Wolfram Frommlet - CS Informationsdesign

Ravensburger Lebensgeschichten
aus 100 Jahren
Von Liebe und Leid,
von Arbeit und Würde
Wolfram Frommlet
„Wir kommen
aus der Hölle.“
Die Sinti im Ummenwinkel
Sinti-Familien vor den Baracken, die die Stadt ihnen in den 20er-Jahren im Ummenwinkel hingestellt hatte. Davor, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, waren „Zigeunern“ von
der Stadt die „Rieselfelder“ bei Weißenau zugewiesen worden.
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Die Sinti im Ummenwinkel
„Lustig ist das Zigeunerleben, faria, faria, ho. Brauchen dem
Kaiser kein Zins zu geben, faria, faria, ho. Lustig ist es im
Grünen Wald, wo des Zigeuners Aufenthalt ...“ Harmlose
Klischees in einem alten Volkslied. Immerhin werden die
„Zigeuner“ nicht, wie dies heute selbst in akademischen
Kreisen wieder zu finden ist, mit Kriminalität gleichgesetzt
oder verunglimpft wie in einem Wahlplakat der NPD 2013:
„Geld für die Oma, statt für Sinti und Roma“.
Ein idealer Ort, die seit dem Mittelalter wuchernden antiziganistischen Rassismen, vom Zigeunerbaron bis zum Zigeunerschnitzel, zu entlarven, ist der Ummenwinkel an der
Schussen, weitab der Altstadt von Ravensburg. Schon Ende
des 19. Jahrhunderts wurden die ersten „Fahrenden“ dorthin abgeschoben. Bald ließen sich die ersten Großfamilien,
anfangs in ihren Wohnwagen, dort sesshaft nieder. Von
Bettelei, erinnert sich Julius Guttenberger, 1948 zwei Jahre
nach seiner Schwester Veronika im Ummenwinkel geboren,
von Bettelei sei in der Generation der Eltern und Großeltern
keine Rede gewesen. „Sie alle waren für ihre Arbeiten geschätzt und angesehen.“ Die einen sammelten Schrott, andere arbeiteten in der Kiesgrube und im Straßenbau, bei der
Kartoffel- und der Heuernte auf den Bauernhöfen der Umgebung. Die Frauen gingen mit „Kurzwaren“ – Knöpfen, Gummis, Fäden und Nadeln – hausieren.
Einige, wie Cäcilie Guttenberger, waren als Korbflechterinnen bei der Firma Fischinger beschäftigt. Sie legten Weiden
ins Wasser, bis sie biegsam waren und geflochten werden
konnten, zu Körben, mit denen die Kartoffeln am Bahnhof
entladen wurden. Manche hatten schon Autos für ihre Gewerbe, Julius Guttenbergers Großvater Franz arbeitete in
einer Matratzenfabrik in Langenargen und hielt noch Pferde. „Die stellte er immer beim Rutenfest zur Verfügung und
hatte deshalb ein gutes Ansehen.“ Die „Zigeuner“ aus dem
Ummenwinkel konnten sich frei bewegen, wenngleich nicht
überall ohne Diffamierungen, und konnten, an der Grenze zur
Ärmlichkeit, auch in ihrem Großverbund ihre Kultur leben.
Damit war Ende 1937 Schluss.
Sie mussten nun in eigens für sie von der Stadt Ravensburg
erstellten „Zigeunerbaracken“ wohnen, viele wurden zu
Zwangsarbeiten verpflichtet. Um die Siedlung im Ummenwinkel wurden Betonpfosten errichtet, ein 1,50 Meter hoher
Stacheldrahtzaun gezogen und Aufseher postiert.
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Sinti-Kinder musizieren, 30er-Jahre.
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In der „Judengasse“ hatte der Wirt
ein paar Kühe und Sauen
Hilde Haller über die Anfänge der „Ratsstube“
Schweinemarkt auf dem Marienplatz, am Kornhaus, um 1950.
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Hilde Haller
Dass Claudia Haller-Schuler, die „Ratsstuben“-Wirtin, helfen
würde, wenn Nachbarn in Not gerieten, ist gut vorstellbar.
Dass sie es mit einem Eimer Milch tun würde, ist unwahrscheinlich. Doch im Zweiten Weltkrieg taten ihre Großeltern,
Fridolin und Anna Schmid, genau dies. Sie waren die Wirtsleute der „Ratsstube“. Fridolin Schmid handelte nebenbei
auch mit Vieh, und in der Judengasse, wie sie damals noch
hieß, hatte er einen Stall gepachtet, vom Leibinger, mit ein
paar Kühen und Sauen. Er hatte einen Knecht, zum Melken
und um die Tiere zu versorgen. Alle paar Tage, Platz gab es
ja nicht viel, spannte der zwei Kühe ein und karrte den Mist
zum Gärtner Egger in der Gartenstraße. Logis hatte er bei der
„Saumarie“, einem kauzigen Weib, die in der Unterstadt bis
in die 50er-Jahre im Hinterhof Schweine hielt.
1932 kam Tochter Hilde auf die Welt. Von klein auf war es
selbstverständlich, dass sie im elterlichen Betrieb mithalf.
Morgens und abends holte sie im Eimer die frische Milch im
Stall, die verkauft, im Krieg aber literweise unter den Nachbarn verteilt wurde. Hilde wuchs mit Schweinen und Kühen
direkt vor der elterlichen „Ratsstube“ auf, wenn am Samstag
Viehmarkt war und die Bauern anschließend in der Gaststube einkehrten, mit Bündeln von Geld in den Taschen, weil
jeder Handel bar bezahlt wurde.
Viele der Bauern liefen mit ihrem Vieh zu Fuß von den Höfen
auf den Marienplatz; auch manche Viehhändler. Einer, erinnert sich Hilde Haller, kam bis aus Schwarzenbach.
Als die Not im Krieg größer wurde, ging sie mit der Mutter
und anderen Erwachsenen auf die Felder hinter Eschach. Sie
lasen die liegen gebliebenen Ähren in ein kariertes Betttuch.
Mühsame Arbeit für ein bisschen Mehl. Im Rathaus holten
die Eltern einen Leseschein für Reisig im Wald, das sie auf
Hilde Schmid (Haller) vor der „Ratsstube“ der Eltern.
einem zweirädrigen Karren an den Marienplatz zurück schoben. Auch da war sie dabei.
Sie musste, da gab es keinen Ausweg, zum BDM. Ganz
bewusst veranstaltete die NSDAP am Sonntagmorgen zur
Zeit der Gottesdienste die Treffen im Burgtheater. Sie sollte
die Leitung einer Gruppe übernehmen, ging dann aber nicht
mehr hin, die Eltern ignorierten eine Ladung und „hielten so
gut wie möglich Abstand“.
Dann war der Krieg vorbei, die Franzosen besetzten Ravensburg. Auch in der „Ratsstube“ nisteten sie sich ein. Ein französischer Koch verpflegte die Unteroffiziere, Anna Schmid
half ihm dabei. Die kleine Hilde ging mit den Franzosen einkaufen. „Aber sie bezahlten immer“, erinnert sie sich.
Den Saumarkt vor dem Kornhaus gab es auch noch nach
dem Krieg. Die Bauern brachten vor allem Ferkel, die sie an
die Händler zum Mästen verkauften. Marktmeister war damals der „Gene“ Bucher, jenes Ravensburger Original, das
sein Geld im Hauptberuf mit einem gesellschaftlich äußerst
nützlichen Gewerbe verdiente. Einmal im Jahr fuhren sei55
Marienplatz mit „Ratsstube“ und „Waldhorn“ in den 30er-Jahren.
ne Tankwagen in der Altstadt vor die Häuser, die damals
im Hinterhof unter den Plumpsklos eine Grube hatten. Ein
Rohr wurde durch den Hausflur gelegt und die Fäkalien abgepumpt. Den Inhalt verkaufte Gene Bucher an die Bauern in
der Umgebung, die ihn auf ihre Felder verteilten.
„I hon a schene Zeit ghet am Marienplatz“, sagt Hilde Haller, bis der Vater starb, 1947, und auf die Mutter damit eine
enorme Belastung zukam. Eine Wirtschaft zu halten, in der,
so war es Tradition, „kein Gast ein zweites Mal kommen
sollte, ohne dass der Wirt wusste, wer er war und woher
er kam“. In dieser Wirtschaft verkehrten immer schon viele
soziale Schichten, der Bauer und der Handwerker, aber auch
der Herr Studiendirektor vom Spohn-Gymnasium.
Tochter Hilde verlässt das elterliche Haus sehr jung. Mit 22
heiratet sie den Bauer Franz Haller in Berg, „nicht ahnend,
worauf ich mich da einließ“: auf Arbeit, nichts als Arbeit,
manchmal 18 Stunden am Tag. Von sieben Kühen lebte der
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Schwiegervater. 17, 18 waren es bald nach der Heirat. Weil
sie gespart haben, nie Schulden gemacht, konnte man davon leben, wenngleich sehr bescheiden. „Ohne Generationenbindung wäre das undenkbar gewesen“, doch die hatte
auch ihren Preis. Damals hatten sie nur eine gemeinsame
Stube für drei Generationen. „Da gab’s scho au Reibereien.“
Freiheiten? Sie lacht. Nein, die hatte sie nicht. „Dr Schwiegervater hot de Ton angebe und i hon müsse pariere.“
Diese Ehe „war eine Gemeinschaftsleistung“, resümiert Hilde Haller im hohen Alter, mit starken Frauen. „Heut verlaufet
se auf em Hof, früher sind se zugloffe.“
Heimweh nach der „Ratsstube“, nach der Stadt, gab es das?
„Ja, manchmal war die Enge auf dem Hof bedrückend.“
Doch sie ist geblieben, hat immer weitergemacht mit ihrem
Mann, „mr hont gschaffet, do ka’ ma koi Geld ausgebe“. Das
haben sie in den Hof investiert, bis sie später Grünland vom
Kloster Kellenried dazupachten konnten und schließlich 36
Hilde Haller
Hilde Haller mit den drei Kindern auf dem Bauernhof in Berg.
Kühe hatten. Damit war man 1990, als sie den Hof aufgaben
und das Land verpachteten, „ein großer Bauer“.
Manches hat sich verändert. Anfangs zahlten sie nur in eine
Lebensversicherung. Die Pflichtversicherung für Bauern, mit
der in die Renten- und die Krankenkasse eingezahlt wurde,
kam viel später. Warum hat es so lange gedauert, bis die
Bauern anfingen, dafür zu kämpfen, oder für höhere Milchpreise? Eine verblüffende Antwort hat Hilde Haller parat:
„Dafür hot ma it derweil ghet.“ Keine Zeit hatte man dafür.
Das alte Bauernhaus ist liebevoll restauriert. In der gemütlichen Stube sagt sie einen berührenden Satz. „Heut fühl ich
mich hier wie im Himmel auf Erden.“
In der Küche hat Tochter Claudia das Mittagessen zubereitet. Der Tisch ist gedeckt. Auch damit hat dieser Satz zu tun.
Das, was Bauernhöfe über Jahrhunderte zusammengehalten
hat, ist auch im Elternhaus der Hilde Haller in der Stadt gelungen – der Generationenvertrag. Tochter Claudia hat den
Geologen August Schuler geheiratet und sie betreiben die
„Ratsstube“. Schon ist deren Sohn in die Nachfolge einbezogen. „Es ist schön, dass sie weiterlebt“, freut sich Hilde Haller. Und schön ist auch, was sie über eine gute Wirtschaft
heute sagt – „man muss die gemeinsame Gesprächskultur
wieder lernen. Da muss man als Wirt auch was dafür tun“.
Teil ihres Glücks im Alter ist auch eine besondere Beziehung
zu ihren Enkeln, die eine heute selten glückliche Kindheit
hatten. Sie lebten in zwei klar getrennten Welten. In die
Grundschule gingen sie auf dem Dorf, nahmen das Mittagessen auf dem Hof der Großeltern ein, lernten die bäuerliche Welt kennen und schätzen, „und haben Kraft vom Land
geschöpft“. Abends und an den Wochenenden waren sie
bei den Eltern in der „Ratsstube“, lebten in der städtischen
Welt. Und sie leben, zur Freude der Großmutter, bis heute
in beiden Welten. Sie werden Bauern, wie so viele Städter,
vermutlich nie verachten.
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Nachts um vier klopfte der
Vater manchmal leise an die Tür
Kindheit in einer Bäckerei in der Herrenstraße
Annemarie Bulling, etwa 1951, hinter der Verkaufstheke im elterlichen Laden in der Herrenstraße.
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Bäckerei Bulling
Daran erinnern sich die beiden Zwillingsschwestern Annemarie Weber und Antonie Bodenmüller noch heute, im hohen
Alter: Wie der Vater mit sanfter Stimme nachts um vier an
die Kinderzimmertür klopfte. Heute können die beiden, wenn
sie seinen Ton nachahmen, schmunzeln. Damals aber, als
sie noch junge Mädchen waren, wär’s mit dem sanften Ton
schnell vorbei gewesen, wären sie nicht umgehend aufgestanden und in die Backstube geeilt.
Der Vater, Bäckermeister Anton Bulling, hatte 1930 die elterliche Bäckerei in der Herrenstraße übernommen. (Dort, wo heute die Bäckerei „Decker“ ihre Köstlichkeiten anbietet und die
alte Waage von damals noch immer im Schaufenster steht.)
Ein schwerer Weg, bis der Sohn den Vater in der Backstube
ersetzen konnte, denn der war 1907 gestorben, als Anton gerade acht Jahre alt war. Sein älterer Bruder Vitus, der für die
Übernahme vorgesehen war, starb im Ersten Weltkrieg „für
Volk und Vaterland“. Bis Bruder Anton soweit war – er lernte
Konditor in Ravensburg, dann auswärts Bäcker – musste die
Mutter den eigenen Betrieb an Bäcker Ehrat verpachten.
Dass nicht nur der Vater, zuzeiten auch mit Lehrling und Geselle, um zwei Uhr in der Nacht begann, Teig zu mischen,
oder, wenn er am Vortag den Sauerteig schon angerührt hatte, Roggenbrot zu formen, dann Brezeln und Seelen, sondern
auch seine Frau mithalf und manchmal, als sie schon 14, 15
Jahre alt waren und es personell mal wieder eng war in der
Backstube, auch die beiden Töchter, war in einem solchen
Handwerksbetrieb selbstverständlich. Oft bedienten sie auch
nach der Schule im Laden. Als Hilfe standen in der Backstube
immerhin schon strombetriebene Knetmaschinen mit Treib-
riemen. Der Ofen freilich wurde noch mit Holz und Kohlen
beheizt.
Wenn zu viel Betrieb war im Laden und die Mutter niemanden
hatte, der die frischen Brötchen austragen konnte, mussten
Annemarie und Antonie auch da helfen, in der Großen Pause
in der „Volksschule“ in der Wilhelmschule. Von den Aufsicht
führenden Lehrern durfte das keiner merken. Die Zwillinge
sprachen sich ab und eine rannte über die Wilhelmstraße in
den Laden in der Herrenstraße, packte den Korb und trug flink
Brezeln und Seelen in die umliegenden Wirtschaften, auch
ins „Lamm“ am Marienplatz, wo der Onkel, der Bulling-Wirt,
schon wartete. Ein anderer Kunde war die Wirtschaft vom
Brauer Bechter in der Roßstraße, dessen Gattin eine geborene Bulling war. „Nicht mal an den Tänzen durften wir am
Rutenfest mitmachen, sondern mussten Backwaren austragen“, erinnern sich die beiden Schwestern noch heute mit ein
wenig Trauer in der Stimme.
Auch an den Wochenenden stand die Mithilfe in der Backstube an erster Stelle, nicht das Spiel mit den Freundinnen.
Aus der ganzen Nachbarschaft brachten die Hausfrauen ihre
Kuchenbleche, einen Backofen hatte keine zu Hause. Dann
trugen sie die mit Namen gekennzeichneten Bleche von der
Backstube in den Laden, wo sie sie später wieder abholten.
Sogar an Heiligabend standen sie in der Backstube, denn
von den besseren Herrschaften in der Nähe der Herrenstraße
brachten die Dienstmädchen die Gänse in schweren Kasserollen, die dann drei Stunden im Backofen verschwanden.
Zum Festessen wurden sie von den Dienstmädchen wieder
abgeholt.
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