Skulptur des Monats Oktober 2015 Statue einer Sphinx

Skulptur des Monats Oktober 2015
SH 893
Statue einer Sphinx
Original
Datierung:
Material:
Fundort:
Standort:
Höhe:
um 560/50 v. Chr.
pentelischer Marmor
Spata (Attika, Griechenland)
Athen,
Archäologisches
Inv.-Nr. 28
69 cm
Nationalmuseum,
Abguss
Herkunft:
Inv.-Nr.:
Material:
T.A.P. Service Athen
SH 893 / 1968–6
Gips
Die hockende Figur ist eine Sphinx, ein Mischwesen aus
geflügeltem Löwen und Frau. Der Raubtierkörper ist im
Profil wiedergegeben, der Kopf zur Seite gewendet, zum
Betrachter gerichtet. Er erinnert an die Köpfe der archaischen Mädchenstatuen (Koren): Die langen Haare fallen auf
Rücken und Brust. Sie sind nur vorne in Zöpfe gegliedert.
Wellenförmige Locken rahmen die Stirn. Die Sphinx trägt
eine Halskette und einen Polos auf dem Kopf, der ursprünglich mit aufgemalten Motiven – wohl Lotosblüten und Palmetten – verziert war. Auch der Schmuck, die Flügel, das
Gefieder auf der Brust und weitere Details waren ursprünglich sicher farbig (vgl. Abb. 4). Die Rückseite ist weit weniger
detailreich ausgearbeitet worden. Die Figur war offensichtlich auf Vorderansicht konzipiert.
Griechische Frauenfiguren tragen oft eine zylindrische
Kopfbedeckung. Dafür hat sich in der archäologischen Literatur der griechische Begriff polos eingebürgert (ursprünglich: Drehung, Wirbel, Pol, von pelo = sich drehen). Ein Polos kann sehr hoch sein oder auch nur wenige Zentimeter
messen und figürlich oder ornamental verziert sein. In der
Regel ist er oben offen. Diese Kronenform stammt ursprünglich aus dem Vorderen Orient – dort war sie vor
allem in Babylonien, im altsyrischen sowie im hethitischen
Raum verbreitet – und ist in Griechenland seit der minoisch-mykenischen Zeit in der Bildkunst anzutreffen.
Die Krone ist ein Macht- und Herrschaftssymbol, das in
Griechenland vor allem im religiösen Bereich Verwendung
fand: Göttinnen wie Hera (vgl. Abb. 1), Demeter, Aphrodite
und Tyche tragen einen Polos. Bei der Sphinx soll die Krone wohl ihren besonderen Status als übermenschliches
Wesen andeuten. Möglicherweise stammt auch der überlebensgrosse Kopf mit Polos aus dem Hera-Tempel in Olympia von einer Sphinx, die zu einem Hochrelief gehörte, und
nicht von einem Kultbild der Göttin. Der Ansatz hinter dem
linken Ohr könnte Teil des Reliefgrunds (eines Tempelgiebels?) sein (Abb. 1).
Die geflügelte Sphinx stammt aus dem Vorderen Orient, wo
sich das Motiv im Laufe des 2. Jahrtausends v. Chr. entwickelte. Von dort gelangte sie nach Griechenland und kommt
bereits im minoischen Kreta und in der mykenischen Bildkunst vor. Im alten Ägypten war der Menschenlöwe männlich und wurde flügellos und liegend dargestellt.
Abb. 1: Rekonstruktionszeichnung der sog. Hera von Olympia als
Sphinx (vgl. SH 400).
Die Sphinx ist im antiken Griechenland immer weiblich. Sie
ist eine widersprüchliche Figur: Ihr Name bedeutet wörtlich
die „Würgerin“ (griech. sfiggo = zusammenziehen, umschliessen) und im Mythos galt sie als Verderben bringendes
Wesen. Zugleich schätzte man sie als mächtige, Unheil abwehrende Beschützerin von Gräbern, Heiligtümern und
Tempeln.
Die Löwenfrau aus Spata (SH 893) bekrönte einst ein
Grabmal (Abb. 2), wie weitere Beispiele insbesondere aus
Attika zeigen. Von der zugehörigen Stele haben sich allerdings keine Reste erhalten.
weitere Denkmäler des Heiligtums und muss von weitem
sichtbar gewesen sein. Die Sphinx behütete das Heiligtum
und verkörperte das Prestige der Weihenden.
Abb. 2: Sphingen als Bekrönung von Grabstelen.
Abb. 4: Sphinx mit Kapitell von einem Grabmal; aus Attika, um
540/30 v. Chr.; Marmor; Boston, Museum of Fine Arts.
Abb. 3: Sphinx aus der Themistokleischen Mauer (Bekrönung
einer Grabstele), um 560 v. Chr.; Marmor; Athen, KerameikosMuseum.
Im Grabbereich kommen diese monumentalen Mischwesen
in Griechenland erst in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. auf. Sphinx-Figuren konnten aber auch Teil
eines Votivmonumentes sein. So haben die Bewohner der
Insel Naxos um 560 v. Chr. in Delphi eine Sphinx geweiht,
die auf einer etwa 10 m hohen ionischen Säule stand (Abb.
5). Die Figur selbst ist über 2 m hoch. Anders als die Grabsphingen blickt sie nach vorn. Das Weihgeschenk überragte
Abb. 5: Sphinx der Naxier, um 560 v. Chr.; Marmor;
Delphi, Archäologisches Museum.
Ella van der Meijden
Auswahl an Literatur:
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G. M. A. Richter, The Archaic Gravestones of Attica (1961) Nr. 12 Abb. 40–41
J. Boardman, Griechische Plastik. Die archaische Zeit (1981) Abb. 227
N. Kaltsas, Sculpture in the National Archaeological Museum Athens (2002) 54 Kat.-Nr. 56
T. Schröder, Kontexte und Bedeutungsfelder rundplastischer Löwen und Sphingen im frühen Griechenland, in: L. WinklerHoracek (Hrsg.), Wege der Sphinx. Monster zwischen Orient und Okzident. Ausstellungskatalog Berlin (2011) 137–162, bes.
157 Kat.-Nr. 33