Florian Heilig 900 Tage tot

Paukenschlag am Donnerstag
No. 9 /2016
vom 3. März 2016
Kommentare zum Zeitgeschehen von Egon W. Kreutzer
Druckversion: Sigbert Döring
Florian Heilig 900 Tage tot
Am 16. September 2013, vor 900 Tagen, endete das Leben des Zeugen Florian Heilig. Er
wollte vor der Kriminalpolizei in Stuttgart über sein Wissen zur Ermordung der Polizistin
Michele Kiesewetter aussagen. Eine zentrale Frage in der Aufklärung der so genannten
"NSU-Mordserie".
Ich wage hier eine Spekulation über einen möglichen Tathergang und die dabei
möglicherweise eingesetzte Technik.
Zuvor jedoch eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse zu einem
Geschehen, das schon längst wieder in Vergessenheit geraten ist:
Florian Heilig starb in seinem eigenen Pkw auf einem Parkplatz am Stuttgarter Wasen, weil es im
Wageninneren zu einer Explosion und/oder einem Brand gekommen war.
Die Erkenntnisse über die Zeit kurz vor dem Ereignis sind widersprüchlich. Zeugen, die das
Geschehen telefonisch meldeten, konnten nicht ausfindig gemacht werden. Berichte von einem
Mann, der kurz vorher in das Fahrzeug einstieg, konnten ebenso wenig überprüft werden, wie
Aussagen, die darauf hindeuten, dass Florian Heilig selbst unmittelbar vor dem tödlichen
Geschehen mit einer brennenden Zigarette in sein Fahrzeug einstieg. Der einzige echte Zeuge,
der das Fahrzeug Heiligs etwa 10 Sekunden vor dem Ereignis wahrnahm, glaubte, es sei leer.
Bewegungen im Wageninneren habe er nicht wahrgenommen. Er berichtet jedoch von einer
Stichflamme und einem lauten Knall.
Der Wagen wurde nicht am Fundort kriminaltechnisch untersucht, sondern abgeschleppt. Schon
nach zwei Tagen sollte der Pkw verschrottet werden. Die Familie Florian Heiligs verhinderte das
und fand im Wagen dann unter anderem den Laptop und das Handy des Toten. Mögliche
Beweismittel, nach denen offenbar nicht gesucht worden war und die mit verschrottet worden
wären.
Saubere Polizeiarbeit sieht anders aus, Vorsätzliches Handeln lässt sich daraus alleine jedoch
nicht nachweisen.
Beim Versuch der Aufklärung des Geschehens war eine wesentliche Frage, ob Florian Heilig denn
überhaupt noch handlungsfähig war, weil bei der Obduktion seiner Leiche ein Medikamentenmix
festgestellt wurde, der durchaus schon vor seinem flammenden Ende zur Bewusstlosigkeit hätte
geführt haben können.
Ich habe mich bisher zu den Geschehnissen im Umfeld der NSU-Morde nicht geäußert. Mein
heutiger Beitrag ist der Versuch, eine Version des Geschehens anzubieten, die sich mit allen
bekanntgewordenen Erkenntnissen deckt und auch durch Einbeziehung der bestehenden
Widersprüche in den Aussagen nicht abgelehnt werden kann.
Es ist eine Version, welche die umstrittene Selbstmordtheorie nicht antastet, aber die Möglichkeit
eines als Selbstmord inszenierten Attentats aufzeigt. Dabei will ich keinerlei Schlussfolgerung über
die Herkunft und Absichten möglicher Täter ziehen, lediglich veranschaulichen, wie ein solches
Attentat hätte vollzogen werden können.
Hypothese zum Tathergang eines Attentats
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Florian Heiligs Pkw war mit einer Vorrichtung präpariert, die ein Brand/Explosions-Ereignis
auslöste, dessen Spuren im ersten Anschein auf eine Selbstverbrennung hindeuten.
Unter dieser Prämisse ist Florian Heiligs Handlungsfähigkeit im Zeitpunkt der Auslösung dieser
Vorrichtung vollständig irrelevant.
Von Relevanz ist stattdessen
die Frage, ob Florian Heilig nach der Auslösung noch handlungsfähig war, also sich aus dem
Pkw hätte retten können,
die Frage, ob eine solche Vorrichtung unbemerkt und in möglichst kurzer Zeit hätte installiert
werden können und
wie die Auslösung eines solchen Anschlags technisch so hätte bewerkstelligt werden können,
dass das Opfer sich auf jeden Fall im Wirkungsbereich befindet.
Letztlich ist von Relevanz, wie eine solche Vorrichtung, sollte der Anschlag aus welchen
Gründen auch immer nicht stattfinden, vor zufälliger Entdeckung gesichert und ggfs. schnell
und einfach wieder entfernt werden kann.
Alle diese Fragen lassen sich befriedigend beantworten, wenn eine Konstruktion verwendet
wurde, wie sie hier vom Prinzip her erläutert wird:
Die Zwei-Phasen Mini-Aerosol-Bombe
Beabsichtigte Wirkung:
Das Ziel wird zunächst mit einer kleinen Menge eines herkömmlichen Brandbeschleunigers (z.B.
Benzin) besprüht, um später den Anschein der Selbstverbrennung erwecken zu können.
Sekundenbruchteile später wird der Innenraum des Pkws mit einem Aerosol gefüllt, das
unmittelbar danach gezündet wird.
Es entsteht eine heftige Explosion (Lichtblitz/Knall), die das Opfer zwar nicht zwingend tötet, aber
doch für eine Weile außer Gefecht setzt, und zwar intensiver als die bei polizeilichen
Erstürmungen sonst eingesetzten Blendgranaten. Unmittelbar nach der Explosion ist sämtlicher
Sauerstoff im Innenraum verbrannt, die Luft im Wageninneren besteht aus giftigen bzw.
erstickenden Gasen.
Das Opfer atmet wegen des Sauerstoffmangels zwangsläufig heftiger, nimmt giftige Gase intensiv
auf und erstickt schließlich. Sollte es vorzeitig befreit werden, werden die
Vergiftungserscheinungen mit Verzögerung zum Tode führen.
Alle der Explosion zugänglichen Oberflächen im Wageninneren weisen Brand- und Sengspuren
auf. Im Wagen riecht es immer noch nach dem wegen Sauerstoffmangel nicht, bzw. nur
unvollständig verbrannten Brandbeschleuniger Benzin.
Wie könnte eine solche Vorrichtung beschaffen sein?
Für eine technisch gut ausgerüstete Versuchswerkstatt ist die Herstellung einer geeigneten
Vorrichtung problemlos möglich.
Ein Kunststoff- oder Aluminium-Rohr, von ca. 15 mm Innendurchmesser und etwa 12 cm Länge
wird durch einen Mittelsteg in zwei getrennte Kammern unterteilt.
Kammer A ist mit Kammer B über eine Bohrung so verbunden dass ein beweglicher Kolben in
Kammer A durch den Druck in Kammer B nach vorne bewegt wird, sobald der Druck in Kammer A
sinkt.
Kammer A ist mit einem üblichen Brandbeschleuniger, z.B. Benzin und einem Treibgas gefüllt.
Der Brandbeschleuniger wird nach dem Auslösen als Strahl durch die Düse 1 verspritzt.
Kammer B ist mit einer durch Treibgas unter Druck gesetzten Flüssigkeit gefüllt, die nach dem
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Verspritzen des Brandbeschleunigers (Kammer A, Düse 1) durch eine zweite, sehr feine Düse 2
zerstäubt und anschließend gezündet wird.
Diese Abfolge wird alleine durch die Öffnung von Düse 1 ausgelöst. Dadurch sinkt der Druck in
Kammer A, der Kolben bewegt sich von seiner Anfangsposition in Richtung Düse 1, bis Kammer A
vollständig geleert ist. Am Ende dieser Strecke erreicht der Kolben eine Position, in der er die
durch Federdruck gesicherte Düse 2 über einen Kipphebel-Mechanismus öffnet. Das unter Druck
stehende, noch flüssige Aerosol wird nun fein zerstäubt. Ein Mini-Druckschalter in Kammer B löst
aus, wenn der Innendruck stark nachgelassen hat. Eine Knopfzelle liefert, über eine kleine
elektronische Schaltung dann in schneller Folge mehrere kräftige Zündfunken.
Zum schnellen Einbringen eignet sich zum Beispiel die Kopfstütze des Beifahrersitzes. Der
vorbeschriebene Druckbehälter wird um eine aufschraubbare, kreuzförmige Schneidspitze
ergänzt, die im Bereich des Gewindes Platz für die Aufnahme der Knopfzelle und der notwendigen
Elektronik bietet.
Zur Tarnung wird die Vorderseite mit den beiden Düsen und den Zündelektroden als flache
Kunststoffscheibe (in den Wagenfarben des Zielfahrzeugs) gestaltet, die das Druckrohr abdeckt.
Die gesamte Vorrichtung kann nun mit einer einzigen Bewegung in weniger als einer Sekunde bis
zu dem, durch die Kunststoff-Abdeckscheibe definierten, Anschlag eingeführt werden.
Wie kann eine solche Vorrichtung gezielt ausgelöst werden?
Erforderlich für den gesamten Ablauf ist es lediglich, die Spritzdüse von Kammer A zu öffnen.
Dazu ist Fernzündung per Funk denkbar, wobei die Knopfzelle auch die Energie für die Öffnung
des Verschlusses liefern kann.
Es kann jedoch auch ein chemischer Verzögerungszünder verwendet werden, der mit dem
Einstoßen der Vorrichtung in die Kopfstütze oder das Sitzpolster aktiviert wird.
Wie kann eine solche Vorrichtung in das Fahrzeug eingebracht werden?
Bei Verwendung eines Verzögerungszünders ist das Erscheinen eines Täters kurz vor dem
Ereignis erforderlich. Einige unbestätigte Zeugenaussagen deuten auf diese Möglichkeit hin. Ein
kurzes Einsteigen, vielleicht für letzte Instruktionen, Absprachen, Warnungen, genügt vollkommen,
um das Gerät unbemerkt zu platzieren.
Bei Verwendung eines Funkzünders kann jede Person, die sich in den Tagen vor dem 16.
September 2013 Zugang zum Wagen beschaffen konnte oder von Florian Heilig mitgenommen
wurde, die Vorrichtung unbemerkt einbringen. Das dauert weniger als eine Sekunde und wird
vermutlich vom Opfer weder bei der Installation, noch danach bemerkt werden. Der Täter muss
den Wagen allerdings verfolgen, um die Zündung im richtigen Augenblick sicher auslösen zu
können.
Sollte der Anschlag abgesagt werden oder die Vorrichtung wider Erwarten versagen, kann sie
schnell und ohne auffällige Spuren zu hinterlassen, einfach wieder herausgezogen werden.
Das gilt auch, wenn der Anschlag gelungen ist. Es genügt ein gezielter Handgriff und das
Tatwerkzeug ist nicht mehr auffindbar.
Fazit
Florian Heiligs Handlungsfähigkeit zum Zeitpunkt des Ereignisses ist, wie bereits erwähnt
irrelevant.
Die Frage, wie lange im Wageninneren verschüttetes Benzin zündfähig bleibt, über die auch viel
diskutiert wurde, ist sowohl im Zusammenhang mit der Handlungsfähigkeit, als auch grundsätzlich
in diesem Fall irrelevant.
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Ob ein Unbekannter in das Auto eingestiegen ist, oder nicht, ist ebenfalls irrelevant. Die
Möglichkeit, unterschiedliche Auslösemechanismen zu verwenden, lässt beide Varianten zu.
Der Widerspruch zwischen dem von den Feuerwehrleuten festgestellten alkohol-ähnlichem
Geruch und dem von Polizisten später festgestellten Benzingeruch ist irrelevant. Der
Benzingeruch kann kurz nach der Aerosol-Explosion noch überdeckt gewesen sein, später kann
der Geruch des nicht verbrannten Benzins dominant geworden sein.
Ein Mordanschlag unter Verwendung eines relativ einfachen und leicht zu installierenden
Hilfsmittels, wie hier beschrieben, wäre also durchaus möglich gewesen und würde vom Ablauf
her zu den gesicherten Spuren und den bestätigten und unbestätigten Zeugenaussagen passen.
Damit ist die Frage, wer ein so starkes Interesse daran gehabt haben könnte, dass Florian
Heilig nicht aussagt, keinesfalls beantwortet.
Klar ist meines Erachtens jedoch, dass es keinesfalls Selbstmord gewesen sein muss.
Weiterlesen können Sie hier bei Wolf Wetzel:
Zweifel an Polizeiversion - Tod eines Zeugen
(https://wolfwetzel.wordpress.com/2015/03/03/zweifel-an-polizeiversion-tod-eines-zeugen/)
URL: http://www.egon-w-kreutzer.de/003/pad092016.html
Eyes Wide Shut
Zweifel an Polizeiversion – Wenn Mord die wahrscheinlichere Todesursache ist
Wolf Wetzel | Tageszeitung Junge Welt vom 3.3.2015
Zweifel an Polizeiversion
Suizid aus Liebeskummer? Der Neonaziaussteiger Florian Heilig
wollte mit Ermittlern über den NSU sprechen. Am Tag der
geplanten Aussage starb er in einem brennenden Auto
Vorspann
Am 2. März 2015 wurden Vater und Schwester von Florian Heilig im parlamentarischen
Untersuchungsausschuss/PUA in Baden-Württemberg gehört. Die ehemalige Freundin Melisa M.
soll in einer nicht-öffentlichen Sitzung einvernommen werden. Dabei wird hoffentlich nicht nur ihre
Sicht auf die Trennung zur Sprache kommen, sondern auch die ›politischen Implikationen‹, die
eine weitaus größere Rolle spielten, als Herzensangelegenheiten.
Fast eineinhalb Jahre lang war der Tod eines wichtigen Zeugen im NSU-VS-Komplex, der sich acht
Stunden vor seiner polizeilichen Befragung selbst verbrannt haben soll, kaum eine überregionale
Meldung wert. Wie in den vielen Jahren der Mordserie der Terrorgruppe »Nationalsozialistischer
Untergrund« (NSU) zuvor auch, begnügte man sich mit der Version der Polizei und Staatsanwaltschaft. Über die Todesumstände des Florian Heilig am 16. September 2013 in der Nähe des
Festgeländes am Cannstatter Wasen in Stuttgart hieß es da zum Beispiel:
»Die am Montagabend durchgeführte Obduktion ergab, dass ein Fremdverschulden oder ein
Unfallgeschehen nahezu ausgeschlossen werden kann. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei haben
ergeben, dass der junge Mann das Fahrzeug vermutlich selber in Brand gesteckt hat. Die
Hintergründe für den Suizid dürften im Bereich einer persönlichen Beziehung liegen.«
Nicht viel später fiel das »nahezu« weg:
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»Wie bei jedem anderen Suizid wurde auch hier gewissenhaft geprüft, ob eine Fremdeinwirkung
vorliegen könnte. Das ist eindeutig zu verneinen.« Polizeisprecher Thomas Ulmer: »Daher ermitteln
wir nicht mehr weiter.«
Alles schien in wenigen Tagen im Herbst 2013 geklärt worden zu sein, auch das Motiv: »Die Polizei
geht von einem Selbstmord aus, angeblich aus Liebeskummer.« (Berliner Zeitung vom 1. Oktober
2013). Mangels eines Abschiedsbriefes wollten die Ermittler dies »aus dem familiären Umfeld«
erfahren haben.
Dass das »familiäre Umfeld«, die Eltern, die Schwester und die Freunde, der staatlichen
Selbstmordversion heftig widersprachen, kümmerte kaum jemanden. Das Motiv »Liebeskummer«
hatten die Ermittler weder aus dem familiären Umfeld, noch von der damaligen Freundin. Sie war
gar nicht befragt worden.
Auch der Umstand, dass Indizien für »Fremdeinwirkung«, also einen Mord, nicht gesucht, nicht
gesichert, geschweige denn ausgewertet wurden, ist in den Ermittlungsakten nachzulesen. Man
hat Nachforschungen unterlassen, die zum Standardprogramm einer Ermittlung zählen –
normalerweise. So befand sich in dem ausgebrannten Auto das Handy, der Laptop und eine
Videokamera von Florian Heilig. Man kann der Polizei und der leitenden Staatsanwaltschaft vieles
zutrauen, nur eines ganz bestimmt nicht: die Bedeutung von Handy und Computer als Beweismittel
zu unterschätzen. Selbstverständlich wissen sie darum. Bewegungsprofil, Funkzellenabfrage,
Dateien, Fotos, E-Mailverkehr, IP-Adressen, Telefonnummern der Anrufenden – es gehört zu den
Selbstverständlichkeiten einer Ermittlung im Todesfall, diese zu sichern und auszuwerten. Nichts
findet man dazu in den Ermittlungsakten. Man hat die Beweismittel scheinbar achtlos im Auto
liegenlassen.
Auch über die Drohungen, die Florian Heilig von Neonazis erhielt, nachdem er sich entschieden
hatte »auszusteigen«, hat man sich ausgeschwiegen. Nicht ein Satz, nicht eine Ermittlung widmet
sich diesen.
Florian Heilig war kein Lebensmüder, sondern ein ehemaliger Neonazi, der sich ab Mitte 2011 im
Aussteigerprogramm »BIG Rex« des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg befand. Florian
Heilig plagte kein Liebeskummer, sondern die Angst, dass ihm als »Verräter« etwas zustoßen
könnte. Das lag nicht nur nahe, es war bereits passiert. Ende 2011 wurde er von Neonazis in
Heilbronn mit einem Messerstich in den Bauch verletzt. Gegenüber den Eltern machte er deutlich,
wovor er wirklich Angst hatte: »Sie finden mich immer, wo immer ich bin.«
All das wusste die Polizei, all das war dem Verfassungsschutz sehr präsent, denn viele der
Neonazis, mit denen es Florian Heilig zu tun hatte, waren dem Geheimdienst sehr »vertraut« – wie
zum Beispiel Nelly Rühle (NPD), Alexander Heinig (Blood & Honour), Alexander Neidlein (NPD)
oder Marcus Frntic (Blood & Honour).
So paradox es auf den ersten Blick erscheinen mag: Florian Heilig war nicht nur für Neonazis eine
Gefahr. Er stellte zugleich eine große Gefahr für die bis heute aufrechterhaltene Version von
Staatsanwaltschaft, Polizei und Verfassungsschutz dar, die da lautet: Wir hatten gemeinsam 13
Jahre keine Ahnung, keine heiße Spur, die uns zum NSU geführt hätte. Und wir wissen ganz genau,
dass der NSU aus drei Mitgliedern bestand.
Die Aussagen von Florian Heilig stellten diese Version in Frage, die bis heute behauptete
Ahnungslosigkeit.
Nun haben Vater und Schwester einiges von dem vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landtags von Baden-Württemberg erzählt, was sie von Florian Heilig noch in
Erinnerung hatten. Das Onlineportal der Welt berichtete dazu am Montag:
»Im NSU-Untersuchungsausschuss hat der Vater eines jungen Mannes, der sich in Stuttgart
mutmaßlich selbst getötet hat, der Polizei schwere Vorwürfe gemacht. Die Beamten seien von
Anfang an von einem Suizid ausgegangen und hätten diese These nie wieder in Frage gestellt,
sagte der Vater von Florian H. am Montag vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags in
Stuttgart. Der Tod von Florian H. beschäftigt den Ausschuss zur rechtsextremen Terrorzelle NSU,
weil er gewusst haben soll, wer die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn erschossen hat.«
Der Vater konnte sich noch an vier Vornamen erinnern, die sein Sohn erwähnte, als das Gespräch
auf die NSU-Morde kam: Alexander, Nelli, Matze und Francek. Außerdem bestätigten Vater und
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Schwester, dass Florian Heilig sehr wohl genaue Angaben zur Neonaziszene rund um Heilbronn
machte, die bis in die Polizei hineinreichte.
Das Onlineportal des SWR meldete am Montag dazu:
»Der Vater nannte dem Untersuchungsausschuss Namen von Personen aus dem Raum Heilbronn,
die in der rechtsextremen Szene eine Rolle spielen sollen. Die Schwester des Toten ging bei ihrer
Aussage sogar noch weiter und berichtete, dass ihr Bruder ihr auch von einer rechten Gruppierung
bei der Heilbronner Polizei erzählt habe. Bei einer Attacke auf eine Dönerbude habe jemand dafür
gesorgt, dass keine Polizei in der Nähe sei.«
Wie sich diese Verbindung von Neonazis und Polizei auswirkte, welche Bedrohung sie auch für
Florian Heilig werden konnte, beschrieb die Schwester:
»Florian H. soll sich immer wieder neue Handynummern zugelegt haben, mindestens fünf
Nummern in kurzer Zeit, sagt die Schwester. Aber immer wieder sickerten sie an seine Erpresser
durch. Florian H. hat eine Vermutung. Er soll gesagt haben: ›Sobald meine neue Nummer bei BIG
Rex bekannt ist, hängen die Rechten eine Woche später wieder drauf‹.« (taz vom 2. März 2015)
Sicherlich ist es jetzt leichter zu verstehen, warum die Bereitschaft von Florian Heilig, dies zu
wiederholen und gegebenenfalls zu präzisieren, nicht nur für Neonazis eine Bedrohung darstellte,
sondern auch für die »Sicherheitsbehörden«.
Nun ist dieses Wissen und all das, was sich auf dem Laptop und auf der SIM-Karte des Handy
befindet, nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Dafür haben die Familie, einige Freunde und
politisch Engagierte seit Monaten gekämpft.
Nachdem die überregionalen Medien über eineinhalb Jahre zu den Todesumständen dieses
wichtigen Zeugen geschwiegen bzw. die Version der Polizei und der Staatsanwaltschaft
unhinterfragt wiedergegeben haben, werden nun Mordgründe entdeckt und diskutiert. Man kann
sich des Eindrucks nicht erwehren, als möchte man dabei ganz schnell die Täterschaft an
Neonazis abgeben, die zweifellos Florian Heilig als »Verräter« behandelt hatten.
Dass neonazistische Motive in einem solchen Mordgeschehen eine Rolle spielen, steht außer
Frage. Genauso taterheblich ist jedoch die Rolle von Polizei und Geheimdienst. Woher hatten die
Neonazis die jeweils neue Handynummer von Florian Heilig? Woher wussten Neonazis den
anstehenden Termin im LKA in Stuttgart? Florian Heilig wird ihnen dies nicht gesteckt haben. Die
Frage, die selbstverständlich in den Qualitätsmedien nicht gestellt wird, lautet: Wer hat diesen
wahrscheinlichen Mord gewähren lassen? Wer hatte ihn gegebenenfalls ermöglicht und danach
allen Grund, falsche Fährten zu legen?
Der Umstand, dass Polizei und Staatsanwaltschaft einzig in Richtung Suizid ermittelten, ist so
zumindest zu erklären – am allerwenigsten mit »schlampigen« Ermittlungen.
Wolf Wetzel
Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf?
Unrast Verlag 2013, 2. Auflage
Der Beitrag “Florian Heilig – Der Tod eines Zeugen. Mord oder ein Suizid aus Liebeskummer?”
fasst die zahlreichen Gesprächen mit Familie Heilig und die eigenen Recherchen der letzten 1 ½
Jahre zusammen.
URL: https://wolfwetzel.wordpress.com/2015/03/03/zweifel-an-polizeiversion-tod-eines-zeugen/
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