Völlig losgelöst von der Erde?

Predigt am 22.11.2015 in der Schlosskirche der Universität Bonn (Text: Offb 21,1-5)
Thema: „Völlig losgelöst von der Erde?“
Liebe Gemeinde,
der heutige letzte Sonntag im Kirchenjahr hat – seinem Anlass entsprechend – zwei Namen:
Totensonntag und Ewigkeitssonntag. Totensonntag: Damit wird gesagt, dass besonders in
evangelischen Gegenden die Menschen heute an die Gräber ihrer Toten gehen, dass die
Namen der Toten des Jahres im Gottesdienst verlesen werden oder sonstwie in besonderer
Weise die Erinnerung an verstorbene Angehörige wach wird. Vielerorts finden auch eigene
Totengedenkfeiern statt; deswegen heißt der Totensonntag auch „Gedenktag der
Entschlafenen“.
Ewigkeitssonntag: Mit dieser Bezeichnung wird zum Ausdruck gebracht, dass die Christen an
diesem Tag an die sog. letzten und letztgültigen Dinge denken: an ihren eigenen Tod, an das
ewige Leben in der Gemeinschaft mit Gott und an die Zukunft der ganzen Schöpfung und
Menschheit. Beides gehört zusammen – Toten- und Ewigkeitssonntag: Der Tod eines uns
nahestehenden Menschen gemahnt uns ganz unmittelbar und in oft schmerzlicher Weise an
unseren eigenen Tod, konfrontiert uns mit der unausweichlichen Tatsache, dass alle
Menschen sterben müssen. Und weckt die Frage nach dem, was danach kommt.
Totensonntag und Ewigkeitssonntag: Man kann die beiden Aspekte auch in einem Bild
zusammenbringen.
Totengedenken – das ist, wie wenn wir uns noch in einem dichten Nebel befinden; und
mancher von uns weiß, wie das ist, wenn sich Trauer wie ein grauer Nebelschleier über uns
legt – ganz der Stimmung eines grauen Novembertages entsprechend. Und in diesen Tagen
nach den Anschlägen von Paris und den Ängsten, die auch bei uns daraus entstehen, hat man
den Eindruck, dass sich ein solcher Grauschleier auch auf eine Stadt oder sogar ein ganzes
Land legen kann. Da macht es dann fast keinen Unterschied mehr, ob die Toten uns
nahestehende Menschen, Angehörige oder ganz unbekannte Personen sind.
Ewigkeitshoffnung – das ist, wie wenn wir auf einen hohen Berg steigen, die Nebelschleier
hinter und unter uns zurücklassen und wenn uns dann plötzlich fast schwindlig wird von
wegen der Höhen, zu denen wir emporgelangt sind, und wo wir fasziniert sind von der
unglaublich schönen Aussicht, die sich uns da eröffnet. Ein solches Panorama, eine solche
faszinierende Aussicht bietet uns unser heutiger Predigttext aus der Offenbarung des
Johannes. Ich lese aus dem 21. Kapitel die ersten Verse – sie enthalten zugleich auch jenen
Gottesspruch, der als Thema über der ganzen Predigtreihe dieses Semesters steht.
Lesung: Offb 20,1-5
Wir kennen diesen Text vom neuen Jerusalem von Beerdigungen und Trauerfeiern; er vermag
die Herzen der Menschen ungeheuer stark anzurühren. Er spricht von Schmerz, Geschrei und
Tränen – also von tiefster menschlicher Not, von Not jeglicher Art. Aber es ist gleichsam, als
nähme er alle von Leid und Tod und Geschrei und Schmerz Betroffenen in die Arme und
spräche ihnen Trost zu. Denn er verkündet Gottes Menschlichkeit: Jemand wird unsere
Tränen abwischen, wie man es bei Kindern tut, weil dann "alles wieder gut ist". Es gibt einen,
der dieses endgültig tun wird und der darum wie ein Vater und eine Mutter ist. – Dieser Text
spricht nicht von Idealen und herrlichen Zeiten, die wir verwirklichen müssten, sondern
davon, dass es einen gibt, bei dem wir endgültig geborgen sind. Deshalb lohnt es sich, die
großartigen Bilder, die er vor uns hinstellt, näher zu betrachten und tiefer auf uns wirken zu
lassen.
Folgen Sie mir also auf jenen hohen Aussichtsberg, wie einst Mose auf den Berg Nebo stieg,
um vor seinem Tode noch einen Blick in das Gelobte Land zu werfen. Gleichsam wie durch
eine scharfe Brille lässt uns die Offenbarung des Johannes einen Blick tun auf seltsame und
wundersame Einzelheiten jener neuen Welt, die sich doch eigentlich jeder Vorstellbarkeit
entzieht: „Und das Mauerwerk war aus Jaspis und die Stadt aus reinem Gold, gleich reinem
Glas“ (V. 18). „Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, ein jedes Tor war aus einer einzigen
Perle, und der Marktplatz der Stadt war aus reinem Gold wie durchscheinendes Glas“ (V. 21)
– so heißt es im weiteren Verlauf der Beschreibung der Himmelsstadt.
Sind wir damit nun ganz weit weg von unserer Gegenwart, von unseren Toten – und denen
von Paris – und von uns selbst? Ist es so, wie es in jenem bekannten Schlager hieß: "Völlig
losgelöst von der Erde schwebt das Raumschiff, völlig schwerelos"? Haben wir den dichten
Nebel zu unseren Füßen vergessen und berauschen uns nur noch an der schönen Aussicht?
Nein, ganz bestimmt nicht. Unser Text lässt uns hoffen, dass wir bei einem genaueren
Hinsehen uns selbst und unsere Toten in der neuen Stadt Gottes wiederfinden,
wiedererkennen werden, und Gott wird uns ganz nahe sein. Die heilige Stadt, das neue
Jerusalem als geschmückte Braut: das bedeutet Nähe und eine Unmittelbarkeit Gottes, wie wir
sie uns jetzt noch gar nicht vorstellen können. Die geschmückte Braut – könnte es ein
schöneres Bild geben für die Erwartung einer ganz intimen Gemeinschaft, in der nichts mehr
zwischen Gott und den Menschen steht – und zwar Menschen aus allen Völkern und
Nationen? In der Tat wäre die korrekte Lesart bzw. Übersetzung: „er wird bei ihnen wohnen,
und sie werden seine Völker sein“ (V. 3).
Warum ist sich der prophetische Seher dieser Sache eigentlich so gewiss? Die Antwort lautet
nicht nur: weil es ihm so offenbart wird. Sondern es gibt auch einen sachlichen Grund: weil
Nähe eine Folge der Liebe ist. Weil die Nähe Gottes zu uns eine Folge seiner Liebe ist. Wenn
Gott uns und unsere Toten wirklich so liebt, wie er es uns im Evangelium und bei jeder
Bestattung von neuem verkündigen lässt, dann kann das Ende seiner Wege mit uns erst dann
erreicht sein, wenn er uns ganz nahe ist, wenn er bei uns wohnt. Denn die Liebe sucht die
Nähe. Das wissen gerade die Trauernden des Totensonntags, all diejenigen, die immer wieder
zu den Gräbern gehen, die von ihren Lieben getrennt sind, manchmal gewaltsam, und doch
immer wieder deren Nähe suchen. Denn die Liebe sucht die Nähe. Unsere Hoffnung ist, dass
Gott einmal alle Trennungen überwinden wird und wir einander und ihm ganz nahe sein
werden. Er wird in unserer Mitte wohnen, und wir werden seine Völker sein – die Kirche der
Zukunft gewissermaßen (wenn es dann überhaupt noch eine Kirche braucht).
Die Folgen werden unbeschreiblich sein: Die Friedhöfe werden endgültig geschlossen.
Massengräber werden nicht mehr ausgehoben. Kein Polizist muss mehr Hausbesuche machen
und Angehörigen einen Unfalltod melden. Selbstmordkandidaten gibt es nicht mehr, ebenso
keine Gefängnisse, Krankenhäuser und Pflegeheime. Die Kirchen stellen ihre Arbeit ein. –
Sind das Illusionen, Phantasien, billige Vertröstungen auf eine ungewisse Zukunft?
Warum ich mir Gottes neue Welt gerade so vorstelle, hat einen einfachen Grund: Das neue
Jerusalem, die große Stadt kommt aus dem Himmel herab auf die Erde. Wir werden nicht von
dieser Erde hinaufgerufen zu ihr, zur "hochgebauten" Stadt, in eine Überwelt der Träume und
Illusionen, sondern sie kommt herab in unsere Welt, in unsere Wirklichkeit und schafft eine
neue Wirklichkeit. Wir müssen nicht mit dem völlig schwerelos schwebenden Raumschiff
irgendwohin weg von dieser Erde. Glück und Zukunft liegen nirgends anders als auf dieser
Erde, die Gott liebt, die er freilich verwandelt und von Grund auf neu und anders macht.
Dorthin kommt er, dorthin ist er gekommen – in der Gestalt Jesu Christi; und dorthin kommt
auch die neue Stadt, das neue Jerusalem. Wir können von uns aus nicht in die neue Stadt
Gottes kommen – nein, die Stadt Gottes kommt zu uns; und mit Jesus ist schon ein Stück von
ihr, ein wesentliches Stück sogar, mitten unter uns. Denn in der zukünftigen Stadt wird der
„Thron Gottes und des Lammes“ sein – so heißt es im Text (Offb 22,3). An Jesus ist bereits
etwas von Gottes unvergleichlicher Nähe und Liebe spürbar geworden. "Das Wort ward
Fleisch und wohnte unter uns" – so sagt es der Anfang des Johannesevangeliums. In Jesus ist
uns Gottes Güte und Barmherzigkeit schon ganz nahegekommen, und bereits an Ostern hat er
dafür gesorgt, dass nicht der Tod das letzte Wort hat, sondern Er, der von sich selber sagt:
Siehe, ich mache alles neu!
Dieses Wort hat besonderes Gewicht, weil es das einzige Mal in der ganzen langen
Visionenfolge der Johannesoffenbarung ist, dass Gott selbst das Wort ergreift. Damit hat es
eine Bedeutung, die auf das ganze Buch ausstrahlt und weit darüber hinausgeht. Ursprünglich
stammt es sogar aus dem Alten Testament, überholt gewissermaßen den Predigttext des
vergangenen Sonntags (das Wort des Predigers: „Es geschieht nichts Neues unter der Sonne“)
und spannt damit einen Bogen über die ganze Bibel.
Wir können dabei erfahren, dass die Hoffnung auf jene neue Welt und jenes neue Handeln
Gottes bereits ganz massiv in unsere jetzige Welt mit ihrer Trauer und ihren Nöten
hineinwirken kann – und wir sie jetzt schon spüren können. Wir spüren sie da, wo wir
getröstet werden – nicht für immer, aber immer wieder von neuem; wo unsere Tränen
getrocknet werden – nicht für immer, aber immer wieder von neuem; wo Lebensangst
überwunden wird – nicht für immer, aber immer wieder von neuem; wo sich Dankbarkeit und
Zuversicht durchsetzen – nicht für immer, aber immer wieder von neuem; wo wir die
Erfahrung einer letzten und tiefsten Geborgenheit machen dürfen – da wohnt Gott jetzt schon
mitten unter uns.
Deswegen haben diejenigen unseren Text nicht genau genug gelesen (oder missverstanden),
die ihre Dome, Klöster und Kirchen auf den „Zionsberg“, hoch über ihrer Stadt, gebaut haben.
Denken Sie nur an den Limburger Dom, an Mont-Saint-Michel, an die Abtei St. Michael in
Siegburg oder an das Stift Groß-Comburg bei Schwäbisch Hall. Überall ist die Anlage als
Abbild des himmlischen Jerusalem auf dem Zion, auf dem Tempelberg, verstanden. Man
konnte sich dafür auf V. 10 von Kap. 21 berufen: „Und er (sc. der Engel) führte mich hin im
Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem
herniederkommen aus dem Himmel von Gott…“ Hier könnte es so scheinen, als ob der Seher
deshalb auf einen hohen Berg entrückt wird, weil die heilige Stadt Jerusalem auf ebendiesem
Berg herabkommen soll. Doch ist dies wohl ein Missverständnis: Der Seher ist
gewissermaßen nur wegen der klaren Sicht auf dem hohen Berg, um die grauen Nebelschleier
unter sich zu lassen, von denen wir eingangs sprachen: Der hohe Berg ist ein klassischer
Offenbarungsort in der Bibel. Aber die Stadt selbst lässt sich – anders als der neue Tempel
beim Propheten Ezechiel – auf die gesamte Ebene hinab, also wirklich ganz hinunter bis zu
den Menschen. Gott und das Lamm wollen mitten unter den Menschen sein, nicht über ihnen.
Gleichwohl ist das neue Jerusalem eine „hochgebaute Stadt“ – allerdings keine hoch gebaute,
im Sinne von in der Höhe gebaute, sondern eine hochgebaute, im Sinne von in die Höhe
gebaute Stadt. Nach der Beschreibung des Sehers ist sie nämlich immerhin stolze 2400 km
hoch und ebenso breit und ebenso lang (Offb 21,16) – also ein gewaltiger Kubus von
unvorstellbaren Ausmaßen, der auch kaum Platz auf einem einzelnen Berg hätte! Man kann
dies leicht ins Lächerliche treiben, wenn man den Symbolgehalt dieser Bild- und Zahlenwelt
übersieht. Der Kubus steht für Vollkommenheit und die „zwölftausend Stadien“ – wie es im
Text wörtlich heißt – wohl für die Vervielfachung der Zwölfzahl der Stämme Israels. Die
Erbauer unserer Schlosskirche haben das besser verstanden als andere: Sie haben den
Kirchenraum mitten in das Gebäude gesetzt, nicht abgesetzt oder gar erhöht, und
würfelförmig konzipiert: Länge, Breite und Höhe sind gleich. Dies gilt als Symbol vollendeter
Harmonie, und die gelbweiße Farbgebung vermittelt eine Ahnung von der Herrlichkeit des
neuen Jerusalem, in welchem es keine Dunkelheit mehr geben wird, weil Gott und Christus es
für immer erleuchten.
Schließlich sollten wir auch nicht übersehen, dass Gottes neue Welt in dem Bilde einer Stadt
beschrieben wird. Es geht also in jener neuen Welt nicht darum, wie der Münchner im
Himmel auf einer Wolke zu sitzen. Es geht auch nicht um ein faules Leben wie im
Schlaraffenland, aber auch nicht um eine stille und einsame Oase. Sondern es geht tatsächlich
– wie in einer Großstadt – um die neue und gerechte Ordnung menschlichen
Zusammenlebens, um Austausch und Kommunikation und gemeinsames erfülltes Leben, um
Glücklich-Sein und Tätig-Sein. Wenn wir auf dieses Zukunftsbild und gleichzeitig auf dessen
Zentrum, auf Gott und das Lamm, schauen, sowie auf das Lebenswasser und die
Lebensbäume mit ihren Früchten und Blättern, die von dort ausgehen (Offb 22,1-2), dann
bekommen wir auch den Schub, unseren hohen Aussichtsberg jetzt wieder zu verlassen,
hinabzusteigen in den Nebel und unseren Alltag anzupacken. Unseren Teil beizutragen zum
Zusammenleben der Menschen, zu einer vernünftigen und humanen Gestaltung unserer
gegenwärtigen Städte, Dörfer und Universitäten. Dann werden sich auch immer wieder die
grauen Nebelschleier von selber lichten; unser Weg wird heller werden, weil er von einer
festen Hoffnung überstrahlt ist – der Hoffnung auf die neue Stadt Gottes bei den Menschen.
Amen.