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Deutscher
Caritasverband e.V.
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Datum 11.06.2015
„Zwischen Anpassung und Widerstand:
Soziale Arbeit der Kirchen während der NS-Zeit“,
Deutsches Historisches Museum, Berlin, 11. Juni 2015
Sehr geehrte Damen und Herren,
„Zwischen Anpassung und Widerstand“. Vielleicht aber noch besser: Zwischen Zustimmung,
Anpassung und Widerstand. Das beschreibt nämlich sehr zutreffend die kirchlich verantwortete Soziale Arbeit zwischen 1933 und 1945.
So ist die Geschichte der Caritas zu Beginn der NS-Zeit, im Nachhinein betrachtet, von einer
Unterschätzung der Gefahr durch die Nationalsozialisten geprägt. Man erhoffte sich auch in
den Reihen der Caritas von den neuen Machthabern eine „Überwindung der weltanschaulichen und sozialen Gegensätze in Deutschland unter christlichen Vorzeichen“ 1.
Vermutlich ist es nicht einmal überzogen, wenn man das Verhältnis der Caritas zur Ideologie
des NS-Regimes ziemlich eng zeichnet. Gleichzeitig aber gab es nicht wenige Punkte, welche die Caritas in eine Distanz zu den Machthabern führte. Andreas Wollasch, Historiker und
ehemaliger Caritasmitarbeiter, stellt in einem Aufsatz über die Geschichte der Caritas in der
Zeit des Nationalsozialismus fest: „Zu den zentralen Konfliktfeldern zwischen NSV 2 [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] und konfessionellen Verbänden zählte die Kinder- und Jugendhilfe.“3 Gerade Kinder mit psychischen Krankheiten und Behinderungen wurden von der
Volkswohlfahrt als biologisch minderwertig und gesellschaftlich nicht wertvoll angesehen. So
wurden Menschen abgesondert und fallengelassen, obwohl sie eigentlich Behandlung, Förderung und Fürsorge benötigt hätten.
Diese biologistische Ideologie der Nationalsozialisten führte zu Zwangssterilisierungen 4 und
ab 1939 mit dem sogenannten Euthanasieprogramm zu Morden an Menschen mit Behinderung und psychischen Krankheiten. Mindestens 350.000 Menschen wurden bis 1945
zwangssterilisiert, ca. 200.000 Menschen wurden umgebracht, weil sie in der nationalsozialistischen Ideologie als unnütz und minderwertig angesehen wurden.
1
Andreas Wollasch, Caritas im Umbruch – Von der Weimarer Republik zur NS-Zeit. Thesen und Beispiele, in: Hans Otte,
Thomas Scharf-Wrede (Hg.), Caritas und Diakonie in der NS-Zeit. Beispiele aus Niedersachsen, Hildesheim 2001, 20.
2
Nationalsozialistische Volkswohlfahrt
3
Andreas Wollasch, Caritas im Umbruch – Von der Weimarer Republik zur NS-Zeit. Thesen und Beispiele, in: Hans Otte,
Thomas Scharf-Wrede (Hg.), Caritas und Diakonie in der NS-Zeit. Beispiele aus Niedersachsen, Hildesheim 2001, 22.
4
Andreas Wollasch verweist darauf, dass die Caritas zumindest erreichen konnte, dass diejenigen von Zwangssterilisationen
verschont blieben, die sich freiwillig zu einem lebenslangen Aufenthalt in einer geschlossenen Anstalt bereit erklärte. (Vgl.
Andreas Wollasch, ‚Euthanasie im NS-Staat: Was traten Kirche und Caritas, in: Internationale katholische Zeitschrift ‚Communio‘13. 1984, 2, 174)
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Die Empörung über die Ermordung von behinderten Menschen war groß, im Gegensatz zur
Akzeptanz des Vorgehens der Nazis an anderer Stelle. Innerhalb der Katholischen Kirche
gab es viele, die dies ablehnten. Insbesondere die Predigten des Münsteraner Bischofs von
Galen wären hier zu nennen, der sich deutlich gegen die Tötung vermeintlich unwerten Lebens wandte.
Gleichzeitig gab es aber auch viele katholische Einrichtungen, die sich angesichts eines engen Spielraums angepasst haben.5 Zwar gibt es Beispiele wie die Dortmunder Zentrale des
Katholischen Fürsorgevereins, der die eigenen Ortsgruppen über mögliche Spielräume informierte, um bedrohte Menschen zu schützen.6 Oft genug jedoch wurden die vorhanden gesetzlichen Spielräume zu wenig genutzt. Andreas Wollasch geht davon aus, dass von den
30.000 Patienten in 100 katholischen Anstalten für geistig behinderte Menschen 11.000 –
12.000 den Euthanasieprogrammen zum Opfer fielen. Etwa 1.500 Menschen konnten hingegen auf unterschiedlichen Wegen gerettet werden.7
Anhand des Beispiels von Zwangssterilisation und Euthanasie zeigt sich die Situation der
Kirche und ihrer Caritas zwischen 1933 und 1945 in ihrer ganzen Ambivalenz. Es gab die
Mutigen, die sich aus ihrem Glauben heraus nicht angepasst und Widerstand geleistet haben; diejenigen, die in ihren Nächsten Gottes Ebenbild sahen. Sie bekamen die Repressionen der Machthaber zu spüren und wurden entsprechend bekämpft. So soll an dieser Stelle
an Gertrud Luckner erinnert werden, die erst 1995 mit 95 Jahren verstarb. Als Mitarbeiterin
des Deutschen Caritasverbandes hat sie jüdische Mitbürger vor Verhaftung und Ermordung
in Sicherheit gebracht und wurde dafür noch Ende 1943 im KZ Ravensbrück inhaftiert.
Von der Repression der NS-Machthaber zeugt aber auch die Schließung der Caritaswissenschaft 1938 als einzigem katholisch-theologischem Fach an der Theologischen Fakultät der
Universität Freiburg. 1934 war bereits Franz Keller, als erster Leiter des Instituts, in den
Zwangsruhestand versetzt worden. Und auch seinem Nachfolger Joseph Beeking wurde
1935 die Lehrerlaubnis entzogen. Den Machthabern ging es darum, einem Institut die Stimme zu nehmen, das wissenschaftlich die Soziale Arbeit der Kirche unterstützte und damit der
herrschenden Ideologie und Politik widersprechen konnte.
Daneben gab es aber auch Katholiken, kirchliche Einrichtungen und Mitarbeitende, die sich,
aus welchen Gründen auch immer, nicht widersetzt und damit das Morden an Menschen
mindestens indirekt gedeckt haben. Glaube schützt nicht vor Fehlverhalten; mehr noch, er
kann dieses auch unterstützen. Eine Religionsgemeinschaft braucht hierzu die Auseinandersetzung nicht nur mit eigenen Glaubenssätzen, sondern auch mit der eigenen Vergangenheit. Vieles, was im Christentum heute als selbstverständlich gelehrt und vertreten wird –
nicht zuletzt der Schutz der Würde der menschlichen Person – musste erst als wichtig erkannt und erlernt werden. Ohne Anstöße, Kritik und Reflexion von außen, aber auch ohne
eine kritische Selbstreflexion verkommen Religionen zu Ideologien.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung schließt deshalb die Erinnerung an diejenigen mit ein,
die sich dem Unrecht widersetzten. Denn mit dem Ende des Regimes 1945 war nicht vom
einen auf den anderen Tag alles gut. Die Menschen blieben ja die gleichen, so dass Einstellungen und Prägungen politische Konstellationen überdauerten. Gerade die Opfer der
5
Vgl. Hans-Josef Wollasch, Caritas und Euthanasie im Dritten Reich. Staatliche Lebensvernichtung in katholischen Heilund Pflegeanstalten 1936 bis 1945, in: Caritas ’73, Freiburg i.Br. 1973, 61-76.
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Vgl. Andreas Wollasch, Caritas im Umbruch – Von der Weimarer Republik zur NS-Zeit. Thesen und Beispiele, in: Hans
Otte, Thomas Scharf-Wrede (Hg.), Caritas und Diakonie in der NS-Zeit. Beispiele aus Niedersachsen, Hildesheim 2001, 24.
7
Vgl. Andreas Wollasch, Caritas im Umbruch – Von der Weimarer Republik zur NS-Zeit. Thesen und Beispiele, in: Hans
Otte, Thomas Scharf-Wrede (Hg.), Caritas und Diakonie in der NS-Zeit. Beispiele aus Niedersachsen, Hildesheim 2001, 24.
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Zwangssterilisationen fanden in der jungen Bundesrepublik nicht die gleiche Akzeptanz als
Opfer des Nationalsozialismus wie andere Gruppen.
Wir sind heute aufgefordert in der Gegenwart, des Vergangenen kritisch zu gedenken, um
Zukunft gemeinsam zu gestalten: Um der Opfer willen und damit auch um unseretwillen.
Prälat Dr. Peter Neher
Präsident
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