Bregje Hofstede Violet und Daisy Violet verharrt eine zeitlang unbeweglich in der Türöffnung des Elternschlafzimmers. Jemand hat die Strohmatratze vom Bett gehievt und unter dem kahlen Lattenrost den Dielenboden glänzend gebohnert, doch der dunkle Fleck ist noch immer zu sehen. Am Morgen hatte sie noch das strampelnde und sich drehende Kind im Bauch ihrer Mutter gefühlt. Dass man an etwas so Lebendigem sterben kann! Aber das passiert. Es kommt öfter vor. Fast jedes Jahr stirbt ein Mutterschaf beim Lammen und in diesem Jahr starb Violets Mutter bei der Geburt ihres sechsten Kindes. Das Baby, ein kleines, spilleriges Ding, wird nach der verstorbenen Mutter benannt. Nur das Baby darf nach Herzenslust weinen. Die anderen haben dafür keine Zeit. Noch vor der Beerdigung wird entschieden, dass Violet nicht zu Hause bleiben kann. Was soll ein Kind in ihrem Alter ohne Mutter auf dem Land? Wer soll es hier unterrichten? Einen letzten Tag verbringt sie noch auf dem alten Hof. Sie streichelt die bebenden Nüstern der Pferde, spielt mit ihren Brüdern und ihrer Schwester Daisy. Es war ihr immer eine Last gewesen, dass Daisy ihr alles nachmachen musste. Steckte sie sich Blumen ins Haar, dann machte sie das auch; malte sie sich einen Hinkelkasten, dann musste und würde ihre Schwester darauf hüpfen. Einmal lief sie eine ganze Woche lang mit rechts und links vertauschten Holzschuhen herum, bis ihre Fußgelenke wund gescheuert waren, nur um zu schauen, ob sie auch diesmal eine Nachahmerin bekäme. Sie bekam sie. Der einzige Platz, an den ihr niemand folgt, das ist die Krone der kräftigen Kastanie, die den Hof überschattet. Früher konnte man ganz einfach vom gegabelten Stamm aus die untersten Äste erreichen, doch im vergangenen Herbst hatte eine kräftige Windböe den hohen Baum in zwei Teile gespaltet. Die eine Hälfte blühte weiter, die andere starb ab. Seitdem ist Violet die einzige, die den Baum erklimmen kann. Auch heute macht sie das, auch wenn der Spalt grüne Streifen auf ihrem schwarzen Kleid hinterlässt. Sie klettert bis zum Wipfel hinauf. Der Abstand von hier oben bis zur Wurzel ist groß und alles bewegt sich. Der Ast, auf dem sie steht und der, an dem sie sich festhält, wiegen sich frei im Wind. Von der Baumkrone aus hat sie freie Sicht über die Felder. Ein grüner Schleier liegt über den Bäumen, Vorbote einer Farbpalette. Das Unterholz ist mit Narzissen gelb gesprenkelt. Überall um sie herum brechen die ersten Blätter zögerlich aus den Knospen hervor, zerknautscht wie die Ohren eines Neugeborenen. Als am nächsten Tag eine Kutsche vorfährt, wird Violet von ihrem Vater hochgehoben und wie ein Postpaket mitgegeben. Ein Ruck, und er gerät außer Sichtweite. Erst am späten Abend trifft sie ein. Fackeln brennen, Hunde bellen, ein doppelflügiges Tor, ein Kammerdiener, dessen Nase wie die Kerze tropft, die ihm leuchtet. Vom Schein wird ein Nasenflügel glühendrot gefärbt und lässt die Tropfen an ihm aufleuchten. Violet riecht verdorbenes Schrot und Priemtabak, als er sie hochhebt und sie ins Haus trägt. Sie erwacht zwischen Verwirrung und Kissen, gefüllt mit allersanftesten Daunen. Sie hat ein wenig Angst. Es ist hier wie in dem Himmel, von dem ihr die Küchenhilfe immer erzählt hat: Blütenweiß, schön und weich und von irgendwo weither erklingen Violinen. Ihre Tante ist eine eindrucksvolle Frau. Ihre hochgewachsene Statur ist gänzlich in Seide und Damast gehüllt, als wäre sie nicht nur kostbar, sondern auch zerbrechlich. Kopf und Schultern trägt sie aufrecht, und nach einer Bewegung schwingt alles gleich wieder zurück, biegsam wie Weidenholz. Ihre Augen sind alles andere als zerbrechlich. Wenn sie Violet von Kopf bis Fuß mustert, dann fühlt sich das an, als würde sie mit einer harten Bürste wund geschrubbt. Das Mädchen senkt den Kopf und betrachtet die Trauerränder unter seinen Fingernägeln. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass du einen guten Eindruck machst. Dreimal hat ihr Vater das wiederholt: Von äußerster Wichtigkeit. Und genau in diesem Augenblick werden die Porzellanaugen ihrer Tante sanft und geschmeidig. „Ach, Mädchen.“ Sie seufzt und fängt an zu weinen. Zu Tantes Füßen sitzt ein rundliches Hündchen hechelnd und auf einem Puff. Um seinen Hals trägt es Glöckchen und klingt damit wie ein Souvenirlöffel in einer Teetasse, doch zum Glück riecht das Hündchen noch nach Tier. Violet bückt sich, um es zu streicheln, fährt ihm mit den Fingern durch das spröde fettige Fell, bis ihre Tante sich ausgeweint hat. Sie bekommt ein altes Kleid ihrer Cousine, „bis die Schneiderin da war“. Dass es an ihr schlackert, stört sie nicht. Erstaunt streicht sie über die Spitzenbiesen, hauchzart, mit Perlen abgesetzt, wie Tau an einem Spinnennetz. Ihr Haar wird ausgekämmt und mit blauem Schleifenband hochgesteckt. Die Zähne des Holzkamms beißen ihr in die Kopfhaut. Als es an der Zeit ist, nach oben zu gehen, läuft sie durch die hohen Räume, vom einen in den nächsten. Alle Zimmer sind mit schimmernder Stofftapete in den verschiedensten Farbtönen ausgekleidet: dunkelrot, moosgrün, blau. Nur das Geräusch ihrer Absätze ist zu hören, das von dem blanken Boden zurückschnellt. Plötzlich vermisst sie eine Schwester, die ihre Worte und ihre Schritte als Echo nachahmt. „Hier geht es die Treppe hinauf, Fräulein.“ Der Kammerdiener hat sie erwartet und geht ihr voran. Noch nie zuvor hat Violet einen solchen Ort gesehen. Im Treppenhaus sind sogar die Wände bemalt. Auch die Decke. Möglichst langsam geht sie Stufe für Stufe hinauf und legt beim Schauen den Kopf in den Nacken. Das Hündchen folgt ihr hechelnd und klimpernd hinauf. Erst an der obersten Treppenstufe senkt sie wieder den Blick. Natürlich hat sie zuvor ihr eigenes ein Spiegelbild gesehen. Einmal, im Handspiegel ihrer Mutter. Abends im Fensterglas, verwackelt und schemenhaft. Sie kennt ihren Schatten: satt und scharf im Sommer, gestreckt und anmutig im Winter. Sie kennt ihr Spiegelbild im Wasser, ein durchscheinender Film, in den vom Wind oder den Beinen der Wasserläufer Dellen und Falten entstanden sind. Doch nun sieht sie sich zum ersten Mal von Kopf bis Fuß, glashart erstarrt im wandhohen Spiegel am Treppenabsatz. Ein Spiegelbild, so solide wie sie selbst. Es dauert ein wenig, bis ihr bewusst wird, dass sie das ist, das Mädchen mit den eisblauen Augen und dem Haar, das wie ein frischer Butterzopf glänzt. Sie ist schön, ja, wie schön sie doch ist. Diese Gewissheit vertreibt die anderen Gedanken. Steif und glänzend betrachtet sie sich. Wie anders sie doch aussieht. Anders als zuvor. Anders als ihre Mutter. Anders als alle, die sie zurückgelassen hat. Vorhin war es ihr noch warm, doch nun friert sie. Ein Schauer durchzieht sie, den sie auch weiterhin spürt, wie einen Haarriss im Rückgrat. Jemand ruft ihren Namen. Sie wendet den Kopf zum Spiegel und die blauen Bänder schwingen mit. Sie fährt mit einem Finger über ihr Gesicht im Spiegelglas. Dort steht sie, so ist sie jetzt. Dann nimmt sie das Hündchen unter den Arm und betritt bimmelnd mit wippenden Röcken den Salon. Aus dem Niederländischen von Heike Baryga
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