern im Gegenteil die Bundesrepublik vor einem Angriff der Rechten bzw. Rechtsradikalen schützen wollen, war
ihm unter den hier vorliegenden besonderen Umständen nicht zu widerlegen. Das Stecken eines kleinen Jubelfähnchens, welches
farblich die Flagge der Bundesrepublik Deutschland symbolisiert, in einen Haufen Pferdemist kann nach der vom Angeklagten dargelegten Zielrichtung und unter Berücksichtigung der Gesamtumstände jedenfalls auch so gedeutet werden, daß dadurch auf krasse
Weise deutlich gemacht werden sollte, durch die Reichskriegsflagge als Symbol der Neonazis werde das Ansehen des Staates,
symbolisiert durch das kleine Bundesfähnchen in dem Pferdehaufen, in den Schmutz gezogen. ... Bei dieser Sachlage vermochte
die Strafkammer weder in subjektiver noch in objektiver Hinsicht eine Verunglimpfung der staatlichen Symbole i.S. des § 90a II StGB
festzustellen.
Nun erscheint diese Subsumtion problematisch.
„Eine Verunglimpfung ist eine nach Form, Inhalt, den Begleitumständen od er dem Beweggrund erheblichere Ehrenkränkung“, sagt
die juristische Kommentarliteratur unter Führung des Bundesgerichtshofes 138: „... oder ...“. Es ist also nicht erforderlich, dass „auch“
„Begleitumstände“ sowie „Beweggrund“ eine „Verunglimpfung“ darstellen. Am objektiven „Verunglimpfen“ nach „Form“ sowie „Inhalt“
kann man im vorliegenden Fall eigentlich nur schwerlich zweifeln, vernachlässigt man einmal die „Gesamtumstände“:
Als ... sich ein ... Mann mit einer Reichskriegsflagge in der Hand neben den Eingang des Ehrenmals stellte, steckte der
Angeklagte [ein anderer Mann] das ... Fähnchen, welches die Flagge der Bundesrepublik Deutschland farblich symbolisierte, in einen Haufen Pferdemist ...
Aber auch in subjektiver Hinsicht ist die Annahme einer vorsätzlichen „Verunglimpfung“ fragwürdig. Denn selbst wenn Wagemann
geglaubt hatte, wegen der „Gesamtumstände“ liege objektiv kein „Verunglimpfen“ vor, so liegt darin ein (nicht schon den Vorsatz
ausschließender) Subsumtionsirrtum vor 139. Ein solcher Irrtum ist gegeben, wenn der Täter in Kenntnis des von einem Tatbestandsmerkmal vorausgesetzten Tatumstandes (und damit insoweit vorsätzlich) handelt, aufgrund unrichtiger Auslegung aber nicht
versteht, dass er das fragliche Tatbestandsmerkmal verwirklicht 140.
Das heißt nun aber noch nicht, dass das Landgericht Aachen Wagemann hätte verurteilen sollen. In einer Hilfserwägung stellte das
Gericht noch auf die Kunstfreiheit ab:
Lediglich ergänzend weist die Kammer darauf hin, daß selbst dann, wenn man entgegen der hier vertretenen Auffassung sowohl in
objektiver als auch in subjektiver Hinsicht eine Verunglimpfung der Bundesflagge bejahen wollte, der Angeklagte nicht gem. § 90a II
StGB verurteilt werden kann, weil sein Verhalten jedenfalls durch die Kunstfreiheit gem. Art. 5 III des Grundgesetzes ... gedeckt gewesen ist. Es ist anerkannt, daß die Strafvorschrift des § 90a StGB das Grundrecht der Kunstfreiheit nicht verdrängt, sondern daß
vielmehr eine Abwägung der widerstreitenden Verfassungsgüter vorzunehmen ist, wobei bei politisch motivierten Aktionen – wie
hier – insbesondere die Zielrichtung, der Anlaß und die beabsichtigte Breitenwirkung zu berücksichtigen sind.
Das Landgericht Aachen bejahte zunächst, dass es sich bei der Aktion um Kunst gehandelt habe, und legt dabei Merkmale sowohl
des materialen („schöpferischer Akt“) wie auch des offenen („objektiv mehrdeutiger Aussageinhalt“) Kunstbegriffs zugrunde:
Daß es sich hier um eine der Kunstfreiheit zuzurechnende Aktion des Angeklagten gehandelt hat, kann nach der Rechtsprechung
des BVerfG (vgl. BVerfGE 81, 278 ff. [Bundesflagge]) nicht zweifelhaft sein. Maßgebend für die Bewertung als Kunst ist dabei nicht
allein die Willensrichtung des Angeklagten oder der Umstand, daß er auch bereits an anderen Kunstaktionen teilgenommen hat.
Entscheidend ist vielmehr, daß er – wenn auch sehr vergröbernd – zwei Sachverhalte, nämlich den Polizeipferdehaufen und das
Bundesfähnchen zu einer neuen Aussage miteinander verknüpft hat, um in satirischer Form gegen die Reichskriegsflagge zu protestieren, wobei es durch einen schöpferischen Akt also zu einer bildhaften Verfremdung mit objektiv mehrdeutigem Aussageinhalt
gekommen ist.
Leider missglückt dem Landgericht die abschließende „Abwägung“ komplett – fünf Jahre nach der „Bundesflaggen“-Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts! Statt der Kunstfreiheit (irgend)ein verfassungsrechtlich geschütztes Gut entgegenzustellen (namentlich die dort schon erwähnte „für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates“), wird der lediglich einfachrechtliche
„durch § 90a StGB strafbewehrte Schutz des staatlichen Symbols der Bundesflagge“ Abwägungskriterium – ein „No-Go“ schon seit
dem „Mephisto“-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1971:
Berücksichtigt man im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung einerseits die Dauer der inkriminierten Handlung (5 bis 10 Sekunden oder etwas länger), die Tatsache, daß außer den Teilnehmern an der soldatischen Veranstaltung niemand Anstoß genommen
hat, daß die Aktion eine erklärte Reaktion auf das Zeigen der Reichskriegsflagge darstellte, daß es keine gezielte Breitenwirkung
hatte und allen Beteiligten die Umstände, unter denen das Fähnchen in den Pferdeapfel gesteckt wurde, bekannt waren und daß es
sich schließlich um eine aus der Situation geborene Spontanaktion gehandelt hat – es war Zufall, daß sich an dieser Stelle ein Pferdehaufen befand –, so ergibt die fallbezogene Abwägung hier, daß dem Recht auf Kunstfreiheit ein höherer Rang beizumessen ist
als der durch § 90a StGB strafbewehrte Schutz des staatlichen Symbols der Bundesflagge.
Kurios – die Begründung, weniger das Ergebnis: Aktionskunst obsiegt in einer „fallbezogenen Abwägung“ danach also dann gegenüber dem Symbolschutz, wenn sie möglichst kurz andauert, spontan ist, keine gezielte Breitenwirkung hat und niemand an ihr Anstoß nimmt – wenn sie also weitgehend unsichtbar ist, ihr Wirkbereich möglichst klein bleibt.
138
BGHSt 12, 364 (Leitsatz) (Hervorhebung von hier).
Vgl. BGH, GA 1979, 391.
140
Siehe Sternberg-Lieben/Schuster in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 29. Aufl. 2014, § 15 Rn. 44.
139
39
Dabei wäre es doch ein Leichtes gewesen, statt solchen Herumgeredes in einer Abwägung kurz darzulegen, dass die (vermeintlich)
hinter § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB stehende „Autorität des Staates“ nicht ernsthafter Beeinträchtigung durch eine Kunstaktion unterliegt,
die gerade „die Bundesrepublik vor einem Angriff der Rechten bzw. Rechtsradikalen schützen“ will, indem künstlerisch verfremdet
dargestellt wird, „durch die Reichskriegsflagge als Symbol der Neonazis werde das Ansehen des Staates, symbolisiert durch das
kleine Bundesfähnchen in dem Pferdehaufen, in den Schmutz gezogen“.
Dogmatisch ist die Abwägung mit der Kunstfreiheit auf der Ebene der Rechtfertigung – das Landgericht Aachen schwieg dazu – anzusiedeln. Das hat zur Konsequenz, dass Wagemann seine Aktion durchführen durfte, und, solange nicht die polizeirechtliche Gefahrenabwehr ein Einschreiten geboten hatte, niemand das Jubelfähnchen gegen den Willen Wagemanns entfernen durfte. „Der
Angeklagte hat den Einsatzleiter der Polizei aber wohl nicht wegen der Zerstörung des Kunstwerks in Anspruch genommen“, merkte
ein Spötter an 141.
Epilog:
Wagemann hat es offenbar mit Tierkot und Neonazis. Im August 2008 kippte er am Marktplatz in Stolberg-Mausbach, seinem Wohnort, eine Karre mit Schafsmist vor einen NPD-Infostand 142. Dazu soll er gerufen haben: „Braune Scheiße zu brauner Scheiße!” Die
Polizei sprach einen Platzverweis gegen Wagemann aus. Ein NPD-Funktionär zeigte ihn wegen Beleidigung an.
Abb.: Christian Wagemann
Das Amtsgericht Eschweiler sprach Wagemann am 16. März 2009 vom Vorwurf der Beleidigung frei, denn „Mist auskippen“ sei eine
„Meinungsäußerung“ – solange man dabei keine Person mit den Fäkalien gleichsetze. Auf die Freiheit der Kunst – Wagemann hatte
seinen Schafsmist als solche bezeichnet – kam es mithin nicht an.
„Schnäuztuch“-Fall
Abb.: https://www.youtube.com/watch?v=FwsbPSTlL6U (Screenshot)
Der deutsche Journalist Jakob Augstein benutzte am 15. Juni 2012 in „Phoenix“, einem von „ARD“ und „ZDF“ in Kooperation betriebenen Nischensender, eine Deutschlandfahne demonstrativ unter anderem als Schnäuztuch – das „derbe“ („Duden“) Wort „Rotzfahne“ erhielt eine ganz neue Bedeutung.
Jakob Augstein (* 1967 in Hamburg) ist der rechtlich anerkannte (§ 1594 BGB) Sohn des „Spiegel“-Begründers Rudolf Augstein und
der Übersetzerin Maria Carlsson. Sein leiblicher Vater ist der Schriftsteller Martin Walser. Er ist Verleger und Chefredakteur der „linken“ Wochenzeitung „Der Freitag“. Zudem schreibt er für „Spiegel online“ die Kolumne „Im Zweifel links“.
Seit Januar 2011 sendet „Phoenix“ wöchentlich am Freitagabend „Augstein und Blome“, eine 10-minütige, zumeist kontroverse Diskussion („Phoenix“ spricht von einem „Schlagabtausch“) Augsteins mit dem politisch deutlich konservativeren Nicolas Blome, bis
zum Herbst 2013 stellvertretender Chefredakteur der „Bild“-Zeitung 143, über aktuelle Themen.
141
Pressemitteilung der Anwaltseiten24 vom 6.3.2007 (http://www.anwaltseiten24.de/pressemitteilungen/artikel/news/das-bundesfahnchen
-im-polizeipferdehaufen-1.html).
142
Näher hierzu Aachener Zeitung vom 15.3.2009 (http://www.aachener-zeitung.de/lokales/stolberg/gericht-misthaufen-vor-npd-stand-ist
-aktionskunst-1.308642).
143
Am 15.10.2013 wechselte Blome zum „Spiegel-Verlag“, wo er als Mitglied der Chefredaktion des „Spiegel“ und von „Spiegel Online“ die
Leitung des Hauptstadtbüros übernahm. Die Personalie, innerhalb des „Spiegels“ heftig umstritten, fand Augsteins Billigung („Blome ist ein
hervorragender politischer Journalist“). Focus vom 23.8.2013 (http://www.focus.de/kultur/medien/franziska-augstein-wettert-gegen-bruder
-jakob-bild-mann-blome-sorgt-fuer-geschwister-streit-beim-spiegel_aid_1079231.html). Keine zwei Jahre später trennten sich „Der Spiegel“
und Blome wieder „im gegenseitigen Einvernehmen".
40
Thema der „Phoenix“-Sendung „Augstein und Blome“ am Freitag, dem 15. Juni 2012 kurz vor Mitternacht war „Jetzt aber wirklich –
Endspiel um den Euro”. Es ging eigentlich um die Parlamentswahl am 17. Juni 2012, nur sechs Wochen nach der vorherigen, bei
der der seitens der EU gefürchtete (und dann 2015 tatsächlich erfolgte) Wahlsieg der linkssozialistischen Partei „Syriza“ unter Alexis
Tsipras drohte. Der Titel war zudem eine Anspielung auf die damals gerade laufende Fußball-Europameisterschaft in Polen und der
Ukraine.
Zusätzlich zu dem Thema der Woche ist es bei „Augstein und Blome“ üblich, dass einer der beiden Journalisten zudem ein weiteres,
ihm auf der Seele liegendes Thema anschneidet. Diesmal war es, nach knapp acht Minuten, Augstein, wie zu meist eher locker und
leger in Diktion und Habitus 144:
Historischer Moment Blome! Der Bundespräsident, unser geliebter, geschätzter
Bundespräsident, unser Bundespräsident, hat in der Führungsakademie in Hamburg, wo ich übrigens meinen Wehrdienst leisten durfte ... da hat er jedenfalls einen historischen Auftritt gehabt. – Sekunde, ganz kurz.
(Geht weg und kommt mit einer Pickelhaube auf dem Kopf und mit einer
Deutschlandfahne in der Hand wieder)
Er hat nämlich die deutsche Fahne gesegnet ... Hat er das gemacht? Das weiß
ich jetzt auch nicht. Er ist ja Pastor, das könnte er.
(Verbeugt sich tief vor der Fahne)
Er hat sich sozusagen praktisch verneigt vor der Fahne und ... Hat er sie auch
geküsst?
(Küsst die Fahne intensiv ab)
144
Der folgende Text ist eine eigene Abschrift, die Bilder sind Screenshots aus dem Video der Sendung (https://www.youtube.com/
watch?v=FwsbPSTlL6U). Die Redebeiträge Blomes sind ausgelassen, Augsteins Ausführungen sprachlich leicht geglättet (beide sprachen
mitunter gleichzeitig).
41
Es war peinlich! Was darf man eigentlich mit der deutschen Fahne vor einer
deutschen Kamera in einem deutschen Fernsehstudio machen in diesem deutschen Deutschland?
(Schnäuzt in die Fahne 145)
Wissen Sie, was mir im Moment wirklich auf den Zeiger geht? Das ist dieser
Bundespräsident. Der würde, glaube ich, auch Kanonen segnen, wenn man
ihn ... (unverständlich)
(Steckt die Fahne in seine Anzugtasche)
Er hat gesagt, mit dem Krieg kann man auch gute Sachen machen. Man kann
auch so wie in Afghanistan und Irak … es hat super funktioniert. Da würde ich
sagen, machen wir weiter.
(Nimmt zwei schwarz-rot-goldene Autospiegelhüllen aus der Hosentasche
und steckt sie sich an die Ohren)
145
Der Kabarettist Max Uthoff (* 1967) wiederholte am 20.10.2015 in der politische Kabarett-Sendung „Die Anstalt“ im „ZDF“ die Schnäuzgeste Augsteins. Eine Anspielung auf die „Phoenix“-Sendung war genauso wenig zu erkennen, wie ein Zusammenhang zum Thema von
Uthoffs Solo – die sogenannte „Flüchtlingskrise“ – hergestellt wurde.
Abb.: http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/2512084/Die-Anstalt-vom-20.-Oktober-2015#/beitrag/video/2512084/Die-Anstalt-vom-20.-Oktober-2015 (Screenshot)
Nahe liegt wohl eine Anspielung auf die „ARD“-Talkshow „Günther Jauch“ zwei Tage zuvor zum gleichen Thema („Pöbeln, hetzen, drohen
– wird der Hass gesellschaftsfähig?“), in der der „AfD“-Politiker Björn Höcke plötzlich eine kleine schwarz-rot-goldene Fahne aus der
Jackentasche zog, in die Kamera hielt und dann die ganze weitere Sendung über als Ärmel- oder aber (je nach Betrachtungswinkel) als
Sessellehnenschoner verwendete.
Abb.: Screenshot, http://www.wn.de/Kommentar/2149835-Kommentar-AfD-Mann-bei-Jauch-Selbstentlarvung-vor-denkendem-Publikum
Abb.: Screenshot ARD, http://www.metropolico.org/2015/10/19/jauch-kumpanei-als-ausgewogenheit/
42
Ganz kurz mal ernst werden: Wo wir die Syrien-Debatte haben, genau in diesem
historischen Kontext hat er gesagt: Mit Waffen kann man tolle Sachen machen.
(Entfernt die Hüllen von den Ohren)
Wissen Sie was? Mir geht der Bundespräsident auf die Nerven und diese deutschen Fahnen, die überall rumhängen, die gehen mir auch auf die Nerven.
(Steckt sich die Autospiegelhüllen wieder an die Ohren und salutiert)
Hintergrund war ein Besuch des Bundespräsidenten Joachim Gauck in der Woche zuvor bei der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg-Blankenese.
Das „Hamburger Abendblatt“ berichtete über eine „plötzliche Geste“ während seiner Rede nach dem Satz „Und nun stehe ich vor
Ihnen in Hamburg als Bundespräsident des vereinten Deutschlands" 146: „Gauck unterbrach sich für ein paar Sekunden, trat beiseite
und ergriff die rechts neben ihm stehende Bundesfahne mit einer fast zärtlich anmutenden Berührung. Um dann zu sagen: ‚Ich bin
froh, weil ich zu dieser Armee und zu den Menschen, die hier dienen, aus vollem Herzen sagen kann: Diese Bundeswehr ist keine
Begrenzung der Freiheit, sie ist eine Stütze unserer Freiheit.’“
Abb.: http://www.youtube.com/watch?v=eaODfIQUxAI (Screenshot)
Einige Sätze später sagte Gauck (worauf vermutlich Augstein anspielte, als er lästerte „Er [Gauck] hat gesagt, mit dem Krieg kann
man auch gute Sachen machen”) 147: „Gewalt, auch militärische Gewalt, wird immer auch ein Übel bleiben. Aber sie kann – solange
wir in der Welt leben, in der wir leben – notwendig und sinnvoll sein, um ihrerseits Gewalt zu überwinden.“
146
Hamburger Abendblatt vom 13.6.2012 (http://www.abendblatt.de/politik/deutschland/article2305568/Gauck-Bundeswehr-ist-Stuetze
-unserer-Freiheit.html).
147
Die Rede Gaucks ist vollständig dokumentiert in Spiegel online vom 12.6.2012 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/gaucks-rede
-bei-der-bundeswehr-a-838435.html).
43
Es wurden zahlreiche Anzeigen gegen Augstein erstattet, weil er die Flagge der Bundesrepublik Deutschland „verunglimpft“ oder
„beschimpfenden Unfug“ an ihr verübt habe. Eine davon stammte von Holger Apfel, damals Bundesvorsitzender der „NPD“ 148, der
zunächst seit 2009 die sächsische, ab 2011 dann die Bundespartei von „Schwarz-Weiß-Rot“ auf „Schwarz-Rot-Gold“ umzulenken
versucht hatte.
Abb.: dpa, http://www.sueddeutsche.de/politik/neue-debatte-um-npd-verbot-von-radikalen-und-reflexen-1.1190482
Nun kann man nach bisher Gesagtem wenig daran zweifeln, dass Augstein, genauso wie Holtfreter und Wagemann, die Bundesflagge entsprechend § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB „verunglimpft“ hat – jedenfalls, wenn man grundsätzliche Zweifel an diesem Tatbestand im Hintergrund belässt.
„Beschimpfender Unfug“ nach § 90a Abs. 2 StGB 149, wie Anzeigeerstatter meinten, liegt dagegen von vornherein nicht vor. Zwar
kann hier, wie das in der Kommentarliteratur ausdrücklich genannte Beispiel des „Bespuckens“ zeigt 150, das (zumindest angedeutete) Schnäuzen Augsteins grundsätzlich den Tatbestand erfüllen; sein mitgebrachtes Fähnlein war jedoch keine „öffentlich gezeigte
Flagge der Bundesrepublik Deutschland“.
Nahe liegt, sofern ihm die Kunstfreiheit zur Seite steht, dass auch hier das vom Bundesverfassungsgericht kreierte Verfassungsgut
der „für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates“ zurückzutreten hat. Aussagekern der Darstellung ist nicht die Missachtung der Bundesflagge und des durch sie symbolisierten Staates, sondern Kritik am Bundespräsidenten, die Missbilligung seines
Auftritts bei der Führungsakademie der Bundeswehr.
148
Apfels Strafanzeige formulierte Rechtsanwalt Ingmar Knop, langjähriger Spitzenfunktionär von „DVU“ und „NPD“: „Der Angezeigte hat
ein durch Artikel 22 GG geschütztes Rechtsgut von Verfassungsrang verunglimpft (…) Der Angezeigte kann nicht für sich in Anspruch
nehmen, die Straftat im Rahmen der Ausübung der verfassungsrechtlich geschützten Kunstfreiheit begangen zu haben, da das Sendeformat ‚Augstein und Blome’ nicht unter den Kunstbegriff subsummiert [sic!] werden kann. Es handelt sich vielmehr um eine ‚Talkshow’, die
auf aktuelles Zeitgeschehen Bezug nimmt. Eine eigene künstlerische Aussage im Sinne eines für den Kunstbegriff konstitutiven schöpferischen Gehaltes kann dem Verhalten des Angezeigten schlichtweg nicht entnommen werden. Selbst wenn man das Verhalten des Angezeigten jedoch als ‚Kunst’ verstehen würde, wäre eine Bestrafung gemäß § 90a Absatz 1 Nr. 2 StGB nicht von vornherein ausgeschlossen,
weil die Strafnorm der Wahrung eines verfassungsrechtlich geschützten Gutes dient. Die Garantie des Artikel 5 Absatz 3 GG findet ihre
Grenzen insoweit nicht nur in den Grundrechten Dritter, sondern kann auch mit Verfassungsbestimmungen anderer Art kollidieren (vgl.
BVerfGE 30, 173, 193), denn ein geordnetes menschliches Zusammenleben setzt nicht nur die gegenseitige Rücksichtnahme der Bürger,
sondern auch eine funktionierende staatliche Ordnung voraus, welche die Effektivität des Grundrechtsschutzes überhaupt erst sicherstellt.
Kunstwerke, welche die verfassungsrechtlich gewährleistete Ordnung beeinträchtigen, unterliegen daher nicht erst dann Schranken, wenn
sie den Bestand des Staates oder der Verfassung unmittelbar gefährden.“ Presseerklärung der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag
(http://www.npd-fraktion-sachsen.de/2012/06/20/ekelerregender-antideutscher-ausfall-sondergleichen/).
149
„[Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe] wird bestraft, wer eine öffentlich gezeigte Flagge der Bundesrepublik
Deutschland oder eines ihrer Länder oder ein von einer Behörde öffentlich angebrachtes Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland
oder eines ihrer Länder entfernt, zerstört, beschädigt, unbrauchbar oder unkenntlich macht oder beschimpfenden Unfug daran verübt. Der
Versuch ist strafbar.“
150
Steinmetz in Münchener Kommentar, StGB, § 90 Rn. 21; Güntge in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB – Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 90a Rn. 5; Paeffgen in Nomos-Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Aufl. 2013, § 90a Rn. 37 Fn. 9 (unter allerdings unzutreffendem Hinweis auf RGSt 43, 201).
44
Insofern liegt es nicht fern, (auch) an eine Strafbarkeit Augsteins wegen „Verunglimpfung des Bundespräsidenten“ nach § 90
StGB 151 zu denken 152. „Verunglimpfen“ wird dort, wie bei § 90a StGB, als eine „Ehrenkränkung gem. §§ 185 ff. StGB, die nach
Form,
151
§ 90 StGB Verunglimpfung des Bundespräsidenten (Auszug)
(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Bundespräsidenten verunglimpft, wird mit
Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(4) Die Tat wird nur mit Ermächtigung des Bundespräsidenten verfolgt.
152
Wegen einer „verunglimpfenden Darstellung“ durch Satire ermächtigte bislang nur 1962 Bundespräsident Heinrich Lübke zur Strafverfolgung: Auf dem Titelbild des Satiremagazins „Simplicissimus“ war Lübke mit dem Spitzbart Walter Ulbrichts, des damaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR, auf einer fiktiven Briefmarke „Die rote Zwanziger“ abgebildet worden.
Abb.: http://zeitdiebe-magazin.de/art-5-gg-rechtliches-satire / Motiv: Manfred Oesterle
Simplicissimus vom 3. Februar 1962
Unter die Lübke/Ulbricht-Zeichnung hatte Otto Ifland, damals Chefredakteur des „Simplicissimus“, folgenden Text gesetzt:
Um die Alleinzuständigkeit der Bundesregierung für Gesamtdeutschland auch
in abgelegenen Staaten einprägsam zum Ausdruck zu bringen, erteilte der
Bundespräsident nach seiner Afrika-Reise endlich die Genehmigung zur Verwendung seines zweckentsprechend umgestalteten Porträts auf unseren Postwertzeichen.
Anlass der Satire war ein Bericht der Münchner „Abendzeitung" vom 13.1.1962 unter der Schlagzeile: „Lübke mit Ulbricht verwechselt –
‚Herr Präsident, wo ist Ihr Spitzbart?' fragt Liberia-Minister": „Ein Minister Liberias wollte am Mittwoch nicht glauben, daß Bundespräsident
Lübke tatsächlich der Staatschef der deutschen BR sei. Als Lübke das Flugzeug verließ, sagte der afrikanische Minister zu einem deutschen Diplomaten ungläubig: ‚Ich dachte, Euer Präsident trägt einen Spitzbart. So ist er doch auf allen deutschen Briefmarken zu sehen.‘"
(Zit. nach Andrea Hartmann: Majestätsbeleidigung und Verunglimpfung des Staatsoberhauptes [§§ 94 ff. RStGB, § 94 StGB], 2006,
S. 251.) Lübke hatte es bislang jedoch – zum Unmut des damaligen Postministers Richard Stücklen, wie das „Abendblatt“ ebenfalls bemerkte – abgelehnt, anders als sein Vorgänger Heuss (1954 und 1959) oder eben Ulbricht (1961), sich auf Briefmarken abbilden zu lassen
(erst 1964 erschienen Marken mit dem Porträt Lübkes).
Abb.: http://www.briefmarken-bilder.de/brd-briefmarken-1954/bundespraesident-theodor-heuss-20 / Motiv: Georg Alexander Mathéy
Abb.: http://www.briefmarken-bilder.de/brd-briefmarken-1959/theodor-heuss-klein-20 / Motiv: Max Eugen Cordier
Abb.: https://de.wikipedia.org/wiki/Staatsratsvorsitzender_Walter_Ulbricht_%28Briefmarkenserie%29 / Motiv: VEB Deutsche Wertpapierdruckerei
Abb.: http://www.briefmarken-bilder.de/brd-briefmarken-1964/bundespraesident-heinrich-luebcke / Motiv: Hermann Schardt
Das Landgericht München lehnte jedoch die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen Verunglimpfung des Bundespräsidenten gegen den
Möhringer Karikaturisten Manfred Oesterle (* 1928; † 2010), von dem das „Simplicissimus“-Titelbild stammte, ab (Der Spiegel vom
31.10.1962 [http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45124299.html]; siehe zum Ganzen auch ausführlich A. Hartmann, a.a.O., S. 251 ff.):
Das Landgericht München erklärte, ein „strafrechtlich zu beanstandender Mißbrauch" der Pressefreiheit sei in der „Simplicissimus"Briefmarke „weder dargetan noch sonstwie ersichtlich". Einem „verständigen und unvoreingenommenen Beurteiler" könne der Sinn der Karikatur nicht verborgen bleiben. Die Abbildung wolle „in offenkundiger Weise besagen, daß sich Bundespräsident Lübke – in Natur oder
auch nur im Markenbild – einen Spitzbart der von Ullbricht getragenen Art zugelegt habe"; keineswegs drücke sie „eine Wesensverbindung
oder gar Wesensgleichheit ... so verschieden zu bewertender Persönlichkeiten aus". Das gehe „schon aus flüchtiger Betrachtung des Bildes selbst hervor". Zudem stelle der Text „unmißverständlich" klar, dass durch den Spitzbart dem Bundespräsidenten „scherzhaft" eine
psychologische Absicht für einen Briefmarken-Entwurf unterschoben wurde.
Diese Absicht sei, gegenüber unzulänglich informierten Ausländern die Alleinzuständigkeit für Gesamtdeutschland durch einen „über die
Existenz des Sowjetzonenstaates und seines ‚Staatsratspräsidenten' hinwegtäuschenden zeichnerischen Trick" darzutun. Wenn aber ein
„Witzblatt" einem Staatsmann erkennbar scherzhaft die Absicht andichtete, die Welt über die Existenz eines „völkerrechtlichen Konkurrenten" hinwegzutäuschen, indem er rein „äußerliche" Kennzeichen desselben übernimmt, so liege darin keine Aussage über „innere" Persönlichkeitsmerkmale.
Es handele sich mithin um einen Scherz, den sich jede im öffentlichen Leben stehende Persönlichkeit, „selbst das Staatsoberhaupt", im
Rahmen einer humoristisch-satirischen Zeitschrift gefallen lassen müsse – und auch gefallen lassen könne, „ohne im geringsten an Autorität und allgemeiner Wertschätzung zu verlieren“.
45
Inhalt, Begleitumständen oder Beweggrund erheblich ist“, umschrieben 153. Selbst scharfe Kritik, so wird regelmäßig mit Hinweis auf
eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1961 angefügt 154, sei erlaubt – „solange sie sachlich bleibt“.
Selbst wenn man hier die Grenze weit zieht und beispielsweise die vom Publizisten und früheren CDU-Bundestagsabgeordneten
Jürgen Todenhöfer auf „Facebook“ am 27. Juni 2014 publizierte Fotomontage Gaucks als „al-Qaida“-Anführer Aiman az-Zawahiri
samt Begleittext („wie ein Irrer“ / „überdrehter Gotteskrieger“) 155 als insgesamt noch sachlich akzeptiert, sind Augsteins Veralberungen Gaucks sicherlich nicht mehr als sachlich zu bezeichnen.
Das Landgericht machte schließlich klar, dass der Farbgebung des vom „Simplicissimus“ titulierten „rote Zwanziger“ keine politische Aussage zuzumessen sei: „Nach den vom Weltpostverein schon vor vielen Jahrzehnten aufgestellten Grundsätzen wird normalerweise derjenige Markenwert, der im zwischenstaatlichen Postverkehr der Portogebühr für eine Postkarte entspricht, in roter Farbe erstellt."
Als „Pardon“ im Dezember 1967 Lübke als Hampelmann präsentierte („Machen Sie Lübke mobil. Ein Bundespräsident zum Selbermachen.
Unser Staatsoberhaupt Heinrich Lübke gibt sich steif und würdevoll. Das steht ihm gut. Noch besser stehen ihm natürliche Frische und unkomplizierte Lebendigkeit, die er allerdings nur bei besonderen Gelegenheiten zeigt. PARDON-Leser jedoch können ihren Präsidenten zu
jeder beliebigen Zeit mobil machen. Es geht ganz einfach. Man braucht dazu nur eine Schere, ein bißchen Pappe, sechs Splinte, einen
Perlon-Faden und eine Perle. ... – Schon ist der Universal-Präsident fertig. Er wirkt zwar noch ein wenig handgemacht, aber im Augenblick
haben wir kein besseres Modell."), sah Lübke von der Erteilung einer Strafermächtigung gegen die Autorin Gabriele Scheppan ab, da der
Beitrag offenbar satirisch gemeint sei und keine Formalinjurie enthalte. (Näher A. Hartmann, a.a.O., S. 249 f.).
Abb.: Gabriele Scheppan, Pardon 12/1967, S. 24
Wie sich die Kreise schließen: Auf der Titelseite der „Pardon“-Heftes, gleich neben der Schlagzeile „Ein Bundespräsident zum Selbermachen“, war ein halbnacktes Mädchen abgebildet, die Brüste nur unvollständig durch eine locker über die Schulter geworfene Bundesflagge
bedeckt ...
Abb.: Jürgen Sparr, Pardon 12/1967, Titelseite
153
Siehe etwa Valerius in Beck'scher Online-Kommentar StGB, 27. Edition 2015, § 90 Rn. 3.
154
BGHSt 16, 338.
155
Todenhöfers Begleittext zu der Fotomontage (https://www.facebook.com/JuergenTodenhoefer?fref=photo):
Liebe Freunde, was haben wir bloß getan, um einen solchen „Jihadisten" als
Präsidenten zu bekommen? Der wie ein Irrer alle paar Monate dafür wirbt, dass
sich Deutschland endlich wieder an Kriegen beteiligt.
Sagt ihm keiner, dass unsere Verfassung Kriege nur zur Verteidigung erlaubt?
Dass jede „humanitäre" Intervention auch Frauen und Kinder tötet? Dass unser
Land für die nächsten Jahrtausende genug Kriege geführt hat? Ein Bundespräsident als Sprachrohr der Rüstungsindustrie – beschämend!
Unser Ex-Pfarrer erinnert immer mehr an den deutschen Militärpfarrer Adolf
Schettler, der noch 1915 im 1. Weltkrieg schwärmte: „Dem Soldaten ist das kalte
Eisen in die Faust gegeben. Er soll es führen ohne Schwächlichkeit und Weichlichkeit. Der Soldat soll totschießen, soll dem Feind das Bajonett in die Rippen
bohren, soll die sausende Klinge auf den Gegner schmettern. Das ist seine heilige
Pflicht. Ja, das ist GOTTESDIENST".
Nein, Herr Gauck! Das ist Krieg!
Wer stoppt diesen überdrehten Gotteskrieger, der Sarrazins Mut so sehr bewunderte? Der Mann ist doch ein Sicherheitsrisiko für unser Land. Euer JT
46
Abb.: https://www.facebook.com/JuergenTodenhoefer?fref=photo
Jedoch herrscht Einigkeit, dass dieser Zusatz äußerst restriktiv verstanden werden muss. Hans-Ullrich Paeffgen kommentiert 156:
„Politische Kritik, selbst in scharfer Form, muss im wahrsten Sinne des Wortes ‚ungestraft‘ auch gegenüber dem Bundespräsidenten
möglich sein. Die Einschränkung, die der BGH [St 16, 338] verlangt (‚in sachlicher Form‘), ist zwar wünschenswert, darf aber – je
nach Äußerungs-Situation und persönlicher Betroffenheit – nicht als rechtlich notwendig vorausgesetzt werden. Dies gilt jedenfalls
so lange, wie jener Bezug zur Amtsführung klar erkennbar ist. Erst, wenn dieser Bezug völlig in den Hintergrund tritt und eine politische und personale schwerwiegende Diskreditierung den Angriff beherrscht, ist § 90 [StGB] auf den Plan gerufen.“
Kurzum: Der Rubikon zur strafbaren Verunglimpfung ist – Gaucks Vorgänger Christian Wulff hat es in allen Nuancen erfahren müssen, nicht schon bei lediglich „saloppen oder geschmacklosen Bemerkungen“ 157 – oder veralbernden Gebärden wie Augsteins
Flagge-Aktionen – überschritten,
Abb.: http://forum.aquacomputer.de/off-topic/15176-der-lustige-bilder-thread-vorsicht-bilder/index71.html
Abb.: www.youtube.com/watch?v=G3AqMjZFa (Screenshot)
Abb.: http://bildungs-foren.de/foren/viewtopic.php?f=16&t=3055&start=40
es sei denn, die Äußerung erfolgt – anders als Augsteins Kritik an Gaucks Auftreten bei der Führungsakademie der Bundeswehr –
„ausschließlich als böswillige Schmähung“.
Abb.: titanic, http://www.digiversum.de/allgemein/das-web-uber-die-letzte-nachnummer-des-bundesprasidenten-spott-ist-uberall-zu-finden
Fraglich ist jedoch, ob „Augstein und Blome“, nämlich eine Art Talkshow, ein journalistisches Format, das auf aktuelles Zeitgeschehen Bezug nimmt, unter den Kunstbegriff des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zu subsumieren ist. Zwar verfremdet, verzerrt und übertreibt
Augstein mit seinem Fahnenauftritt. Erinnert sei aber an das Bundesverfassungsgericht im „Titanic“-Beschluss 158: „Satire kann
Kunst sein; nicht jede Satire ist jedoch Kunst. Das ihr wesenseigene Merkmal, mit Verfremdungen, Verzerrungen und Übertreibungen zu arbeiten, kann ohne weiteres auch ein Mittel der einfachen Meinungsäußerung ... sein.“
156
Paeffgen in Nomos-Kommentar, StGB, § 90 Rn. 4.
Steinmetz in Münchener Kommentar, StGB, § 90 Rn. 6.
158
BVerfGE 86, 1 (9).
157
47
Nun hat Augstein jedenfalls ab dem Moment, als er sich die Pickelhaube aufsetzte und „übertriebene“ Gesten wie das Verbeugen
vor und das Küssen von der Fahne aufführte, den Bereich des „Talks“ verlassen, den satirischen Äußerungen kabarettistisches
Spiel hinzugefügt und – wie man sagen könnte – eine Kunstperformance aufgeführt 159.
Eine gewisse Vergleichbarkeit kann man zum nur wenige Tage zuvor erfolgten Auftritt des deutschen Aktionskünstlers Jonathan
Meese (* 1970) – der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden dadurch, dass er während seiner Performances häufig den „Hitlergruß“ zeigt – ebenfalls bei einem journalistischen Format, bei einem „Spiegel-Gespräch“ an der Universität Kassel entdecken.
Meese hatte am 4. Juni 2012 während der vom „Spiegel“ durchgeführten öffentlichen Veranstaltung im großen Konferenzsaal des
Zentrums für umweltbewusstes Bauen, bei der er mit den beiden „Spiegel“-Redakteurinnen Ulrike Knöfel und Marianne Wellershoff
ein Podiumsgespräch als Interviewpartner führte, zweimal kurz hintereinander mal wieder den rechten Arm zum „Hitlergruß“ erhoben:
Als Meese, der zunächst ein Manifest „Diktatur der Kunst – Größenwahn in der Kunstwelt“ verlesen hatte, darüber sprach, dass man
nicht zur Kunst pilgern dürfe, vielmehr müsse man „immer strammstehen und gleich der Evolution entgegenkommen“, griff Wellershoff das Stichwort auf und fragte: „Würden Sie sich vor ein Werk von ... Gerhard Richter stellen und – strammstehen?“
Meese antwortete ohne zu zögern 160:
Ich kann sehr gut vor geilen Sachen strammstehen, da habe ich kein Problem ...
Da mache ich auch gerne mal den hier, ja ...
... Also ich schreite gerne so in meinem Atelier rum. Einfach so ...
... Weil, das ist gut, das macht den Körper auf ...
Auf Antrag der Kasseler Staatsanwaltschaft erging gegen Meese ein Strafbefehl wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß § 86a StGB.
Auf seinen Einspruch hin sprach ihn das Amtsgericht Kassel jedoch am 29. August 2013 frei:
Hier handelte es sich nicht um ein klassisches Interview, sondern um eine Kunstperformance. Dies zeigt sich daran,
dass der Angeklagte zu Anfang ein von ihm selbst verfasstes Manifest zur „Diktatur der Kunst“ über mehrere Minuten
hinweg verlas. Er bediente sich dabei der Stilmittel der Übertreibung – inhaltlich durch die ständige Verwendung von Superlativen und formal durch seine Lautstärke und Gestik – und der Lächerlichkeit. Er war in seinem Redefluss kaum zu
unterbrechen.
Akzeptiert man das, steht auch der Annahme von Kunst unter dem Gesichtspunkt des offenen Kunstbegriffs nichts entgegen: Augsteins Spielereien mit den Fahnen sind „im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiter reichende Bedeutungen zu entnehmen, so daß sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt.“ 161
Darüber hinaus: „Fortgesetzte Interpretationen“ der Performance Augsteins sind auch deshalb möglich, weil sich beim näheren Hinsehen zeigt, dass sich als eine weitere Ebene die – selbst in dem damaligen Titel der Sendung gegenwärtigen – damals gerade
stattfindende Fußball-Europameisterschaft aufdrängt. Augstein wies darauf hin, als er zum Ende ergänzte, ihm gingen „diese deutschen Fahnen, die überall rumhängen, ... auch auf die Nerven“.
Seit der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland, dem „Sommermärchen“, das schon Kritiker veranlasste, vom „größten Aufmarsch
deutscher Fahnen und Symbole seit den Parteitagen in Nürnberg“ 162 zu sprechen, steigerte sich der Flaggenrausch über die Europameisterschaft 2008 über die Weltmeisterschaft 2010 bis zur Europameisterschaft 2012 weiter.
159
Siehe dazu auch AG Kassel, NJW 2014, 801 – Meese.
Der folgende Text ist eine eigene Abschrift, die Bilder sind Screenshots aus dem (auf der Homepage Meeses verlinkten [http://
www.jonathanmeese.com/2012/20120604_Kassel_Spiegel/index.php]) Video Jan Bauers von der Veranstaltung (https://www.youtube.com/
watch?v=L6ccb7uNSNU&feature=youtu.be).
161
BVerfGE 67, 213 (227) – Anachronistischer Zug.
162
Rainer Trampert: Voodoo in Schwarz-Rot-Gold, Jungle World vom 12.7.2006 (http://jungle-world.com/artikel/2006/28/17819.html).
160
48
Abb.: Klaus Huber-Abendroth, http://huber-abendroth.de/reportage (Aussschnitt)
Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Berlin, Straße des 17. Juni, Fanmeile
Es soll hier nicht darum gehen – das ist schon oft genug diskutiert worden – inwieweit dadurch eine neue – positiv oder negativ einzuschätzende – (deutsch-)nationale, patriotische, chauvinistische Stimmung hervorgetreten ist 163.
Auch als Reaktion darauf, dass „Deutschlands Straßen wieder in Schwarz-rot-scheiße getaucht“ würden („Fußballnationalismus“),
wie es in Augsteins „Freitag“ der Journalist Peter Nowak wenige Tage nach der „Augstein und Blome“-Sendung anlässlich der Fußball-Europameisterschaft drastisch („verunglimpfend“?) formulierte 164, hatte es schon einen Vorfall gegeben, der die Strafgerichtsbarkeit beschäftigte:
Der damalige Juso-Landesvorsitzende Mecklenburg-Vorpommerns, Robert Hagen, veröffentlichte auf seiner Seite des Sozialen
Netzwerks „StudiVZ“ während der Fußball-Europameisterschaft 2008 ein Bild mit einer Deutschlandfahne im Klo 165.
Abb.: http://www.endstation-rechts.de/news/kategorie/politik/artikel/deutschlandfahne-im-klo-juso-landesvorsitzender-geraet-in-kritik.html
Als ein mecklenburgischer CDU-Landtagsabgeordneter mit einer Presserklärung das Bildmotiv publik gemacht hatte („Wer ... dieses
nationale Symbol ins Klo wirft, verabschiedet sich aus den Reihen der Demokraten“ 166), entfernte es Hagen. Es folgten dennoch
Strafanzeigen, unter anderem seitens der NPD. Die Staatsanwaltschaft beantragte einen Strafbefehl in Höhe von 300 Euro wegen
163
Siehe dazu nur das umstrittene Interview mit dem „Grünen“-Politiker Christian Ströbele im Deutschlandfunk vom 4.12.2008
(http://www.deutschlandfunk.de/stroebele-die-grosse-liebe-zur-nation-kann-ich-bei-mir.694.de.html?dram:article_id=66548).
Zwischenzeitlich sind diese „Aufmärsche“ deutscher Fahnen noch mehr irritierend, weil seit 2014/15 aufkommende rechtspopulistische
Strömungen wie „Pegida“ („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“) primär, wenn auch nicht ausschließlich,
schwarz-rot-goldene Flaggen als Zeichen der nationalen Gesinnung verwenden – „Pegida“-Demonstrationen und Fußball-Fanmeilen können so (jedenfalls optisch) erstaunliche Parallelen aufweisen.
Abb.: Sean Gallup/Getty Images, http://overpassesforamerica.com/?p=17995
„Pegida“-Demonstration mit mindestens 25.000 Teilnehmern am 12. Januar 2015 in Dresden
164
Peter Nowak: Schwarz-rot-Scheisse, Der Freitag vom 26.6.2012 (https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/schawarz-rot-scheisse-1).
165
Siehe näher Claudia Naujoks: Deutschlandfahne im Klo: Verfahren gegen ehemaligen Juso-Landesvorsitzenden Robert Hagen eingestellt, endstation-rechts.de vom 18.6.2009 (http://www.endstation-rechts.de/news/kategorie/politik/artikel/deutschlandfahne-im-klo-verfahren
-gegen-ehemaligen-juso-landesvorsitzenden-robert-hagen-eingestellt.html).
166
MV-Schlagzeilen.de
vom
-landesvorsitzenden-noetig/3048/).
20.6.2008
(http://www.mv-schlagzeilen.de/verunglimpfung-der-deutschlandflagge-machtwort-des
49
Verstoßes gegen § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB. Das Amtsgericht Rostock lehnte zunächst die Eröffnung ab 167; nach erfolgreicher Beschwerde der Staatsanwaltschaft an das Landgericht Rostock 168 stellte das Amtsgericht schließlich am 17. Juni 2009 das Verfahren
gegen Hagen wegen Geringfügigkeit gegen eine Geldbuße von 200 Euro gemäß § 153 Abs. 2 StPO schließlich ein 169.
Hagen hatte während des Verfahrens deutlich gemacht, dass er das Foto nicht selbst aufgenommen und die Fahne nicht in die Toilette geworfen hatte. Er habe während der Europameisterschaft 2008, als viele Nutzer von „StudiVZ“ ihr Konterfei auf ihrer Profilseite gegen ein Bild von der Fahne ausgetauscht hatten, in feucht-fröhlicher „Bierlaune“ ein Zeichen gegen „Deutschtümelei" setzen
und sich mit diesem Bild von den überall auftauchenden Deutschlandflaggen distanzieren wollen.
Interessant, dass in einer von „Die Welt“ veröffentlichten Umfrage nur ein knappes Viertel der Befragten für Bestrafung plädierte,
wogegen nahezu die Hälfte meinte, die Deutschlandflahne sei ihnen „ganz egal“.
Abb.: https://kruppzeuch.wordpress.com/author/tapay/page/25/
Wenige Tage vor Beginn jener Europameisterschaft gab es übrigens in einigen Presseorganen Aufregung, weil kurzzeitig Fotos auf
der vom 30. Bundeskongress der „Grünen Jugend“ Ende Mai 2008 in Bonn auf deren Website zu sehen waren, die drei junge Männer, darunter ein Mitglied des Bundesausschusses der „Grünen Jugend“, zeigten, wie sie (wohl nur scheinbar) auf eine Bundesfahne urinierten 170. Zu den Motiven der Aktion, namentlich, ob sie auch mit dem schon absehbaren schwarz-rot-goldenen „Deutschtümeln“ anlässlich der Fußball-Europameisterschaft im Zusammenhang stand, ist nichts bekannt geworden, auch nichts über strafrechtliche Konsequenzen.
Abb.: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/grossbild-557943-1201186.html
167
AG Rostock, Beschluss vom 26.11.2008 – 30 Cs 235/08 (unveröffentlicht).
LG Rostock, Beschluss vom 24.4.2009 – 11 Qs 18/09 (unveröffentlicht).
169
Seit 2010 findet man im Internet Fotos bzw. Profilbilder eines jungen „Dissidenten des Bundesregime“ (Selbstbezeichnung) namens
Tobias Claren mit einer Bundesdienstflagge im Klo: „Ich verstoße z.B. öffentlich anhaltend vorsätzlich wissend gegen StGB § 90a.“
(http://www.onlinekosten.de/forum/showthread.php?t=132156&page=5). „Ohne StGB 90a gäbe es dieses Foto evtl. gar nicht.“ ([https://
www.flickr.com/photos/49261409@N03/4516403030/). Strafrechtliche Reaktionen sind nicht bekannt geworden.
168
Abb.: https://www.flickr.com/photos/49261409@N03/4516403030/
170
Siehe näher Friederike Freiburg / Philipp Wittrock: Peinliche Pinkelposen: Pulleralarm bei den Grünen, Spiegel online vom 5.6.2008
(http://www.spiegel.de/politik/deutschland/peinliche-pinkelposen-pulleralarm-bei-den-gruenen-a-557943.html).
50
2010, zur Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika, gab es eine (nicht mit einem Impressum versehene) Website „Mach Deutsch die
Scheiße! Schwarz, Rot, Gold und Braun zur FIFA-Fußballweltmeisterschaft“, gewidmet folgender „Aktion“ 171:
Mach Deutsch die Scheiße!
Auch, wenn zur Fußball-WM etliche Menschen ihre Hirnfunktion einzustellen scheinen, stellen doch die vielen treuen
Freunde des Menschen, die Hunde, nicht ihre Körperfunktionen ein. ...
Es ist also zu erwarten, dass auch während der Fußball-WM überall kleine Hundehäufchen auf den Straßen der Bundesrepublik herumliegen werden. Unglücklicherweise werden diese in der allgegenwärtigen nationaltümlichen Dekoration
vergessen, was wir sehr schade finden.
Deshalb werden wir die Hundehäufchen während der Fußball-WM patriotisch dekorieren.
Für vergleichsweise wenig Geld lassen sich in jedem Ramschladen und bei vielen Versandhäusern kleine CocktailFähnchen in großen Mengen erwerben, selbstverständlich auch in den Farben unserer geliebten Bundesrepublik. ...
Folgendes werden wir tun: Wir werden kleine Cocktail-Fähnchen in Schwarz-Rot-Gold in die überall herumliegenden
Hundehäufchen stecken, um auch unserer nationalen Begeisterung zur Fußball-WM angemessenen Ausdruck zu verleihen. ...
Die „Cocktailfähnchen“-Aktion machte auch in Einzelheiten den Eindruck, von Wagemanns „Jubelfähnchen“-Aktion inspiriert worden
zu sein 172:
Ganz so leicht sind die kleinen Fähnchen zur feierlichen deutschen Dekoration der Hundehäufchen gar nicht zu bekommen, wie wir es im ersten Überschwang dieser Idee gesagt haben.
Doch eine Lösung des Problemes der Flaggenversorgung ist in Sicht: Mach es dir selbst! ...
Die Bastelvorlage ist ein PDF, das es leicht macht, kleine Bastelvorlagen für Fähnchen auszuschneiden. ...
Anleitung:
1. Für jeweils 15 Fähnchen einen Bastelbogen ausdrucken.
2. Die Fähnchen mit der Schere — oder besser: mit einer Schneidemaschine — an den eingezeichneten Linien ausschneiden.
3. Die Rückseiten mit dem Klebestift einstreichen. Dabei nicht sparsam sein, damit die Fähnchen nicht schon beim ersten Wind auseinanderfallen. Das sind schließlich deutsche Fähnchen!
4. Die Fähnchen jeweils um einen Zahnstocher wickeln.
5. Fertig. Und jetzt rausgehen und die Fähnchen in die Hundehaufen stecken. ...
Der Sommeralbtraum Das Sommermärchen kann kommen. Viel Spaß damit!
Ob das Landgericht Aachen hier auch, wie bei Wagemanns „Jubelfähnchen“, auf die Kunstfreiheit abgestellt und freigesprochen hätte? Die Urteilsgründe hätten dann, weitgehend 1:1 übertragen, etwa so lauten müssen:
„Dass es sich hier um eine der Kunstfreiheit zuzurechnende Aktion gehandelt hat, kann nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl.
BVerfGE 81, 278 ff. [Bundesflagge]) nicht zweifelhaft sein. Entscheidend ist, dass – wenn auch sehr vergröbernd – zwei Sachverhalte, nämlich Hundehaufen und das Bundesfähnchen zu einer neuen Aussage miteinander verknüpft worden sind, um in satirischer
171
172
Mach Deutsch die Scheiße (https://machdeutschdiescheisse.wordpress.com/).
Mach Deutsch die Scheiße (https://machdeutschdiescheisse.wordpress.com/2010/05/12/mach-es-dir-selbst/).
51
Form gegen die Fußballfanflaggen zu protestieren, wobei es durch einen schöpferischen Akt also zu einer bildhaften Verfremdung
mit objektiv mehrdeutigem Aussageinhalt gekommen ist.“
Und hätte das Landgericht Aachen sogar auch in diesem Fall schon „weder in subjektiver noch in objektiver Hinsicht eine Verunglimpfung der staatlichen Symbole i.S. des § 90a II StGB festzustellen“ vermocht? Etwa so:
„Das Stecken eines kleinen Cocktailfähnchens, welches farblich die Flagge der Bundesrepublik Deutschland symbolisiert, in einen
Haufen Hundekot kann nach der Zielrichtung und unter Berücksichtigung der Gesamtumstände jedenfalls auch so gedeutet werden,
daß dadurch auf krasse Weise deutlich gemacht werden sollte, durch die Fußballfanflaggen werde das Ansehen des Staates, symbolisiert durch das kleine Bundesfähnchen in dem Hundehaufen, in den Schmutz gezogen.“
Man mag daran zweifeln ...
Richten wir das Augenmerk aber nicht auf den Aspekt des fußballernen Chauvinismus, wenn wir „im Wege einer fortgesetzten Interpretation“ Augsteins Performance „immer weiter reichende Bedeutungen“ zu entnehmen versuchen, sondern darauf, inwiefern durch
die Explosion schwarz-rot-goldener Symbole, durch den „unverklemmten Umgang der Deutschen mit ihrer Flagge“ („Die Welt“) die
Farben und die Flagge zwar nicht „verunglimpft“, wie es § 90a Abs.1 Nr. 2 StGB pönalisiert, aber doch trivialisiert, insofern irgendwie
doch „in den Schmutz gezogen“ werden.
Der „Bundesflaggen“-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts billigt diesen Symbolen der Bundesrepublik sogar strafrechtlichen
Schutz deshalb zu, weil die „von der Flagge ausgehende Wirkung“ dazu diene, an „die Identifikation ihrer Bürger mit den in der
Flagge versinnbildlichten Grundwerten“, zu appellieren 173.
Nun bleibt diese „Appellwirkung“ natürlich aus, wenn die Flagge nicht geschwenkt wird, um sich mit den „in der Flagge versinnbildlichten Grundwerten“ zu identifizieren, sondern vielmehr als Zeichen der Identifikation mit elf kurzbehosten Kickern – wenn also die
Nationalflagge eigentlich nur die grün-weiße Verbandsfahne des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) substituiert (die, anders als Vereinsfahnen, niemand im Stadion schwenkt).
Abb.: getty, http://www.spox.com/de/sport/fussball/1205/News/wettbetrug-dfb-sportgericht-sperrt-ehemaligen-spieler-des-ssv-ulm-davor-kraljevic-ante-sapina.html
Nichts macht dies ersichtlicher als der Umstand, dass die schwarz-rot-goldenen Fahnen – gerade auch, wenn sie zunächst in der
Würde staatlicher Symbole wenig angemessene Weise 174 exzessiv Haus und Auto „schmücken“ –
Abb.: http://www.westfalen-blatt.de/blogs/em-2012/page/2
Abb.: http://www.bild.de/news/leserreporter/nationalmannschaft/fg-em-schwarz-rot-gold-24824556.bild.html
Fußball-Europameisterschaft 2012
173
BVerfGE 81, 278 (293) – Bundesflagge.
Nun kann man über Geschmack trefflich streiten. Zur Feier der 80. Grünen Woche in Berlin illuminierte vom 10.1. bis zum 13.1.2006 der
Lichtkünstler Karl Feldmann das Brandenburger Tor in verschiedensten Farben und Mustern, darunter einige Stunden lang vollflächig in
Schwarz-Rot-Gold und stellte so jeden Deutschlandflaggenexzess von Fußballfans in den Schatten. Dies geschah im Auftrag der „Messe
Berlin GmbH“ – und zwar, wie vermeldet wurde, „in Zusammenarbeit mit dem Berliner Senat für Wissenschaft, Forschung und Kultur“.
174
Abb.: DDP, http://www.spiegel.de/fotostrecke/90-jahre-schwarz-rot-gold-fotostrecke-108018.html
52
genauso schlagartig wieder verschwinden, wie sie zu Turnierbeginn aufgetaucht sind, sowie die DFB-Mannschaft (zumeist genannt
„Deutschland“ oder „wir“) ausgeschieden ist.
„Die Identifikation ihrer Bürger mit den in der Flagge versinnbildlichten Grundwerten“ muss nicht einmal so weitgehen zu verhüten,
die Fahne wie Plunder bei „Ebay“ zu entsorgen.
Abb.: http://www.ebay-kleinanzeigen.de/s-deutschland-flagge/k0
Auch andere schwarz-rot-goldene Fan-Utensilien (etwa „Sound-Flaschenöffner“) entsprechen zumeist genau dem, was dem Fan
sonst in seinen Vereinsfarben angeboten wird 175.
Abb.: http://www.kaleidoshop.de/produktkatalog/17727173.html / http://www.amazon.de/Werder-Bremen-4444098-Sound-Flaschen%C3%B6ffner/dp/B0092BW8PS /
http://www.ebay.de/sch/sis.html?_nkw=1%20FC%20Nuernberg%20Sound%20Flaschenoeffner%20Fanartikel&_itemId=281594126789 / http://www.billiger.de/show/kategorie/106478.htm
Hier fällt es ebenfalls schwer, neben Fahnen irgendetwas Hehreres als Tinnef zu entdecken.
Abb.: http://www.ebay.de/itm/290716594671
Abb.: http://www.ebay.de/bhp/deutschland-hut
Abb.: http://www.alando.de/sch/Fu%C3%9FballFanshop-/27045/i.html?_nkw=armband&LH_PrefLoc=1&_pgn=3&_skc=100&rt=nc
Die „in der Flagge versinnbildlichten Grundwerte“ spielen auch nicht im Entferntesten eine Rolle, wenn die schwarz-rot-goldene
Flagge wie irgendein Stück Stoff dargeboten wird 176,
175
Der „Spielzeug Online-Shop“ der „Kaleido.Shop“ GmbH beschrieb seinen schwarz-rot-goldenen Kapselheber zu 7,99 Euro so: „DFB
Sound Flaschenöffner in schwarz-rot-gold (gelb) – der etwas andere ‚17er Schlüssel‘! Toller ‚Deutschland‘ Flaschenöffner mit rundem DFBLogo des Deutschen Fußball-Bundes und Soundmodul-Sensor, der bei jedem Öffnen einer Flasche mit Kronkorken aktiviert wird und den
Sound bzw. den WM Song von Oliver Pocher ‚schwarz und weiß‘ (‚Schwarz und Weiß, wir steh’n auf eurer Seite, und wir hol’n den Sieg mit
euch, und wir hol’n den Sieg mit euch. Jetzt gehts los!‘) abspielt. Ein tolles Mitbringsel oder Geschenk zur Euro-EM Fußball-Party oder zum
‚Rudelgucken‘ 2012!“ (http://www.kaleidoshop.de/produktkatalog/17727173.html). Da „Schwarz und Weiß“ zudem eine Anspielung auf die
langjährigen (von 1908 bis 2014) Trikotfarben der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ist (die übrigens auf die Farben Preußens zurückgehen sollen), hätte eigentlich auch der musizierende Flaschenöffner so gefärbt sein können ...
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Selbst Spielführern der deutschen Fußball-Nationalmannschaft mag es nicht fremd sein, eine schwarz-rot-goldene Flagge zusammengeknotet als eine Art Poncho zweckzuentfremden („So geh'n die Gauchos, die Gauchos, die geh'n so!" – 2. Teil ??).
Abb.: dpa, http://www.prosieben.de/stars/news/wm-2014-stars-mats-hummels-und-co-in-berlin-so-feierte-die-nationalelf-auf-der-fanmeile-191892
Bastian Schweinsteiger mit Fußball-Nationalspielern am 15. Juli 2015 bei der WM-Feier auf der Fanmeile in Berlin
(wenige Minuten nach dem „Gauchotanz”, mit dem, so aufgeregt einige Medien, mehrere gebückt tapsende deutsche Spieler sich über die Ihnen
im Finale unterlegenen argentinischen Fußballer lustig gemacht hätten [„Gauchogate”] – Toni Kroos übrigens mit einer Fahne des „Fan Club
Nationalmannschaft" in der Hand, mit schwarz-rot-goldenem Farbverlauf, dem DFB-Logo und der wenig gebührlichen Aufschrift „POWERED BY C“)
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Abb.: dpa, http://www.rbb-online.de/extra/2014/FIFA-Fussball-WM-2014/beitraege/fussball-wm-2014-berlin-fanmeile-deutschland-usa.html
Abb.: Leif-Erik Zaschke, http://www.myheimat.de/stadtallendorf/sport/wassertreten-im-brunnen-erspart-die-kneipp-kur-26062014-m3158556,2616561.html
Abb.: Thomas Banneyer, http://www.express.de/koeln/die-nackte-vom-ring-fuer-fussball-zieht-samira-blank,2856,3840102.html
Abb.: http://www.jan-kretschmer.de/photo/photolog08/halbfinale_abmarsch_0608.jpg
Abb.: dpa, http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.muenchen-schwarz-rot-gold-bemalt-70-jaehriger-radelt-nackt-durch-schwabing.107f8fd6-b0ab-4dcd-ab32-e8276986ca37.html
oder Fans mit den schwarz-rot-goldenen Farben Schweine 177 („schwarz-rot-grunz“ 178) und Müllcontainer („schwarz-rot-schutt“?)
„schmücken“.
Abb.: privat, http://www.bild.de/news/leserreporter/nationalmannschaft/fg-em-schwarz-rot-gold-24824556.bild.html#
Abb.: http://de.mann.tv/sport/fussball/kommentar-zum-gaucho-tanz-armes-deutschland-225506.html
Abb.: imago, http://www.kicker.de/news/fussball/nationalelf/638879/artikel_aerger-um-em-tickets_wie-der-dfb-die-fans-zur-kasse-bittet.html
Das tags zuvor erschienene Magazin „Der Spiegel“, dessen Titelgeschichte „Die entkrampfte Nation“ beim Erleben der WM „als Fest in
Schwarz-Rot-Gold“ ansetzte, erschien mit einem sechsfachen Split Cover mit in einer schwarz-rot-goldenen Flagge verpackten Menschen – und gewann sogar einen Preis als „Cover des Monats“ – „Herausragend und eigentlich alle Punkte verdient“ (näher http://
www.coverdesmonats.de/cover-des-monats-juli-2014-spiegel-gewinnt-mit-cover-split).
Abb.: http://www.coverdesmonats.de/cover-des-monats-juli-2014-spiegel-gewinnt-mit-cover-split
Der Spiegel 29/2014
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Vgl. BGH, Urteil vom 10.7.1974 – 3 StR 6/71 I – Notstandsschwein (JurionRS 1974, 12371): „[Das Landgericht Köln] führt aus, die gegenständliche Verbindung der Farben der Bundesrepublik Deutschland mit den Plastikschweinchen stelle bereits allein eine nicht angemessene und herabwürdigende Mißachtung dieser Farben dar ... Diese von der Strafkammer vorgenommene feststellende Wertung der in
den Plastiksparschweinen vergegenständlichten Meinungsäußerung als Verunglimpfung der Farben der Bundesrepublik Deutschland ist
rechtlich nicht zu beanstanden.“
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bild.de vom 5.6.2012 (http://www.bild.de/news/leserreporter/nationalmannschaft/em-aufruf-24502298.bild.html).
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Und das ist noch nicht alles. Unter den unzähligen Firmen, die ihre Ware schwarz-rot-gold verkleiden, um sich zu den Zeiten der
Fußball-Meisterschaften besser zu verkaufen, wird von einigen auch nicht nur „bloß“ Geschmackloses bis hin zu SexshopProdukten angeboten –
Abb.: http://knox.blogsport.de/2008/06/14/immer-noch-das-selbe-thema/ (Ausschnitt)
Abb.: http://www.bulvaros.hu/cikk/r0bzr7/
Abb.: http://www.joyclub.de/magazin/die_fussball_em_2012.html
sondern tatsächlich auch WC-Zubehör („Hakle“ 179: „Deinem Po zuliebe“). Die deutschen Farben „für den Ar...“???
Abb.: https://machdeutschdiescheisse.wordpress.com/2010/06/08/po-liebe-tschlandvlausch/
Abb.: https://www.design-tissue.com/toilettenpapier/renova-buntes-farbiges-toilettenpapier-klarsichtbox-schwarz-rot-gelb/a-660/ (Screenshot, Ausschnitt)
Abb.: http://www.nikomanufakt.de/0204007.html
Kann man nicht spätestens nun nachvollziehen, wenn sich Augstein einen besonders lächerlichen Fanartikel, die Spiegelsocken, die
„Schlüpfer“ („taz“) für die Autoaußenspiegel, lächerlich auf die Ohren steckt?
Abb.: https://www.youtube.com/watch?v=FwsbPSTlL6U (Screenshot, Ausschnitt)
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Im Internet findet man als Reaktion auf diese „Hakle“-Vermarktung („Was Hakle kann, das kann ich auch!“) ein als Satire eingeordnetes
Foto „Scheiß auf Schland“.
Abb.: Elias Schwerdtfeger, https://www.flickr.com/photos/elias-schwerdtfeger/albums/72157624335539699
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